Elvis Presley - Alan Posener - E-Book

Elvis Presley E-Book

Alan Posener

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Beschreibung

Elvis Presley (1935 – 1977), der «King of Rock 'n' Roll», verkörpert wie kein Zweiter Träume und Alpträume Amerikas: den Aufstieg aus Armut zu Ruhm und Reichtum; die Einsamkeit, den Exzess und Lebensverdruss eines Königs. Seine Musik spiegelt die Widersprüche unserer Zeit – zwischen Schwarz und Weiß, Mann und Frau, Todessehnsucht und Lebenshunger, Rebellion und Konformität, Naivität und Selbstironie, Kommerz und Kunst. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Seitenzahl: 226

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Alan Posener • Maria Posener

Elvis Presley

 

 

 

Über dieses Buch

Elvis Presley (1935–1977), der «King of Rock ’n’ Roll», verkörpert wie kein Zweiter Träume und Albträume Amerikas: den Aufstieg aus Armut zu Ruhm und Reichtum; die Einsamkeit, den Exzess und Lebensverdruss eines Königs. Seine Musik spiegelt die Widersprüche unserer Zeit – zwischen Schwarz und Weiß, Mann und Frau, Todessehnsucht und Lebenshunger, Rebellion und Konformität, Naivität und Selbstironie, Kommerz und Kunst.

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Vita

Maria und Alan Posener sind seit über fünfzig Jahren unorganisierte Elvis-Fans. Beide leben zusammen in Berlin.

Alan Posener hat für die Reihe rowohlts monographien Bände über John Lennon (1987), John F. Kennedy (1991), William Shakespeare (1995), Franklin Delano Roosevelt und Maria (beide 1999) geschrieben. Zuletzt erschien in einer Neuausgabe: «John F. Kennedy. Biographie» (2013). Posener ist freier Autor und schreibt für «Die Welt», «Zeit Online», die «Jüdische Allgemeine» und andere Medien.  

Impressum

rowohlts monographien

begründet von Kurt Kusenberg

herausgegeben von Uwe Naumann

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2021

Copyright © 1993 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Für das E-Book wurde die Bibliographie aktualisiert, Stand: Oktober 2021

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten

Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Hamburg

Coverabbildung aus «Elvis Presley. Tutti Frutti oder die allgemeine Erektion der Herzen», München 1990 (Elvis Presley, Foto von William Speer, 1955)

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01249-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

That’s All Right Mama

1. Hound Dog

Der Mississippi leuchtet / Wie eine Gitarre Marke «National» aus Stahlblech / Und ich folge dem Fluss / Dem Highway / In die Wiege des Bürgerkriegs hinein / Ich fahr nach Graceland … (Paul Simon)[1]

«Graceland» ist ein amerikanischer Wallfahrtsort. Hier lebte und starb Elvis Presley, hier liegt er neben seiner Mutter, seinem Vater und seiner Großmutter im «Meditationsgarten» begraben. Täglich kommen mehrere tausend Menschen aus der ganzen Welt hierher, defilieren an den schlichten Grabplatten vorbei und lassen sich durch das Haus führen, das mit seinem klassizistischen Portikus Erinnerungen an die Herrenhäuser der alten Plantagen wachrufen will und das Elvis in einem Stil dekorieren ließ, der einmal «Neo-Bestattungsinstitut» genannt worden ist.

Wenn sich die alte Baumwollstadt Memphis in der stickig-schwülen Augusthitze quält, finden sich jährlich vierzig- bis fünfzigtausend Menschen zur «Elvis International Tribute Week» hier ein. Höhepunkt ist die traditionelle Kerzenprozession zur Grabstätte am Todestag, dem 16. August.

Memphis ist Elvistown, und Graceland liegt an einer Straße, die schon zu Lebzeiten des Hausherrn in «Elvis Presley Boulevard» umbenannt wurde. Besucher können dort ein Elvis-Museum besichtigen (eine Elvis-Bibliothek nach dem Muster der Präsidenten-Bibliotheken ist auf dem Anwesen geplant), zwei von Elvis’ vier Privatflugzeugen und das «Elvis Presley Automobile Museum» mit einigen seiner Cadillacs, Motorräder, Geländewagen usw. bestaunen. Sie können in einem Tourenbus die Stätten besuchen, die den Aufstieg eines Mannes markieren, der Millionen Anhängern schlicht als «The King» gilt: die Sozialwohnung der Familie Presley in Lauderdale Courts, die Hume High School, das Tonstudio der Firma «Sun Records» in der Union Avenue, die Freilichtbühne in Overton Park, wo der erste große Auftritt stattfand – banale, oft hässliche Orte, auf die das verklärende Licht einer Legende fällt, einer Lebensgeschichte, die bereits zur kollektiven Mythologie des 20. Jahrhunderts gehört.

Und da stoßen wir schon auf eine paradoxe Schwierigkeit: Darüber ist schon so viel geschrieben worden, dass die Leute die wahre Geschichte gar nicht kennen.[2]

Vielleicht gar nicht kennen wollen: Bereits 1958 ehrte der Kongress seines Heimatstaates Mississippi den Dreiundzwanzigjährigen mit einer Resolution: «Elvis Presley ist eine Legende geworden und eine Inspiration für Millionen und aber Millionen Amerikaner, indem er eine historische amerikanische Idee bestätigt, nämlich dass ein Mensch in unserer Nation Erfolg haben kann durch individuelle Initiative, harte Arbeit und nicht nachlassenden Glauben an sich selbst und seinen Schöpfer.»[3] Vierzehn Bundesstaaten begehen den Geburtstag des Stars offiziell als «Elvis Presley Day», und die Lobby der über hundertfünfzig Fan-Clubs in Amerika arbeitet daran, auch die restlichen 36 Staaten herumzubekommen. Der Mann, der 1956 die geheimen Ängste aller Spießbürger der Welt, die un-amerikanische Aktivität schlechthin, den Untergang der abendländischen Kultur verkörperte, ist ein nationales Heiligtum geworden, und nicht nur weil «alle dich lieben, wenn du sechs Fuß unter der Erde steckst», wie John Lennon sang.[4] «Es ist wie deine erste Liebe», erklärt Belinda Lee, die jedes Jahr nach Graceland kommt. Und: «Er erfüllte den amerikanischen Traum, und wir trugen dazu bei, dass dieser Traum Wahrheit wurde.»[5] Die einsamen, traurigen letzten Jahre, da er sich als aufgeblähte Karikatur seiner selbst durch Hunderte von Konzerten quälte, der einsame, unwürdige Tod auf dem Fußboden neben dem Klo gewinnen bereits die Konturen eines Martyriums, in dem wahlweise sein gewissenloser Manager, seine treulose Frau, seine Freunde und Handlanger, die ihn vor der Selbstzerstörung nicht bewahrten, sein Arzt, der ihm Medikamente in tödlichen Mengen verschrieb, oder wir selbst, das Publikum, das sich an ihm nicht sattsehen konnte, die Rolle des Bösen spielen. «Er hat die Stellung eines mittelalterlichen Heiligen eingenommen», sagt der Andenkenverkäufer Ed Rains. «Wir verkaufen Reliquien.»[6]

Acht Souvenirläden gibt es im «Graceland Plaza Shopping Center» am Elvis Presley Boulevard. Hier können die Fans Fotos, T-Shirts, Abziehbilder, Gartenkeramik, Kuscheltiere («hound dogs» und «teddy bears»), Elvis-Wein und Elvis-Make-up kaufen. In anderen Läden gibt es «Love Me Tender»-Strumpfhalter und -Scheidenbefeuchter. Es ist leicht, über diesen Kult zu lachen; Elvis lachte darüber, und über sich selbst; die Fans lachen auch darüber: «Wir zahlen 2000 Dollars, um hierherzukommen», sagt Yoko Minami, Sprecherin einer Gruppe von zwanzig Fans aus Tokio. «Wir kommen jedes Jahr. Früher waren wir nicht verrückt. Er hat uns verrückt gemacht.»[7]

Elvis Presley ist, anders als der Intellektuelle John Lennon, der den Titel für sich reklamierte, ein «working class hero», ein Held aus der Arbeiterklasse für die Arbeiterklasse: Mein Papa war ein einfacher Arbeiter. Er hatte keine berufliche Ausbildung, genauso wenig wie ich. Meistens fuhr er einen Lastwagen.[8] Der bald peinlich-berührte, bald belustigte Blick auf den Elvis-Kult und seine Anhänger – die übergewichtigen Matronen mit Lockenwicklern, die bierbäuchigen «good ol’ boys» mit Baseballmützen – verrät den Hochmut der «Gebildeten – zu nichts Verbildeten», wie Werther sie nennt. «Diese Liebe, diese Treue, diese Leidenschaft … Sie lebt, sie ist in ihrer größten Reinheit unter der Klasse von Menschen, die wir ungebildet, die wir roh nennen.»[9] Und auch Paul Simon, Produkt der jüdisch-intellektuellen Bohème New Yorks, in seinem Habitus genauso weit vom Südstaatenjungen Elvis Presley entfernt wie wir Europäer, bekennt: «Aus Gründen, die ich nicht erklären kann / Will ein Teil von mir nach Graceland / Habe ich Grund zu der Annahme / Dass wir alle Aufnahme finden / in Graceland.»[10]

Sie sollten wissen: Ich las Comics, und ich war der Held der Comic-Hefte. Ich sah Filme, und ich war der Leinwandheld. Also ist jeder Traum, den ich je träumte, hundertmal in Erfüllung gegangen.[11] Lag bewusste Selbstironie vor, wenn sich der «King» als Held der Comic-Hefte – als unwirkliche Gestalt also – bezeichnete? Es ist durchaus möglich. Er war seinem Image, seinem respektvoll-unterwürfigen Yes Sir, No Ma’am gegenüber Reportern, seiner Angst vor Intellektuellen[12] zum Trotz eine komplexe Persönlichkeit, und Selbstironie war einer seiner herausragenden Züge: Während ich hier Wasser trinke, können Sie sich Zeit nehmen und mich anschauen, sagte er dem Publikum seines triumphalen Comeback-Konzerts 1969 im International Hotel. Und dann sagen Sie: «Das soll er sein? Ich dachte, er wär größer. Sieht mickerig aus, der Kerl, nicht wahr?»[13] Er wußte, dass «Elvis» überlebensgroß im Pantheon der amerikanischen Superhelden neben seinen Kindheitsidolen und Rollenmodellen «Superman» und «Captain Marvel Jr.» thronte, mochte auch der Mensch Elvis Presley mit Atemnot, Heiserkeit und Lampenfieber auf einer Bühne in Las Vegas ringen.

Und doch: Welchen anderen Traum hätte ihm Amerika mitgeben können, als den, den er gelebt hat? «From rags to riches» wie die Romanhelden Horatio Algers – von der Blockhütte zum Weißen Haus wie Abe Lincoln – vom Laufjungen zum Millionär wie Andrew Carnegie – vom Sohn armer Weißer, auf die selbst die Schwarzen herabsahen, zum «King»: dies ist die Grundstruktur des grandiosen Mythos, den sich Amerika immer wieder erzählt, der Thomas Jefferson dazu bewegt hat, in die Unabhängigkeitserklärung die kühnen Behauptungen hineinzuschreiben, alle Menschen seien gleich und die Jagd nach dem Glücke sei ihr gottgegebenes Menschenrecht. Nur wer bereit ist, sich auf das Faszinierende und Furchtbare dieses amerikanischen Traums einzulassen, wird Elvis Presleys Geschichte verstehen.

 

Diese Geschichte beginnt etwa 200 km südlich von Memphis, in einem Ort namens East Tupelo, im Bundesstaat Mississippi. Schon der Name Mississippi ruft Bilder hervor: schwarze, fette Erde; Baumwollfelder, die sich zum Horizont erstrecken, in denen in langen Reihen schwitzende schwarze Gestalten schuften; Herrenhäuser, deren glänzendweiße neogriechische Fassaden den Geist der Sklavenhalterdemokratie Athens beschwören; Clark Gable und Vivien Leigh in «Vom Winde verweht»; die schwüle Untergangsstimmung der Dramen von Tennessee Williams. Mississippi ist die Heimat des Blues – Muddy Waters, Howlin’ Wolf, Elmore James, Jimmy Reed, John Lee Hooker, Skip James und Sonny Boy Williamson kommen von hier. Über 50 % der Bevölkerung dieses Staates waren 1930 schwarz. (Der Durchschnitt für das gesamte Gebiet der ehemaligen Südstaaten betrug 24,7 %, in New York State waren 3,3 % Schwarze und in Massachussetts ganze 1,2 %.)[14] Mississippi war der ländlichste und wahrscheinlich rückständigste Staat der Union, der Staat mit der höchsten Lynchrate; ein Staat, in dem noch 1964 erst 5 % der wahlberechtigten Schwarzen tatsächlich in den Wählerlisten eingetragen waren; in dem die Demokratische Partei faktisch einen Einparteienstaat errichtet hatte; in dem 1925, nach dem «Affenprozess» gegen den Lehrer John Scopes im Nachbarstaat Tennessee, das Lehren der Evolutionstheorie an allen staatlich unterstützten Schulen und Universitäten verboten wurde. «Der Kongo», bemerkte ein Schriftsteller, «ist nicht verschiedener von Massachussetts oder Kansas oder Kalifornien» (als der Süden).[15] Hier liegt in der Tat die «Wiege des Bürgerkrieges», und bei Tupelo fand 1865 eine der letzten Schlachten jenes schrecklichen Krieges statt. 14000 Soldaten des Nordstaatengenerals William Tecumseh Sherman schlugen 6000 Mann konföderierte Kavallerie und zündeten anschließend gemäß Shermans Strategie der verbrannten Erde die Stadt an.

Allerdings passen weder die Bilder aus «Vom Winde verweht» noch die Zahlen der allgemeinen Statistik ohne weiteres auf den Verwaltungsbezirk Lee County, in dem East Tupelo als damals selbständige ländliche Siedlung lag. Im Nordosten des Staates Mississippi gelegen, beginnt das Land hier hügelig zu werden; kleine Seen blinken auf, Wälder versperren den Blick auf den Horizont. Zwar wird auch in Lee County Baumwolle angebaut, doch da sich das Land zur Plantagenwirtschaft nicht eignete, hat sich eine Schicht unabhängiger Farmer halten können, die zudem frühzeitig neben dem Anbau von Baumwolle mit der Viehzucht begannen. Die Baumwolle wurde in der Bezirkshauptstadt Tupelo gesponnen und bis zum fertigen Kleidungsstück weiterverarbeitet; die Firma Carnation baute dort die erste Kondensmilchfabrik des Südens; eine Eisenbahnverbindung sorgte dafür, dass das Schlachtvieh schnell in die Hände der Metzger von St. Louis gelangte. Der Anteil von Schwarzen an der Bevölkerung von Lee County lag 1940 mit 31,8 % unter dem Durchschnitt Mississippis – im benachbarten Pontotoc County waren es 19 %, in Itawamba County, wenige Kilometer östlich, sogar nur 5 %. Die Familie Presley hatte in East Tupelo keine schwarzen Nachbarn. Als Kind hörte Elvis keinen Blues aus dem Delta, sondern neben Kirchenmusik die Country-Lieder von Jimmie Rodgers, der ebenfalls aus Mississippi stammte. Die Lynchrate in Lee County lag – mit «nur» einem Lynchmord im Zeitraum zwischen 1900 und 1931 – ebenso unter dem Durchschnitt wie der Analphabetismus der schwarzen und weißen Bevölkerung.[16] 1936 erhielt Tupelo als erste Stadt der USA Strom von Präsident Roosevelts New Deal-Vorzeigeprojekt, dem staatlich geplanten Staudammsystem TVA. Und noch heute besitzt Tupelo das größte Krankenhaus in Mississippi.

Tupelos Errungenschaften sind Zeugnisse der relativen Liberalität, der Initiative und Fortschrittsgläubigkeit des Bürgertums der Stadt und der bessergestellten Farmer. Doch kamen weder Elvis Presleys Vater Vernon Presley noch seine Mutter Gladys Smith aus diesen Schichten. Obwohl auch East Tupelo und damit ihr Häuschen einen Stromanschluss erhielt, fehlte den Presleys das Geld für Leitungen. Sie blieben ohne Strom – ein Sinnbild für das Geschick ihrer Familien, denen es seit ihrer Ankunft in der Neuen Welt im 18. Jahrhundert nicht gelungen war, die Chancen, Versprechen, Träume des Westens für sich zu verwirklichen.

Väterlicherseits war Elvis Presley englischer oder schottischer, mütterlicherseits schottisch-irischer Abstammung. (Als Journalisten dieses Ergebnis genealogischer Forschung Vernon Presley mitteilten, sagte er mit charakteristischer Naivität: «Ich habe nie davon erzählen hören, dass irgend jemand aus meiner Sippschaft von irgendwo da drüben herkam … Wir scheinen immer hier gewesen zu sein.»[17]) Im Lauf der Jahrhunderte trieb diese Menschen die Jagd nach dem Glück von South Carolina oder Alabama gen Westen; gelegentlich besaßen sie etwas Land, doch als Elvis geboren wurde, gehörten sie seit einigen Generationen zur Schicht der «Sharecropper», das heißt der landlosen Arbeiter, die gegen einen Anteil an der Ernte, in Geld oder Naturalien, bald auf dieser, bald auf jener Farm aushalfen und von den Schwarzen verächtlich «po’ white trash» genannt wurden, weißer Abfall, nicht mehr wert als die Hunde, die «hound dogs», die vor ihren Hütten in der Sonne dösten: You ain’t nothin’ but a hound dog – Du bist bloß ein fauler Hund / Jaulst die ganze Zeit / Kannst nicht mal ein Kaninchen fangen / Kannst niemals mein Freund sein … Sie sagten, du wärst was Besseres / Aber das war bloß Lüge …[18]

Eine Unstetigkeit, eine Abneigung gegen kontinuierliche Arbeit, eine Neigung zu unbekümmertem Hedonismus scheint ein Erbteil der Männer sowohl mütterlicher- wie väterlicherseits zu sein – kein Wunder vielleicht in einem Land, das in seiner wuchernden Schönheit als «eine Art kosmische Verschwörung gegen das Realitätsprinzip zugunsten der Romantik» beschrieben worden ist.[19] Gladys’ Vater Robert Lee Smith war ein umherziehender Landarbeiter und gelegentlicher Schnapsbrenner. (Mississippi, einer der ersten «trockenen» Staaten der USA, ist zugleich für die Trinkfreudigkeit seiner Bevölkerung bekannt.) Er heiratete seine Cousine Doll Mansell und setzte neun Kinder in die Welt, bevor er knapp vierzigjährig starb. Die Ehe zwischen derart engen Verwandten war zwar im Süden in allen Schichten üblich («Wilkes und Hamiltons heiraten immer ihre eigenen Cousinen», heißt es in «Vom Winde verweht»[20]; auch Elvis’ Freund und Rivale Jerry Lee Lewis aus Louisiana heiratete seine dreizehnjährige Cousine), hatte aber oft schlimme Folgen: Gladys’ Bruder Tracy wurde taubstumm geboren; ihre Brüder Travis und Johnny waren Trinker, neigten zu Gewalttätigkeit und starben jung.

Vernons Vater Jessie war ein Wanderarbeiter, den es nie lange an einem Ort hielt, der sein Geld für Whiskey, schicke Kleidung und Frauen ausgab und die Aufzucht der sechs Kinder seiner Frau Minnie Mae überließ, bis er eines Tages endgültig verschwand. Vernon hasste ihn (der Hass wurde erwidert), erbte aber Jessies gutes Aussehen und seine Abneigung gegen geregelte Arbeit.

Es sind die Frauen, die die Familie trotz der Männer und ohne die Männer zusammenhalten: starke, oft ungewöhnliche Frauen wie Gladys’ Ururgroßmutter Morning Dove White, eine Cherokee-Indianerin, oder ihre Urgroßmutter Nancy Burdine, eine Jüdin; wie Vernons Großmutter Rosella, deren Mutter von ihrem Mann sitzengelassen wurde und die vielleicht deshalb nie heiratete – aber mindestens neun Kinder gebar. Die Kehrseite dieser Stärke ist eben ihre Schwäche für Männer, die außer ihrer Schönheit – auffallend viele männliche Vorfahren Elvis Presleys werden als schöne Männer beschrieben – nichts in die Ehe mitbringen.

Auch Vernon war ein schöner Junge – gerade 17, als er die einundzwanzigjährige Gladys 1933 heiratete. (Dem Standesbeamten von Pontotoc County erklärten sie, Vernon sei 22, Gladys 19. Diese Fiktion hielt Gladys bis zu ihrem Tod mit 46 Jahren aufrecht, weshalb man oft lesen kann, sie sei wie ihr Sohn mit 42 gestorben.) Gladys arbeitete als Näherin in Tupelo, Vernon fuhr Milch aus. Von seinem Arbeitgeber, dem Farmer Orville Bean, bekam er ein Grundstück und Holz, mit dem er eigenhändig ein zweizimmriges Häuschen mit Außentoilette baute, das Beans Eigentum blieb und für das die Familie Miete zahlen musste. In diesem Häuschen an der Old Saltillo Road wurde in der Nacht vom 7. zum 8. Januar 1935 Elvis Aaron Presley geboren.

Gladys gebar Zwillinge. Das erste Kind wurde tot geboren – Vernon nannte es (ein bewusst ödipaler Streich?) Jesse nach seinem Vater, mit zweitem Namen Garon. Eine halbe Stunde später kam das zweite Kind, Elvis Aaron. «Elvis» war Vernons zweiter Name und ist ein Anagramm auf «lives» – «lebt», «Aaron» reimt sich auf den Namen des toten Zwillingsbruders. Zeit seines Lebens grübelte Elvis über das Mysterium – wie es ihm schien – seiner Geburt, seines Überlebens. In Dixieland wurde ich geboren / Früh an einem frostigen Morgen – so beginnt «American Trilogy»[21], der Höhepunkt seiner Show in den siebziger Jahren. In diesem Lied zelebriert Elvis bewusst seine Rolle eines amerikanischen «Königs». Eine Funktion des Königtums ist die Überwindung von Widersprüchen, und «American Trilogy» ist ein Amalgam aus drei Songs: «Glory, Glory Hallelujah», dem Marschlied der Nordstaaten im Bürgerkrieg, «Dixie», der «Nationalhymne» der Südstaaten, und «All My Trials», einem Spiritual der Sklaven. (Zugleich dokumentieren diese Lieder in sich die widersprüchliche Einheit Amerikas, denn «Glory Hallelujah» wurde in Süd-Carolina – in «Dixieland» also – komponiert, und «Dixie» wurde zuerst von schwarzen Schauerleuten am Mississippi gesungen und bei einer Minstrel Show in New York uraufgeführt.)

Der Tod hat Elvis Presley immer fasziniert, Todessehnsucht war ein Teil seiner Persönlichkeit, so als empfände er wie Viola in «Was ihr wollt»: «Was soll ich denn in Illyrien? / Da mein Bruder in Elysium ist.»[22] In «American Trilogy» singt er: Ruhig, mein Kindchen, weine nicht / Du weißt, dein Daddy muss sterben / Alle Plagen / Sind bald vergessen … Seine Lieblingshymnen wie «I’m Gonna Walk Dem Golden Stairs», «In My Father’s House», «Milky White Way», «Known Only To Him», «Swing Down Sweet Chariot», «Mansions Over The Hilltop». «If We Never Meet Again», «Working On The Building» – fast alle Titel der LP «His Hand In Mine» (1960) – feiern die Erlösung durch den Tod.

Andererseits schien sein unwahrscheinliches Überleben – zumal nachdem Gladys 1942 eine Fehlgeburt erlitten hatte – ihm (und ihr) ein Zeichen seiner Auserwähltheit: Ich spürte immer, dass irgendwann, irgendwie irgendetwas geschehen würde, um alles für mich zu verändern, und ich phantasierte in Tagträumen darüber, wie es sein würde.[23] Seit ich ein Kind war, wußte ich, dass etwas mit mir geschehen würde. Ich wusste nicht genau, was es sein würde, aber es war ein Gefühl, dass die Zukunft irgendwie hell schien.[24]

Mochte die Zukunft hell erscheinen, die Gegenwart war es nicht. Zwar behauptete Elvis: Ich hatte nie das Gefühl, dass wir arm waren. Ich konnte immer Schuhe tragen, und es gab immer zu essen, aber ich wusste, dass meine Eltern zusätzlich arbeiteten, nur damit ich genug zum Anziehen und zum Essen hatte.[25] Tatsächlich waren die Presleys bitterarm. 1937 endete die erste Euphorie des «New Deal» in der «Roosevelt-Rezession», und Vernon war wieder einmal arbeitslos. In dieser Situation fälschten er und ein Freund einen Scheck seines Arbeitgebers und Vermieters Orville Bean. Der ungeschickte Betrug flog auf, und die Männer wurden zur Strafe in die berüchtigte Zuchtanstalt Parchman geschickt, wo sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang unter der Aufsicht peitschenschwingender Wärter in den Baumwollfeldern schwitzen mussten. Der Blues-Sänger Bukka White, der dort wegen Mordes einsaß und den bekannten «Parchman Farm Blues» schrieb, sagte später: «Als ich rauskam, hätte ich am liebsten noch jemanden erschossen.»[26] Beans Rache war gründlich: kaum hatte der Sheriff Vernon abgeholt, mussten Gladys und der dreijährige Elvis ihr Haus räumen. Elvis hat Bean und seinesgleichen in «Big Boss Man» ein Denkmal gesetzt: Big Boss Man / Hörst du überhaupt, wenn ich rufe? / Du bist gar nicht so groß / Bloß weiter oben, weiter nichts.[27]

Heute sind weder East Tupelo noch die Old Saltillo Road zu finden. Das Geburtshaus – ein geschütztes Denkmal – liegt im Wohngebiet «Elvis Presley Heights» neben dem «Elvis Presley Park» mit dem von Elvis finanzierten «Elvis Presley Youth Center» am «Elvis Presley Drive». In der Nähe ist die «Elvis Presley-Gedächtniskapelle» – vom Sohn Orville Beans entworfen. (Wir lächeln über diesen Personenkult; aber während diese Zeilen geschrieben werden, ist man in Deutschland dabei, zahllose Straßen, Alleen, Plätze, Fabriken, Wohngebäude umzubenennen, die nach Marx, Lenin, Thälmann usw. benannt wurden, und davor vielleicht nach Hitler und den Seinen. Elvis Presley-Straßen usw. kommen bei dieser Aktion nicht heraus, obwohl man vermuten darf, dass Entertainer populärer sind – und bleiben! – als Politiker, von ihrem Nutzen für die Menschheit ganz zu schweigen.)

Die anderthalb Jahre, die Vernon in «Parchman Farm» verbrachte, wirkten traumatisch auf Vater, Mutter und Sohn. Die Idylle des Häuschens in East Tupelo war dahin, und es begann eine Serie von Umzügen, die erst mit dem Einzug in Graceland ein Ende fand. Vernon wurde zwar frühzeitig – 1939 – entlassen, aber seine Vorstrafe machte es ihm nicht leichter, Arbeit zu finden. Elvis wuchs im kritischen Alter von drei bis vier Jahren ohne Vater auf – die ohnehin starke Bindung zwischen der Mutter und ihrem einzigen überlebenden Kind entwickelte sich in diesen Jahren zu einer fast symbiotischen Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit: Meine Mutter – ich vermute, da ich ein Einzelkind war, waren wir einander etwas näher als – ich meine, jeder liebt seine Mutter, aber ich war ein Einzelkind, und als ich sie verlor, verlor ich nicht nur eine Mutter, sondern eine Freundin, eine Kameradin, einen Menschen, mit dem ich reden konnte. Ich konnte sie mitten in der Nacht wecken, wenn ich Sorgen oder Probleme hatte, und sie stand auf und versuchte, mir zu helfen.[28]

Gladys hatte eine panische Angst, ihren Sohn zu verlieren, ihren wichtigsten Halt in einer feindlichen Welt: Meine Mutter ließ mich nie aus ihren Augen. Ich durfte nicht mit den anderen Kindern zum Fluss hinuntergehen. Als ich klein war, bin ich manchmal davongelaufen. Dann hat mich Mama verhauen, und ich glaubte, sie liebte mich nicht.[29]

1948 veröffentlichte der britische Soziologe Geoffrey Gorer die Ergebnisse einer Studie, bei der er die Methoden der vergleichenden Anthropologie auf die Gesellschaft der USA anwendete.[30] Gorers Ergebnisse zeigen, wie gerade Elvis Presley versteckte, verdrängte Wesenszüge des amerikanischen Mannes verkörperte – er war, wie ein Song von ihm heißt, The U.S. Male[31]. Gorer sah in Amerika ein Land, das der Form nach ein Patriarchat, in Wirklichkeit aber das «Mutter-Land» ist. Die Mutter ist es, die in der Familie das Geld kontrolliert, durch Zuwendung oder Liebesentzug belohnt und bestraft und (im Gegensatz zur Wiener Gesellschaft, die Freud als Untersuchungsobjekt diente) die letzte moralische Instanz darstellt: das amerikanische Über-Ich ist weiblich. Die Mutter bietet das entscheidende Rollenmodell für die Kinder beider Geschlechter – das Ergebnis ist eine tiefe Unsicherheit der Jungen hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung, ihrer männlichen Identität; eine panische Angst, homosexuell zu sein oder zu erscheinen, die durch einen Machismo-Kult und ein penetrant zur Schau gestelltes Interesse an Frauen überkompensiert wird.

Was Gorer über die USA in der Mitte des 20. Jahrhunderts herausfand, galt verstärkt für den Süden, wo die weiße Frau die reinrassige Abstammung und damit die Überlegenheit des weißen Mannes garantierte; ihre Reinheit galt es, vor der Lüsternheit des schwarzen Mannes zu bewahren – diese Wahnvorstellungen, gekoppelt mit dem schlechten Gewissen der weißen Männer, die sich oft genug zu schwarzen Frauen «davonstahlen», hatten im Süden zu einer wahren Vergötterung der Mutter geführt.

Die unmittelbare familiäre Situation verstärkte also die Wirkung vorhandener psychokultureller Kräfte, um aus dem jungen Elvis genau das zu machen, was er nicht sein durfte, wenn er vor seinen Kameraden – und vor sich – bestehen wollte: ein Muttersöhnchen. Als ich aufwuchs, wurde ich oft böse auf sie, das ist doch natürlich, oder? Ein junger Mensch will irgendwo hingehen, irgendwas unternehmen, und deine Mutter lässt dich nicht, und du denkst, was ist denn mit der los? Aber später, nach Jahren, entdeckst du, dass sie recht hatte, dass sie alles nur getan hat, um dich zu schützen, um dich vor Ärger und vor Schmerzen zu bewahren. Und ich bin sehr froh, daß sie ziemlich streng mit mir war.[32]

Zeit seines Lebens wurde Elvis ein leichtes Stottern nicht los und litt unter Asthma – klassische psychosomatische Symptome der Söhne dominierender Mütter. Er hatte häufig Albträume und wandelte im Schlaf. Die später an ihm beobachtete Hypermotorik, die abrupt (und immer stärker nach dem Tod der Mutter) durch eine depressive Lethargie abgelöst werden konnte, die plötzlichen Zornesausbrüche, die Esssucht und Medikamentensucht, die ihn am Ende überwältigten, zeugen von tiefen Ängsten, die nicht zu bannen waren.

Im dunklen Herzen dieser Ängste sitzt die Verwirrung hinsichtlich der eigenen Sexualität. Priscilla Presley erzählt, einige Verwandte hätten Elvis als Heranwachsenden gemieden und als «Tunte» beschimpft.[33]… die Leute in der Stadt konnte man sagen hören: Ist er? Ist er? Und ich sagte: Bin ich? Bin ich?[34] Albert Goldman spricht von dem in Hollywood «weitverbreiteten Verdacht seiner latenten oder aktiven Homosexualität»[35], insbesondere wegen Elvis’ Freundschaft mit Nick Adams, dem Freund James Deans. Es gelang Elvis Presley nie, eine dauerhafte, erfüllende Beziehung zu einer erwachsenen Frau herzustellen, und er lebte bis zu seinem Tod umgeben von einer Schar männlicher Kumpane. Bei Auftritten in Memphis vor seinen ersten Plattenaufnahmen soll Elvis als «der Liberace des kleinen Mannes» vorgestellt worden sein. Der Entertainer Liberace, der bis zum Tode seiner Mutter in seinem 60. Lebensjahr bei ihr lebte, war homosexuell (er starb 1987 an AIDS). Gladys liebte ihn, und der späte Elvis kopierte viele seiner Show-Manierismen, insbesondere die Vorliebe für brillantbesetzte Ringe und anderen Schmuck und für prunkvolle, juwelenbestickte, glitzernde Kostüme, in denen der «King» – aufgedunsen, als wäre er von seiner eigenen Weiblichkeit überwältigt – bei seinen letzten Konzerten tatsächlich eher wie eine «Queen», eine alternde Tunte, aussah.

Es mag paradox erscheinen, im Kern des potentesten männlichen Sex-Symbols des 20. Jahrhunderts eine grundlegende sexuelle Ambivalenz auszumachen; aber gerade die sexuell undifferenzierten, «androgynen», ja hermaphroditischen Qualitäten Elvis Presleys – die fast weibliche Schönheit seines Gesichts, durch Lidschatten betont, die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen und die Sanftheit seiner Stimme, besonders in den hohen Lagen – machten einen Teil seiner Attraktivität aus, vor allem für pubertierende Mädchen, die durch eine eindeutigere sexuelle Ausstrahlung abgeschreckt worden wären. Jungen hingegen reagierten auf Elvis Presley entweder (wie z.B. der sechzehnjährige John Lennon) mit bedingungsloser Hingabe oder mit blindem Hass und dem Wunsch, ihn zusammenzuschlagen: Es wurde ziemlich abartig. Wenn sie mich auf der Straße sahen, hieß es: «Heiße Kiste, den mischen wir auf, der ist ein Verrückter, der ist eben gerade von den Bäumen herabgestiegen, den holen wir uns.» Als Elvis diese Anekdote 1969 erzählte, hatte er auch erfahren, dass sein Erfolg nichts an dieser Einstellung ändern würde: Ich hatte später vier Filme gemacht und war ziemlich mit mir zufrieden, hatte eine Sonnenbrille an und saß da in meinem Cadillac und dachte mir: «Ich bin jetzt ein Filmstar, heiße Kiste. Mann!» Und der Chauffeur denkt sich: «Mensch, pass bloß auf, der ist ein Verrückter, der ist gerade eben von den Bäumen herunter.»[36]