EMMA - ICH BIN DIR NÄHER ALS DU DENKST - Sarah Arndt - E-Book

EMMA - ICH BIN DIR NÄHER ALS DU DENKST E-Book

Sarah Arndt

3,3

Beschreibung

Erst kürzlich ist die junge Emma mit ihren Eltern und ihrem Bruder ins winterliche Norwegen ausgewandert. Ein großes Abenteuer, welches jedoch von dem Umstand überschattet wird, dass die Gegend seit einigen Wochen von einer grausamen Mordserie heimgesucht wird. Zudem entspricht Emma auf erschreckende Weise auch dem Opferprofil des Täters – junge blonde Frauen, die auf grässliche Weise zur Schau gestellt werden. Schon bald beginnen für Emma die Grenzen zwischen Realität und Albtraum zu verwischen, und sie ahnt nicht, vor welchen Grausamkeiten sie ihr Unterbewusstsein zu warnen versucht …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 269

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,3 (3 Bewertungen)
1
0
1
1
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Emma – Ich bin dir näher als du denkst

Sarah Arndt

Impressum

Deutsche Erstausgabe Copyright Gesamtausgabe © 2023 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2023) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-746-4

Sie lesen gern spannende Bücher? Dann folgen Sie dem LUZIFER Verlag aufFacebook | Twitter | Pinterest

Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf Ihrem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn Sie uns dies per Mail an [email protected] melden und das Problem kurz schildern. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um Ihr Anliegen.

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche Ihnen keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Inhaltsverzeichnis

Emma – Ich bin dir näher als du denkst
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Über die Autorin

Prolog

Ihr Kopf schmerzte und pochte, als würden Millionen kleiner Drucklufthämmer ihre Schädeldecke bearbeiten. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln und alles hätte endlich ein Ende.

Die Folter, die sie die letzten paar Stunden, vielleicht sogar Tage – das Zeitgefühl war ihr gänzlich abhandengekommen – durchleben musste, die überwältigenden Gefühle und schmerzvollen Erinnerungen, die ihr im Kopf schwirrten, all das hatte bald ein Ende.

Das Schreien hatte sie längst aufgegeben, und selbst wenn noch ein Funken Hoffnung in ihr schimmern würde, gerettet zu werden, fehlte ihr die Kraft dazu.

Sie fühlte sich einfach zu schwach.

Die unglaubliche Kälte, die ein schmerzvolles Kribbeln und betäubendes Gefühl in ihr hervorrief, war kaum noch zu ertragen. Auch ihre Arme glichen mittlerweile erschlaffenden, unheimlich schweren Ballasten, die rückwärts von ihr weg um einen Baum geschlungen waren.

Ihre Fingerspitzen, die aufgrund der viel zu festen Schlingen um ihre Handgelenke, die sie an Ort und Stelle hielten, und der beißenden Kälte bereits blau angelaufen waren, konnten sich beinahe berühren.

Handelte es sich überhaupt um einen Baum, an den sie gebunden war? Sie wusste es nicht.

Das Einzige, was sie noch richtig zu spüren vermochte, stellte eine warme, flüssige Maske dar, welche ihre Wangen hinunterlief und feuchte, nach Eisen riechende und schmeckende Linien hinterließ. Durch die Maske blieb der Blick auf das Blut in ihrem Gesicht verwehrt.

Sie selbst konnte nur leichte Lichtstrahlen erhaschen, die sich einen Weg durch die kleinen, feinen Löcher der Maske bannten, und an sich selber hinunterschielen.

Ihrem Körper, der vor Anstrengung und Qualen zitterte, entwich allmählich die Energie, sich auf den Beinen zu halten. Wenn sie sich jedoch fallen ließ, würden ihr die Bänder, die zur Stabilisation um ihren Hals gebunden waren, die Luftzufuhr abschnüren. Sie war kaum noch in der Lage, klare Gedanken zu fassen. Das Einfachste wäre die Akzeptanz gewesen und sich dem Schicksal hinzugeben. Doch das ähnelte ihr keinesfalls, und sie hatte auch nicht vor, so zu enden. Selbst als ihr Bruder starb, war sie jederzeit für ihre Eltern da gewesen und hatte ihnen eine Stütze geboten, die sie selber vonnöten gehabt hätte. Deshalb weigerte sie sich entschlossen, ihren eigenen Tod mit ausgestreckten Armen willkommen zu heißen.

Es kam ihr einfach nicht in den Sinn, womit sie das verdient hatte.

»Bald wirst du der Hölle ausgesetzt sein und für das bestraft werden, was du getan hast«, flüsterte jemand dem Mädchen ins Ohr. Sie spürte die Atemluft der Person, die ihr Ohrläppchen streifte. Diese stand ganz dicht bei ihr, während sie ihr beim Sterben zusah. Ekel kroch ihre Speiseröhre hinauf. Übergeben tat sie sich allerdings nicht.

Diese Stimme war von Hass erfüllt, jedoch war ihr auch das Machtgefühl klar zu entnehmen.

»Aber vorerst kommen wir zur Krönung«, hauchte die Stimme.

Sie hatte diesen Menschen noch nie zuvor gesehen, und wurde jetzt für etwas bestraft, wovon sie nicht wusste, dies je getan zu haben. Doch wer war dieser Jemand?

Mit diesem letzten Gedanken setzte ein so großer Schmerz ein, von dem sie niemals hätte träumen können, und sie merkte erst jetzt, dass sie gar keine Stimme mehr besaß, um zu schreien.

Kapitel 1

Emma

»Verdammt. Eine Schande, dass dieser Mistkerl immer noch hinter Gittern sitzt!« Mom schlug verärgert das Handtuch aus, bevor sie es zurück über den Griff des kleinen Backofens hing, und lehnte sich an die Spüle.

Wir alle sahen gebannt auf den Fernseher, der im Wohnzimmer stand. Obwohl wir in der Küche saßen, war es uns nun, seit wir in dem neuen Haus lebten, möglich, auch während der Mahlzeiten das Weltgeschehen zu verfolgen. Ausschließlich Nachrichten während der Mahlzeiten. Das war eine Regel, die Mom und Dad aufgestellt hatten, nachdem sie gemerkt hatten, dass Seb oder ich bei irgendwelchem Schrott, den täglich sämtliche Sender ausstrahlten, zu abgelenkt oder zu gelangweilt waren. Die Nachrichten aber trugen dazu bei, unser Wissen zu erweitern. Nicht wie die Blondine, die mal wieder ihren Freund betrogen hatte und nun um Vergebung bettelte, da ihr ja gar keine andere Wahl blieb. Was sollte man auch anderes tun, umgeben von 13 Single-Männern in einer Villa. Vor allem, wenn die einzig konsumierte Flüssigkeit Alkohol oder unbeabsichtigt das Poolwasser war.

»Psycho trifft es wohl eher«, murmelte Seb und schob sich eine Handvoll Cornflakes in den Mund.

Wenigstens sprach er nicht mit vollgeschaufelten Backen.

»Es spielt keine Rolle. Die armen Familien …«, schnaubte Mom, als würde sie die Familien der bisherigen Opfer kennen. Bei näherer Überlegung klang dies gar nicht so weit hergeholt. Hier kannte jeder jeden. Damals in Hannover war es anders. Dort war man bei grundloser Begrüßung verwirrt gewesen. Im Nachhinein plagte einen dann meist das schlechte Gewissen, weil man davon ausging, die Person doch gekannt zu haben, denn die Chancen, von einer unbekannten Person angesprochen zu werden, stand gleich null.

Doch hier machte das den Alltag aus. Nichts für schwache Nerven, wenn man es eigentlich gewohnt war, mit einer Mimik herumzulaufen, die jedem signalisierte, dass man gleich bereit dazu wäre, eine Messerstecherei anzufangen.

Meine Wangen mussten sich erst einmal an das Dauerlächeln gewöhnen, das sich auf meine Lippen legte, wenn ich das Haus verließ. Muskelkater war garantiert. Dabei sollte man sich glücklich schätzen, in solch einer Nachbarschaft zu leben. Aber wenn man mit nichts anderem von zu Hause vertraut war, dann konnte so etwas einen vor eine sehr große Herausforderung stellen.

Und das macht die zwei Morde, die jetzt in kürzester Zeit aufeinanderfolgten, auch so ungewöhnlich und ungreifbar.

In solch einer Kleinstadt rechnete niemand mit solchen, vor allem brutalen, Vorfällen. Dort, wo jeder jeden grüßte und man sich an Festtagen sogar zum Essen verabredete, bevor einer der Nachbarn trostlos allein zu Hause saß.

»Mach mal lauter!«, zischte Mom und fuchtelte mit vor Konzentration in Falten gelegter Stirn in Sebs Richtung, um ihn darauf hinzuweisen, sofort nach der Fernbedienung zu greifen.

Er tat dies und packte gespannt das längliche, dünne mit Tasten versehene Gerät, welches direkt neben ihm auf dem Küchentisch lag, und erhöhte die Lautstärke.

Mom begab sich schnellen Schrittes ins Wohnzimmer, welches mit der Küche verbunden war. Das machte es uns möglich, auch von dort aus fernzusehen. Einzig und allein die dunkelbraune, hüfthohe Küchentheke, in der Müsli, Gewürze, Mehl und Zucker gelagert wurden, trennte beide Zimmer voneinander. Sie erstreckte sich aber nur bis zur Hälfte des Raumes und bot somit einen guten Zugang ins gemütliche Wohnzimmer.

Mom ließ sich aufs Sofa sinken und stützte sich gleich daraufhin wieder auf ihren Handflächen nach vorn. Nun hatte sie ihre typische Denker- und Zuhörerposition erreicht. Diese nahm sie immer ein, wenn sie versuchte ungestört dem riesigen, elektrischen Kasten zu horchen, der vor ihr gerade eine brünette Nachrichtensprecherin zeigte, die endlich nach einigen, mit dramatischer Musik unterlegten Bildausschnitten, wie man es sonst eher aus Filmen kannte, zu Wort kam. Diese stand vor einem Waldabschnitt, ganz in der Nähe unseres Ortes.

»… und die Polizei ist nicht bereit, weitere Information an die Presse freizugeben. Es wird versucht, den Fällen so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zuzuwenden, um die Ermittlungen nicht zu stören. Aber als Journalistin fühle ich mich natürlich verpflichtet, Sie …« In diesem Moment hätte Seb sich beinahe an der übrig gebliebenen Milch verschluckt, die er aus seiner Schüssel schlürfte, und gab ein merkwürdiges Grunzen von sich. »Ha!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Deshalb zeigen sie das auch seit Tagen in Dauerschleife, macht Sinn.«

»Pscht!«, ermahnte Mom ihn mit einem erbosten Blick und wandte sich dann wieder der kleinen, zierlichen Sprecherin zu.

»… wir wissen, ist wohl schon grausam genug. Nachdem das erste Opfer, das an einen Baum gefesselt und auf einer Art Podest zur Schau gestellt wurde, vor elf Tagen in dem Waldabschnitt unserer Kleinstadt gefunden wurde, folgte nun unerwartet das zweite Opfer. Zur Zusammenfassung kurz zum ersten Opfer. Dies starb eines schrecklichen Todes. Ihre Stirn zierte ein Kopfschmuck, wobei zierte wohl zu milde und romantisierend ausgedrückt ist, denn der besagte Schmuck bohrte sich stellenweise in den Kopf des armen Mädchens. Das jedoch war nicht die Todesursache. Diese war schlicht und einfach das grausame und vermutlich langsame Ersticken an den Schlingen, die dazu dienten, den Körper am Baum zu halten. Eine interessante, letzte Entdeckung, die gemacht wurde, war die Zahl 4, die ihr in beide Innenseiten der Arme geritzt wurde. Warum das alles passiert ist, ist noch unklar. Der darauffolgende Mord aber war noch angsteinflößender. Das Opfer, bei dem es sich wieder um eine junge Frau handelte, fand man im selben Ort. Jedoch am Ende des Waldrandes. Sie wies eine Stichwunde in der Brust auf, nahe dem Herzen. Das Schrecklichste daran ist, dass ihr eine Kalium-Lösung verabreicht wurde, nicht oral, sondern über einen Schlauch, durch den der Täter versucht hatte, ihr die genannte Flüssigkeit ins Herz einzutrichtern. Ein weiterer Unterschied zu der anderen jungen Frau ist, dass es sich bei der eingeritzten Zahl nicht um die Nummer 4 handelte, sondern um die 5. Die Polizei geht derzeit der Frage nach, ob die Leiche eventuell das fünfte Opfer einer bislang ungelösten Mordserie darstellt. Aber mehr ist noch nicht geklärt«, fuhr die Frau, nun ohne weitere Unterbrechung fort und gab kurze Zeit später an einen älteren, schlanken Kollegen weiter, der bereits vor einem Greenscreen stand, auf den das Wetter für die nächsten Tage projiziert wurde.

»Und so eine Tragödie auch noch hier. Wir sind doch gerade erst dabei, richtig anzukommen. Wie soll man sich denn so sicher in seinen eigenen vier Wänden fühlen, wenn man weiß, dass so ein Verrückter da draußen rumläuft!« Empört erhob Mom sich und nickte Seb auffordernd zu, damit er die Lautstärke wieder reduzierte.

»Und dann stell dir mal vor, du hast auch noch eine Tochter!«, fing er nun an zu scherzen und zeigte auf mich. »Pass auf, wenn du dich draußen herumtreibst. Nicht, dass du die Nächste bist … ach neeee, du bist ja sowieso nur in deinem Zimmer.« Er pikste mir beim Vorbeilaufen an meinem Stuhl in die Seite, auf dem ich im Schneidersitz ruhte und selbst noch mit meinen Cornflakes beschäftigt war.

»Du bist dir der Situation gar nicht bewusst, Sebastian, also höre auf, dich über solch eine ernste Lage lustig zu machen. Du weißt nicht, was der Kranke als Nächstes macht«, stellte Mom mit ernster Mimik klar.

Ich wandte meinen starren Blick von der Schüssel ab und stand auf. Der Name Sebastian fiel nur, wenn er sich mal wieder Dinge erlaubte, die Mom ganz und gar nicht gefielen. Das war also das endgültige Zeichen für ihn, die Konversation zum Wohle aller ruhen zu lassen.

»Ist doch jetzt egal. Was anderes als abwarten können wir sowieso nicht«, ging ich schlichtend dazwischen und tat Seb das Wegräumen des Frühstücks gleich.

Seit dem Umzug aus unserer Heimat, merkte man förmlich die Anspannung, die in der Luft lag.

Man musste bloß aufpassen, nicht gleich in ein unsichtbares, elektrisch geladenes Energiefeld zu tappen, dessen Berührung alles in die Luft jagte.

Der Unterschied zu allen anderen Malen, in denen Seb, sowie auch ich dem Energiefeld geschickt ausweichen konnten, war, dass es so aussah, als würde es gleich zu einer Kollision kommen.

Denn Seb atmete tief ein und umso kontrollierter wieder aus. Sein Oberkörper, umhüllt von einem dicken Adidas-Pullover, richtete sich weiter auf und erweckte den Anschein, bereit für den Einzug in einen Kampf zu sein.

Ich betete, dass er die nächsten Schritte weise wählte, doch wusste ich tief im Inneren, dass ich mich, zwischen den Fronten, nun für eine Seite entscheiden musste.

»Es ist nicht nur das, okay? Es ist doch einfach der ganze beschissene Umzug. Was soll ich in Norwegen? In Norwegen? Ihr habt in Hannover einfach alles zurückgelassen, was ihr euch jahrelang aufgebaut habt. Euer ganzes Hab und Gut. Und auch ich musste Verluste einfach so hinnehmen. Das ist doch gequirlte Scheiße!« Gutes Argument. Ich entschied, noch eine Weile die Rolle des stillen Beobachters zu spielen und lehnte mich währenddessen mit meinem Gesäß an die Küchentheke und rechnete mit einem Konter oder Angriff seitens der anderen Front.

Doch es blieb still.

Es war diese Art der Stille, in der man nicht wusste, ob sie nun unangenehm, gefährlich oder doch dankbar hinzunehmen war.

»Hör mal …« Sie pausierte und stützte sich mit einer Hand am Tisch ab, während sie sich entnervt mit der anderen die rechte Schläfe massierte. Gleich war es soweit, die folgende Explosion war förmlich zu spüren.

»Ich weiß, dass gerade alles drunter und drüber geht und es keinesfalls leicht für euch beide war … ist. Aber ich weiß auch, dass das alles ist, was euer Vater und ich je wollten, und das müsst ihr akzeptieren und das Beste draus machen.«

»Das Beste draus machen?«, rutschte es mir spottend heraus. Mein Unterbewusstsein entschied sich wohl für keine Seite, sondern nahm seine eigene Position ein.

Beide wandten ihre Blicke zu mir und sahen mich an, als wäre meine Anwesenheit schon völlig in Vergessenheit geraten. Aus dem Nichts überkam es mich wie eine Welle an Emotionen, der nicht mehr zu entfliehen war.

Wie, als wenn man damals trotz der hohen Wellen und der Gefahr, von diesen mitgerissen und unter Wasser gedrückt zu werden, als Kind im Meer badete. Aber so neugierig und mutig man auch gewesen war, versuchte man bei jeder neu anbahnenden Welle in die Höhe zu springen, um sich ihrer Kraft zu entreißen. Dies mag spaßig gewesen sein, aber nur bis zu dem Punkt, an dem man die falsche Welle erwischte. Die, deren Höhe und Kraft man gänzlich falsch eingeschätzt hatte und die einen in die Dunkelheit herunterzog, in der man nach Luft rang und abwarten musste, bis es vorüber war oder eine mütterliche oder väterliche Hand zu Hilfe kam.

Diese Hand gab es gerade aber nicht.

Es war zu spät.

Die Welle war in sich zusammengebrochen.

»Wie bitte soll man das Beste aus einem Umzug in ein komplett fremdes Land machen, in dem man keine Sau kennt und in der jetzt nun auch noch ein Psychopath umherläuft und wahrscheinlich auch noch weitere Mädchen auf dem Gewissen hat und weitere Tote auf sein Konto gehen werden? Herr Gott, wie soll man da ständig positiv bleiben, und dann auch noch, weil es von einem verlangt wird, mit einem Dauerlächeln durch die Gegend schlendern?«, schrie ich nun beinahe all die angestaute Wut aus mir heraus und registrierte meine immer feuchter werdenden Augen.

Mir wurde heiß, obwohl es verdammt kalt war.

Ich hatte eigentlich nie Probleme mit der Kälte gehabt, dachte ich zumindest.

Der Umzug nach Norwegen hat dies rasch verändert, und mir wurde klar, dass ich einen richtigen Winter noch nie erlebt hatte. Ein Pullover war nicht mehr ausreichend, außer er war zufällig mit einem Innenfutter ausgestattet, dessen Dicke fünf Zentimeter betrug.

Hätte man mir in Hannover erzählt, ich würde irgendwann den Punkt in meinem Leben erreichen, an dem ich freiwillig dicke Unterhemden trug, hätte ich einfach nur ungläubig gelacht. Dieser Punkt war wohl doch schneller erreicht worden als erwartet.

Aber was weiß mein damaliges Ich schon über das, was noch alles eintreten würde. Norwegen, ein Land, dessen Existenz praktisch von mir ignoriert wurde, war jetzt das Land, in dem ich die kommenden Jahre feststecken würde. Und zu allem Überfluss war man nun dazu verpflichtet, sozial aktiv zu werden.

Allein dieser Gedanke löste schon einen Brechreiz in mir aus. Vielleicht wäre dieser jetzt sogar besser gewesen als hier gleich vor fast versammelten Mannschaft loszuflennen oder anzufangen Sachen durch die Gegend zu schleudern, als würden diese mir beim Aufprall ein unentdecktes Portal zurück nach Hannover, in meine bekannte Umgebung, öffnen.

Ich ballte die Hände zu Fäusten und drückte meine Nägel so tief in die Innenseite meiner Handflächen, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Ablenkung, Emma. Lenke dich bloß ab, um nicht gleich wie ein Schlosshund loszuheulen.

Ich legte meinen Kopf in den Nacken, um verzweifelt an die Decke zu starren, und biss mir auf die Unterlippe, in der Hoffnung, die Tränen würden so dorthin zurückfließen, woher sie gekommen waren.

Der gehobene Kopf ersparte mir die Blicke von den beiden vor mir Stehenden, die mir nahezu mitleidige Gesichtsausdrücke zuwarfen.

»Emma …«, fing Mom jetzt an, doch ich unterbrach sie, indem meine ausgestreckte Hand nach oben schnellte, wie bei einem Polizisten, der gerade dabei war, ein auf dem Fußgängerweg fahrendes Fahrrad anzuhalten, und stoppte auf Höhe ihres Gesichtes. Sie verstummte.

»I… ich möchte …«, versuchte ich aus mir herauszubringen, ohne verzweifelt loszuschluchzen. »… jetzt einfach … einfach allein sein«, beendete ich mehr oder weniger erfolgreich meinen Satz, senkte die Hand und verließ die Küche in Richtung Flur. Ich hatte die beiden nun in eine ganz neue Realität geholt, denn wann passierte es mal, dass Emma Lorenzen kurz davor war, vor anderen komplett in sich zusammenzubrechen.

Ich hasste es, die Kontrolle zu verlieren. Verdammt nochmal, ich hasste es sogar sehr.

Kontrolliert atmend schlurfte ich die Holztreppe hinauf in mein Zimmer.

Von wegen neues Haus.

Die Treppen quietschten bei jedem Tritt und auch die Heizung war die ersten Tage ausgefallen.

Man konnte von einem Wunder sprechen, dass ich noch am Leben und nicht schon längst erfroren war.

Die einzelnen Stufen waren von einem grauen Teppich überzogen, der schon vor unserer Einkunft verlegt worden war. Ein bisschen geschmacklos sah es schon aus, aber wen interessierte meine Meinung.

Ich schloss die Tür hinter mir und ließ mich rücklinks auf mein Boxspringbett fallen. In der alten Wohnung hatte ich mir immer schon eines gewünscht, aber das Zimmer war zu klein und die Betten zu teuer gewesen. Ich war nie die Person, die sich mit einem Hype mitziehen lassen hatte, aber diese Investition war es absolut wert gewesen. Ich drehte mich vom Rücken auf den Bauch, presste mein Gesicht in die Bettdecke und schrie. Brüllte all meine angestauten Gefühle in die unschuldige schwarze Bettdecke, die den Schrei soweit dämpfte, dass er unten nicht zu hören war.

Eigentlich waren meine Reflektiertheit und Gelassenheit in sämtlichen Situationen meine Stärken, doch die waren wohl mit meiner Freude in Hannover geblieben.

Es war noch nicht so lange her, dass ich das letzte Mal dort gewesen war, um Freunde zu verabschieden, aber auch, um die letzten Sachen für die Endgültigkeit des Umzuges zu holen. Es war eine der schmerzhaftesten Erfahrungen, die ich bisher in meinem erbärmlichen, unbedeutenden Leben gemacht hatte.

Mein Handy vibrierte und ließ mich aufschrecken. Ich strich mir die schulterlangen Haare aus dem Gesicht und warf einen Blick auf die Erinnerung, die auf dem Handydisplay aufploppte.

Besuch 18:00 Uhr

Ich stöhnte, wischte die Erinnerung nach rechts und setzte mich an die Bettkante.

Es war nun 16:00 Uhr. Mit einem Sonnenuntergang im Februar war so gegen 17:00 Uhr zu rechnen, was bedeutete, es war noch Zeit für einen kleinen Spaziergang. Ich musste einfach raus, frische, kalte Luft in meine Lungen dringen lassen und meinen Gedanken Platz verschaffen.

Ich stand also auf, schnappte mir meine dickste Jacke, Mütze, Handschuhe und meine Kopfhörer.

Wir befanden uns mitten im Februar, trotzdem war es heute sogar noch kälter als angesagt.

Ich ließ wortlos die Haustür hinter mir ins Schloss fallen, kuschelte mein Kinn in den überdimensionalen dicken Schal, den mir Hannah im Scherz mit den Worten: »den wirst du dort definitiv brauchen«, geschenkt hatte, und sah mich um.

Es war zweifellos eine schöne Gegend, das war nicht abzustreiten. Die Häuserreihe, die sich entlang der schmalen Straße erstreckte, bestand aus gepflegten, meist roten oder grauen Holzhäusern, die jeweils ein kleiner Vorgarten schmückte. Diese waren derzeit aber von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, durch welche die grauen Häuser irgendwie dunkler wirkten, als sie eigentlich waren.

Es war still, so still, dass man dachte, die Welt würde für einen kurzen Moment stehen bleiben und alles wäre in Ordnung.

Keine Trauer, keine Enttäuschungen und keine Morde, die die kleine Stadt in Atem hielten. Es war wirklich fast schon lustig. Da zieht man in eine unscheinbare Kleinstadt inmitten von Norwegen, und dann so eine Scheiße. Aber wer rechnete auch damit, dass so etwas an so einem Ort geschehen würde.

Hier konnte jeder zum Tatverdächtigen werden.

Genauso wie der Mann, dessen Erscheinungsbild mich direkt an einen Seemann erinnerte. Er kam mir entgegen, und ich spürte schon, wie sein Blick mich durchbohrte.

Der gerade, bestimmte Gang strahlte Selbstsicherheit aus und sein Vollbart, der, je näher er mir kam, umso grauer erschien, sprach für das fortgeschrittene Alter des Mannes. Aber vielleicht täuschte ich mich auch. Mit Bart alterte Dad auch um Jahrzehnte, dabei hatte er im vergangenen Monat erst seinen 48. Geburtstag gefeiert.

Die eng anliegende gelbe Stoffmütze ließ auf entweder sehr dünne Haare oder gar eine Glatze schließen, die sich unter ihr verbarg, und selbst die Jacke, die in meinen Augen eher einer grünen Regenjacke ähnelte als einer Winterjacke, lag eng an seinem kleinen, vorstehenden Bierbauch. Ich setzte zu einem netten Lächeln an, um ihm zu signalisieren, nicht an einer Begrüßung oder im schlimmsten Falle Smalltalk interessiert zu sein, und hoffte, er würde die weißen Kopfhörerkabel sehen, die unter der Mütze hervor bis zu meiner Jackentasche reichten und die Tatsache, dass ich ihn sowieso nicht hören könnte, somit offensichtlich war. Auch sonst hätte ich kein Wort auf Norwegisch verstanden. Meine Befürchtungen verflüchtigten sich schnell, als der etwas kleingewachsene Mann vorbeistolzierte und mir mit einem feinen, aber aufrichtigen Mundwinkelzucken zunickte, seine Augen trotzdem nicht von mir ließ. Sie wirkten aufgeweckt und freundlich. Die kleinen Falten um seine Augen waren das Einzige, was sein Antlitz zeichnete, und die dicken, buschigen Augenbrauen stellten ein perfektes Zusammenspiel mit seinem Bart dar. Unsere Wege kreuzten sich also und sobald er aus meinem Blickfeld verschwunden war, entspannten sich meine Gesichtsmuskeln und die leicht aufgesetzte, mir mittlerweile gut gelungene Freundlichkeit schwand so schnell, wie sie gekommen war. Obwohl ich mir keine weiteren Gedanken über den Fremden machte, drehte ich mich instinktiv um, vielleicht auch etwas paranoid durch das Gefühl, immer noch angestarrt zu werden, aber hatte nichts weiter als die menschenleere Nachbarschaft vor mir.

Kein Mann.

Wahrscheinlich war er schon in die Wärme getreten und begrüßte gerade herzlich seine Kinder, die hinter irgendeiner dieser Haustüren auf ihn gewartet hatten.

Alles easy, Emma.

Ich widmete mich wieder meiner eigentlichen Route und bog links in die kleine Straße ein, die fast direkt zu einem Steg führte. Die Stadt mochte zwar klein sein, doch an etwas mangeln tat es hier nicht. Unser Haus lag in der Nähe eines kleinen Sees und auch ein Wald war in Reichweite, der sich kilometerweit bis zur nächsten Kleinstadt erstreckte, in dem die beiden Mordopfer gefunden worden waren. Was ein Jammer, dass so ein schöner, friedlicher Wald zu so einem Schauplatz wurde. Ich hatte noch nicht die Möglichkeit gehabt, diesen genauer zu erkunden, wobei »nicht die Möglichkeit haben« vielleicht die falsche Formulierung dafür darstellte. Denn nicht die Möglichkeit dazu zu haben, weil man damit beschäftigt gewesen war, in seinem Zimmer vor sich hinzuvegetieren, verkörperte in meinen Augen keine so gute Ausrede.

Ich bog noch einmal nach rechts und dann in die schmale Seitenstraße nach links und erreichte so in wenigen Minuten den kleinen braunen Holzsteg, der einen beinahe bis in die Mitte des Wassers führte.

Ich folgte diesem bis zu seinem Ende und atmete tief ein. Die kalte Luft drang in meine Lungen, stellte eine angenehme Erfrischung dar und wurde in Form einer großen Nebelwolke wieder ausgeatmet.

Ich legte den Kopf in den Nacken und vergrub meine Hände, trotz der Handschuhe, tief in meine Jackentaschen. Ich hatte das Gefühl, dass alles um mich herum genau das Gegenteil von dem repräsentierte, was gerade in mir vorging. Alles erschien so ruhig, selbst die Oberfläche des tiefen Sees wirkte spiegelglatt. Sie reflektierte mich selbst, als ich zu ihr herunterblickte, und ich sah in ein von Schal und Mütze eingepacktes Gesicht mit roten Wangen. Ich hatte nie wirklich Probleme damit gehabt, wie ich aussah, denn es war eigentlich vollkommen irrelevant.

Leute sollten niemals aufgrund ihres Aussehens bewertet werden.

Noch nie hatte ich einen Gedanken daran verschwendet, mir die leichten Augenringe abzudecken, die meine blau-grünen Augen betonten, mir meine Lippen aufspritzen zu lassen oder die neuste Rouge-Palette von xy zu kaufen, für deren Anschaffung sicherlich ein halbes Vermögen draufging.

Aber das war es ja wert, denn wer will schon das Haus ohne hochwertigen Lidschatten verlassen.

Ich wandte meinem Blick vom Wasser ab und entschied mich, noch ein kleines Stück am See entlangzulaufen.

Es tat sichtlich gut, mal herauszukommen, und so übel war die Gegend wirklich nicht. Ich genoss die Ruhe, die mich umgab, denn sie stellte einen klaren Kontrast zu meinem Innenleben dar, und das half mir, mich zu sortieren.

Für diese Uhrzeit war es üblich, dass die Leute noch arbeiteten oder gerade dabei waren, das Abendessen vorzubereiten, um die hungrige Familie zu ernähren.

Ich verließ den Steg und sah mich um.

Keine Menschenseele, außer einem Paar, das am anderen Ende des Sees stand und gerade dabei war, während die Sonne unterging, herumzuknutschen. Bei den Temperaturen musste man sich natürlich irgendwie die Lippen warmhalten.

Der untergehende Himmelskörper, der sich auf der Oberfläche des Sees spiegelte und ihn in eine orange-rot schimmernde Farbe tauchte, war bald hinter den Häusern verschwunden und würde somit die Dunkelheit willkommen heißen.

Die Häuser, von denen allmählich das Sonnenlicht verschluckt wurde, standen vereinzelnd, nicht so wie unsere Häuserreihe, auf dem leicht in den Himmel verlaufenden Grund.

Ich blieb stehen.

Moment mal.

Verwirrt drehte ich mich um meine eigene Achse und zog den Geruch vom herben Parfüm tief durch die Nase ein.

Hier ist niemand.

Es war definitiv ein Männerparfüm, und das des Mannes auf der anderen Seite des Sees konnte es wohl kaum sein.

Erneut hielt ich um mich herum Ausschau nach einer männlichen Person und erkannte nun die großen Fußabdrücke im Schnee, die nicht von mir stammten und relativ frisch wirkten. Aber das war nicht das einzig Seltsame, was plötzlich Unbehagen in mir auslöste.

Ich kannte diesen Geruch. Er kam mir so bekannt vor, aber ich wusste nicht woher. Die einzigen männlichen Personen, mit denen ich in den letzten Tagen gesprochen hatte und die mich umgaben, waren Seb und Dad, und die besaßen so einen Duft nicht.

Beide bevorzugten leichte und weicher riechende Parfüms.

Dieses hier war aber so herb und stark, dass es kein Wunder war, dass dessen Wahrnehmung immer noch möglich war, ohne, dass die Anwesenheit des Menschen, der es trug, vonnöten gewesen wäre.

Fieberhaft versuchte ich die Quelle meiner Erkenntnis zu finden, doch meine Gedankensuche verlief ins Leere. Wahrscheinlich kannte ich den Duft gar nicht, sondern bildete es mir nur ein. Wobei ich mir trotzdem keine Erklärung für die unangenehmen Gefühle, die ich damit verband und die in mir ausgelöst wurden, herleiten konnte.

Ich hasste es, mir Dinge nicht erklären zu können, und suchte so lange nach Erläuterungen für Dinge, bis sie mich zufrieden stellten.

Ich seufzte, ergab mich genervt meinem Schicksal und machte mich grübelnd auf den Heimweg. Bald würde immerhin der Besuch eintrudeln.

Kapitel 2

Toivo

»Ich mach mich dann mal auf den Weg«, kündigte Toivo seinen Abschied an.

Der Freund seiner Mutter saß im kleinen Wohnzimmer und lauschte gespannt den Nachrichten. Seitdem vor mehr als einer Woche eine junge Frau ermordet aufgefunden worden war, zeigten sie nichts anderes mehr. Das Thema ist das einzige, was noch eine Rolle spielte, sowohl in den Nachrichten als auch in den Gesprächen der Nachbarn.

Patrick stand auf, um sich den Nudelauflauf vom Vortag aufzuwärmen, und schlug ihm beim Vorbeilaufen auf die Schulter. Er zuckte zusammen.

»Aber nicht so doll!«, lachte er, als wüsste er nicht, dass Toivo genau das Gegenteil davon war, was man einen Draufgänger nannte. Toivo hingegen wusste, dass Patrick sich einfach nur Mühe gab, doch wann einfach mal die Klappe gehalten werden sollte, hatte er bis heute nicht gelernt.

»Ich lasse dir noch etwas übrig, wenn du willst«, fügte Patrick hinzu, als er sah, dass seine Anmerkung alles andere als lustig war, und zeigte in Richtung des Kühlschranks, auf den man vom Flur aus schon einen Blick werfen konnte.

Seine Mutter wusste, dass sie es nicht rechtzeitig zum Abendessen nach Hause schaffte, also hatte sie einfach mehr am Vortrag gekocht, damit ihre Männer ja nicht verhungern, während sie sich unterwegs etwas holen wollte.

»Ist okay, danke.« Toivo nickte ihm anerkennend zu.

Er hatte den Auflauf sowieso nicht gemocht.

Ein Blick auf sein Handy verriet ihm, dass ihm noch 15 Minuten blieben.

»Bis später!«

Er verließ mit schnellen Schritten und dick eingepackt das Haus.

Verdammt, war es kalt.

Die Dämmerung war bereits vorüber und die Dunkelheit angebrochen.

Laternen erhellten die schmale Straße, durch die er nun spazierte und froh war, als er seine dünne Mütze in einer seiner Jackentaschen erfühlte, in der er eigentlich gerade seine Hand wärmen wollte. Natürlich hätte er auch das Fahrrad nehmen können, aber schon immer bevorzugte er das Gehen, auch wenn es länger dauerte. Wenigstens konnte er so das Geschehen in seiner Umwelt genauer betrachten. Er warf gern Blicke in die Häuser, die er passierte, um mehr vom Leben der anderen zu erfahren. Selbstverständlich stand er nicht wie ein Psychopath vor jedem einzelnen Haus und machte sich zusätzlich Notizen. Aber es war irgendwie ein beruhigendes Gefühl, zu sehen, dass andere auch nur ein normales Leben führten, welches von außen perfekt zu sein schien, aber im Inneren eigentlich davor stand, wie ein Kartenhaus einzustürzen. Letztens erst erhaschte er einen Blick in das Wohnzimmer der Anthonsens, in dem sich Kristina mit schulterbreit auseinander gestellten Beinen, ernsten Blickes und die Arme in die Hüften gestemmt vor den Fernseher stellte, Thorsten drohend den Zeigefinger vor die Nase hielt und ihn warnte, ja nicht nur weiter vor der Glotze zu sitzen und auch mal etwas für die Kinder zu tun, wenn er schon dabei war, arbeitslos zu sein.

Als Versager hatte sie ihn beschimpft, während er nur gleichgültig abwinkte.

Toivo war kein Spanner oder so, das Fenster war einfach offen gewesen und bei der Lautstärke hatte es sicherlich auch das Nachbardorf mitbekommen.

Toivo bog nach rechts ab und überprüfte die Adresse, die ihm Frau Andersen gegeben hatte, damit ihm die Peinlichkeit erspart blieb, beim falschen Haus zu klingeln.

Die Situation war so schon seltsam genug gewesen, obwohl er nie Probleme damit hatte, auf Leute zuzugehen, wenn es nötig war.

Er würde sich weder als introvertiert noch als extrovertiert bezeichnen. Eine gute Mischung traf es wohl eher.

Sein Ziel war näher, als er dachte – mit Straßennamen hatte er eigentlich noch nie Probleme gehabt, war immer ein Ass darin gewesen, sich die verschiedenen Bezeichnungen einzuprägen –, also räusperte er sich noch einmal, strich sich seine Haare großflächig aus dem Gesicht und folgte dem kleinen Kieselsteinweg, der zur weißen Holzhaustür führte.

Das Haus war schön, größer als seines und definitiv neuer. Die ihn umgebende Dunkelheit, die nur durch einzelne Laternen stellenweise durchbrochen wurde, machte es ihm unmöglich, weitere Details zu erkennen.

Er drückte entschlossen die kleine Metallklingel, die sich rechts neben der großen Tür befand, und erschrak, als diese lauter schellte als angenommen.

Was war er heute nur schreckhaft.

»Das wird er wohl sein, kommst du schon mal runter?«, vernahm er eine Stimme, die sich von drinnen mit schnellen und lauten Schritten näherte.