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Die ökologischen Krisen des sogenannten »Anthropozäns« offenbaren die planetarische Macht menschlichen Tuns. Erstmalig, so könnte man sagen, wird dadurch eine Begegnung der Gattung Homo mit sich selbst möglich: Inmitten menschengemachten Wandels erkennt diese sich als Subjekt einer weltumgreifenden, leider selbstzerstörerischen Praxis und erfährt den Planeten in seiner Einheit und Endlichkeit. In diesem Widersinn ihres Handelns erweist sich die Gattung als blind und kopflos: Sie bringt das Kostbarste des Kosmos, das Leben und seine Grundlagen, in existenzielle Gefahr. Keine planetare Katastrophe – nein, das Leben selbst bedroht das Leben. Denn so sehr ihre Praxis auch danach schreit: Die Gattung als verantwortliches »Gesamtsubjekt« existiert nicht. In seinem Essay entfaltet der Kulturanthropologe Dieter Schimang, wie nicht nur die Gattung, sondern auch ihre Partikularitäten, wir, die Einzelnen, die Verantwortung übernehmen können, die Planet und Überlebensinteresse uns abfordern. Die Chance dieser Alternative lautet: Wenn wir die Endlichkeit unseres Planeten annehmen, können wir die Unendlichkeit seines Lebens begreifen.
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Seitenzahl: 334
Dieter Schimang
Endlich
Eine Politische Anthropologie für alle
ISBN (Print) 978-3-96317-394-3
ISBN (ePDF) 978-3-96317-957-0
ISBN (ePUB) 978-3-96317-958-7
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Cover und Satz: DeinSatz Marburg | tn
Umschlaggestaltung auf Basis von Francisco de Goya y Lucientes’ Der Koloß sowie den Klimastreifen nach Ed Hawkins, Welterwärmung 1850–2023, UK Met Office (CC BY 4.0 Deed)
Druck und Bindung: totem.com.pl, Inowrocław, Polen
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Inhalt
Einleitung: Kopflos ins »Anthropozän«Das Wesen der Krise: So viel Verantwortung, keine AdresseEtwas Historie und eine AlternativeDie Gattung als Phantom: Fassbar allein in PartikularitätenKultivierte Scheuklappen: Die Macht des EthnozentrismusKapitalismus: Die Reduktion in den Tunnelblick des GewinnsDer Gattungsverantwortung eine Adresse schaffenZur MethodeZum AufbauTeil I: Was die Gattung eint: Physis, »Software«, BedingtheitKapitel 1: Das Doppelwesen Mensch: Individualität und SozialitätUrsprung alles Politischen: Die anthropologische AmbivalenzDer soziale Kitt: Gegenseitigkeit, so tief wie komplexUnserer anthropologischen Ambivalenz entkommen wir nichtKapitel 2: Kultur: Die »Software« der GattungDie Kultur nach unserer bürgerlichen DeutungUnd was also ist »Kultur«?Kapitel 3: Ein Kanon anthropologischer EinheitKeine Gattungspraxis ohne Deutung, Eindeutigkeit und GewissheitKeine Gattungspraxis ohne Autorität und ihre LegitimationKeine Gattungspraxis ohne Bewusstsein vom Ich, von Endlichkeit und TranszendenzGewissheit durch Selbst-Begrenzung: Provinzialismus, Ignoranz, ArroganzKultur benennt unsere Einheit, Kulturen die Ausdrücke ihrer PraxisTeil II: Was die Gattung spaltet: Partikularismus, Individualismus, DespotieKapitel 4: Von außen bewirkt: Die ErscheinungAlle Anpassung erzeugt Besonderheit – äußerlichKapitel 5: Ethnozentrismus: Die Rüstung von innenUnsere individuelle Sozialisation in den EthnozentrismusLogik und Dynamik des anthropologischen Kanons und der KriseVerabsolutierung trifft auf Verabsolutierung: Das Ende aller GewissheitFeindschaft anthropologisch: »Feindvergessenheit ist der Sieg des Teufels«Die Metamorphose zur Nation – und ihre »Stückelung« des PlanetenKapitel 6: Ein Beispiel: Unsere bürgerliche PartikularitätWie üblich: Blind für die eigene ethnozentrische BeschränktheitAber wir haben doch die Wissenschaft!Der Kulturelle Relativismus: Warum ein Durchbruch verteufelt wirdIm ethnozentrischen Widerspruch: »Allgemeine« MenschenrechteKapitel 7: »Individuelle Freiheit« – nicht ohne GeldDie zwei Wege der IndividualisierungIndividualismus: Der das Soziale durch Eigentum ersetztEine Gesellschaft mit Eintrittspreis: Nicht ohne Besitz und BildungOhne Kontrolle und Legitimation: Privateigentum ist PrivatmachtWo selbst die Gegenseitigkeit kostetIndividuum vs. Planet: Hier fehlt das ökologische Maß»Nerds« – die extreme Verengung in Spezialisierung und EffizienzIndividuelle Freiheit ohne Verantwortung ist parasitärKapitel 8: Individualität und Sozialität global: Die Ambivalenz zum Antagonismus getriebenEin Gegensatz von anthropologischer DimensionWas der Masse bleibt: Flucht in die Despotie des SozialenÖkologisch ignorant – ob soziale Despotie, ob IndividualismusTeil III: Der Planet: Lebensquell, endlich, verletzlichKapitel 9: Nährboden, Schutz, Werkstoff – ein eigenwilliger PlanetVon der lebendigen Einheit des PlanetenVon der Endlichkeit des Planeten und seiner RessourcenDer historische Umgang der Gattung mit dem PlanetenWas die Einheit des lebendigen Planeten fordert: GanzheitlichkeitWas die Gattung voneinander trennt, trennt sie auch vom PlanetenWie es weitergehen könnte: Endlichkeit braucht GanzheitlichkeitUnsere höchsten Bezüge: Sozial – die Gattung, ökologisch – der PlanetTeil IV: Der Planet: Die Endlichkeit des Planeten verlangt die Verantwortung der GattungKapitel 10: Was nicht hilft: ScheinlösungenRevival der Atomenergie? »Für dumm verkauft« vom Privatinteresse»Revolution!« – der erneuerte Schein partikularer EindeutigkeitDer gute Wille ist nicht genug – denn wer wollte keinen Frieden?Die »Universalisierung des Eigenen« ist kein Universalismus»Unstoppable Us« oder Abkürzungen zum Gesamtsubjekt?Erkenntnis – befangen in ihrer bürgerlichen PartikularitätKapitel 11: Endlichkeit verlangt VerantwortungDie größte Entdeckung unserer Zeit – und ihre KonsequenzenVerantwortung: Hohl ohne Wollen und KompetenzIndividualismus: Verantwortungsignoranz und VerweigerungIndividualistisch bis in die Flucht vor aller VerantwortungWie sozialisieren in die ökologische Verantwortung?Der Schlüssel zur Verantwortung: Das Bewusstsein der EndlichkeitIm Bewusstsein ihrer Endlichkeit: Bildung zur GanzheitlichkeitNicht Partikularität, nicht Individualität ist das Problem, sondern Partikularismus und IndividualismusIndividualistisch oder despotisch? Was Ökologie und Gattung fordernWir universalisieren die »äußere« Welt längst – praktischKapitel 12: Keine ökologische Lösung ohne soziale LösungScheitern an der sozialen Dimension – das WärmepumpendesasterGanzheitliches Wissen? Am Beispiel (Vor-)Schule und UniversitätDie Einheit von sozialer und ökologischer VerantwortungDie Vernunft, unser gemeinsames Kriterium – aber welche?Politische Anthropologie: Was ist sie und was soll sie sein im »Anthropozän«?Kapitel 13: Und nun?Ein ResümeeNichts lehrt so nachhaltig wie die WirklichkeitÜberwindet alle Spaltung: Die individuelle GattungsverantwortungLiteratur»Das Schicksal der Menschheit wird im 21. Jahrhundert entschieden.«
(Johannes Krause/Thomas Trappe: Hybris. Die Reise der Menschheit. Zwischen Aufbruch und Scheitern)
»Wer in einer begrenzten Welt an unbegrenztes Wachstum glaubt, ist entweder ein Idiot oder ein Ökonom.«
(Kenneth Boulding [Ökonom])
»[E]in partikularer Fortschritt […], der aber keineswegs bedeutet, dass die Menschheit dabei ihrer selbst mächtig geworden ist, dass die Menschheit mündig geworden ist. Und der Fortschritt würde erst an der Stelle anfangen, wo diese Mündigkeit, wo die Menschheit, könnte man sagen, als ein Gesamtsubjekt sich konstituiert.«
(Theodor W. Adorno)
»Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken.«
(Heraklit)
»[D]ass wir aber nicht das Recht haben, das Sein künftiger Generationen wegen des Seins der jetzigen zu wählen oder auch nur zu wagen.«
(Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung)
»Die Klima-Krise ist nur zu bekämpfen zusammen mit der Desinformationskrise.«
(Klima – Im Würgegriff der Ölkonzerne [Dokumentation]. ARTE , 21. November 2023)
Meiner Frau Berrin gewidmet. Ohne sie gäbe es dieses Buch nicht.
In Krisen- und Kriegszeiten wie den unseren drängt es die menschliche Fantasie und Vorstellung, sich alternative Welten zu erdenken und vorzustellen. Soweit es sich um ernst zu nehmende Versuche handelt, liegt ihr gemeinsamer Nenner darin, dass sie vernünftig sind, vernünftig im allgemeinen Sinn: Ihre Argumente beziehen sich implizit oder explizit auf die Vernunft, sie unterstellen sie. Mit Immanuel Kant hat eine der weithin anerkannten Autoritäten unserer bürgerlichen Welt so den Weg »Zum ewigen Frieden« zu weisen versucht – vergeblich. Vergeblich wie manch andere kluge und wohlmeinende Versuche.
All diese Bemühungen sind notwendig, denn es braucht eine Vorstellung davon, wohin die Reise gehen soll und könnte, doch vereint sie auch ein Mangel: Sie unterstellen ein vernunftgeleitetes Handeln – etwas also, was weder in der Vergangenheit noch im Jetzt als gegeben angenommen werden kann. Damit blenden sie das entscheidende Hindernis aus, das einer Verwirklichung ihrer humanen Konzepte im Wege steht: Allen Aufklärungen zum Trotz regiert auch heute noch überwiegend die Unvernunft, sie führt uns schier in den Untergang. Dagegen helfen auch die vernünftigsten Vorschläge nichts, denn die Vernunft hat, entgegen einer populären Hoffnung, zunächst einmal keine Macht. Und ohne Macht bleiben die klügsten und humansten Vorschläge machtlos, bleiben ohnmächtig, wie die Erfahrung lehrt. Aus diesem Grund geht es in diesem Buch ganz bewusst nicht darum, den Hoffnung stiftenden Alternativen eine weitere hinzuzufügen. Hier geht es vielmehr darum, einen Weg aufzuzeigen, wie denn die Hindernisse der Unvernunft und Ignoranz überwunden werden könnten – als Voraussetzung eines Regimes der Vernunft und des vernünftigen Handelns. Es geht darum, einen Weg zu zeigen vom »Homo ignorans« zum »Homo sapiens«, damit all solche vernünftigen Konzepte auch eine Chance bekommen.
Zweifellos liegt in der Absicht, den Menschen den Weg zur Vernunft lehren zu wollen, ein Anflug von Hybris, von Größenwahn. Denn das gelingt bekanntlich selbst Gottheiten nicht. Deshalb soll dieser Anspruch dadurch »abgespeckt« werden, dass er näher an die Praxis herangeholt wird. Was ist es, das die Menschen zu ganz offensichtlich unvernünftigem Handeln treibt? Was sie offensichtlich unvernünftig handeln lässt? Was ist es, das ihre Erkenntnisfähigkeit so sehr zu beschränken scheint, dass sie das Offensichtliche nicht sehen, nicht wahrhaben können oder gar wollen? Wie kommt es beispielsweise, dass sie in ihrer großen Masse mit der Zerstörung und dem Aufzehren ihrer planetaren Lebensgrundlagen fortfahren ungeachtet der manifesten Belege, dass sie damit den Ast absägen, auf dem sie sitzen?
Sprachlich und inhaltlich bewegen wir uns damit schon auf dem Gebiet der Anthropologie, der Lehre vom Menschen schlechthin. Fahren wir auch auf dieser fort, denn es handelt sich offensichtlich um ein Problem der Gattung, um ein anthropologisches Problem.
Zur Lösung unseres anthropologischen Problems setzen wir sinnvollerweise an der aktuell vernünftigsten Frage an, der sich die Gattung heute stellen muss: Wie kann sie, die Gattung, überleben – unter Bewahrung unseres planetarischen, unseres natürlichen Gegenübers, das uns alle nährt? Diese Frage zielt auf die unvernünftigste und widersinnigste Tatsache der Gattungsexistenz, nämlich auf die durch die Gattungspraxis herbeigeführte ökologische Zerstörung und Gefährdung des menschlichen Daseins auf unserem Planeten. Diese Frage schließt die nach der Art dieser Gefährdung ein, sie berührt die Fragen nach der anthropologischen Unvernunft im Allgemeinen und der ökologischen im Besonderen. Fragen wir also, wie denn die Gattung »zur Vernunft kommen« könnte, wie sie zu einer vernünftigen Gattungspraxis gegenüber dem Planeten kommen könnte und – das sei vorweggenommen – zu einem vernünftigen Umgang der Gattung mit sich selbst. Es geht hier wohlgemerkt nicht um die Vernunft als Voraussetzung, sondern um das Problem und die Bedingungen des Vernünftigwerdens. Meine Argumentation zielt nicht auf eine bestimmte Zukunftsvision ab, sondern darauf, den Weg für ein solches Zur-Vernunft-Kommen offenzuhalten.
Der Druck dafür geht aus der tiefen existenziellen Krise hervor, in der wir uns befinden. Er nimmt dem Herangehen allen Anschein von Theorie und Unverbindlichkeit, denn auf dem Spiel steht die Frage von Sein oder Nichtsein. Es ist diese Frage, aus der die Vernunft sogar Macht gewinnen könnte, weil sie uns alle und direkt betrifft. Die zweifelhafte Chance der ökologischen Krise liegt darin, dass die Gattung endlich zur Auseinandersetzung mit sich selbst, mit ihrer Praxis und deren Konsequenzen für das gesamte Ökosystem des Planeten gedrängt wird: Wer sind wir eigentlich, dass wir die Grundlagen unseres Lebens selbst gefährden und verzehren? Wir – von der Gattung Homo »sapiens«?
Diese Fragen stellen sich mittlerweile sehr konkret. Wer wollte bestreiten, dass auf der jüngsten Klimakonferenz COP28 ein regelrechter Machtkampf zwischen Vernunft und Unvernunft im weitesten Sinne stattgefunden hat? Eine »vernünftige Praxis« ist vor diesem Hintergrund eine, die den ökologischen Problemen und ihren menschlichen Subjekten adäquat ist, eine Praxis also, durch die die Gattung ihr ökologisches Problem lösen und überleben kann. Wie in der Folge zu zeigen sein wird, liegen die Ursachen der ökologisch widersinnigen Praxis wesentlich in der Gattung selbst begründet – in ihrer Ignoranz von sich selbst und ihrem Gegenstand, dem Planeten.
Wie wir hören, leben wir seit einiger Zeit im Erdzeitalter des »Anthropozäns«, im »Erdzeitalter des Menschen« oder dem der Gattung Homo. Der Terminus ist wissenschaftlich umstritten, denn bisher dienten stets geotektonische oder kosmische Kriterien der Abgrenzung von Erdzeitaltern. Doch der Begriff ist aufschlussreich, denn gänzlich unbestritten ist das, was damit benannt werden soll: dass die Gattung Homo – als bislang einzige irdische Lebensform – über die Macht verfügt, das Leben und dessen Grundlagen ebenso tiefgreifend zu verändern wie den Planeten selbst und dies auch tut. Die Gattung selbst ist zu einer Macht planetarischer Gestaltung und Veränderung geworden. Ökologische Belege dafür gibt es in der Tat im Überfluss – kaum je allerdings positive.
Angesichts dieser so realen wie epochalen Machtfülle der Gattung ist der Streit um die Begriffe müßig. Sehr viel wesentlicher ist die Frage danach, was diese planetarische Macht für den Planeten, für das planetarische Leben und dessen Grundlagen bedeutet. Und nicht zuletzt ist zu beantworten, was diese ungeheure Machtfülle für die Gattung selbst bedeutet und wie sie damit umgeht bzw. umgehen muss, umgehen sollte.
Theoretisch sind die Antworten auf diese Fragen simpel. Diese Machtfülle bedeutet zunächst, dass die Gattung erstmals in ihrer Geschichte mit ihrer ganzen globalen Praxis konfrontiert wird. Dieses »Ganze« bedeutet auch, dass sie in dieser Konfrontation sich selbst auch erstmals als Gattung erscheint, als die »Menschheit«. Und das bedeutet weiter, dass die Menschheit mit den Folgen ihrer globalen Praxis konfrontiert wird – und zwar nach außen wie nach innen: Die selbstverursachte, umfassende ökologische Krise lehrt uns die äußeren Konsequenzen der Gattungspraxis nur allzu nachdrücklich. Sie bestehen in der Gefährdung der eigenen Lebenswelt und deren Grundlagen. Die innere Konsequenz besteht, wie gesagt, darin, dass die Menschheit in den von ihr verursachten Veränderungen des Planeten sich selbst – als Menschheit, als Gattung – erstmals konkret begegnet: »Wir« sind es, die das planetare Leben gefährden. In dieser Krise verliert »die« Menschheit ihre Abstraktheit, sie erscheint als Wirklichkeit, als Subjekt einer Praxis, die eigentlich der Selbsterhaltung der Gattung dienen sollte, aber zur Selbstzerstörung führt.
In diesem Widersinn ihrer Praxis erscheint die Gattung als ein blindes, ein kopfloses »Subjekt«, das sich um die Konsequenzen seines eigenen Handelns nicht schert. Es ist verantwortungslos – sogar in Bezug auf die eigene Fortexistenz. Die Gattung bringt das Kostbarste, was der Kosmos hervorbringen kann, das Leben und seine Grundlagen, in existenzielle Gefahr: Nicht kosmische Ereignisse, nicht geotektonische Katastrophen – nein, das Leben selbst bedroht das Leben. Und diese Bedrohung geht nicht etwa aus von einer bewusstlosen, vernunftlosen niederen Species. Nein, sie geht aus von der höchstentwickelten Gattung, einer Gattung, die sich viel auf ihre Vernunft zugutehält.
Stellen wir die Frage nach der Verantwortung und der dafür zuständigen »Instanz« für diesen planetarischen Zerstörungsfeldzug, müssen wir feststellen: Es gibt keine! Niemand meldet sich, der oder die die Gesamtverantwortung übernähme: Die Gattung als Gattung schweigt, mag auch ein Sammelsurium verwirrender Widersprüchlichkeiten an unser Ohr dringen. Die Gattung als Gattung, die doch die ganze Verantwortung tragen sollte, hat keine Stimme, hat keinen Kopf ! Sie hatte bisher kein wirkliches Bewusstsein von sich selbst – als Gattung. Wer hier die UN, die Vereinten Nationen, als Gegenbeispiel anführen wollte, sollte doch wissen, dass sie eines gewiss nicht sind: eine reale Instanz des Bewusstseins und der Verantwortung der Menschheit oder gar eine reale Vertretung der Menschheitsinteressen. Die sinnfälligsten Merkmale der UN sind bekanntlich ihre Ohnmacht und ihre Unfähigkeit, dem ungeheuren Bedarf an globaler Verantwortung auch gerecht zu werden, noch viel weniger dem Bedarf an einer Repräsentanz der ganzen Gattung und ihres Interesses. Eine solche Erwartung erscheint angesichts der Schwäche der Vereinten Nationen als reichlich realitätsfern.
Dieses Ergebnis überrascht nicht. Hat doch die Gattung Homo sapiens bei allem individuellem und sozialem (Selbst-)Bewusstsein, bei aller Vernunft in ihrer Geschichte als Gattung gegenüber dem Leben und dem Planeten noch nie Verantwortung übernommen. Ja, sie hat als Gattung nicht einmal ein wirksames Bewusstsein von sich selbst entwickelt, geschweige denn von ihrer Beziehung zu ihrem planetaren Ökosystem. Als Subjekt gab und gibt es die Gattung bis heute nicht. Das hat historische Gründe. Dem Planeten als Planeten begegnete man ja nicht. Sein Angebot war riesig und wo die Quellen des Lebens erschöpft sein mochten, da konnte man doch weiterziehen. Platz gab es genug, die eigene Anzahl und die eigenen Kräfte erschienen im Vergleich gering. Und auch die anderen Menschengruppen waren bestenfalls das, als was sie auch erschienen: Partikularitäten. Sie alle waren damit in ihrem Bewusstsein von Gattung und Globus allerdings auch: Provinzialitäten.Ihre Welt war ihnen »die«Welt. Darüber hinaus gab es für sie keine.
So war es lange Zeit kaum ein Problem, dass die Expansion die wesentliche Ursache, der wesentliche Treiber und zugleich die universelle Lösung der menschlichen Praxis war und ist. Die Geschichte der Menschheit ist wesentlich die Geschichte ihrer Ausbreitung. Ausgehend von Afrika breitete sie sich schließlich bis in den letzten einigermaßen bewohnbaren Winkel des Globus aus – und offenbarte dabei ein einzigartiges Maß an Anpassungsfähigkeit an die unterschiedlichsten Wirklichkeiten: Ob es die Wüsten Australiens, der Namib oder der Kalahari waren, die Eiswüsten der Arktis oder die höchsten Plateaus von Tibet und Bolivien, ja, das Meer selbst wurde zu ihrem Siedlungsgebiet. Und was unbesiedelt blieb, stand immer unter dem Vorbehalt des »Noch«, des »Noch-unbesiedelt«.
Diese Expansion war über Jahrzehntausende zwar Merkmal der Gattung, blieb aber ihr selbst meist unbewusst. Homo erschien sich selbst als so klein, als schwach und ohnmächtig gegenüber den Gewalten der Natur, die doch zugleich alles Lebensnotwendige in Überfülle anboten – vorausgesetzt, die Menschen waren flexibel, mobil und lernbereit. Daran pflegte es der Gattung auch nicht zu fehlen. Die Frage der Verantwortung für die Quellen des Lebens stellte sich kaum je und bestenfalls vereinzelten Gruppen, nie der Gattung als ganzer. Das Interesse der Vereinzelten am Leben und seinen Quellen reichte selten weiter als bis zur Stillung des eigenen Bedarfs.
Sicher, es gab Kulturen, die sich mit Respekt vor dem Leben und seinen unbekannten Quellen zurückhaltend bedienten. Doch diese waren eher Ausnahmen. Und auch sie konnten den Konsequenzen steigender Zahlen der Münder einerseits und einer immer effizienteren Technik andererseits nicht entgehen. Das Wechselspiel dieser beiden Treiber bestimmte auch den jeweiligen Horizont: Neue Technik erhöhte Effizienz und Ertrag, der mehr Münder zu stopfen erlaubte. Mehr Münder erforderten effizientere Technik und vielleicht auch neuen Raum. Die Sorge und Mühe um die eigene Gruppe setzte den Horizont und konstituierte »die« Welt, die doch stets die eigene Welt war, die Welt, die sich aus dem eigenen Blick auf die Welt konstituierte. Die Ausbreitung war so vielfältig-partikular wie naturwüchsig.
Es war in dieser »kopflosen« Weise, in der sich die Menschheit globalisiert hat zur schließlich planetarischen Macht. Dementsprechend ruinös ist die Bilanz der aktuellen Zustände, Risiken und akuten Gefahren: Ihnen allen gemeinsam ist, dass die damit verbundene Existenzkrise der Gattung und des Lebens fernab von aller Verantwortung heraufbeschworen wurde, die der Gattung doch objektiv zukam. Doch das war ein Imperativ, für den es keine Instanz und Autorität gab. Verantwortung, wenn überhaupt vorhanden, war und ist zersplittert auf die interessengeleitete Praxis von Individuen, Grüppchen und Gruppen, auf deren Intentionen und Horizonte – und damit wesentlich geprägt auch durch deren Ignoranz und Desinteresse in Bezug auf das Ganze, in Bezug auf die Komplexität des Lebens. Weit entfernt von einer von der vorgeblichen »Weisheit« eines Homo sapiens geleiteten Praxis, müssen wir heute bilanzieren, dass der Umgang der Gattung mit ihren Lebensquellen durch viel Ignoranz bestimmt war, an erster Stelle die Ignoranz von sich selbst. Wenn wir heute nach den Ursachen unserer globalen Krise fragen, so ist denn auch die Ignoranz zuallererst zu nennen, jene Ignoranz des kurzfristigen Interesses und aktuellen Bedarfs, die sich in Kurzsichtigkeit und Tunnelblick, in Unbedachtheit und Unbewusstheit des Ganzen, eben in »Kopflosigkeit« ausdrückt.
Diese Ignoranz war und ist wohlbegründet. Denn subjektiv hat nicht die Gattung als Gattung ihre Expansion betrieben, sondern sie expandierte in ihren Partikularitäten.Diese Partikularitäten waren charakterisiert durch ihren Ethnozentrismus. Der lässt sich auch als Provinzialitätverstehen, denn dieser lehrte, dass die eigene partikulare Welt »die«Welt sei: Es waren die Partikularitäten selbst, die sich auf ihre provinziell bedingte Ignoranz verpflichteten. Doch damit nicht genug. Zunächst ethnisch begrenzt und damit räumlich noch nicht fixiert, begannen die Partikularitäten schließlich, wechselseitig ihre »Claims« abzustecken und den Planeten zu »parzellieren«. Diese Parzellierung – zunächst in »Stammesterritorien«, in »Reiche« und schließlich in Staaten – musste ein Übriges beitragen zur Aufrichtung und Befestigung der provinziellen Mauern und damit der Ignoranz in Bezug auf das Ganze. War der Planet erst einmal parzelliert und unterworfen unter die unterschiedlichsten partikularen Autoritäten und Regimes, hatten diese dann buchstäblich »freie Hand«, mit dieser »ihrer« Welt nach eigenem Gutdünken zu verfahren. Zu diesen sich jeweils für absolut erklärenden Welten gehört auch »unsere«, die sogenannte bürgerliche Welt. In ihr vermochte sich das Individuum in einer beispiellosen historischen Umwälzung – anstelle der bisher geltenden Sozialität – als oberste Berufungs- und Legitimationsinstanz durchzusetzen. Damit öffnete sich das Tor zu einer weiteren, effizienten und intensivierten Parzellierung des Planeten: das Tor zu seiner Privatisierung.
Parallel mit dieser Tendenz zur Errichtung immer rigiderer Grenzen ging logischerweise auch eine Abnahme des Wissens und damit der Verantwortung für das, was hinter der Grenze geschah, einher. So kam es schließlich zu den heutigen destruktiven Konsequenzen dieser »Expansion als Struktur«. An sich war es nur eine Frage der Zeit, der Demografie und ihrer Technik, dass sich diese Konsequenzen auch manifestieren würden. Ebendiesen Punkt hat die Gattung nunmehr erreicht. Sie ist das erste Mal im Laufe ihrer Entfaltung gezwungen, sich ihrer selbst als Gattung bewusst zu werden und sich Rechenschaft zu geben über ihre Praxis und ihre Motive – und über die Möglichkeiten und Wege ihres Überlebens.
Doch die Einsicht, dass die Gattung die Grenzen ihrer Expansion erreicht hat und diese im Interesse ihres Überlebens respektieren muss, ist eher Ausnahme als Allgemeingut. Die Botschaft wird in unterschiedlichster Weise bestritten, bezweifelt und ignoriert. Hier schlägt sich der Mangel an Gattungsbewusstsein nieder: Noch immer meint man, die planetare Krise und die Verantwortung dafür durch ihre Partikularisierung bestreiten, wegreden, sie ignorieren oder verharmlosen zu können. Noch immer dominiert das unmittelbare Interesse den Blick – und damit die Erwartung, die Ressourcen seien unerschöpflich.
Das ist kein Wunder: Expansion und Aneignung waren bisher die probatesten Formen der Problemlösung. Allein schon die Macht der Gewohnheit behindert Einsicht und Kurswechsel, von der Macht des Partikularinteresses ganz zu schweigen. Doch in diesem Bestreiten, Verleugnen, Weitermachen-wie-bisher liegt die eigentliche Krise: Die Krise entspringt primär weniger der konkreten ökologischen Zerstörung als der Weigerung bzw. Unfähigkeit, diese Wirklichkeit angemessen wahrzunehmen, ihr Wesen zu erkennen und anzuerkennen und entsprechend verantwortungsbewusst zu handeln.
Diese »Unbewusstheit ihrer selbst« als des Subjekts all der Verwüstungen manifestiert die Gattung bis heute – und zwar am deutlichsten im Umgang mit sich selbst. Sinnfälliger Beleg dafür ist die aktuelle Wahrnehmung der Migration und die Praxis ihr gegenüber: Da müssen Millionen ihre angestammten Lebenswelten verlassen, weil dieseruiniert worden sind, ruiniert durch andere, mächtigere Partikularitäten der Gattung – zu deren Nutzen und Gewinn. Dagibt es Umwelten, die kein menschenwürdiges Leben mehr erlauben. Die reich gewordenen Partikularitäten aber verweigern wirksame Solidarität – von Lippenbekenntnissen abgesehen –, überlassen die Zuflucht Suchenden einem ungewissen oder gar tödlichen Schicksal und wehren die Einlass Begehrenden mit großem Aufwand ab – im Widerspruch zu den eigenen Grundsätzen von Menschenwürde und -rechten. Vergeblich sucht man da Gattungsbewusstsein, Gattungsverantwortung, Gattungssolidarität. Verantwortung wird nicht einmal für die Konsequenzen der eigenen kolonialen und neokolonialen Praxis übernommen.
An dieser Haltung der mächtigen Teile der Gattung zeigt sich der »äußere« Treiber der Krise: Die über Jahrhunderttausende eingeübte menschliche Expansion ist an ihr Ende gekommen. Die Gattung stößt an die Mauer der Endlichkeit aller Lebensquellen. Entgegen den Vorstellungen der Gattung und trotz aller Verheißungen à la »Jenseits des Horizonts« oder angeblicher »new frontiers« erweisen sich ihre Welten definitiv als endlich. Es ist der Planet selbst, der uns unsere Grenzen aufzeigt.
Doch das Bewusstsein dafür existiert kaum in relevantem Ausmaß, es dominieren weiterhin Wunschdenken, ein »Weiter so« und offene Verweigerung – selbst angesichts manifester gegenteiliger Evidenz. Darin besteht, wie gesagt, die eigentliche Krise: Sie besteht in der Weigerung bzw. Unfähigkeit, diese nicht ganz neue Wirklichkeit auch anzunehmen und eine entsprechende, natürlich gemeinsame Praxis in Reaktion darauf zu konzipieren und zu realisieren. Die Gattung nimmt sich selbst als Akteurin nicht wahr und will sich so nicht wahrnehmen und schon gar nicht Verantwortung für die Praxis der Gattung als ganzer übernehmen: Die aktuelle Krise ist primär eine anthropologische und politische, erst in zweiter Linie eine ökologische.
Damit geht es schon deshalb vorrangig nicht um die Begegnung der Krisen, sondern – im Vorfeld solcher Arbeit – um ihre angemessene Erkenntnis und Anerkennung als einer Gattungskrise. Die Wirklichkeitsschwäche der Gattung liegt in der Verdrängung ihrer Wirklichkeit begründet. Da die Gattung als Subjekt bisher real kaum existiert, handelt es sich dabei konkreter um eine Verdrängung durch die Partikularitäten, die die Gattung konstituieren. Sie sind es, die in ihrer Praxis dem Gedanken und der Wirklichkeit einer Gattung widersprechen. Wenn aber all die Partikularsubjekte das Gesamtsubjekt bestreiten und verneinen, existiert es nicht. Daran ändern auch die zahlreichen Lippenbekenntnisse zur Gattung nichts. Sie sind hohl und Alibi gegenüber den Einsichtigeren. Man will den eigenen Status nicht infrage stellen lassen.
In den verheerenden Konsequenzen dieser Verantwortungslosigkeit drückt sich damit weiter aus, dass die globale Praxis der Gattung einer grundsätzlichen Neuausrichtung bedarf, wenn sie überleben will. Das schließt die Frage ein, wie sie denn überleben kann. Um einer solchen Neuausrichtung willen bedarf die Gattung in erster Linie einer Bewusstwerdung ihrer selbst als Gattung, einer Bewusstwerdung der Gattung als handelndes Subjekt und – daraus entspringend – ihrer Praxis als Gesamtsubjekt. Es bedarf nun endlich jenes Fortschritts, den Theodor W. Adorno schon vor Jahrzehnten bezeichnet hat als »wesentlich ein Fortschritt in den Techniken der Naturbeherrschung, das heißt also, dass er ein partikularer Fortschritt ist, der aber keineswegs bedeutet, dass die Menschheit dabei ihrer selbst mächtig geworden ist, dass die Menschheit mündig geworden ist. Und der Fortschritt würde erst an der Stelle anfangen, wo diese Mündigkeit, wo die Menschheit, könnte man sagen, als ein Gesamtsubjekt sich konstituiert.« (zit. nach Dierkes 1989, 112; Hervorh. D. S.) »[A]ls Gesamtsubjekt sich konstituiert« – dass also die Gattung ihre bisher naturwüchsige und verantwortungslose globale Praxis nun global bewusst und verantwortungsvoll auszuüben beginnt. Um dieses »Konstituieren«, um seine Bedingungen und Wege geht es in diesem Buch. Es geht darum, wie die Gattung zum Subjekt werden kann, nicht darum, was sie als Subjekt zu tun hätte. Denn das liegt bereits in der Verantwortung des Gesamtsubjekts.
Doch auch »die« Gattung bedarf der Differenzierung, denn alle Erfahrung und Einsicht lehrt, dass nicht alle Angehörigen der Gattung in gleicher Weise für diese selbstgefährdende Entwicklung haftbar zu machen sind. Der deutlichste Unterschied ist da zu erkennen, wo gegenüber der Natur und dem Leben Respekt herrschte, wo ihr mit Vorsicht und Zurückhaltung begegnet wurde, die ihrerseits natürlich auch in der Ignoranz wurzeln können. Hier wurde die Ignoranz nicht zum Problem, weil man sich ihrer bewusst war. Am bekanntesten dafür sind traditionelle Gesellschaften der beiden Amerikas, aber auch Indiens und Australiens.
Allerdings gibt es keinen Grund, die traditionellen Kulturen pauschal zu verklären. So war das Jagdverhalten der Maori in Neuseeland durchaus exemplarisch: Der Riesenvogel Moa wurde durch rücksichtslose Jagd ausgerottet. Weit über den europäisch-asiatischen Raum hinaus wurde fast alles Großwild ausgerottet bzw. in abgelegene Refugien zurückgedrängt.Da es sich hier meist um Beutegreifer handelte, die ganz oben in der Nahrungskette stehen – und deshalb in Konkurrenz zur Gattung Homo –, wurde damit ein ganz wesentlicher Eingriff in komplexe Lebenszusammenhänge vorgenommen, ohne dass man sich die Konsequenzen desselben vergegenwärtigte oder sie auch nur wissen wollte. Die heute so beförderte wie umstrittene Rückkehr der Wölfe stellt einen Reparaturversuch solch früherer Schäden dar.
So weit, so bekannt. Obendrein ist es im Laufe der letzten Jahrhunderte zu einem qualitativen Wandel gekommen, der einerseits in einer exponentiellen »Bevölkerungsexplosion« wurzelt, andererseits in der Vervollkommnung des Wissens und der Technik und schließlich in der Ermächtigung des privaten Gewinnstrebens: Der Planet ist nun weitgehend »besetzt«. Da ist kaum noch ein Fleckchen frei, an dem sich eine, wodurch auch immer vertriebene Gemeinschaft niederlassen könnte, ganz zu schweigen davon, dass scheinbar leere Räume allesamt schon staatlich beansprucht sind, manche bekanntlich sogar mehrfach.
Dessen ungeachtet wächst die Menschheit weiter an. Wie wenig dem durch Wanderung und »Ausweichen« Genüge getan werden kann, zeigt die Gegenbewegung, die wachsende Bedeutung von Abschottungsmaßnahmen an den verschiedenen Staats- oder Unionsgrenzen. Immer aufwendiger werden die politischen Konzepte, die materiellen Barrieren und der ganze Sicherheitsapparat, der vor der Immigration schützen soll, die zudem im Vorfeld schon gern als »illegal« stigmatisiert wird. Dabei wissen alle Betroffenen, dass wir es aufgrund der ökologischen und politischen Krisen hier erst mit den Anfängen dieser Migration zu tun haben. Es bedarf geringer Vorstellungskraft, sich die weitere Entwicklung angesichts von Klimakrise, steigendem Meeresspiegel, Verwüstungen durch Dürre, Brände und Erosion vorzustellen – einschließlich all der Konflikte und Kriege, die daraus entspringen. Verantwortlich für all das sind das Lebensmodell und die Praxis der Gattung.
Doch auch hier ist zu differenzieren. Denn erst mit der westlich-bürgerlichen Expansion über den Globus erreichte die Zerstörung der Um- und Mitwelt der Gattung eine ganz andere Quantität und Qualität. Diese Expansion wurde nicht mehr dominiert von dem nachvollziehbaren Motiv der Suche nach neuen Lebensräumen für bedürftige Münder und Menschen, sondern dem des Haben-Wollens, der Hab-Gier. Darin lag ein veränderter Blick auf die Umwelt, einer, der sie auf ihre Verwertbarkeit durchsuchte und prüfte – und damit auf ein Interesse hin, das weit über den physischen und sozialen Bedarf und Horizont der Individuen und Gruppen reichte: der Planet als Schatzkiste, der Mensch als Schatzsucher. Hier liegt denn auch der qualitative und gewaltige quantitative Umschlag, dessen Praxis in immer höherem Tempo die Krisenwirklichkeit unserer Tage herbeiführen sollte. Selbst jetzt vermag der Planet den Hunger der Milliarden wahrscheinlich zu stillen, den Hunger nach grenzenlosen Schätzen jedoch nie – und sei dies selbst der Hunger nur Weniger, aber eben Mächtiger.
In diesem Verwertungsblick, der auf möglichen Gewinn gerichtet ist und sich im Gewinn erfüllt, erweist sich das ökologische Desinteresse des Kapitalismus und der ihm innewohnenden mächtigen anti-ökologischen Konsequenzen. Die vorkapitalistische Praxis der Gattung ist schon deshalb mit der nunmehrigen nicht vergleichbar, weil die kapitalistische Praxis sich in einer ganz anderen, nämlich in einer globalen Größenordnung realisiert. Allerdings mangelte es dieser Globalisierung – im Gegensatz zu ihrer Dimension – noch radikaler an Verantwortung, denn sie wurde und wird einzig vom Extrem aller Partikularisierung, nämlich dem privatisierten Gewinnstreben getrieben: Die Ermächtigung der Individuen im Sozialen, Technischen und Ökologischen ging einher mit der Zurückweisung der sozialen und ökologischen Verantwortung für diese Ermächtigung. So wurde und wird nun erst im und durch den Kapitalismus die Ignoranz der Gattung existenzgefährdend, weil ihre Praxis nun wesentlich vom Motiv eines grenzenlosen privaten Gewinnstrebens getrieben ist. Dieses Motiv kann dann auch nicht selten dort ins Kriminelle führen, wo die Gefahren des eigenen Handelns unter Umständen bewusst sind, aber im Gewinninteresse verschwiegen, verschleiert oder bestritten werden – nicht zuletzt durch gegenteilige Behauptungen. Diese Strategie wiederum ist angesichts der fortdauernden Ignoranz des konsumierenden Publikums relativ erfolgreich.
In diesem Verhältnis ist der Widerspruch zwischen Kapitalismus und seiner »Marktwirtschaft« einerseits und den Erfordernissen der Ökologie begründet. Eine kapitalistische Überwindung der ökologischen Krise ist nicht möglich, denn sie müsste dann durch ihre mächtigste Ursache überwunden werden. Es ist eine Ursache, der – bei allen Lippenbekenntnissen – alle globale Verantwortlichkeit schon deshalb fehlt, weil sie dann auf ihr oberstes und letztes Ziel, nämlich Gewinn durch Verwertung, verzichten müsste. Ohne die aber gibt es keinen Kapitalismus, denn es fehlt seine Triebkraft. Das Endziel von Gewinn durch Verwertung und die Endziele einer ökologischen Praxis schließen einander aus. Wer die ökologische Krise mit den Instrumenten des Kapitalismus überwinden will, ist möglicherweise selbst ignorant oder ideologisch und/oder durch Eigeninteresse an den Kapitalismus gebunden und geblendet. Wie sonst ließe sich dessen Ideologie unbedingten Wachstums in unserer allzu endlich gewordenen Welt weiterhin vertreten und propagieren? Die Wahrheit ist so banal wie logisch: »På en presset planet er frihed blevet en begrænset ressource – Auf einem gedrängten Planeten ist Freiheit eine begrenzte Ressource geworden« (Nielsen 2024). So wäre es also zu kurz gegriffen, wollte man aus der bedrückenden Wirklichkeit das Wesen unserer aktuellen dramatischen Krisen inihren Erscheinungen der Erderwärmung, der Ökologie, der Vergiftung, der Vermüllung, des Verzehrs und der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen suchen und bestimmen. Sie alle sind »nur« Ausdruck der Krise, »nur« ihre Erscheinung und eben Signale dafür, dass es für deren Ursache, also die Expansion der Gattung, ein »Weiter so« nicht gibt: Die globale Expansion der Gattung ist unwiderruflich zu Ende – ebenso wie alle auf Expansion beruhenden und sie antreibenden Strukturen.
In der ganzen Diskussion und der durch sie legitimierten Untätigkeit und Verzögerung zeigen sich im Konkreten, welche Hindernisse der Konstitution der Gattung zur Gattung bwz. zum »Gesamtsubjekt« entgegenstehen – und damit ihrer Übernahme der planetarischen Verantwortung. Zum besseren Verständnis einer möglichen Lösung hier ein schier utopisches Beispiel: Denken wir uns die Gattung als das von Adorno gedachte »Gesamtsubjekt« – ein Gesamtsubjekt, das auf der Höhe der Krisenerkenntnis stünde. Mit dieser schieren Existenz der Gattung als Gesamtsubjekt wären wesentliche Komponenten des Krisenhaften per se entschärft: Erst das globalisierte Gesamtsubjekt könnte eine klare Vorstellung von der Art und Dimension der Krisen gewinnen und die erforderlichen Schlussfolgerungen für das gemeinsame Handeln daraus ziehen. Auf der Basis der entsprechenden Einsichten könnten entsprechende, selbstverständlich verbindliche neue Zielvorstellungen, Konzepte, Planungen und Praxisschritte ebenso verbindlich vereinbart werden; auch die Gefahren des Übergangs hätte man aufgrund der Beteiligung aller im Blick. Kurz: Die Menschheit hätte die neue Wirklichkeit einer Existenz in einer erkennbar beschränkten Endlichkeit akzeptiert und die entsprechenden Schlussfolgerungen für ihre Praxis daraus gezogen. Damit wären die Probleme der Ökologie etc. noch nicht aus der Welt, im Gegenteil, sie bestünden nach wie vor, aber man wäre nunmehr in der »neuen«, im Grunde längst bestehenden Wirklichkeit »angekommen«, weil man sie anerkannt hätte. Nun könnte man ihr gegenüber eine ihr angemessene Praxis entwickeln. Das eigentlich Krisenhafte des Übergangs wäre behoben.
Wie sich zeigt, können kontrafaktische Überlegungen manchmal sehr hilfreich sein. Nein, es gäbe keine Krise mehr, wenn wir als Gattung, als ganze Menschheit uns zur Gemeinsamkeit, zu gemeinsamem Handeln vereinbaren könnten. Es gäbe keine Krise mehr, wenn morgen die vielberufene »Weltgemeinschaft« sich zusammensetzen und gemeinsame Rettungspläne konzipieren könnte, gefolgt von einer entschiedenen und zielgerichteten, vor allem aber: gemeinsamen Praxis. Die Probleme wären zwar noch da, aber das eigentlich Krisenhafte wäre gebannt, gebannt wäre all das Empfinden von Ohnmacht, Tatenlosigkeit und Hilflosigkeit ihnen gegenüber. Deshalb ist die aktuelle Krise weithin eine politischeKrise – eine politische Krise der Menschheit, also auch eine anthropologische Krise. Sie besteht darin, dass wir von der erforderlichen anthropologischen Gemeinsamkeit unendlich weit entfernt sind, während wir ihrer dringend bedürfen. Daran ändern auch die viel und allzu laut gepriesenen kleinen Fortschritte nichts Grundsätzliches.
Gibt es einen größeren Mangel – und Grund zur Krise – als das Fehlen ebendieser Gemeinsamkeit? Wie gesagt, mit dieser Gemeinsamkeit gäbe es diese Krise, in der wir uns befinden, nicht. Doch so ist im Gegenteil weltweit erneut das schier unentrinnbare alte Muster zu beobachten: Indem die Krise sich vertieft, steigt weltweit – kommunizierenden Röhren vergleichbar – die Dynamik von Rückzug, Abgrenzung, Feindseligkeit und offenem Rassismus. Es steigen also jene Erscheinungen, die auch die Ursachen der Krise befeuern. Die Menschheit scheint gefangen zu sein in einem Teufelskreis ewigen Wiederholungszwangs. Adornos so begründete wie humane Forderung nach dem Gesamtsubjekt scheint ihrer Erfüllung ferner denn je zu sein.
»[D]ie Menschheit als Gesamtsubjekt«, die Gattung als Gesamtsubjekt: Was liegt eigentlich näher in dieser Menschheitskrise als eben das, dass die eigentlich bedrohte Größe auch zum Subjekt wird? Dass sie »die Sache in die Hand nimmt«, als Gattung eben? Partikularinteressen, Partikularhorizonte mögen relevant sein – doch sie bleiben immer das, was sie sind: partikular und als solche strukturell ungeeignet, die Gesamtverantwortung für die ganze Gattung zu tragen. Dies gilt auch deshalb, weil nach aller Erfahrung Partikularinteressen nicht selten dem Gesamtinteresse zuwiderlaufen und selbst seine Verwirklichung konterkarieren. Dass von dieser Seite mit Widerständen zu rechnen ist, liegt auf der Hand.
Wir können uns nicht »an den Haaren aus dem Sumpf ziehen«. Wie aber soll dann ein solcher Schritt konkret und praktisch möglich sein, ein solch epochaler Lernprozess und »Schritt der Gattung zur Gattung«, ein solcher Sprung aus der uns vertrauten Lernresistenz hinein in ein neues Selbstbewusstsein und entsprechendes Handeln in Gemeinsamkeit?
Halten wir zunächst unseren Ausgangspunkt fest: Die Gattung kann und darf ihr Heil nicht mehr in der Expansion suchen, nicht mehr im Ausweichen vor den selbstverursachten Problemen auf ein anderes Terrain, ein anderes Territorium, denn die sind alle betroffen. Diese Feststellung gilt für alle Angehörigen der Gattung Homo ausnahmslos. In dieser Ausnahmslosigkeit drückt sich die Gattung aus: Niemand, kein Individuum, keine Einzelkultur, keine Partikularität und keine Wirtschaftsform hat das Recht, weiter auf Expansion zu beharren – die ohnehin stets eine Expansion in weitere Bedrohung hinein ist. Das mag angesichts der unterschiedlichen kulturspezifischen Anteile an dieser Expansion und Ausrottung zutiefst ungerecht klingen – und ist es auch. Doch wenn das verantwortungslose Handeln besonders Mächtiger das Ganze in Gefahr bringt, dann sind alle in Gefahr durch diesen Kurs. Umso offensichtlicher liegt dann der Schutz der Schwächeren in den Händen jener übergeordneten Autorität, die die Gattung sein kann bzw. werden muss. Denn sie allein kann – als übergeordnete Autorität alles Kulturspezifischen, alles Individuellen und Partikularen – Legitimation für sich beanspruchen. Sie ist legitimiert dadurch, dass alle Anteil an ihr haben, gleichberechtigten Anteil. Diese Legitimation entspringt praktisch und konkret nicht zuletzt aus der gegenteiligen Erfahrung unserer aktuellen Wirklichkeit: der Erfahrung nämlich, dass alle je nach ihrem Tunnelblick, Eigeninteresse und Macht mit dem Planeten meinen anstellen zu dürfen, wozu sie sich gerade fähig fühlen. Da treibt der Kapitalismus selbst in den ödesten Wüstengegenden unversehens seine Blüten.
Gerade der Kapitalismus zeigt die Widerstände auf, mit denen eine wirkliche Veränderung konfrontiert ist: Schließlich sind solches Wachstum und solche Expansion der Reproduktion als DNA eingeschrieben. Ohne Wachstum, ohne Expansion kein Kapitalismus – das verkündet und predigt niemand so sehr wie die eigenen Ökonomen und Ideologen. Ein Kapitalismus ohne Wachstum muss demnach verkümmern und sterben. Damit ist auch hier die grundlegende Kollision von ökologischen und diesen ökonomischen Ansprüchen vorgezeichnet, wenn wir denn der Umweltkrise wirksam begegnen wollen. Sie berührt in der Tat die heiligste aller heiligen Kühe nicht nur der bürgerlich-westlichen Welt – und entfacht entsprechenden Widerstand.
All dies sollte angesichts unserer Wirklichkeit so logisch erscheinen, wie die Antwort utopisch wirken mag. Es führt jedoch kein Weg an der Einsicht vorbei, dass das, was sich die Gattung in aller Ignoranz, Kurzsichtigkeit und Verantwortungslosigkeit über die Jahrtausende »eingebrockt« hat, von ihr nun in vollem Bewusstsein ihrer Verantwortung dafür »ausgelöffelt« werden muss – wenn sie denn eine menschenwürdige Zukunft haben will.
Leider ist die Reihe der Hindernisse und Widerstände gegen die erforderliche Gattungsperspektive damit längst nicht erschöpft. Auch tiefere, auch anthropologische Motive stehen einem Gattungsbewusstsein entgegen – nicht selten in Verbindung mit jüngeren, moderneren Kräften wie eben dem Kapitalismus, dem Nationalismus, dem religiösen und ideologischen Fanatismus, der Ignoranz schlechthin …
Entgegen einer interessiert gepflegten intellektuellen Verengung ist »der« Kapitalismus allerdings keinesfalls »an allem schuld«. So einfach ist die Welt nicht. Dies gilt umso mehr, als der Kapitalismus »chemisch rein« ohnehin kaum anzutreffen ist. Das bisher nicht nur effizienteste, sondern auch flexibelste Wirtschaftsprinzip ist im Laufe seiner Entfaltung die komplexesten Verbindungen eingegangen und hat sich auf diese Weise über den ganzen Globus ausgebreitet. Wer hätte denn bei ihrer Gründung 1949 oder gar zu Maos Kulturrevolution nach 1966 gedacht, dass die sich als »kommunistisch« verstehende VR China zur zweitgrößten kapitalistischen Macht nach den USA aufsteigen würde und diese gar überholen könnte?
In meinem Versuch einer anthropologischen Einordnung soll es deshalb auch gar nicht so sehr um den Kapitalismus gehen – dazu gibt es qualifiziertere Menschen –, sondern um die anthropologische Seite der Hindernisse, die der Gattung bis heute im Weg stehen, sich auch als Gattung zu erkennen und zu einer solchen zu werden. Denn auch diese Hindernisse sind – wie zu zeigen sein wird – erheblich und durchaus von gleicher problematischer Wirksamkeit wie das kapitalistische Wirtschaftsprinzip. Es gilt, diese eher »subkutanen« Kräfte und Motive bewusst zu machen, weil sie in unserer aktuellen Krise eine äußerst kontraproduktive Wirkung entfalten. An erster Stelle ist hier der Ethnozentrismus zu nennen. Er ist historisch-ideologisch gesehen der eigentliche »Gegenspieler« einer »Gattung als Gesamtsubjekt« und erhält seine Macht wesentlich durch die kapitalistische Wirtschaftsweise.
Der Begriff des Ethnozentrismus mag angesichts unserer modernen Krisen veraltet oder gar museal klingen, mag als ohnehin absterbendes Relikt grauer Vorzeiten gelten. Obendrein scheint ihn vielerorts sein moderner Abkömmling, der Nationalismus, ersetzt zu haben. Und wer den Nationalismus ablehnt, meint mit gutem Recht, damit auch dessen Vorläufer überwunden zu haben. Doch die Wirklichkeit ist komplizierter, dies umso mehr, als der Nationalismus natürlich keinesfalls nur einen modernisierten Ethnozentrismus darstellt. Bei aller Nähe bedürfen beide Begriffe einer gesonderten Betrachtung – zunächst der des Ethnozentrismus. Unter den vielen möglichen Definitionen liefert der amerikanische Soziologe William Graham Sumner schon 1906 eine sehr brauchbare Bestimmung: »Each group thinks its own folkways the only right ones. […] Ethnocentrism is the technical name for this view of things in which one’s own group is the center of everything, and all others are scaled and rated with reference to it.« (Sumner 1906/2007, 12–13)
Wir können diese Bestimmung ergänzen und verallgemeinern auf das Ergebnis einer solchen ethnozentrischen Weltsicht, nämlich darauf, dass das allgemeinste Merkmal des Ethnozentrismus in jener Verengung des Horizonts liegt, die die eigene, jeweils kulturspezifisch bestimmte und in der Sozialisation vermittelte Welt unhinterfragt als »die«Welt schlechthin begreift. Diese Verallgemeinerung ist erlaubt, weil bisher keine »höhere Warte« wie etwa eine allgemeine, eine universelle Sprache oder Gattungs