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Emma ist zurück!
Im zweiten Roman um das mutige Mädchen, nach Emma Laurent – Zwei Welten, verschlägt es Emma und ihre Familie nach Bangalore in Indien. In der Hightech-Metropole Asiens muss sie sich nicht nur mit einer vollkommen fremden Kultur und deren Bräuchen und Sitten herumschlagen, sondern wird auch mit einer tödlichen Bedrohung konfrontiert, die die Erlebnisse in Südfrankreich wie einen Spaziergang an einem sonnigen Nachmittag erscheinen lassen. Auf sich allein gestellt, muss Emma in der Zukunft die Vergangenheit beeinflussen, um in der Gegenwart zu überleben.
Eine Geschichte über Mut, Optimismus und Selbstlosigkeit – spannend, packend, witzig und traurig.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Tim Muller spähte wieder zum Monitor. Er war nervös. Wie immer, wenn etwas durchkam. Auf seiner Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gebildet, obwohl die Klimaanlage in dem Kontrollraum ganze Arbeit verrichtete. Vor zehn Minuten war er vom Warnsignal aufgeschreckt worden, das den Beginn einer Sprungsequenz ankündigte. Er hatte die Auswertung, an der er in einem Nebenraum arbeitete, sofort unterbrochen und war in den Überwachungsraum geeilt.
Seit zwei Jahren war Muller jetzt beim Bangalore-Timeshift-Project und er hatte keine Sekunde davon bereut. Er konnte sich noch genau an den Anruf erinnern, der ihn vor zweieinhalb Jahren in Cambridge erreicht hatte. Es war während der Mittagspause, als er in das Büro von Professor Sullivan gerufen worden war. Der hatte ihn neun Monate vorher erst ans Massachusetts Institute of Technology geholt. Seine Arbeiten auf dem Gebiet der Teleportation von Rinkon-Teilchen an der Berkeley-Universität hatten ihm die Aufmerksamkeit vom MIT eingebracht. Und so kam es dann schließlich zu dem Anruf aus Indien.
Da auf dem Überwachungsbildschirm noch nicht viel zu sehen war, widmete er sich erneut den Zahlenkolonnen, die über den zweiten Bildschirm flitzten. Nicht, dass er bei dieser Geschwindigkeit all die Tausenden Zahlenkombinationen und Codes auch nur annähernd registrieren konnte. Im Gegenteil, er war nur auf der Jagd nach einer Anomalie, einer Abweichung, die sich während der Sequenz zeigen könnte. Aber auch diesmal schien alles glattzugehen. Nur war es eine sehr lange Sequenz, die da ablief. Da kam was Großes durch, dachte Tim. Ein heller Schein, den er aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte, ließ seinen Blick wieder zu dem kleineren Überwachungsmonitor wechseln. Der Schein wurde intensiver, bis Muller nur noch reines Licht sah, das alles andere verschwinden ließ.
Er blickte auf die rückwärts laufende Anzeige der Digitaluhr an seinem großen Bildschirm. Noch 10 Sekunden. 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1, die Anzeige sprang auf 0 und blieb stehen. Die Helligkeit hatte ihren Höhepunkt erreicht und begann jetzt langsam wieder nachzulassen. Angestrengt versuchte Muller etwas zu erkennen und musste sich zurückhalten, um nicht sofort in die Halle nebenan zu laufen. Das war immer der aufregendste Moment, wenn sich etwas auf dem Bildschirm, aus dem gleißenden Licht herauszuschälen begann. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, wusste aber natürlich von seiner langen Tätigkeit bei Timeshift, dass wirklich alles durchkommen konnte. Mit den Jahren wurden die Gegenstände immer größer und komplexer im Aufbau, deshalb würde es ihn nicht wundern, wenn…
Muller schaute auf den Überwachungsmonitor. Instinktiv stieß er sich mit den Händen vom Schreibtisch ab, auf dem die Monitore standen. Fast geräuschlos rollte er auf seinem Bürostuhl zurück. Das Einzige, was er wahrnahm, war sein Herzschlag, der kurz vor dem Aussetzen war und jetzt wieder hochbeschleunigte. Er stand auf und ging wieder Richtung Schreibtisch. Er konnte es nicht fassen, was er da sah. Mit der rechten Hand suchte er einen Knopf auf der Bedienkonsole neben sich, die in den Schreibtisch eingelassen war, und drückte den Startknopf für den Stimmrekorder. Mit zitternder Stimme sprach er ins Mikrofon, während er den Blick nicht vom Überwachungsmonitor abwenden konnte.
»15.10.2087.« Er machte eine kurze Pause, um sich wieder zu beruhigen. »22.23 Uhr. Vor zehn Minuten begann eine Sprungsequenz, die um 22.22 Uhr und 43 Sekunden erfolgreich beendet wurde…«
Seine Stimme brach ab und ein eiskalter Schauer lief über seinen Rücken. Help me! Help me! Es war eindeutig. Muller drückte einen weiteren Knopf, der die Gegensprechanlage zum benachbarten Raum anschaltete. Die Anlage war normalerweise aus. Eigentlich brauchte man sie auch nicht. Gegenstände redeten nicht und riefen auch nicht um Hilfe.
»Help me! Please!« Kaum hörbar wisperten die Worte aus den Lautsprechern und ließen Muller doch zusammenzucken, als hätte jemand in ein Megaphon direkt neben seinem Ohr gebrüllt. Er starrte auf das Mädchen, das langsam und mit schwankendem Gang auf die Kamera zuging. Es weinte.
Der internationale Flughafen Kempegowda von Bangalore lag im Norden der drittgrößten Stadt Indiens. In den letzten Jahrzehnten hatte die Hauptstadt des Bundesstaates Karnataka ein rasantes Wachstum vollzogen und war zur IT-Metropole Asiens geworden. Alle großen internationalen Technik-Konzerne und Biotechnologie-Firmen hatten Niederlassungen und Forschungslabore in der Stadt gegründet, um vom indischen Boom etwas abzubekommen. Und sie alle zog es nach Electronics City, dem Silicon Valley Asiens. Auf fünfzig Quadratkilometern reihte sich ein Hightech-Betrieb an den anderen. Es gab aber auch einen großen Bereich mit zivilen und militärischen Einrichtungen für die Luft- und Raumfahrttechnik.
Geradezu euphorisch hatte Emmas Vater Dr. Lukas Laurent seiner Familie die Vorzüge ihrer neuen Heimat aufgezählt, nachdem sie, nach noch nicht einmal einem Jahr, Südfrankreich und das Kernforschungszentrum Grimadan fluchtartig verlassen hatten und über Paris und Abu Dhabi nach Indien weitergereist waren. Obwohl schon der Umzug von München nach Südfrankreich für Emma und den Rest der Familie nicht einfach gewesen war, konnte das ihren Vater nicht davon abhalten, ohne mit der Wimper zu zucken, Indien zuzusagen. Zu verlockend war seiner Ansicht nach das Projekt, das er leiten sollte. Die Weiterentwicklung einer Zeitmaschine, die, anders als in Grimadan, nicht nur Reisen in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft ermöglichen sollte. Emmas Einwurf, solch eine Maschine hätte sie und ihren Bruder beinahe das Leben gekostet, konterte er mit einem trockenen Ist doch alles gutgegangen. Typisch.
Ihr Taxi fuhr über den achtspurigen Electronics City Flyover, eine Autobahn, die vom Flughafen mitten durch Bangalore bis nach Electronics City führte, das im Süden der Stadt lag. Es war sieben Uhr morgens und die Stadt war schon zum Leben erwacht, sollte sie denn je geschlafen haben. Der Verkehr nahm im gleichen Verhältnis zu, wie sich der Abstand zur Innenstadt verringerte, und nach einer kurzen Phase von zäh fließendem Verkehr ging nichts mehr. Vor den zahlreichen Ausfahrten kam der Verkehr vollends zum Erliegen und der Taxifahrer machte eine resignierende Handbewegung. Dr. Laurent, der auf dem Beifahrersitz saß, schaute zurück in den Fond und sah seine Frau und seinen Sohn schlafen. Nur Emma war wach und schaute aus dem Fenster.
»Alles klar auf den billigen Plätzen?«, fragte er.
»Deine Sprüche waren auch schon besser, Papa«, antwortete Emma ohne den Blick vom Fenster abzuwenden.
Ihr Vater verzog das Gesicht. »Schlaf doch noch ein wenig. Ich glaube, das dauert hier noch ein bisschen.«
»Ne, hab ja im Flugzeug geschlafen. Und außerdem muss ich mir das hier einprägen. So wie ich dich kenne, werden wir nicht so lange in Indien bleiben, und da möchte ich so viele Eindrücke wie möglich mitnehmen. Und sei es nur diese tolle Aussicht auf Slums und Shopping Malls und Slums und Shopping Malls…«, entgegnete Emma mit sarkastischem Unterton.
»Ach Emma!«
»Ja, und vielleicht seh ich noch ʹne heilige Kuh. Die sollen hier ja auch auf den Straßen herumlaufen. Vielleicht verursacht eine gerade diesen bescheuerten Stau.« Emma schaute jetzt nach vorne, ihrem Vater direkt in die Augen.
»Emma, ich verspreche dir…«
»Du brauchst mir nichts zu versprechen«, unterbrach sie ihren Vater, »du kannst es eh nicht halten.«
»Dann lass es mich dir erklären.«
»Du brauchst mir auch nichts zu erklären. Ich hab genug Erklärungen in den letzten Wochen erhalten und sie haben mich kein bisschen schlauer gemacht. Also lass es am besten. Reine Zeitverschwendung. Es kommt, wie es eben kommt.«
»Du wirst sehen, diesmal wird es kein Kurzaufenthalt. Dieses Projekt, an dem ich arbeiten werde, ist auf lange Sicht angelegt und wir werden hier richtig sesshaft werden.«
»Mir würde es schon reichen, wenn ich mal meinen Schulabschluss machen könnte. Mehr Zeit brauch ich gar nicht. Dann bin ich eh weg. Meine Zukunft liegt in Deutschland und nicht in irgendeiner Großstadt in der indischen Pampa.« Ihre traurigen Augen trafen sich mit den entsetzten ihres Vaters.
»Davon hast du ja noch nie was erzählt, dass du das vorhast.«
»Warum sollte ich auch? Du hast noch nie auf mich oder Felix oder Mama Rücksicht genommen. Du hast dich immer nur um dich und deine bescheuerte Arbeit gekümmert. Und sag jetzt nicht, dass das nicht stimmt.«
»Immerhin leben wir von dieser Arbeit nicht schlecht, oder?«
»Falsche Antwort, Papa! Ganz falsche Antwort!« Emma schaute wieder zum Fenster hinaus. Neben dem Taxi war ein Schulbus zum Stehen gekommen. Emma konnte lachende und fröhliche Mädchen und Jungen erkennen, die ganz offensichtlich jede Menge Spaß auf ihrer Fahrt zur Schule hatten. Und eine Schuluniform ziehe ich auf keinen Fall an, dachte sie bei sich.
Eine Stunde später verließen sie den Flyover, den Emma in Stopover umgetauft hatte, was Felix aber nur ein Häh? entlockt hatte, und fuhren die Huskur Road Richtung Osten. Nach zwei Kilometern erreichten sie Electronics City Phase 6. Dieser Teil war erst letztes Jahr fertig geworden und somit die jüngste Ausbaustufe des riesigen Technologiezentrums. Gleichzeitig startete der Bau von Phase 7.
»Hier werde ich arbeiten«, sagte Dr. Laurent und hob seine beiden Daumen in die Höhe. »Phase 6!«, ergänzte er noch, was bei Felix Stirnrunzeln hervorrief. Er sagte allerdings nichts, weil er immer noch wegen Emmas Kommentar zu seinem Häh? beleidigt war. Er spürte allerdings Emmas Blick und drehte sich zu ihr. Die schaute ihn direkt an und konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, keifte er sie an.
»Nix! Was soll denn sein?« fragte Emma unschuldig zurück.
»Hört auf zu streiten«, mischte sich ihre Mutter ein. »Lass Felix in Ruhe, okay, Emma!«
»Ich mach doch gar nichts!«, wehrte Emma sich.
»Ja, ja, genau.« Felix wollte gerade weitermachen, als er von einem unartikulierten Laut vom Beifahrersitz unterbrochen wurde.
»Unser Haus!« rief Dr. Laurent und zeigte nach vorne.
Einen Moment später stoppte das Taxi auch schon am Straßenrand und alle schauten rechts zum Fenster raus.
»Unser neues Zuhause! Smilee Green Woods 256! Was sagt ihr?«
»Weder Smiley, noch Green und die Woods kenn ich auch anders.« Emma schaute missmutig auf das zweistöckige Gebäude. »Haben hier alle Häuser Nummern aus Quadratzahlen?«, schob sie hinterher.
Jetzt erntete sie allerdings nicht nur von Felix ratlose Blicke, sondern auch von ihren Eltern.
»Na dann wollen wir mal«, ergriff Dr. Laurent die Initiative und stieg aus, nachdem er dem Fahrer ein paar Rupienscheine in die Hand gedrückt hatte.
Sie holten das Gepäck aus dem Kofferraum und schauten dann dem Taxi hinterher, das gewendet hatte und den gleichen Weg zurückfuhr.
»Was ist jetzt? Sollen wir hier Wurzeln schlagen oder warten, bis wir von den Nachbarn angesprochen werden?«, fragte Emma.
»Gegenfrage. Welche Nachbarn?« Ihre Mutter schaute sich um. Es gab noch zwei weitere Häuser in der Straße. Auf dem Nachbargrundstück stand ein identisches Haus wie ihres und auf der anderen Straßenseite, etwas nach hinten versetzt stand ein Gebäude, das sich aber noch im Rohbau befand. Vor ihrem Grundstück parkte ein Auto.
»Also ich weiß nicht, Lukas. So richtig vertrauenserweckend sieht die Gegend aber nicht aus.«
»Das ist die Top-Adresse im Süden von Bangalore, Eva. Smilee Green Woods. Eine richtig teure Gegend.«
»So teuer, dass hier niemand wohnt«, stellte Emma fest.
»Ach was! Phase 6 ist eben gerade erst fertig geworden. Ihr werdet sehen. Hier ist ruckzuck alles vollgebaut.« Er schnappte sich seinen Koffer und ging den Eingangsweg zum Haus entlang und hatte gerade die halbe Strecke zurückgelegt, als die Haustür aufging und ein Inder herauskam und freudig winkte.
»Hallo Mr. Laurent! Hallo Family Laurent! Welcome to India! Wie war Ihre Reise?« Er verbeugte sich vor Dr. Laurent und seiner Familie, die jetzt zu ihm aufgeschlossen hatte. »Mein Name ist Chandan Kapur und ich bin Ihr Übersetzer.«
»Hallo Mr. Kapur«, sagte Dr. Laurent.
Von hinten kam jeweils nur ein »Hallo« von Emma und Felix, die beide misstrauisch den Inder beobachteten, der jetzt vom inneren Türknauf vier Blumenkränze abnahm und einen nach dem anderen über die Köpfe der überraschten Familie streifte. Dann holte er ein kleines Gefäß aus seiner Hosentasche, schraubte es auf und steckte seinen Zeigefinger hinein. Um den Willkommensgruß zu vervollständigen, erhielt jeder noch einen orangefarbenen Punkt auf die Stirn.
»Namaste!«, sagte der Inder und verbeugte sich.
»Namaste«, erwiderten Eva und Lukas Laurent fast gleichzeitig und verbeugten sich ebenfalls. Emma und Felix taten es ihnen gleich und grinsten.
»Kommen Sie herein in Ihr neues Zuhause.« Kapur machte eine einladende Geste und ging voraus. »Gleichzeitig bin ich auch einer Ihrer Kollegen, Dr. Laurent. Wir werden also zusammenarbeiten.« Er ging durch die noch offene Haustür, die von zwei Säulen eingerahmt war. »Gefällt Ihnen Ihr neues Haus?«
»Ganz toll, wirklich«, sagte Dr. Laurent, dem nichts Besseres einfiel.
»Abwarten«, flüsterte Emma Felix zu, der nickte.
Kapur schloss die Tür, als alle eingetreten waren. »Kommen Sie! Ich zeig Ihnen das Haus. Hier ist gleich die Küche.« Er ging in den ersten Raum rechts neben dem Eingangsbereich, der von einer riesigen Marmortreppe beherrscht wurde, die in einem sanften Bogen ins obere Stockwerk führte.
»Schauen Sie. Alles neu. Eine tolle moderne Küche.« Stolz präsentierte Kapur die Einbauküche. Dann ging er auch gleich weiter und verließ die Küche durch eine weitere Tür. »Und hier der Dining Room. Der, wie sagt man, das Esszimmer. Deutsch ist so schwer.«
»Sie sprechen hervorragend Deutsch, Mr. Kapur«, lobte Eva Laurent.
»Oh danke. Kommen Sie, es geht weiter.« Sie folgten ihm aus dem Esszimmer wieder in den Eingangsbereich. Kapur ging an der Treppe vorbei, umkurvte die abgestellten Koffer, direkt auf dem Weg ins nächste Zimmer, als im oberen Stockwerk ein Geheul losging. Alle schauten sich überrascht an, als auch schon Felix am oberen Ende der Treppe ankam und in einem Höllentempo die Treppe hinunterlief.
»Mama, Papa, Emma! Das müsst ihr euch ansehen! Das gibt es nicht. Kommt schnell!« Und schon flitzte Felix die Treppe wieder hinauf.
»Mann, Felix! Hast du sie nicht mehr alle? Du kannst doch nicht einfach abhauen!« Emma brachte nur wenig Verständnis für solche Felix-Aktionen auf.
»Na, das scheint ja sehr wichtig zu sein«, meinte ihr Vater und stieg mit einem Grinsen die Treppe hinauf.
»Dann machen wir oben weiter. Auch gut«, sagte Kapur und ging hinterher.
»Oh Mann!« Auch Emma setzte sich in Bewegung, gefolgt von ihrer Mutter. Oben angelangt folgten sie den Rufen von Felix, der sich wohl im Raum links hinten befand.
»Er ist im Badezimmer«, sagte ein lächelnder Kapur und Emma bekam ein ganz komisches Gefühl. Das Gefühl verstärkte sich noch, als sie in dem Raum stand, in dem nur ein einzelnes Waschbecken an einer Wand hing, ein Plastikstuhl, ein Plastikeimer und eine Karaffe in der Ecke standen und der ansonsten leer war.
Felix stand in der Mitte des Raumes und zeigte auf ein Loch im Boden. »Schaut mal hier.« Er wartete, bis auch jeder auf das Loch schaute. »Da hat jemand das Klo geklaut.«
Für einen kurzen Moment hätte man eine Stecknadel fallen hören können, bis sich Familie Laurent aus ihrer Schockstarre löste und zum Loch im Boden pilgerte.
»Das glaube ich nicht, Felix«, sagte Dr. Laurent, »das ist bestimmt irgendein Abfluss.«
»Ist es nicht«, warf Chandan Kapur ein. »Und das da oben ist die Dusche.« Sein Blick richtete sich zur Decke.
Emma konnte es nicht fassen. Sie sah in dieses schwarze Loch im Boden und dann auf ein kleines metallisches Rohr, das, etwas versetzt zu dem Loch, aus der Decke ragte.
»Aber, Mr. Kapur, das…?«, stammelte ihre Mutter.
»Bitte nennen Sie mich Chandan«, unterbrach er sie.
»Chandan«, Dr. Laurent hatte seine Denkermiene aufgesetzt, die Emma nur zu gut kannte. »Chandan, bitte klären Sie doch dieses kleine Missverständnis auf.« Besorgt sah er zu Emma, die kurz vor dem Explodieren zu sein schien.
»Kein Missverständnis, Dr. Laurent. Leider ist das Bad nicht rechtzeitig fertig geworden. Bis vor zwei Wochen lebte hier eine indische Familie und da sind diese Bäder Standard. Es hat leider nicht mehr gereicht, ein Bad nach westlichem Standard einzubauen. Aber in drei Wochen soll es so weit sein.«
»Na super!«, sagte Emma, »ich kann mich vor lauter Begeisterung kaum halten. Da fliegt man um die halbe Welt, ist fast vierundzwanzig Stunden auf den Beinen, will eigentlich nur eine Dusche und dann ins Bett und was ist?«, sie sah ihre Eltern herausfordernd an, »man steht vor einem Loch im Boden. Ich weiß…«
Ihr Vater durchbohrte Emma mit seinem Blick und sie verstummte. »Chandan, das ist kein Problem. Wir werden die Wochen zu überbrücken wissen. Vielen Dank für die freundliche Begrüßung und die Führung durch das Haus.« Er verließ das Badezimmer und Chandan Kapur und seine Frau folgten ihm.
»Hier haben Sie noch die vier Chipkarten für die Haustür«, hörte Emma Chandan noch sagen, als sie sich dabei ertappte, immer noch in das Loch zu starren.
»Kuck mal, ich glaube, das geht dann so«, Felix stellte sich genau über das Loch und ging in Hockstellung. Sein Grinsen ging von einem Ohr zum anderen und die Blumenkette berührte fast den Boden.
»Ich würde vorher die Kette abnehmen und die Hose runterlassen«, entgegnete Emma und rauschte aus dem Badezimmer.
Emma stand vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer und betrachtete sich von oben bis unten. Sie hatte schwarze Schuhe, weiße Kniestrümpfe, einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse an. Sie fühlte sich wie zehn. Was für ein Albtraum. Im Spiegel sah sie, wie die Tür aufgestoßen wurde und Felix hereinstürmte - natürlich ohne anzuklopfen.
Er machte eine Vollbremsung und starrte sie an. Dann gab es für ihn kein Halten mehr. Laut prustend tanzte er hinter ihr herum und quietschte vor Vergnügen.
»Bist du jetzt vollkommen irre?«
»Emma, du schaust so… so…«
»Sag nichts, wenn du die nächsten fünf Sekunden überleben willst, klar?« Emma durchbohrte ihn mit ihrem Blick. »Du solltest dich lieber mal selber ansehen.«
»Warum? Mir gefällt’s! Voll cool!«, war die verblüffende Antwort von Felix. Er hatte ebenfalls schwarze Schuhe an, dazu eine schwarze Hose und ein weißes Hemd. Abgerundet wurde das Schuloutfit durch eine schwarze Krawatte.
»Na, dann ist ja alles perfekt bei dir. Ich könnt kotzen.«
»Dein Pech«, sagte er nur und verschwand wieder so schnell, wie er gekommen war.
Emma ging ins Badezimmer, das glücklicherweise seit vorgestern, zwei Wochen früher als geplant, endlich komplett war. Sie hätte sich nie vorstellen können, sich über etwas so Banales freuen zu können, wie über eine normale Toilettenschüssel. Das Duschen war da das reinste Vergnügen gewesen. Wenn man auch dreimal so lange gebraucht hatte als sonst. Sie schminkte sich und ging aufs Klo. Wenn sie eines in den ersten Tagen in Indien schon gelernt hatte, dann war es das, immer rechtzeitig aufs Klo zu gehen, solange man die Gelegenheit dazu noch hatte. Alles andere konnte in einer bitteren Erfahrung enden. Sie band sich ihre langen blonden Haare zu einem Zopf und ging nach unten. Der Rest der Familie saß schon am Frühstückstisch.
»Morgen!« sagte Emma. »Ich lass mal das Guten weg.«
Ihre Mutter drehte sich zu ihr um und betrachtete sie. »Hübsch schaust du aus. Steht dir.«
Emma antwortete nichts und fixierte nur Felix, der in einen Apfel biss und sie ebenfalls anschaute. Sie kannte diesen Blick nur zu gut. Sie zeigte auf ihn und sagte: »Du bist ganz still, klar! Sonst setz ich dich nachher in irgendeinem Slum aus!«
»Einen schönen Menschen entstellt nichts«, sagte ihr Vater und betrachtete sie ebenfalls von Kopf bis Fuß.
»Das hier ist aber nah dran.« Sie setzte sich und begann zu frühstücken.
Fünfzehn Minuten später fuhren sie mit dem Firmenwagen ihres Vaters Richtung Bangalore. Die Privatschule befand sich in Doddanagamangala Village im nördlichen Teil von Electronics City Phase 1. Die offizielle Unterrichtssprache war Englisch, wie Emma und Felix erleichtert zur Kenntnis genommen hatten. Was aber noch schwierig genug war, aber nicht viel anders als in Aix-en-Provence auf der Internationalen Schule, die sie in Südfrankreich ein Jahr lang besucht hatten. Emma gab sich keinen Illusionen hin, dass sie oder Felix irgendwelche Freunde fürs Leben auf der Schule finden würden, und doch war sie ziemlich aufgeregt vor dem heutigen ersten Schultag.
Nach genau zwölf Minuten Fahrt hielt ihr Vater vor der Chopal Khoti School mit dem angeschlossenen College, das Emma besuchen würde. Alle drei stiegen aus.
»Was ist denn das für ein Lärm?«, fragte ihr Vater.
»Da hat ja einer sein Radio ganz leise eingestellt«, grinste Emma.
Sie gelangten über eine flache Treppe an den äußeren Rand eines riesigen Innenhofs, der von vier einzelnen mehrstöckigen Gebäuden flankiert war, aus dem ihnen ein ohrenbetäubender Lärm entgegenschlug.
»Was geht denn hier ab?« Emma konnte nicht fassen, was vor ihren Augen geschah.
»Das hätten die wegen uns aber nicht extra machen müssen«, sagte Felix.
Der komplette Innenhof war voller Schüler und auch auf den zum Innenhof liegenden offenen Gängen der oberen Stockwerke standen sie dicht gedrängt. Am hinteren Ende des Innenhofes befand sich eine Bühne, auf der zwei Schüler standen und die Vorturner gaben. Aus Lautsprechern dröhnte indische Tanzmusik und alle bewegten sich im Rhythmus der Beats.
»Hast du es auch gesehen«, fragte Emma Felix und musste sich ganz nah zu ihm hinbeugen, um durch den Lärm zu dringen.
»Was soll ich gesehen haben?«
»Die Jungs stehen links und die Mädchen rechts.«
»Shit!«, war alles, was Felix darauf antworten konnte.
Dann wurde die Musik auf einmal leiser, ehe sie ganz verstummte. In die Masse kam Bewegung und alle stellten sich in Reih und Glied auf. Ein neues Lied begann und die zwei Kinder auf der Bühne begannen zu singen.
»Das ist wahrscheinlich die indische Nationalhymne«, flüsterte Dr. Laurent seinen Kindern zu. »Ich glaube, das machen die hier jeden Morgen so.«
Emma und Felix schauten ihn mit großen Augen an und wendeten sich dann wieder dem Spektakel zu. Als die Hymne endete, löste sich die riesige Versammlung auf und alle Schüler verschwanden im Inneren der vier Gebäude.
Als ein Schüler an ihnen vorbeiging, fragte ihn Dr. Laurent nach dem Schulsekretariat und zehn Minuten später waren die Formalitäten erledigt. Er verabschiedete sich von seinen Kindern und Emma und Felix schauten ihm nach, wie er die Treppe ins Erdgeschoss hinabstieg und sie allein ließ.
»Und jetzt?«, fragte Felix.