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Elli ist nach einem Unfall im Wachkoma gefangen. Doch sie erkennt, dass sie die Körper von Schlafenden übernehmen kann. Will ihr Mann Mick sie ins Jenseits befördern? Kann sie ihn mit Hilfe ihres Jugendfreundes Pidder daran hindern? Was genau haben Kylie Monique und Helene Fleischer mit der ganzen Sache zu tun? Und was zur Hölle will der Krakauer? Es fängt alles damit an, dass Elli die Decke auf den Kopf fällt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Bis zu diesem Ereignis lief alles bestens: Elli ist Teilhaberin eines erfolgreichen Unternehmens, hat einen jungen Ehemann, den sie über alles liebt und sie muss sich keine finanziellen Sorgen machen. Doch dann ändert der Unfall alles. Ihr Bewusstsein ist fortan in ihrem regungslosen Körper gefangen. Das "Locked-In-Syndrom" verhindert, dass sie zu irgendeiner Kommunikation mit der Außenwelt in der Lage ist. Was sich wie der Beginn eine Tragödie anhört, ist der Startschuss einer turbulenten Geschichte über Freundschaft, Lebensmut und Empathie. Die Leserinnen und Leser erhalten Einblick in Ellis Gedankenwelt, die – trotz oder gerade wegen ihrer fehlenden körperlichen Mobilität - erfrischen aktiv ist. In ihrem "Head-Office" bestimmt sie die Regeln. Und sie hat ein Geheimnis: Sie kann sich im wahrsten Sinne des Wortes "in andere hineinversetzen". Sie selbst nennt diesen Vorgang "Napping". Elli entdeckt, dass Mick zusammen mit seiner Geliebten Vicky ihren Tod plant. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Als Elli in ein geheimes Versteck entführt wird, versucht sie mit Pidder Kontakt aufzunehmen. Ein Verwirrspiel beginnt, bei dem immer wieder die Perspektive gewechselt wird. Die Leserinnen und Leser fragen sich gemeinsam mit Pidder: "Elli, bist du's?". Neben einer wilden Verfolgungsjagd durch die imaginäre Landschaft des "oberen Niederrhein" geht es vor allem um einen Roadtrip durch die Köpfe der Protagonisten. Im Mittelpunkt des Ganzen liegt Elli: die Frau, die sich von der ersten bis zur letzten Seite keinen Millimeter aus eigener Kraft bewegen kann. Im verzweifelten Versuch, ihr Leben zu retten, treibt sie die Handlung voran, mischt sich ein und sorgt auf vielfache Weise für Chaos. Bernd Stelter: "... eine abgefahrene Story, die sich immer weiter steigert. Ich bin begeistert, meine Frau auch!" https://youtu.be/RfPWhAhT_FQ
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Seitenzahl: 356
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„Der Traum ist der beste Beweis dafür, dass wir nicht so fest in unsere
Haut eingeschlossen sind, als es scheint.“
Friedrich Hebbel
Martin Bußmann
Elli, bist du´s?
Ein Körpertausch-Krimi
© 2023 Martin Bußmann
Vorwort: Bernd Stelter
Text, Umschlaggestaltung, Satz: Martin Bußmann
Illustrationen: Martin Bußmann
(Bildquelle: pixabay.com & künstlerische Bearbeitung)
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN Softcover: 978-3-384-00261-7
ISBN Hardcover: 978-3-384-00262-4
ISBN E-Book: 978-3-384-00263-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich.
Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“,
Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Vorwort
Schmerz
Locked In
Quirl
Visite
Wo bist du?
Niemandsland
„Ręka rękę myje!“
Sommer `93
Nur geträumt
Zugriff
Modderloch
Flashback!
Killer
Stichtag
Epilog
Statt Danksagung
After Credits
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Vorwort
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Vorwort
„Ich liebe spannende Bücher! Am meisten liebe ich es, wenn ich glaube, ich weiß, wie es weitergeht, und wenn ich das gerade glaube, dann nimmt die Geschichte eine Wendung, und meine Synapsen müssen eine Vollbremsung hinlegen. Aber zehn Minuten später, da bin ich mir sicher, jetzt weiß ich, was kommt. Von wegen! Sie ahnen, was passiert.
Martin Bußmann ist ein absoluter Meister der schrägen Idee. Ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen. „Elli, bist du’s?“ hat mich so gefesselt, ich saß noch am nächsten Abend kopfschüttelnd auf dem Sofa. Und heute sitze ich hier immer noch und warte auf Teil 2.
Bis es so weit ist, wünschen ich Ihnen - liebe Leserinnen und Leser - viel Spaß mit Elli und Co. Genießen Sie die Synapsen-Kirmes eines ungewöhnlichen Körpertausch-Krimis.“
Bernd Stelter
Schmerz
Jakub Wróbel hatte Schmerzen. Mit jeder Schwelle, die der Zug überquerte, schlugen sie aufs Neue ein. Kräftige, bohrende, rhythmische Schmerzen. Was ärgerlich war. Für gewöhnlich war er es, der anderen Leuten Schmerzen zufügte. Er hatte schon früh im Leben erfahren, dass Schmerz Menschen dazu brachte, Dinge zu tun, die sie eigentlich nicht tun wollten. Schon allein die Androhung von Schmerz konnte überzeugender sein als jedes Argument. Er selbst hatte den Schmerz in allen Ausprägungen genießen dürfen. Und er hatte ihn ausgeteilt. Immer öfter, immer effektiver, immer extremer. Was dazu geführt hatte, dass er schon in früher Jugend lange Zeit in hohen Häusern mit vergitterten Fenstern, dicken Mauern und kargen Innenhöfen verbracht hatte. Hier in diesen Kompetenzzentren in Sachen Schmerzzufügung, Schmerzandrohung und Schmerzvermeidung hatte er es in jeder dieser Disziplinen zu einem wahren Expertentum gebracht.
Jakub sah aus dem Abteilfenster. Die Landschaft flog vorbei. Schier unendliche Felder und Ackerflächen wechselten sich mit einigen kargen Hecken und Wäldchen ab. Typisch für die ostdeutsche Agrarwirtschaft. Ab und zu erkannte man einen landwirtschaftlichen Betrieb.
Der Schmerz. Er war später zu seinem Geschäftsmodell geworden. Jakub war von Krakau nach Deutschland, ins Ruhrgebiet, gezogen. Er hatte Deutsch gelernt und hier seine Karriere aufgebaut. Begonnen hatte er als Rausschmeißer in miesen Spelunken und er hatte wenig später den Bodyguard für Unterweltgrößen im Pott gegeben. In dieser Zeit wurde der Schmerz zu seinem besten Werkzeug. Jakub war so effektiv, dass bei manchen Menschen allein die Vorstellung, dass der Krakauer bei ihnen aufkreuzen könnte, dazu führte, dass sie ihm, quasi zur präventiven Schmerzvermeidung, ihr gesamtes Hab und Gut überschrieben. Der Höhepunkt seiner Karriere, bevor die eigenen, andauernden, ultimativen Schmerzen in sein Leben krachten, waren seine Jobs als Geldeintreiber für eine Organisation namens „Neptun“.
Ein junger Mann in einem Business-Anzug saß im Großraumabteil nur drei Plätze von Jakub entfernt. Er starrte auf den Bildschirm seines Laptops und hackte auf die Tastatur ein. Die Landschaft vor dem Fenster änderte sich. Der Zug fuhr nun durch eine Industriebrache. Dann folgten Plattenbauten. Welche Stadt war das? Keine Ahnung.
Jakub dachte an die Jobbörse im Darknet. Unter dem Decknamen Krake hatte er sich bei „Hitman-To-Go“ angemeldet. Wenn man ein Problem hatte, das man legal nicht lösen konnte, fand man hier genau die Kriminellen, die man brauchte. Hier boten professionelle Tresorknacker ebenso ihre Dienste an wie Ninja-Einbrecher, Auftragskiller oder Finanzjongleure.
Jakub hatte als Krake einige erfolgreiche Jobs für Neptun übernommen. Er hatte Geschäftsleute unter Druck gesetzt und Schutzgeld eingetrieben. Alles war anonym, sehr lukrativ, aber leider auch sehr verbindlich. Das war der Wermutstropfen. Nach jedem Job gab es eine Kundenbeurteilung. Genau wie in jedem guten Online-Shop. Nur wurden auf „Hitman-To-Go“ neben den Sternen für Zufriedenheit auch Knochen für Unzufriedenheit vergeben.
Kassierte man einen Knochen, wurde die Identität im Netzwerk offengelegt, und es wurde einem im realen Leben ein Knochen gebrochen. Fünf Knochen zählten wie ein Totenkopf. Das hieß, wenn man einen Job gründlich vermasselte, bezahlte man das mit dem Leben. Jeder im Netzwerk konnte das Urteil vollstrecken. Dafür gab es eine Prämie. „Hitman-To-Go“ war ein System, das sich selbst kontrollierte. Scheitern verboten. Todsicher. Aus diesem Grund legte Jakub verständlicherweise großen Wert darauf, nur positive Bewertungen zu bekommen. Meistens waren es fünf Sterne. Doch Jakub hatte ein Problem. Er hatte einen Job vermasselt. Dieser Türke. Rasim. Jakub wollte ihn unter Druck setzen. In der Galerie. Doch dann war alles schiefgelaufen. Konnte keiner ahnen, dass der ganze Laden einstürzt.
Seitdem war er in der Deckung geblieben. Notgedrungen. Der Metallblock war ihm genau auf den linken Knöchel gekracht. Es war, als wollte ihm das Schicksal beim Einsturz der Alten Bleicherei all die Schmerzen, die er sein Leben lang ausgeteilt hatte, auf einen Schlag zurückzahlen. Mit Zinsen. Jakub hatte gehofft, dass mit der Amputation in der Klinik auch der Schmerz irgendwann aufhören würde. Aber nein. Er war geblieben und zu einem treuen Begleiter geworden. Auch nach der Reha. Auch, als er sich bei seinem Bruder in Krakau auskurieren wollte. Es gab Komplikationen. Eine Entzündung. Jeder Schritt mit der massiven Prothese erinnerte ihn an den vermasselten Job. Würde das je aufhören?
Jakub pellte zwei Pillen aus der Verpackung und legte sie in die Handfläche. Mit einer schwungvollen Bewegung beförderte er die Schmerzmittel in seinen Mund, öffnete seine Wasserflasche und spülte sie runter. Er überlegte. Er hatte sich immer wieder als Krake bei „Hitman-To-Go“ eingeloggt und ängstlich die Kundenbewertungen gecheckt. Aber seltsamerweise wurde beim Job mit dem Türken immer noch der Status „in Bearbeitung“ angezeigt. Also hatte „Neptun“ niemanden gefunden, der den Auftrag abgeschlossen hätte. Und solange dies so war, waren auch die Bewertungen für den Kraken noch nicht freigeschaltet. Jakub schluckte trocken. Vermutlich würde es Knochen regnen. Genau das war der Grund, warum er jetzt im Zug saß. Er war auf dem Weg. Er musste den Job zu Ende bringen. Jakub musste mit allen Mitteln vom Türken erfahren, wo die Platte war. Das würde ihm das Leben retten. Außerdem würde er die 20.000 Euro für den Job kassieren. Und er würde dafür sorgen, dass jemand zahlt. Für die Schmerzen. Für sein Bein. Für seinen verletzten Stolz. Er würde Rasim, den Türken, ein wenig von dem Schmerz kosten lassen, der ihn selbst gerade zerfraß.
***
„Wo sind die Nüsse?“, brüllte Pidder in den Flur hinein und verschwand wieder in der WG-Küche. Er hatte die Vorratsschublade ausgeräumt. Der gesamte Inhalt stand auf Anrichte, Tisch und Stühlen verteilt um ihn herum. Er starrte nun direkt auf den Schubladenboden. Außer ein paar Reiskörnern, Kaffeekrümeln und einem braunen Soßenfleck war nichts zu erkennen.
„Was’n los?“, fragte Vanessa verschlafen von der Küchentür her. Was machst‘n für einen Terz so früh am Morgen?“
„Es ist viertel nach elf, und ich such‘ meine Nüsse“, brummte Pidder und wischte mit einem feuchten Küchentuch die Schublade aus. Dann fing er an, alles systematisch wieder einzuräumen. Vanessa ging zum Kühlschrank und holte sich einen Avocado Smoothie aus ihrem Fach.
„Wo? Sind? Die? Walnüsse, die ich letzte Woche gekauft habe? Wir horten hier allen möglichen Biomüll. Hier! Eine Dose vegetarischer Aufstrichpampe. Die ist seit zwei Monaten abgelaufen. Und was ist das für ein Zeug?“ Er hielt ein Glas mit feuerrotem Etikett hoch. „Das riecht wie ein chemisches Kampfmittel!“
Vanessa schüttelte ihren Smoothie und öffnete ihn. „Das ist Ptak. Das schmiert sich Maha immer aufs Leberwurstbrot“, antwortete sie beiläufig. Maha Sapna, der dritte Mitbewohner, bereicherte den WG-Speiseplan ab und zu mit köstlichen exotischen Gerichten aus Sri Lanka. Pidder stellte das Glas zur Seite und lutschte das klebrige Zeug von seinen Fingern. „Pass auf. Das ist scharf!“, setzte Vanessa noch nach. Da riss ihr Pidder auch schon den Smoothie aus der Hand und leerte ihn in einem Zug.
„Ey. Den bezahlst du mir aber! Wozu brauchst du die Walnüsse überhaupt?“, fragte Vanessa und nahm sich eine neue Flasche aus ihrem Fach.
„Für das Eichhörnchen im Katharinen-Park.“ Pidder kramte nun in der Schublade mit den Backzutaten herum und fand schließlich eine Tüte mit Walnusskernen. Zur Not musste Quirl eben mit Nüssen ohne Schale vorliebnehmen. Er steckte die Tüte ein und Vanessa fragte: „Katharinen-Park? Ist das nicht der am Krankenhaus? Gehst du da schon wieder hin? Meinst du nicht, du übertreibst langsam?“ Sie verzog das Gesicht. „Du bist da gefühlt jeden fucking Tag der Woche. Seit Monaten.“ Plötzlich zögerte sie und zeigte auf seinen Hals. „Sag mal, was hast ‘n da im Nacken. Hast du schon wieder ein neues Tattoo? Was hat der Spinner dir denn dieses Mal verpasst?“
„Rasim ist kein Spinner. Er verwechselt nur manchmal ein paar Sachen. Er hat halt ein paar .... Schwierigkeiten.“ Pidder drehte sich um und zeigte Vanessa die mit einer Folie abgedeckte gerötete Hautpartie.
„Okay. Man kann es unter der Folie nicht wirklich gut erkennen. Aber es sieht aus wie ein … Kohlrabi.“ Vanessa schaute noch mal genau hin. „Und? Was wolltest du für ein Motiv haben?“
„Naja. Bei Rasim muss man nehmen, was man kriegt.“
„Jaja. Ich weiß. Aber, was sollte es ursprünglich werden?“
„Ein Kolibri“, murmelte Pidder. Vanessa starrte fasziniert und grinsend auf Pidders Nackengemüse. Der kramte sein Smartphone aus der Hosentasche und wählte Rasims Nummer. Es ging keiner ran.
„Ich fahr so oft zum Krankenhaus, weil ich mich verantwortlich fühle“, sagte er dann leise. Elli lag dort. Regungslos. Wegen eines Unfalls auf seiner Kunstausstellung. Weil er nicht genau genug geplant hatte. Weil er mal wieder blauäugig drauf los organisiert hatte. Weil er der oberflächliche Optimist war, der er war. Naja: gewesen war. Und auch Rasim war so wie er jetzt war, wegen ihm. Alles seine Schuld.
„Wenn du mich fragst, muss die Versicherung das zahlen. Oder der Besitzer von der Ausstellungshalle in der Alten Bleicherei“, teilte Vanessa ungefragt mit. „So ’n Dach stürzt doch nicht einfach so ein. Du kannst doch nichts dafür, dass Rasim jetzt Hirnfraß hat und die andere nur noch Lauch ist. Mach dir doch nicht so ‘n Kopf!“
„Die andere heißt Elli. Wie stumpf bist du eigentlich? Ich fang jedenfalls etwas Sinnvolles mit meinem Tag an. Und du?“ Pidder war langsam echt angefressen.
„Ich mach gleich mein Schmink-Tutorial und dann bekommt Butzele seine Nägel lackiert.“ Butzele, Zuckerschneckchen, Sugar, Moppel oder Schnuckele war Vanessas Hund. Pidder hatte Butzeles richtigen Namen vermutlich nie gehört. Er hasste und bemitleidete die Englische Bulldogge zu gleichen Teilen, ganz gleich, wie sie hieß. Ungefähr genauso empfand er auch für seine Mitbewohnerin Vanessa. Oder besser „Nessie Twennyone“, wie sie sich auf Spontagram nannte.
Er hatte schon Generationen von Studenten in dieser WG kommen und gehen sehen. Er hatte mit Bäckern, Busfahrerinnen, Ökotrophologinnen und DHL-Boten zusammen gewohnt. Alle waren sie auf ihre Art speziell. Aber diese Influencer-Egomanen in letzter Zeit waren eine ganz besondere Sorte Mensch.
Manchmal hatte er daran gedacht, die WG zu verlassen. Meistens, wenn er gerade eine neue Beziehung begonnen hatte. Mit Vadim wollte er zusammenziehen. Vor neun Jahren. Und danach mit Ottmar. Aber immer war die Beziehung zerbrochen, bevor die Pläne weit genug gediehen waren.
„Ich habe Leuchtnagellack in verschiedenen Farben von einem Sponsoring-Partner bekommen. Da mach ich dann mit Stinkebär zusammen einen auf Partnerlook im Club.“
„Stinkebär. Endlich mal ein Name, der passt“, dachte Pidder.
„Du nimmst Stinki mit in die Disco?“, fragte er.
„Klar. Aber keine Bange. Er trägt Ohrschoner. Wegen Tierwohl und so. Aus rosa Plüsch. Dazu ein Latexkostüm und die lackierten Krallen. Das wird mega.“
„Ja, mega“, stöhnte Pidder und ging durch den Flur zu Mahas Zimmer.
Locked In
„Sabiiiiiine! Lass‘ es!“, schrie Elli so laut sie konnte. Dennoch wusste sie, dass ihr Schrei absolut unhörbar bleiben würde. Das Echo ihrer eigenen Worte hallte durch ihren Kopf. Nicht einmal das Herzfrequenzmessgerät neben ihrem Bett veränderte seine gleichmäßige Kurve.
Elli war sauer. Level sechs von zehn auf ihrer eigenen Sauerskala. Sie hatte in den letzten Monaten schon alle Stufen durch. Direkt nach der akuten Phase, dem künstlichen Koma und der ersten Erkenntnis, dass nach den scheiß Lockdown-Sommern ein Locked-In-Leben folgen würde. Sie hatte die absolute Verzweiflung gespürt, war in tiefe Depressionen gefallen und hatte sich innerlich fast selbst zerfleischt. Sie hatte die lange Reise vom alles beherrschenden Selbstmitleid bis zur Grenze des Wahnsinns und zurück gemacht. Mehrmals. All das war nicht gut für sie.
Aber sauer. Das ging.
„Sabiiiiine. Behandle mich verdammt nochmal nicht wie ein Baby!“, schrie sie der pflichtbewussten Krankenpflegerin ins Gesicht, die davon natürlich nichts bemerkte. Eigentlich war es unfair, auf Schwester Sabine so sauer zu sein. Aber diese hatte fatalerweise ihre Arbeit mit den Worten eingeleitet:
„Na, Frau Derksen. Wie geht’s uns denn heute?“
„Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber mir geht’s beschissen. Danke der Nachfrage!“ Elli kochte und sortierte Sabine eindeutig in die Pfleger*innen-Kategorie „Floskel-Inkontinenz“. Seit sie in ihrem regungslosen Körper aufgewacht war, hatte sie in ihrem Kopf für alles Register, Skalen und Kategorien angelegt. Was blieb ihr auch übrig? Sie hatte viel Zeit zum Nachdenken und sortierte ständig in ihren Gedanken hin und her.
Ihr „Head-Office“ war das Einzige, was ihr noch geblieben war. Hier hatte sie die volle Kontrolle. Sie schaffte es, Schmerz, akustische und optische Signale einfach zu ignorieren und draußen zu halten. Ganz gleich, was außerhalb ihres Kopfes gerade irgendwer mit ihrem Körper anstellte. Sie hatte ihr Head-Office schon mehrmals verwüstet und neu möbliert. Es war im ständigen Wandel. Mal standen Regale mit Erinnerungsalben darin, mal ein Beamer für das Kopfkino. Im Augenblick erschien, wie von Geisterhand, ihr Whiteboard. Genauso eines, wie sie es in der analogen Welt in ihrem Büro gehabt hatte.
Sie nahm einen schwarzen Stift und schrieb auf die Tafel: ‚Pfleger*innen‘. Dann folgte ein langer senkrechter Strich. Rechts davon schrieb sie: ‚Kategorie‘. Als sie links nun alle Pflegekräfte untereinander auflistete, die sich im Laufe der Woche um sie kümmerten, wurde ihr plötzlich bewusst, wie viele das waren. Ihr Sauerlevel sank auf vier. Schwester Sabine: Floskel-Inkontinenz. Schwester Irina: Schweigend-Durchwischende. Schwester Mathilde? Elli dachte nach. Mathilde gab einem immer das Gefühl, als wäre man eine Maschine, die gewartet oder „getuned“ werden müsste. Sie war immer voll auf die technischen Abläufe konzentriert. Mathilde hatte ihr noch nie in die Augen gesehen. Nicht wirklich. Elli schrieb: Fokussierte Montöse. Als nächstes folgte der Krankenpfleger Simon. Er war für ihre „Mobilisation“ zuständig. Jeden Tag dehnte und bewegte er jede ihrer Gliedmaßen, damit sich ihre Sehnen nicht verkürzten. Wozu? Wäre sie je wieder in der Lage, diese leere Hülle aus eigener Kraft zu bewegen? Elli konzentrierte sich wieder auf die Tabelle. Simon hatte eine freundliche warme Stimme. Und er redete mit Elli, als könnte sie ihn hören. Klar. Er leuchtete ihr ab und zu in die Augen, sodass das Head-Office hell erleuchtet war. Aber er tat das nicht ohne Grund. Er schien auf etwas zu warten.
Elli brach ab. Da waren noch so viele Namen, und sie hatte die Lust verloren. Sie wischte die Liste weg und warf das Whiteboard um. Doch, bevor es krachend den Boden berühren konnte, war es schon verschwunden.
Sie dachte an Pidder. Das Arschloch. Wegen ihm hatte sie die Ausstellung besucht. Vor einem dreiviertel Jahr. Warum eigentlich? Man konnte nicht mal sagen, dass sie wirklich befreundet gewesen waren. Damals, als Kinder, da hatten sie miteinander gespielt. Ja. Da waren sie richtig gute Freunde gewesen. Aber fünf Jahre später, mit sechzehn, war er einfach verschwunden. Er stand auf Männer und hatte Mordsärger mit seinem alten Herrn. Irgendwas war da eskaliert. Er hatte sich nicht mal von ihr verabschiedet. Pidder war einfach aus ihrem Leben verschwunden. Und dann nach ewiger Zeit die Ausstellung. Dazwischen lagen 28 Jahre! Eigentlich war er ein Unbekannter.
Und doch hatte er sie in letzter Zeit fast jeden Tag besucht. Er beschäftigte sich mit ihr. Er las ihr etwas vor. Er erzählte von seinen Mitbewohnern, von Rasim und von einem stinkenden Hund ohne Namen. Elli hatte mittlerweile das Gefühl, mehr von seinem Leben zu kennen als von ihrem eigenen. Wusste sie noch, wer sie war? Hatte irgendetwas aus ihrem früheren Leben noch Bedeutung?
Doch! Ganz bestimmt. Ihr vor dem Unfall frisch angetrauter Ehemann. Mick. Er hatte dafür gesorgt, dass sie noch lebte. Sie hatte eine Patientenverfügung unterschrieben, nach der sie die erste Phase des Komas nicht hätte überleben dürfen. Keine lebensverlängernden Maßnahmen. Kein Vegetieren an Geräten. So hatte sie es bestimmt. Das alles hier hatte sie nie gewollt. Aber die Patientenverfügung trat nie in Kraft. Offensichtlich hielt Mick sie unter Verschluss. Sie hatte ihn dafür gehasst. Und im nächsten Moment war sie überwältigt davon, dass er sie offensichtlich nicht gehen lassen konnte.
Aber warum fand er so selten den Weg ins Krankenhaus? Wo zum Teufel blieb er?
***
Pidder klopfte an Mahas Tür. Niemand antwortete. Er öffnete vorsichtig die Tür und schaute in den Raum. Mahas Zimmer hatte eine Fensterfront, hinter der sich ein breiter Balkon anschloss, der komplett mit Folie zugeklebt war. Durch das Fenster leuchtete es grün, überall hingen Heizstrahler, und alles war mit Plastikbahnen abgehängt. Maha lag auf dem Sofa und hörte laute Reggae-Musik. Bob Marley and the Wailers. Auf dem Couchtisch vor ihm lagen wild verstreute Häufchen mit Walnuss-Schalen. Mahas überdimensionaler Flatscreen hing ein wenig schräg in der schlampig angebrachten Wandhalterung. Eine Nussknacker-Zange steckte im Blumentopf der Yucca-Palme. Als Maha Pidder sah, sprang er auf.
„Pidderman! Was los?“, fragte er. Pidder sah rot unterlaufene Augäpfel in einem tiefschwarzen Lächeln.
„Ey. Hast du ein neues Tattoo? Zeig ma!“ Maha knibbelte direkt an Pidders Nackenfolie rum. „Ist das Gemuse? Warum hast du Gemuse in dein Knacken?“
Pidder seufzte. „Das ist ein Kohlrabi. Apropos Knacken. Weißt du, wo die Walnüsse geblieben sind, die in der Vorratsschublade waren?“
„Ach die Nusse. Waren das deine? Ich hab mit Harry und Kees Fußball geguckt. Und wir hatten kein Chipse.“
„Kann es sein, dass ihr da gestern Nacht etwas viel getrunken und auch ein bisschen Krach gemacht habt? Mich hat der Bockmann von der Hausverwaltung heute Morgen im Treppenhaus derbe angemacht deswegen.“
„Ach das: Wir sind in den Aufzug gestiegen. Harry, Kees und ich. Und dann ha`m wir gemerkt, dass die Wande von dem Aufzug sich anhoren wie Trommeln.“
Pidder ahnte Schlimmes. „Und dann?“
„Dann hat Kees auf dem Handy Jungle Drum abgespielt und wir ha`m mitgetrommelt.“
„Wie? Die ganzen 7 Stockwerke runter habt ihr mitten in der Nacht im Aufzug rumgetrommelt wie die Blöden?“
„Und wieder rauf. Aber nicht ofter als funf mal.“
„Maha! Spinnst du? Und dann baust du hier noch irgendein Zeug an. Willst du, dass wir alle rausfliegen?“
„Alta, komma runter. Das sind Teepflanzen. Für den Eigenbedarf. Du bist ganz schon spitzig geworden, seit das mit der Decke.“ Damit schob er Pidder aus dem Zimmer und warf ihm die Tür vor der Nase zu.
***
Pidders Smartphone klingelte. Er nahm den Anruf an und Rasims Stimme ertönte: „Hallo? Wer ist dran?“
„Äh. Ich bin’s Pidder.“
„Ah! Hallo, Pidder! Schön, dass du anrufst. Ich wollte dich auch gerade anrufen.“
„Rasim! Ich hab‘ dich nicht … DU hast MICH angerufen! Aber gut. Könntest du mich abholen? Ich muss zum Katharinen-Krankenhaus.“
„Gerne. Wie war noch mal der Name?“ Es schien, als holte sich Rasim einen Zettel, um sich die Adresse zu notieren.
„Mann! Du weißt, wie ich heiße und wo ich wohne. Ich bin Pidder! Dein bester Freund! Du warst gestern Abend hier und hast mich heute Morgen hier abgesetzt. Du musst auf die Klingel von Engstmann, Krappke, Sapna drücken.“
„Ja. Äh. Wann?“, kam es vom anderen Ende der Leitung.
„Hör auf! Es reicht. Komm einfach vorbei. Kannst du vorher bitte noch zum Bio-Laden fahren? Bring eine Tüte Walnüsse mit. Das liegt auf dem Weg.“
„Walnüsse? Die roten?“, fragte Rasim.
„Ja, klar. Die roten“, grinste Pidder. „Bis gleich!“
***
Es dauerte fast eine dreiviertel Stunde. Dann klingelte es. Aus der Gegensprechanlage ertönte ein Stimmengewirr. Als Pidder mit seinem Rucksack durch die Wohnungstür trat, sah er, dass seine Nachbarn durch die Türspalte linsten. Rasim hatte alle Klingelknöpfe betätigt. Alle in allen zehn Etagen. Vermutlich hatte er sich dazu mit beiden Armen über das gesamte Klingelbrett gelegt. Pidder schnappte sich seinen Rucksack und marschierte an den entrüsteten Nachbarn vorbei zum Aufzug. Unten angekommen wartete schon der Bockmann auf ihn. Bockmist! Ein ruderfüßiger Schreivogel in blauem Kittel. Mit einer Stimme so tief, dass er sich vermutlich insgeheim mit Elefanten in Afrika unterhalten könnte. Dazu ein ebenso niedriger IQ, den er mit reichlich Machtkompetenz als Hauswart kompensierte. Der elefantöse Basstölpel baute sich vor Pidder auf, bereit seine zehnstöckige Brutkolonie bis aufs Blut zu verteidigen.
„So geht das nicht! Herr Engstmann! Ihre Bagage terrorisiert hier die gesamte Nachbarschaft. Ich werde mich bei der nächsten Eigentümerversammlung über Sie beschweren!“, bölkte er.
„Gut. Dann beschwere ich mich darüber, dass wir von Ihnen immer noch keinen einzigen Rauchmelder bekommen haben. Und, dass Sie im letzten Winter nur zweimal Schnee geschippt und bei Glatteis kaum gestreut haben. Wegen Ihnen ist Frau Eckner im Winter auf den Gehweg geknallt und hat sich eine blaue Hüfte geholt. Ihre Nachlässigkeit kann Menschenleben kosten. Wollen Sie, dass ich das melde?“, brüllte Pidder. Für heute hatte er genug von all den Idioten. Er wollte doch nur zu seinem minimal gestörten Freund und sich um sein maximal komatöses Unfallopfer kümmern. War denn das zu viel verlangt? Da konnte er all die Alltagspsychopathen nicht auch noch gebrauchen.
Bockmann schien zunächst verdutzt, reckte aber dann die Faust und rief Pidder hinterher: „Ha! Menschenleben. Das sagt der Richtige!“Mit hochrotem Kopf ließ Pidder den Schreivogel hinter sich, stieg zu Rasim ins Tattoo-Tataxi und stöhnte: „Fahr los. Nur weg hier!“
„Okay“, antwortete der, reichte ihm eine Tüte mit Kirschtomaten und trat aufs Gas.
***
„Mick hat verkackt“, dachte Vicky, „auf ganzer Linie.“ Dann sagte sie laut: „Micky, mein Lieber. Was genau hat denn der Prof gesagt? Warum will er uns sprechen?“ Sie tropfte einen Klacks Holunderblütengelee auf ihr mit Frischkäse bestrichenes Knäckebrot. Alle drei K erfüllt: köstlich und kaum Kalorien. Sie biss hinein.
„Er will mich sprechen. Nicht uns“, antwortete Mick. „Mich, als Ehemann seiner Patientin. Es geht um die Abstimmung des weiteren Vorgehens.“ Seine Brötchenhälfte war über und über mit einer doppelten Schicht Nougatcreme bestrichen. Ein Anschlag auf die Gesundheit: Zuckerschock, ökodesaströses Palmöl, Fett bis zum Abwinken. Vicky wurde übel.
„Weiteres Vorgehen? Was soll das? Dass eine Abschaltung der Geräte nicht in Frage kommt, hast du doch eindeutig gesagt“, überlegte sie. „Gibt es vielleicht noch eine Patientenverfügung, die aufgetaucht sein könnte? Hat sie die bei irgendjemand anderem hinterlegt? Wenn ja, haben wir ein Problem. Wir müssen dafür sorgen, dass deine Elise am Leben bleibt. Mindestens bis zum Stichtag.“
Vicky war genervt. Das ganze Getue um Micks jetzige Frau zog sich schon viel zu lange hin. Diese scheiß Patientenverfügung. Und dann auch noch der bescheuerte Ehevertrag, auf den Mick sich eingelassen hatte. Hier war eindeutig zu viel Papierkram im Spiel. Wenn es bei dem Ganzen nicht um so eine Mörderkohle ginge, hätte sie schon längst den Abflug gemacht. Sie schob den Frühstücksteller von sich.
„Nein. Ich bin mir sicher“, mümmelte Mick mit vollem Mund. „Es gibt nur die eine Patientenverfügung. Und die hat sie nur mir gegeben. Weil Sie mir ihr Leben anvertrauen würde, hat sie gesagt.“
Vicky lachte laut auf: „Wenn die wüsste. Dummes Huhn.“
Mick grinste ebenfalls. Dabei sah man die Spuren der braunen Nougatcreme zwischen seinen sonst strahlend weißen Zähnen. Rund um seinen Mund sah man ebenfalls eine leichte Schokoladenspur.
„Oh, Gott“, dachte Vicky. Ihr Lachen war verflogen. Jedes Kindergartenkind hatte bessere Essmanieren als Mick. Der fuhr ungerührt mit seinen Überlegungen fort.
„Vielleicht geht es um etwas anderes. Was ist, wenn sie aufwacht?“, mutmaßte Mick. „Das hab ich schon mal gelesen. Plötzlich, nach zwanzig Jahren wacht ein Mann in Norwegen auf und schließt seine Familie in die Arme. Was, wenn es bei Elli genauso ist?“
„Das wäre kein Problem. Dann würden wir einfach so vorgehen, wie es ursprünglich geplant war“, antwortete Vicky kühl.
Mick stutze: „Das halte ich für keine gute Idee. Über Ellis Unfall ist online und offline rauf und runter berichtet worden. Was glaubst du, was das für einen Hype gibt, wenn die aufwacht? Da bleibt hier kein Stein auf dem anderen. Das dauert Jahre, bis sich alles wieder beruhigt hat. Und solange stehen wir so sehr im Fokus, dass wir sie auf keinen Fall unbemerkt zur Seite schaffen können.“
Vicky grübelte. Mick hatte recht. Sie mussten einerseits verhindern, dass Elli zu früh starb, und andererseits, dass sie aufwachte.
„Ich muss mit“, sagte sie. „Ich werde mich als deine medizinische Beraterin und Fachärztin ausgeben. Dann kann ich vor Ort je nach Situation handeln. Am besten bastelst du mir eine Fake-Website mit deinem Homepage-Baukasten. Nimm die Inhalte von einer bestehenden Reha-Klinik-Seite für Trauma-Patienten. Bilder lädst du dir aus Stock-Archiven und als Chef-Ärztin nimmst du natürlich mein Foto. Anfragen laufen dann wie üblich auf eine automatische Mailbox und in unser Mail-Fach.“
„Ich weiß. So wie die Fake-Seiten für deine Spenden-Aktionen. Ich setze die Seite am besten so auf, dass sie über die normale Suche nicht gefunden wird. Nur, wenn der Link direkt eingegeben wird. Wie willst du heißen?“, fragte Mick.
„Wie wäre es mit Frau Dr. Viktoria Blökow? Druck am besten auch Visitenkarten aus. Mit QR-Code und Link zu der Seite. Schaffst du das bis morgen?“ Vicky sah ihn fragend an.
„Natürlich, Liebes. Kein Ding. Was hast du vor?“, fragte Mick vorsichtig.
„Na ja. Wenn sie stirbt, können wir nicht viel machen. Dann war alles für die Katz. Aber, wenn sie droht aufzuwachen, kann ich als Fachärztin diesen Prozess vermutlich .... beeinflussen. Es gibt Mittel und Wege einen Patienten oder in diesem Fall eine Patientin für längere Zeit schlafen zu legen.“
***
Pidder starrte auf die Tomaten. Er hatte Walnüsse gesagt, und Rasim brachte Tomaten mit. Das war kein Witz. Rasim hatte echte Probleme.
„Ihre Nachlässigkeit kann Menschenleben kosten“, hatte er den Schreivogel angebrüllt. Aber was war mit seiner eigenen Schuld? Scheiße. Bei dem Einsturz der Decke in der Alten Bleicherei hatte Rasim ein Schädelhirntrauma davongetragen. Und Elli lag im Koma. Pidder hatte sich im Krankenhaus zunächst um Rasim gekümmert. Elli wurde im geschlossenen Intensivmedizinischen Bereich behandelt. Aber Simon, Rasims Pfleger, hatte ihn später auch zu ihr gelassen. Simon sagte damals, er, Pidder, täte den Patienten gut. „Blowcake“ – „Pustekuchen“, wie der Engländer sagt. Pidder hasste sich selbst.
Die letzten Monate waren hart gewesen. Für alle. Während Rasim in der Reha darum kämpfte, sein normales Leben zurückzubekommen, wurde seine kleine Werbeagentur abgewickelt. Seine türkischen Stammkunden wechselten zur Konkurrenz. Das Tattoo-Studio, das Rasim nebenbei aus „Liebhaberei“ betrieben hatte, wurde geschlossen. Pidder rettete das komplette Inventar und ersteigerte mit den Provisionen aus seinen Online-Shops ein altes Sammeltaxi. Rasim und er hatten vor dem Unfall oft über ausgefallene Geschäftsideen nachgedacht. Eine davon war „Tattoo-tata.net“, der Piercing- und Tattoo-Notdienst. Sie hatten sich sogar die Domain gesichert. Und sie hatten sich vorgestellt, dass sie gerufen würden, wenn sich ein Zungenpiercing in ein Brustpiercing verhakt hat. Oder zwei Zungenpiercings. Und dann hatten sie sich die Telefonate vorgestellt: „Hölphe. Gommense schnöll.“
Wie sich herausstellte, war die Idee gar nicht so dumm. Nachdem es Rasim etwas besser ging, hatte Pidder die Seite einfach online gestellt und das alte Taxi umgebaut. Vorne war jetzt nur noch Platz für einen Fahrgast und hinten gab es ein komplettes mobiles Tattoo-Studio. Angefeuert durch die Berichterstattung vom Tätowierer, dem die Decke auf den Kopf gefallen war und der seitdem nur noch verrückte Motive stach, gab es plötzlich eine nie geahnte Nachfrage. Es war hipp, sich völlig benebelt auf dem Parkplatz vor dem Club ein Zufalls-Tattoo von Rasim stechen zu lassen. Denn ein Rasim Gürkan Tattoo war eine Mutprobe der besonderen Art. Manche merkten erst am nächsten Tag, worauf sie sich eingelassen hatten. Aber man zahlte gut für dieses Vergnügen. Gleichzeitig vermarktete Pidder die Tattoo-Motive auf Tassen, Caps, T-Shirts und sogar auf Socken. So hatten beide fast wieder so etwas wie ein geregeltes Einkommen. Dabei konnte Rasim seine künstlerische Narrenfreiheit in vollen Zügen ausleben.
Und Elli? Finanziell hatte sie ausgesorgt. Sie hatte Abi gemacht und BWL studiert, während er in der Weltgeschichte rumgereist war. Sie hatte für einen Headhunter nach jungen Talenten gesucht, einige von denen angeheuert und sich mit ihrer Software-Firma „U-Talk“ selbstständig gemacht. Es ging wohl um Online-Kommunikation in Firmen. In den Seuchenjahren ist das „Produkt“ dann durch die Decke gegangen. Sie hatte vor fast einem Jahr einen über 10 Jahre jüngeren Mann geheiratet. Sie war reich. Was konnte da noch schief gehen? Außer, dass einem die Decke der Alten Bleicherei auf den Kopf fiel.
„Wir sind da!“, rief Rasim und fuhr das Tattoo-Tataxi rechts ran.
***
„Endlich!“, dachte Elli, als Pidder das Zimmer betrat. Eigentlich war sie sauer Stufe acht, weil der Penner mal wieder zu spät kam.
Dachte der, sie hätte den ganzen Tag Zeit?
Okay. Hatte sie. Aber das war kein Grund, sie warten zu lassen! Gleichzeitig war sie so froh, diesen viel zu dünnen, alten, über und über tätowierten Freak zu sehen, dass die Sauerskala direkt pulverisiert wurde. Null sauer. Es zeigte sich, dass sich das Warten gelohnt hatte. Pidder zog die Folie von seinem neuesten Tattoo und erzählte, wie es dazu gekommen war. Elli fand das so lustig, dass sie sich im echten Leben vermutlich eingenässt hätte. Aber sie genoss ja den Segen einer technisch gesteuerten Körpersaftentsorgung. Sie hörte seine blumig ausgeschmückte Geschichte und sog alles ein, was er ihr erzählte. Er hatte an einem Vormittag mehr erlebt als sie selbst in einem ganzen Monat. Bei diesem Gedanken spürte sie, wie die schwarze Depression wieder zu ihr kommen wollte. Das Vakuum, die absolute Leere drängte in ihren Kopf. Aber nein. Das durfte sie nicht zulassen. Pidder setzte ihr einen Kopfhörer auf, schloss ihn an einen uralten MP3-Player an und schaltete ihn ein.
Sie hörte die ersten Takte. Was war das? Kannte Pidder sie so schlecht? Sie hätte sich über Sting, Tracy Chapman oder Nirvana gefreut. Und jetzt das: Macarena. War das sein Ernst?
Pidder rückte in ihr Blickfeld.
„Spinnst du?“, brüllte sie ihn an. „Mach den Mist aus! Das ist Psychofolter.“
Pidder hörte ihren Protest nicht. Er grinste, als würde er ihr etwas Gutes tun. Dann hob er eine Seite des Kopfhörers an, sodass sie ihn hören konnte. „Elli. Stell dir vor, du tanzt. Du kennst die Schritte!“
„Was? Was soll das?“ Sie hatte nie im Leben Macarena getanzt. Oder doch? Die Musik fraß sich in ihr Unterbewusstsein. Plötzlich kamen Erinnerungen an ein Video in ihr hoch. Wann war das? 90er-Jahre?
Es gab eine bestimmte Bewegungsabfolge. Elli räumte das Inventar aus ihrem Head-Office. Sie brauchte Platz. In Gedanken streckte sie zunächst beide Arme nach vorne, dann drehte sie die Handflächen nach oben, legte die Hände über Kreuz auf die Schultern, dann an den Hinterkopf, stemmte sie in die Hüften, drehte die Hüfte, ging in die Knie. Und dann kam der Aufwärtsschwung seitwärts mit der Sprungdrehung um 90 Grad.
„Dumm lalala lalagría Macarena.
Dumm laladummdi lalagría cosa buena.
Dumm lalala lalagría Macarena.
Hey, Macarena!“
Und wieder von vorn. Immer und immer wieder. Es war wie ein Rausch. Arme, Hände, Hüfte, Knie, Aufwärtsschwung, Sprung. Die Musik erfüllte ihren Kopf.
Sie fühlte sich so leicht wie schon lange nicht mehr. Arme, Hände, Hüfte, Knie, Aufwärtsschwung, Sprung: „Ay!!!“
Sie erschrak. Hatte sie wirklich gerufen? Pidder sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Hast du mich gehört?“, schrie sie. „Du hast mich gehört! Sag, dass du mich gehört hast!“
Pidder rannte aus dem Zimmer und kam mit Simon zurück. Er nahm Elli behutsam den Kopfhörer ab.
„Sie hat mit dem Oberlid gezuckt“, flüsterte er aufgeregt.
„Was Oberlid! Scheiß auf Oberlid!“, schrie sie. „Ich hab‘ gerufen! Ay! Hab‘ ich gerufen! Du hast es doch gehört!“
„Bist du sicher?“, fragte Simon. „Das ist großartig. Professor Dr. Braukjans vermutet schon lange, dass es keine post-komatöse Bewusstlosigkeit ist, sondern das Locked-In-Syndrom. Bewusste Augenbewegungen oder ein Blinzeln wären ein absoluter Durchbruch.“
„Elli. Wenn du mich hörst, dann blinzle mal.“ Pidder sah ihr direkt in die Augen. Auf der anderen Seite der Linse brüllte Elli so laut sie konnte: „Was meinst du, was ich seit Ewigkeiten versuche? Du Idiot. Es klappt nicht!“ Sie konzentrierte sich. Blinzel, blinzel, blinzel. Nichts.
„Nichts“, sagte Pidder enttäuscht.
„Wir brauchen Geduld“, sagte Simon.
„Geduld am Aaaaaaarsch!“, brüllte Elli.
„Komm, Simon. Hilf mir mal, Elli ans Fenster zu setzen.“
Gemeinsam brachten sie das Pflegebett in Sitzposition und drehten es zum Fenster. Pidder öffnete den Fensterflügel und legte ein paar Walnusskerne auf das Sims. Dann schloss er das Fenster wieder, setzte sich zu Elli aufs Bett und kontrollierte, ob die Nusskerne auch genau in ihrem Sichtbereich lagen. Dazu legte er sein Gesicht Wange an Wange an Ellis, sodass sie exakt auf gleicher Höhe waren.
Dann starrte er geradeaus. Ja. Das passte.
„Wofür sind die?“, fragte Simon.
„Für Quirl. Das Eichhörnchen. Ich habe es so genannt, weil es so quirlig ist. Und weil sich Quirl so anhört wie Squirrel. Das englische Wort …“
„… für Eichhörnchen. Ich weiß“, vervollständigte Simon. Sie schauten eine Weile gemeinsam aufs Fenstersims.
Die Kerne sahen aus wie kleine Gehirne. Drei einsame schutzlose Hirne, die darauf warteten, gefressen zu werden. Elli weinte innerlich.
„Die Positronenemissions-Tomographie weist darauf hin, dass die Stoffwechselaktivität bei Elli höher ist als bei normalen Wachkoma-Patienten“, erklärte Simon leise. „Der Professor hat dazu auch schon bei Ellis Mann angerufen und ihn zu einem Gespräch eingeladen. Wenn wir mit ihr augenabhängige Kommunikationscodes vereinbaren, dann können wir uns vielleicht irgendwann mit ihr verständigen.“
„Simon!“, dachte Pidder. „Schade, dass du hetero bist.“
„Mick!“, dachte Elli. „Er wird kommen. Und dann wird alles gut.“
„Piep-piep-piep!”, machte Simons Pager. Simon hatte schon viel zu viel Zeit hier vertrödelt. Er musste wieder an die Arbeit. Es warteten noch andere Patienten.
Quirl
Elli starrte jetzt seit fast zwei Stunden auf die Hirne. Bevor er gegangen war, hatte Pidder den MP3-Player noch mal gestartet und ihr den Kopfhörer aufgesetzt. Diesmal ließ die Playlist keine Wünsche offen. Lediglich Tracy Chapman fehlte. Dafür hatte Pidder die lange Version von „Sweet child in time“ aufgespielt. Und „Wish you were here“. Jetzt war die Playlist zu Ende, und das Gerät hatte sich ausgeschaltet. Elli dachte an Mick. Warum besuchte er sie so selten? Und warum verhielt er sich so seltsam? Wenn er kam, brachte er Blumen mit und stellte den mordsteuren Strauß außerhalb ihres Sichtfeldes auf. Ihm war offensichtlich vollkommen egal, was sie sah, was sie dachte, was sie fühlte. Was war los mit ihm? Wie würde er reagieren? Morgen. Wenn der Professor ihm sagen würde, dass es möglich wäre, mit ihr zu kommunizieren. Aber dafür müsste sie das Blinzeln noch mal hinbekommen. Sie würde üben. Blinzel, blinzel, blinzel.
Plötzlich erschien Quirl. Er huschte hin und her. Sah durchs Fenster genau in ihre Augen. Das Tier bewegte sich in den schnellen ruckartigen Abständen, die alle kleinen Fluchttiere auszeichnet. Bewegen, erstarren, bewegen. Schneller sein als die Blicke der Fressfeinde. Das war das Geheimnis des Überlebens. Quirl biss in einen Walnusskern und drehte ihn mit den Vorderpfoten. Im Nu hatte er die erste Nuss verspeist. Er nahm den zweiten Kern ins Maul und verschwand vom Sims. Wenig später sah Elli ihn an einem Baum im Park hochflitzen. Oben im Baumwipfel sah sie eine runde, verschwommene Kugel. War das sein Nest? Wie nannte man es noch bei Eichhörnchen? Elli überlegte. Kolben? Nein. Kobel. Mit L am Ende. Kobel.
„Was geht hier vor sich? Wer ist hier zuständig?“, ertönte plötzlich eine schrille Stimme hinter ihr. Elli hasste es, wenn sie nicht sehen konnte, wer mit ihr im Zimmer war.
Jemand kam von hinten durch den Raum. Plötzlich beugte sich ein unfassbar altes Gesicht über sie. „Was geht hier vor sich?“. Ein verschrumpelter Mund in einem Meer von Falten formte diese Worte. Das Gesicht war so nah. Viel zu nah. Elli sah zwei himmelblaue Augen, die aussahen wie Seen in einem Gebirge. „Wer ist hier zuständig?“, tönte es.
„Frau Mönter! Ach, hier sind Sie!“ Simon erschien in Ellis Sichtfeld. „Sorry, Frau Derksen. Aber Frau Mönter geht gerne mal spazieren.“
„Was hier vorgeht, habe ich gefragt“, schimpfte Frau Mönter. „Wer ist hier zuständig?“
„Ich bin hier der Verantwortliche und ich werde Sie nun wieder in ihr Zimmer bringen“, beruhigte Simon die aufgebrachte alte Dame mit freundlicher Stimme. Er nahm behutsam ihren Arm und Elli hörte, wie er sie aus Ellis Zimmer führte. „Das hat hier alles seine Richtigkeit, Frau Mönter. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Alles gut.“ Seine Stimme entfernte sich.
„Alles gut?“, dachte Elli. „Augenabhängige Kommunikation? Wir können uns vielleicht irgendwann mit ihr verständigen? Geduld?“ Noch nie hatte sie sich so sehr gewünscht, ihren nutzlosen Körper verlassen zu dürfen.
***
Es war Nacht. Elli starrte an die Decke. Sie kannte jeden verdammten Fliegenschiss über ihrem Bett. Im Halbdunkel des Zimmers sah sie diese Feinheiten zwar nicht, aber sie wusste, wo sie waren. Eine nicht ganz passende Winkelleiste in der Zimmerecke. Der Rauchmelder, der seit zwei Wochen nicht mehr blinkte. Eine schlecht verspachtelte Verteilerdose in der rechten Ecke. Sie sah alles nur schemenhaft, aber sie kannte jedes Detail. Sie sah das, was man sieht, wenn man mit geöffneten Augen auf dem Rücken liegt und es Nachtschwester Elise wumpe ist, dass man das sieht, was man sieht. Kategorie: Mirdochegal. Elli konnte nicht schlafen. Im Gegenteil. Sie war hellwach.
Sie dachte an Quirl. Der würde jetzt bestimmt in seinem Kobel liegen. Sie war stolz, dass ihr der Begriff wieder eingefallen war. Erinnerungen sind kostbar, wenn man nicht mal eben auf eine Suchmaschine zugreifen kann. Elli sah durch die Decke hindurch.
Sie stellte sich die Baumkrone vor und hörte die Blätter rauschen. Das Mondlicht schien durch die Zweige. Es roch nach Holz, Blättern, Moos und Gras. Sie fühlte eine Astgabel unter sich und drehte sich ruckartig um. Unter ihr war das Schlupfloch. Sie huschte hindurch und rannte kopfüber den Stamm hinab. Verwirrt drehte sie sich um und rannte wieder hinauf. Träumte sie? Nein. Sie war hellwach! Sie dreht den Kopf in ruckartigen Bewegungen.
Was war mit ihr los? Wo war sie? Sie konnte sich bewegen. Sie hüpfte über einen Ast und floh panikartig wieder den Baum hinauf. Jetzt saß sie wieder im Kobel und zitterte am ganzen Körper. Was? War? Das? Sie sah ihre behaarten Pfoten im Mondlicht und quiekte laut.
Im gleichen Augenblick starrte sie wieder an die Decke. Sie lag in ihrem Bett. Vorsichtig versuchte sie ihre Hände zu bewegen. Nichts. Blinzeln! Ging nicht. Natürlich. Hatte sie geträumt? Aber sie war vollkommen wach gewesen! Da war sie sicher.
Wieder konzentrierte sie sich und versuchte durch die Decke hindurchzusehen. Quirl? Sie versuchte sich ihn vorzustellen. Aber diesmal passierte nichts. Warum nicht? Was war anders als eben? Ihr kam ein Gedanke. Quirl hatte geschlafen. War es möglich? Konnte ihr Bewusstsein den Schlaf des Eichhörnchens nutzen, um in seinen Körper zu schlüpfen?