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Das E-Book versammelt die wichtigsten Texte des Philosophen und Transzendental-Belletristen Odo Marquard zum Thema Altern. Er enthält u. a. Einwilligung in das Zufällige, Vernunft und Humor und Zum Lebensabschnitt der Zukunftverweigerung, vor allem aber sein letztes Interview Das Alter – mehr Ende als Ziel, das Franz Josef Wetz, sein Schüler und der Herausgeber des Bandes, mit dem Philosophen geführt hat: "Man kann sich traurig und freudig fühlen, müde und wach, aber 70- oder 80-jährig, das geht meines Erachtens nicht. … Und wenn man das Greisenalter erreicht hat, kommt noch als weiterer Vorzug hinzu, sich nichts mehr beweisen zu müssen, ja sich unterbieten zu dürfen. Dies sorgt für mehr Gelassenheit. Man lernt über Fehler und Schwächen leichter hinwegzusehen, und wenn die Mängel nicht schwerer sind als das, was da ist, sogar großzügig darüber hinwegzusehen." (Odo Marquard)
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Seitenzahl: 112
Veröffentlichungsjahr: 2021
Odo Marquard
Über das Altern
Herausgegeben und mit einer Einleitung von Franz Josef Wetz
Reclam
Aktualisierte Ausgabe 2021
2013, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung
Coverabbildung: capture and compose/shutterstock
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-961891-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011368-4
www.reclam.de
Einleitung: Das gute Überleben als bürgerliche Stärke
Einwilligung in das Zufällige
Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung
Zeit und Endlichkeit
Vernunft und Humor
Zum Lebensabschnitt der Zukunftsverminderung
Das Alter – mehr Ende als Ziel
Zu dieser Ausgabe
Biographische Notiz
Veröffentlichungen
von Franz Josef Wetz
Odo Marquard ist wohl einer der originellsten Philosophen der Nachkriegszeit, der mit seiner »Philosophie der Endlichkeit« jede überzogene Kritik an der Moderne in ihre Schranken verweist, ohne deshalb aber auf vernünftigen Widerstand gegen Unvernunft zu verzichten. Seine ebenso genaue wie eigenwillige Sprache hat ihn über philosophische Fachkreise hinaus einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Einige seiner Bonmots, Pointen, Kalauer und Wortspiele haben sogar in der politischen Öffentlichkeit sowie in den Medien fast schon den Rang geflügelter Worte erlangt, ohne dass dabei jedem immer der Urheber geläufig wäre. Doch sosehr Marquard seiner besonderen stilistischen Qualitäten wegen als Stichwortgeber in der gebildeten Welt geschätzt wird, in erster Linie ist er ein Philosoph, der komplexe Zusammenhänge analysiert und verborgene Hintergründe aufdeckt – ein ernster Philosoph mit heiterem Esprit, ein wertkonservativer Denker mit liberaler Toleranz, eine streitbare Autorität mit ausgleichendem Wesen, schlicht: ein gelehrter Kopf.
In seiner Doktorarbeit Skeptische Methode mit Blick auf Kant (1958) betont Marquard bereits, dass nicht das Wunder der Welt, sondern die Wunden des Lebens den Ursprung der Metaphysik bilden. Deren Aufgabe sei weniger die Auffindung wahrer Erkenntnisse als vielmehr die Hervorbringung lindernder Kompensationen. Allerdings war diese Funktionsbeschreibung dem jungen Marquard noch zu wenig: Metaphysik sei ein schlechter Ersatz, nur ein Surrogat; bei ihrem Bemühen, höchste und letzte Fragen zu beantworten, verfehle sie die Wirklichkeit.
Später folgen moderatere Töne. Schon bald hält er es für menschlich, ja für normal, dass Metaphysik es mit Problemen zu tun hat, mit denen sie nicht fertig wird. Fortan heißt es nicht mehr, dass sie die Wirklichkeit ersetzt, sondern vielmehr, dass sie die Wirklichkeit versetzt: Sie bringt diese auf Distanz, indem sie Abstand zu Leben und Welt schafft, ohne den der Mensch hoffnungslos mit dem Leben überfordert wäre. Dabei löst Metaphysik zwar keine Probleme, aber sie behandelt sie, was angesichts der Schwere ihrer Aufgabe schon viel ist. Das Lebens- und Welträtsel hat keine Lösung, sondern bloß eine Geschichte!
In seiner erst in den 1980er Jahren publizierten Habilitationsschrift von 1962 deckt Marquard nicht bloß die Ursprünge der Psychoanalyse in der Philosophie des Deutschen Idealismus und der Romantik auf. Er sieht in der Konjunktur der Psychologie und Anthropologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch schon eine Antwort auf die Vorherrschaft der modernen Geschichtsphilosophie und Naturwissenschaften. Psychologie und Anthropologie kompensierten Erfahrungsdefizite der genannten Wissensdisziplinen: Dieses Thema wird Marquard in den nächsten Jahren weiter beschäftigen. Damit einhergehend stellt er schon damals die Idee eines transzendentalen und absoluten Ichs in Frage, indem er auf Unverfügbarkeiten des endlichen Daseins aufmerksam macht.
Dieser Verabschiedung des Transzendentalen und Absoluten folgt sein Abschied vom Prinzipiellen. Hiernach gibt es nur den von unverfügbaren Vorgaben geprägten, in Geschichten verstrickten, sterblichen Menschen. Dieser muss zwar sein Leben selbst führen, bleibt aber auf bewährte Traditionen angewiesen, die ihm Halt und Orientierung bieten. Hierbei nehmen die Geisteswissenschaften eine wichtige Aufgabe wahr: Sie dienen der Orientierung und Stabilisierung des gefährdeten Menschen, denn die Geisteswissenschaften haben nicht nur eine deskriptiv-theoretische, sondern auch eine ethisch-praktische Funktion. Davon abgesehen sei die Lebenszeit einfach zu kurz, als dass der Einzelne mit allem immer wieder von vorne anfangen könne. Überhaupt gewähren unsere Traditionen mehr Schutz, als dass sie den Bürgern schwere Lasten auferlegten. Jedenfalls steht die Bewahrung des Bewährten nicht unter der Anforderung, als richtig bewiesen werden zu müssen. Die Beweislast hat der Veränderer.
Allerdings sind wir nicht bloß in einer Tradition und Geschichte zu Hause, die für alle verbindlich werden sollte. Wir Menschen leben in vielen Geschichten, Sinn- und Lebenswelten – und das ist durchaus begrüßenswert. Mit diesem Plädoyer für lebensweltliche Buntheit erteilt Marquard jeder Art von Totalitarismus eine klare Absage. In diesem Zusammenhang weist er alle sich aus der Theodizee des 18. Jahrhunderts ergebenden Ansprüche der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie an den Menschen zurück, sich vor deren erstrebten Zielen für den eingeschlagenen Lebensweg dauernd rechtfertigen zu müssen. Solche Ansprüche sind überzogen und inhuman. Statt den Alltag zu tribunalisieren, sollten die Menschen lieber selbst entscheiden dürfen, wer sie sein möchten und wie sie leben wollen. Marquard ist ein wertkonservativer Philosoph, der sich offen zur liberalen Demokratie und damit zur bürgerlichen Gesellschaft bekennt.
Für diese ist nicht nur ein zustimmungswürdiger Pluralismus charakteristisch, ohne den sie ihr menschliches Antlitz verlieren wird. Hinzu gesellen sich merkwürdige Entzweiungen, die sich nicht in einer höheren Synthese miteinander versöhnen und zu einer einheitlichen Ganzheit vermitteln lassen. So finden auf der einen Seite zahlreiche Versachlichungen und Entzauberungen etwa durch die mathematischen Naturwissenschaften statt. Diesen stehen auf der anderen Seite die Verklärungen der unberührten Landschaft oder die Wiederverzauberungen der Natur durch den ästhetischen Sinn gegenüber. Ähnlich gibt es einerseits die traditionsneutrale Technik, Medizin und Wirtschaft, denen andererseits die Geisteswissenschaften, Künste, Traditionen, der aufs Bewahren und Erinnern fixierte historische Sinn entgegenstehen. Damit zusammenhängend ist zum einen ein zunehmendes Entwicklungstempo in der modernen Welt festzustellen, zum anderen aber auch eine wachsende Kultur der Langsamkeit.
Marquard gehört zu den Philosophen, die die zivilisatorischen Errungenschaften auf dem Gebiet der Medizin, Technik und Wirtschaft eher als Segnungen begrüßen, anstatt sie als Fluch zu verurteilen. Ohne zu bestreiten, dass die wissenschaftlich-technische Zivilisation zu mancherlei Sorge Anlass gibt, wendet er sich gegen alle, die ihre Lebensvorzüge so sehr in den Hintergrund drängen, dass diese kaum noch in den Blick geraten: Immerhin ermöglichen doch erst sie ein Dasein in abgemilderter Not.
Obwohl sich die gegensätzlichen Kulturbereiche nicht in Synthesen miteinander vermitteln lassen, stehen sie Marquard zufolge nicht unverbunden nebeneinander. Die Traditionen, Künste und Geisteswissenschaften kompensieren die Verluste, die mit den Versachlichungen der modernen Technik und Naturwissenschaft einhergehen. Darum sind jene unverzichtbar. Die Künste und Geisteswissenschaften halten Wirklichkeiten präsent, die andernfalls unbemerkt und unverstanden blieben. Deshalb werden wir auch im Zeitalter der modernen Naturwissenschaften nicht aufhören, von künstlerischem Verstehen, tonangebendem Geschmack und von Stilwandel als der inneren Entwicklung kultureller Formen zu reden. Töne mögen als Schalldruckwellen und Farben als elektromagnetische Strahlungen bestimmter Wellenlängen erklärbar sein. Trotzdem bleiben eine uns ansprechende Melodie und ein uns berührendes Bild, was sie für uns schon immer waren: ein hermeneutisch zugängliches Sinnerleben eigener Art.
Wie schon sein Lehrer Joachim Ritter befürwortet Marquard also die neuzeitlichen Entzweiungen, statt das Misslingen ihrer synthetischen Vermittlung zu beklagen. Solche Vermittlungsversuche gingen immer zu Lasten einer der beiden Seiten. Im Grunde genommen seien solche Vermittlungen auch unmöglich und darüber hinaus noch gefährlich, führen sie doch zur Entwertung und Unterdrückung der einen oder anderen Seite. Die Menschen benötigen aber beide Kulturen zum Überleben und zum guten Leben.
Bei alldem hält Marquard an der alten These fest, dass der Mensch als schwaches, sorgenvolles Mängelwesen einer starken, rücksichtslosen Wirklichkeit gegenübersteht. Zu überleben und gut zu leben bedeutet daher, das Unmögliche zu vollbringen. Glücklicherweise ist Phantasielosigkeit keine menschliche Stärke. Der Mensch weiß sich selbst dort noch zu helfen, wo ihm nicht mehr geholfen werden kann. Marquard legt den Akzent weniger auf die Übermacht der Welt und die Ohnmacht des Menschen als vielmehr auf dessen Fähigkeit, mit alledem zurechtzukommen: Die übermächtige Wirklichkeit auf Distanz zu bringen und die eigenen lebensbedrohlichen Mängel auszugleichen, gelingt dem Menschen mit Hilfe der Kultur, die von lebenserhaltenden Werkzeugen bis zu lebenserfüllenden Kunstwerken reicht.
Die ausgewählten Beiträge dieses Buches zeichnen Stationen von Odo Marquards Denkweg in Verbindung mit seiner Lebensgeschichte nach. Der Band versammelt die wichtigsten Texte des Philosophen zu den Themen Lebenszeit, Endlichkeit und Alter, denen er mit einer Mischung aus melancholischer Nüchternheit und humorvollem Scharfsinn auf den Grund geht. Der Vorteil des Greisenalters liege darin, sich nichts mehr beweisen zu müssen, schreibt Marquard, aber dessen Nachteil sei, die Zukunftshorizonte schwinden zu sehen: Der am 26. Februar 1928 geborene Philosoph verstarb mit 87 Jahren am 9. Mai 2015.
Endlichkeit ist ein Schlüsselwort dieses Buches – auch die Endlichkeit unserer Welt, die überall Zufälle, unverfügbare Widerfahrnisse gegen unsere Wünsche geltend macht. Der Stoiker empfiehlt Gelassenheit in solchen Situationen, Marquard sieht dagegen den Humor als eine Haltung, die mit den vielfältigen Begrenzungen des Daseins, dem Unabänderlichen, fertig zu werden vermag, indem es dessen Bedeutung relativiert. Sobald Ehrlichkeit gegen sich selbst unerträglich wird, muss es erlaubt sein, Urlaub hiervon zu nehmen und sich an wissentlichen Selbsttäuschungen auszuruhen. In diesem Sinne darf man so tun, als sei man mit seiner limitierten Lebenszeit einverstanden, obwohl man es gar nicht ist, da Rebellion hiergegen ohnehin zwecklos wäre.
Im Beitrag »Einwilligung in das Zufällige« zeigt Marquard anhand der eigenen Lebensgeschichte, dass wir Menschen mehr Produkt unserer Zufälle als unserer persönlichen Wahl sind. Unter Zufällen versteht er Ereignisse, die einem zustoßen und die das eigene Leben ausmachen. Dazu gehören solche elementaren Vorgaben, wie etwa als Mensch mit endlicher Lebenszeit geboren worden zu sein oder als Bürger eines bestimmten Staates zu einer bestimmten Zeit zu leben und durch bestimmte Umstände irgendwann seine Leidenschaft für die Philosophie zu entdecken.
In »Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung« geht er auf den Zufall ein, in der Zeit des Nationalsozialismus aufgewachsen zu sein, wodurch sein Denken von allem Totalitären und Revolutionären befreit wurde. Unter dem Motto »Mut zur Bürgerlichkeit« bekennt sich Marquard zur liberal-parlamentarischen Demokratie und widerspricht jeder sozialistischen Verweigerung der Bürgerlichkeit im Nachkriegsdeutschland. Doch sind es nicht konkrete geschichtliche Erfahrungen allein, die Marquard jedem revolutionären Utopismus und überzogenen Kritikprogrammen eine Absage erteilen lassen, sondern es ist auch die existentielle Erfahrung der Sterblichkeit.
Auf diesen Punkt geht der Gießener Philosoph in »Zeit und Endlichkeit« näher ein. Menschliches Leben ist kurz. Darum sind alle Bemühungen begrenzt, sich von den vorgegebenen bürgerlichen Institutionen und Traditionen zu lösen, um sie kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern, denn hierfür fehlt es schlicht an Zeit. Das Leben ist zu kurz, als dass wir jedes Mal von vorne anfangen und alles neu regeln könnten. Deshalb geht es nicht ohne bewährte Konventionen. Zugleich aber ist das Leben auch zu kurz, um mit allem beliebig lange zu warten. Was neu getan werden soll, sollte möglichst bald getan werden. Die Moderne zwingt den Menschen also ein »temporales Doppelleben« auf, nämlich gleichermaßen schnell und langsam zu leben. Heute ist viel von wachsender Innovationsbeschleunigung auf den Gebieten der Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft die Rede. Die Lebensvorzüge dieser schnellen Welten sind unbestritten. Gleichzeitig jedoch brauchen die endlichen Menschen zum guten Leben auch Langsamkeit: alte Lebensformen, Vertrautheiten, Traditionen, welche die wachsende Schnelligkeit kompensieren.
In »Vernunft und Humor« legt Marquard dar, dass es von Vernunft zeuge, sich auf diese zweigeteilte Wirklichkeit, so wie sie ist, einzulassen. Es sei vernünftig, der modernen bürgerlichen Welt nicht die Zustimmung zu verweigern und unrealistischen Utopien zu widerstehen. Ein bewährtes Mittel, die Härten des Lebens zu bestehen, ohne vor ihnen zu fliehen, sei der Humor. Dieser erleichtert die Last der Wirklichkeit zwar, befreit aber nicht von ihr, so dass bei aller Distanz zur Wirklichkeit der Bezug zu ihr gewahrt bleibt.
Insbesondere das Alter qualifiziere zur Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie sie ist, so der Autor in »Lebensabschnitt der Zukunftsverminderung«. Denn es gehöre zur Eigenart des Alters, keine große Zukunft mehr zu haben und infolgedessen von irreführenden Illusionen verschont zu bleiben. Darum seien ältere Menschen besser als jüngere geeignet, nüchtern zu erkennen, was ist.
Im abschließenden, sehr persönlichen Interview »Das Alter – mehr Ende als Ziel« hält Marquard zwar daran fest, dass das Alter den Sinn für die Wirklichkeit zu schärfen vermag, betont aber, dass die Wirklichkeiten des Alters überaus schlimm für ihn sind. Zahlreiche Gebrechen lassen ihn das Altsein als schwere Bürde empfinden. Von kleinen Freuden abgesehen, sei das Alter äußerst beschwerlich, ohne Aussicht auf Besserung, im Ganzen mehr Ende als Ziel. Doch obwohl im Licht des Alters alle Herrlichkeiten dieser Welt ihren Glanz verlieren, lebe die Eitelkeit verblüffenderweise fort.
Wie stumpfe Phantasie verstellt seniler Ehrgeiz bisweilen die wahre Bedeutung des Alters. Diese erkennt nur, wer es irgendwann einmal genug sein lassen kann. Doch hält ein starkes Geltungsstreben viele hiervon ab. Verständlicherweise möchten die Menschen auch im hohen Alter etwas bedeuten, noch einmal ernst genommen und gefeiert werden. So menschlich dieses Bedürfnis ist, die wahre Bedeutung des Alters bleibt hierdurch verborgen. Mit Simone de Beauvoir gesprochen, ist das Alter weniger ein Grenzfall des Lebens als vielmehr die Wahrheit des Lebens.