Energie erwacht - Stefanie Fox - E-Book

Energie erwacht E-Book

Stefanie Fox

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Beschreibung

Wer oder was bin ich? Kann ich zwei Menschen zugleich sein? Lia Leander, ein Mensch mit Gefühl UND Prinzessin der Reinheit von Assunta mit bedingungsloser Disziplin? Ist mir das erlaubt? Kann das gut sein? Steh ich mir nicht selbst im Weg, wenn ich zweierlei bin? Bin ich bereit, mich auf eine Reise zweier Welten und Leben zu begeben und zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit mein Leuchten zu finden? »Ein Blick auf unsere Hände lässt mir den Atem stocken. Sie glühen in einem hellen Silberblau und es beginnt sich auszubreiten in Richtung Arm. Geschockt ziehe ich die Hand zurück und genauso schnell erlischt unser Leuchten.« »Die Berührung löst ein Déjà-vu in mir aus, als würde ich diese fremde Person kennen. Vertrautheit umgarnt mich. Und eine schreckliche Furcht, ohne dieses Gefühl nie mehr leben zu können, versetzt mir einen Kloß im Hals.«

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PLAYLIST

Prolog – My Immortal - Evanesence

The girl – Lena

The River – Aurora

All Stars – Martin Solveig

Cure For Me – Aurora

Anti-Hero – Taylor Swift

I´ll be there – Jess Glynne

Pieces – Avaion

Mood – 24kgoldn

Pieces - Avaion another Version

Keep on dancing – Avaion

Pray forme – Xanemusic

Galaxies - Lena

Worth nothing – Twisted

Won´t Forget you – Shouse

Killer Queen – Robin Schulz

Beat to my melody – Lena

Ghost – Ava Max

End of youth - Ed Sheeran

Everything i wan´t – Billi Eilish

The night we met – Lord Huron feat. Phoebe Bridgers

Blackbird – Alter Bridge

When the party´s over – Billie Eilish

Wild & Free – Lena

Hundred Miles – Yall

OK – Lena

Sleep now – Lena

Here with me – Dido

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

KAPITEL EINS: LIA UND CARO

KAPITEL ZWEI: FRISCHFLEISCH

KAPITEL DREI: SCHWARZER

KAPITEL VIER: KEIN KUSS

KAPITEL FÜNF: DIE ZEIT DRÄNGT

KAPITEL SECHS: DIE ERSTEN AUSWIRKUNGEN

KAPITEL SIEBEN: DIE ERSTE HEILUNG

KAPITEL ACHT: DAS ERWACHEN

KAPITEL NEUN: PLANUNG

KAPITEL ZEHN: TRAINING

KAPITEL ELF: LIAMS RÜCKKEHR AUF ASSUNTA

KAPITEL ZWÖLF: ZEITGLEICH AUF DER ERDE

KAPITEL DREIZEHN: ZUSAMMEN AUF AUSSUNTA

KAPITEL VIERZEHN: ZURÜCK AUF DER ERDE

KAPITEL FÜNFZEHN: DANACH

EPILOG

PROLOG

Während ich geduckt vom Kristallpalast wegschleiche, schmunzle ich verlegen in mich hinein, denn es ist die einzige Freiheit, die ich mir noch bewahre. Ich kann nur hoffen, dass mir diese Angewohnheit nicht zum Verhängnis wird. Nur ein einziges Laster kann in dieser Situation unseren Fall bedeuten.

»Ich wäre nicht die erste Anführerin, die ihrem Volk durch eine simple kleine Schwäche, den Untergang bringt«, raune ich mir selbst mahnend zu.

Nachdem ich jedoch die nötige Distanz zwischen mich und den Kristallpalast gebracht habe, rede ich mir ein, dass es ausgesprochen schade wäre, umzukehren. Wo ich doch solche Risiken auf mich nehme, um wenigstens einen Moment für mich allein zu sein.

»Der Preis für das Ende jeglichen Leids auf dieser Welt, ist wohl auch das Ende jeglicher Privatsphäre!«, rutscht es mir, zu meiner eigenen Überraschung, laut heraus. Obwohl ich bei meinen heimlichen Ausflügen grundsätzlich besondere Sorgfalt darauflege, meine Gedanken vor den restlichen Santis abzuschirmen, bin ich mir darüber im Klaren, dass es in Wahrheit niemandem entgehen kann, was ich hier tue. Die Santis, die unserer Lebensweise fanatisch nachgehen, sind davon überzeugt, dass es die Pflicht der Prinzessin ist, als gutes Beispiel voranzugehen. Was eben bedeutet, dieser Angewohnheit zu entsagen.

»Aber ist Fanatismus nicht ebenso ein Zwang?«, frage ich mich gequält und streiche mir mein langes Haar über die Schulter.

Drei Tage sind vergangen, seitdem ich den Antrag von Mephisto abgelehnt habe. Wenn ich mit meiner Befürchtung richtigliege, dass er nicht nach unseren Idealen lebt, wird jeder noch so winzigkleine Makel an mir, meinen Widersachern in die Hände spielen, um ihre Lobby zu vergrößern. Mein Herz wiegt schwer, als sich ein weiterer Gedanke hinzudrängt Wie könnte ich eine Verbindung mit jemandem eingehen, wenn mein Herz bei einem anderen höherschlägt? Erschrocken über mich selbst, beiße ich mir auf die Unterlippe, um die Gedanken zum Schweigen zu bringen. Dieses Gefühl spricht gegen all die Grundsätze des Santivolkes. Schlagartig gesellt sich mein Verantwortungsbewusstsein zu dem Bleigewicht, das bereits auf meinem Herzen sitzt, hinzu und nimmt erdrückend in meiner Brust Platz.

Schwer atme ich meinen Gedankenstrudel aus und lasse mich in meine geliebte Blumenwiese fallen. Gierig sauge ich den reinen Geruch der Erde und der Blumen tief in mich hinein. Kurz halte ich inne und genieße den Moment der Ruhe. Hinter mir liegt schützend der Kristallpalast und rundherum wiegen Kornfelder sanft im Wind, die kurz vor ihrer Ernte stehen.

»Kann denn etwas Falsches daran sein, einer Gewohnheit nachzugehen, die so viel Kraft und Liebe spendet?«, flüstere ich in den Wind und sauge ihn wehmütig in mich hinein. Die Verantwortung, die ich jetzt schon mehr als hundert Jahre trage, lastete noch niemals in diesem Ausmaß auf meinen Schultern. Einem hoch entwickelten Volk anzugehören und über dermaßen großartige Fähigkeiten zu verfügen, war immer ein Geschenk für mich, doch jetzt frage ich mich, ob ich dessen überhaupt noch würdig bin. Mit diesem Gedanken gehe ich meiner Gewohnheit nach. Noch niemals hat mein Gemütszustand ein größeres Bedürfnis danach empfunden. Den Kopf in den Nacken gelegt und die Arme vom Körper abgespreizt, schüttle ich alle Gedanken von mir ab und suche die Verbindung zu Gaya. Mit den Fingern streichle ich zärtlich die Luft und werde eins mit meiner Umgebung. Wie ein Segen kriecht die Energie der Natur in meine Fingerspitzen und das beruhigend gewohnte Summen erklingt, während ich sie in mir aufnehme. Durch die geschlossenen Augen kann ich mein bronzefarbenes Leuchten scheinen sehen. Glückseligkeit erfüllt mich und endlich gewinne ich die ersehnte Entspannung zurück.

Der Boden unter meinen Füßen bebt und herzzerreißende Hilferufe schreien in meinen Gedanken wild durcheinander. Ein stechender Schmerz fährt durch meine Brust, drängt mich die Augen aufzureißen. In meinem Kopf dröhnt es weiter. Kinderstimmen wimmern, Männer und Frauen weinen jämmerlich. Sie rufen nach Hilfe. Nach meiner Hilfe! Das starke Beben des Bodens bringt mich nicht aus dem Gleichgewicht. Das Ausbalancieren ist, dank meiner Fähigkeiten, mehr ein Routinevorgang für mich, aber derart schreckliche Schreie, welche mir bis jeher gänzlich unbekannt waren, werfen mich aus meiner Konzentration.

»Dreh dich um und schau dir an, was du zu verantworten hast!«, übertönt hallend eine machtvolle Stimme die kläglichen Hilferufe in meinem Kopf.

»Mephisto!«, entfährt es mir erschrocken.

Das Blut gefriert in meinen Adern. Ruckartig drehe ich mich um und der grausame Anblick, der sich vor mir auftut, zwingt mich in die Knie. Mein Magen verkrampft sich und Gallensaft drängt sich meinen Hals hinauf. Der strahlende Kristallpalast, der das Sinnbild unserer Verbundenheit mit allem Leben auf Assunta ist, wird von einem anthrazitgrauen Nebel aufgefressen. Wie Schlangengift, das sich seinen Weg in Richtung Herz erkämpft, verschlingt der Nebel die Reinheit des Palastes. Brennende Schmerzen lähmen meinen Körper. Allein der Gedanke daran, dass alle Santis, die sich dort befinden, das gleiche Schicksal erleiden und ich nicht bei ihnen bin, um zu helfen, bringt mich um den Verstand. Nicht eine Sekunde länger ertrage ich die verzweifelten Rufe. Geballt schreie ich all das Leid, das ich höre und fühle, aus mir heraus. Benommen von diesen Qualen, dreht sich alles um mich herum und ich befürchte, das Bewusstsein zu verlieren.

Angestrengt bündle ich so viel Energie wie irgend möglich, um dem Unvermeidlichen zu entkommen. Am Ende meiner Kräfte angelangt, krümme ich mich auf dem Boden. Einsamkeit war für mich nicht mehr als ein Wort aus uralten Zeiten – fremd – und jetzt droht sie mich aufzufressen.

Flüsternd streift mich eine vertraute Stimme: »Rhea, alles wird gut werden, hab Vertrauen, wir werden dich schützen! Das ist nicht unser Ende …«

Immer und immer wieder streichelt die vertraute Stimme liebevolle Worte über meine Seele. Eine Woge der Zuversicht erfüllt mich, denn meine Krieger haben mich noch nicht verlassen. Dennoch wickelt sich eine erlösende Schwärze um mich und verwandelt sich in einen schlingenden Sog. Dieser Sog nimmt mich in sich auf und trägt mich in einer angenehmen Geschwindigkeit fort. Fort von der Zerstörung, ohne dass ich einer einzigen Santiseele zu Hilfe kommen kann … .

EINS LIA UND CARO

Der Boden unter mir vibriert, mein Kopf schlägt gegen einen harten Gegenstand. Zwei wild gewordene Biester springen ungebremst, mit den Füßen voraus, direkt in mich hinein.

Mein Unterleib schmerzt. Ein bittersüßer Schmerz, den ich zu gut kenne, brennt sich durch meinen Bauch hinauf in meine Kehle. Mit einem geübten Griff packe ich meine Brüder und wirble sie von meinem Bett auf den Fußboden.

Geläutert treten sie zungestreckend die Flucht an, während ich den Kampf gliederstreckend von mir abschüttle.

Wer braucht heutzutage schon einen Wecker, wenn man solche Krawallschachteln als Brüder hat?

Ein Blick aus meinem Zimmerfenster verrät mir, heute ist einer dieser perfekten Sommertage, von denen man einfach nicht genug haben kann. Über meinem Heimatdorf Memprechtshofen lacht die Sonne mit einer sanften, kühlenden Windbrise, die meinen Vorhang am Fenster zärtlich umspielt. Ist das ein Omen für den besten Tag?

Eine kriegerische Schlacht zu Beginn des Tages kann mich schon lange nicht mehr aus dem Konzept bringen. Ich bin super gelaunt und auf dem Weg meine beste Freundin zu treffen, denn wir wollen eine ganz besondere Party planen. Ganz besonders deswegen, weil es einen großartigen Anlass gibt. Meinen siebzehnten Geburtstag!

Also, um Missverständnisse auszuräumen, nicht wegen des Geburtstags an sich, sondern weil ein Jahr näher an der Unabhängigkeit, um nicht zu sagen näher an der Freiheit. Aber es ist auch das letzte Jahr in der unbekümmerten Verantwortungslosigkeit, um genau zu sein bis zum Schulabschluss. Also feiern wir nicht meinen Geburtstag, sondern vielmehr den Abschied meiner Kindheit und das Begrüßungsfest des Erwachsenseins. Und dabei wird mich meine beste Freundin tatkräftig unterstützen. Sie ist nicht nur meine beste Freundin. Sie ist mehr wie eine Schwester, die ich nie hatte, enger verbunden, als es Blutsbande können. Aus peinlichen und aus dramatischen Situationen hat sie mich schon so oft gerettet. Sie ist das Mädchen für alle Fälle. Die, die immer parat steht, wenn es knifflig wird. Wie eine schützende Löwenmutter hat sie sich zu jeder Zeit vor mich gestellt, auch dann, als ich beinahe dem Gespött der Schule zum Opfer gefallen wäre. Da waren wir noch in der Unterstufe. Sarah, die mit uns dieselbe Klasse besucht, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den »Oberstuflern« die Stirn zu bieten. Es gab da diese Tradition, dass die Neulinge an der Schule der Abschlussklasse den Butler machen mussten. So war es jedenfalls bei den Mädchen. Unsere Aufgaben waren Dinge wie, die Schultaschen auf dem Pausenhof in Empfang zu nehmen, um sie dann in ihre Klassenzimmer zu befördern. In der Schulmensa musste das gewünschte Menü geholt und den Herrschaften am Tisch serviert werden. Ab und an wurden auch kleine Geschenke erwartet. Zugegebenermaßen, ich habe diese Tradition auch nicht sonderlich ehrenwert gefunden, aber dennoch, als braver Frischling, erfüllt. Alle taten es und ich wollte nicht aus der Reihe tanzen. Wenn diese oberflächlichen Weiber Spaß daran hatten, meinetwegen, mir tat es nicht weh. Sobald sie ihren Abschluss hinter sich gebracht hätten, würden sie sowieso dem wahren Leben ins Gesicht schauen müssen. Die Realität würde sie schon noch einholen und eines Besseren belehren. So hatte ich das damals meinem Gerechtigkeitssinn mahnend erklärt. Sarah jedenfalls, konnte nicht damit leben und weigerte sich nach einigen Wochen noch irgendeine weitere Aufgabe zu leisten. Nur das konnten sich wiederum die »Oberstufler« natürlich nicht bieten lassen, denn sie hatten riesige Angst davor, die Tradition könnte gebrochen werden. Sie selbst hatten sie ja auch bitter geschluckt.

Daher nahmen sie Sarah auf der Toilette in die Mangel, um ihr eine Abreibung zu verpassen. Caro und ich machten uns währenddessen nichts ahnend auf den Weg zum Unterricht. Wie üblich, waren wir spät dran, doch zum Glück, musste ich dringend auf die Toilette, denn ausnahmsweise hatte ich statt einem, zwei Milchkaffees zum Frühstück und den musste ich unbedingt loswerden. Während ich die Sanitäranlagen aufsuchte, ging Caro schon zum Klassenzimmer vor und als ich eintrat, waren die Oberstufenmädchen gerade dabei, Sarah in das befüllte Waschbecken zu tauchen. Zu dritt hatten sie meine Klassenkameradin in der Mangel. Ihr ängstlicher Blick traf mich wie einen Schlag ins Gesicht.

Sie hatten ihr die Arme hinter dem Rücken gefesselt. Am Waschbecken lag ein blutverschmierter Zirkel und an ihrem Oberarm prangten senkrecht die Buchstaben B-u-t-l-e-r.

Blutrot!

Das ging definitiv zu weit!

Sie waren so sehr beschäftigt, dass ich seitens des Geschehens unbemerkt blieb. Mein Körper kribbelte und glühte vor Aufregung und meine Hände brannten wie Feuer. Der Ansturm dieser eigenartigen Gefühle in mir, zwang mich zu einem lauten Schrei, der aber direkt von einem grauenhaften Schmerzensschrei übertroffen wurde. Eines der Mädchen hielt sich zitternd die Hand. Der Schock stand ihr bleich im Gesicht. Verstört stießen sie Sarah zu Boden und verließen dann allesamt verängstigt die Toilette. Zu meiner Überraschung war von da an die entwürdigende Tradition gebrochen. Keines der älteren Mädchen hatte danach je wieder eine Leistung eingefordert.

Und auch wenn wir nie darüber gesprochen haben, hat mich Sarah zu jeder Zeit ihre Dankbarkeit in ihren Augen sehen lassen. Dabei war sie mir keinen Dank schuldig. Ich war einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Zu meinem Leid hingegen war ich daraufhin die nächsten Wochen das Thema Nummer eins an der Schule. Natürlich ist es niemandem entgangen, dass keine Menüs mehr serviert wurden und sonst auch keine weiteren Dienste von den Unterstufenmädchen erbracht wurden. Damit ihre unehrbare Tat nicht in Umlauf kam, haben sich die »Oberstufler« für eine verrückte Horrorgeschichte mit dem Titel »Freaky Elektra alias Lia Leander« entschieden. Angeblich soll ich sie mit einem Elektroschocker attackiert haben. Und hier kommt wieder meine Caro ins Spiel. Sie hat damals Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, meinen Namen reinzuwaschen und den tatsächlichen Tathergang verbreitet. Sie war damit so erfolgreich, dass sogar das Rektorat Wind von der Sache bekam und die Mädchen von der Schule verwiesen wurden. Darauf war sie aber keines Wegs stolz. Sie war eher enttäuscht darüber, dass sich keiner der Erwachsenen die Mühe gemacht hat, sie über das Unrecht ihrer Tat aufzuklären. Ihrer Meinung nach wäre »Der Weg zur Einsicht« pädagogisch wertvoller gewesen. Meine Caro ist einfach unverbesserlich vernünftig und ich bin so dankbar dafür, dass wir uns in solchen Punkten immer einig sind.

Also, ich bin grade auf dem Weg zu Caroline, die ich am See (unserem üblichen Platz) treffen soll, und fahre mit dem Rad unterm Po und den AirPods in den Ohren an den Maisfeldern entlang über eine kleine Brücke. Das Bächlein, das darunter fließt, erfrischt die warme Luft. Als ich durch das vertraute kurze Waldstück fahre, erfüllt mich ein Windzug mit dem Duft von jungem Mais und warmer Sommerluft. Jeder Millimeter meines Körpers kribbelt und erweckt meine Lebensgeister. Ich liebe meine Heimat, ich bin ein Kind vom Lande, durch und durch. Gerade stimmt das nächste Lied an, als ich total gedankenverloren glaube, im Augenwinkel Umrisse einer Gestalt inmitten der Felder zu sehen. Der Bauer, der sie bestellt, ist normalerweise nicht um diese Jahreszeit unterwegs, erst wieder zur Erntezeit. Und selbst wenn doch, müsste irgendwo sein Traktor stehen. Doch weit und breit steht keiner. Auch die Spaziergänger betreten die Felder nicht, denn alle wissen, dass selbst der kleinste Schaden die Ernte schmälert. Ein komisches Kribbeln breitet sich in meinem Bauch aus. Jeder andere würde sich davonmachen, doch ich, getrieben von meiner Neugier, steige ins Eisen. Ich muss der Sache einfach auf den Grund gehen. Bei jedem Horror-Film brülle ich gegen die Mattscheibe, dass sie nicht der Stimme in den Keller folgen sollen, doch meine eigene Neugierde wird mir bestimmt mal genauso zum Verhängnis.

Knapp nach dem Waldstück beginnt ein wunderschönes Gerstenfeld, das mir nicht ganz bis über die Hüften reicht. Ich hätte wirklich schwören können, dass eine Gestalt in das Feld gehuscht ist, doch ich kann niemanden entdecken.

Trotzdem, die Anwesenheit von irgendetwas oder irgendjemandem liegt definitiv in der Luft.

Das war schon oft so. Schon als kleines Mädchen hatte ich das Gefühl, wenn ich durch die Felder geschlendert bin, dass mich jemand oder etwas begleitet. Angst hatte ich nie, im Gegenteil, es hat mich immer beruhigt und erfüllt. Es hat mich der Natur nähergebracht. Oft hatte ich sogar das Gefühl, ich könne die Bäume und Gräser sprechen hören, wie eine Art summender Gesang.

Doch das jetzt gerade unterscheidet sich davon. Etwas in mir ist total aufgeregt. Wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal den Geschmack von Eiscreme kennenlernt. Entdecken kann ich immer noch nichts. Mir ist ganz warm und ich habe das Gefühl ich glühe. Mein Herz hüpft nervös auf und ab und erfüllt mich mit Leben. So etwas habe ich noch nie empfunden.

Zu meiner Enttäuschung entschwindet dieses einzigartige Gefühl so unerwartet, wie es gekommen ist.

Die Anwesenheit dieses Jemanden oder Etwas löst sich ebenso auf. Das mentale Loch, was dieses zerronnene Glück auslöst, füllt sich schlagartig mit Verlassenheit.

Irritiert und leer setze ich mich auf mein Rad und fahre, mit extremster Verspätung, endlich zu unserem Treffpunkt. Mir war die Zeit absolut entgangen, doch ich muss dort mindestens eine Dreiviertelstunde gestanden haben.

Mit tippendem Fuß sitzt Caro auf der Rückenlehne unserer heiß geliebten Stammbank. Ungeduldig ruft sie mir zu.

»Jetzt wird es aber echt mal Zeit, Frau von und zu. So ein siebzehnter Geburtstag plant sich nicht von alleine und schon gar nicht, wenn der Ehrengast so unkooperativ ist.« Noch bevor ich etwas erwidern kann, springt sie von der Bank und fährt fort. »Das ist so typisch für dich. Wenn du weiterhin so unpünktlich bist wie die letzten sechzehn Jahre, können wir gleich deinen achtzehnten Geburtstag feiern! Damit das nicht passieren wird, schenke ich dir höchstpersönlich einen Pack Pünktlichkeit, meine Liebe.«

Oh ja, da hat sie so verdammt nochmal Recht. Das mit der Pünktlichkeit muss ich mit dem siebzehnten Lebensjahr echt in den Griff bekommen. Doch jetzt muss ich erst mal schmunzeln. Wie sie so dasteht, mit ihren gletscherblauen Augen und ihrem weißblonden Haar, wie ein Engel … .

Nur mit leicht geröteter Haut, vom Warten in der Sonne. Einen Engel mit Sonnenbrand habe ich echt noch nie gesehen. Jetzt wird mein Schmunzeln zu einem Lachen und das Lachen steigert sich zu einem jaulenden Bauchgrunzen. Endlich steigt auch Caro mit lautem Gelächter ein.

»Lia, dein grunzendes Bauchlachen hat mich noch nie kaltlassen können. Dir kann man einfach nicht böse sein. Was hast du für ein Glück, dass du so eine tolle beste Freundin hast, die nicht nachtragend ist!« Und nun grunzen wir gemeinsam.

Während wir uns wieder beruhigen und nach Luft schnappen, krame ich eine Flasche Eistee und mein iPad aus meiner Tasche, um wichtige Anweisungen zu notieren. Ich bin noch nicht ansatzweise bereit, da sprudeln die Ideen schon förmlich aus ihr heraus, sodass ich fast nicht nachkomme, alles zu notieren. Zuerst folgen Instruktionen für die Einladung. Was heißen soll, soweit ich mitschreiben kann, was der Wasserfall neben mir plätschert:

See-Party; jeder soll was mitbringen, um Kosten zu dämpfen; großes Lagerfeuer mit Würstchen grillen; Beginn bei Dämmerung; Ende, wenn fertig!

Was für eine Rolle spiele ich eigentlich auf meiner Geburtstagsparty? Würstchen sind das einzige Lebensmittel auf diesem Planeten, dessen Einnahme ich strikt verweigere. Obwohl, ich darf mich wirklich nicht beschweren. Top durchdacht ist die Sache allemal. See-Partys kommen immer gut an und zu Hause gibt’s keine Sauerei. Bin begeistert. Für mich bringe ich einfach ein Veggie-Steak mit. Klare Sache, zum Vorbereiten bleiben noch zwei Wochen, das müsste zeitlich locker ausreichen.

Wir plaudern noch ein wenig über dies und das, aber mein merkwürdiges Erlebnis von vorhin behalte ich für mich. Sie hat meine extreme Verbindung zur Natur und wie viel Kraft ich durch sie empfinde, schon immer etwas belächelt. Aber da ich auch ihren besonderen Hang zum Wasser respektiere und wir prinzipiell einander akzeptieren, wie wir sind, würde sie mich niemals auslachen. Ehrlich gesagt fühle ich mich im Moment einfach nicht in der Lage von diesem komischen Erlebnis zu erzählen, es schockiert mich selbst ein wenig. Wahrscheinlich habe ich mir das alles mal wieder nur eingebildet.

Als wir uns verabschieden, fällt ihr nur ganz beiläufig ein, die brandneue Nachricht des Tages preiszugeben.

»Hey Lia, hast du auch schon mitbekommen? Unser kleines Dorf hat Zuwachs bekommen«, sagt Caro, als wir bereits dabei sind uns wieder auf die Räder zu schwingen.

»Ach ja? Sag bloß, das alte Bauernhaus ist endlich verkauft worden?«

»Nein, die Familie ist in die Castle-Villa eingezogen. Es müssten vorhin sogar noch die Umzugswagen vor dem Haus gestanden haben.«

»Echt? Habe ich gar nicht gesehen. Die scheinen ja Geld zu haben, wenn sie sich die Villa leisten können.«

»Sie sollen sogar recht vermögend sein, soll nur nicht jeder wissen. Ist ihnen wohl ein bisschen unangenehm wohlhabend zu sein. Oder sie machen sich nicht besonders viel aus Geld, weiß nicht so genau.« Sie zuckt mit den Schultern.

Caros Vater ist Vorsitzender des Gemeinderates und somit weiß auch automatisch Caro über den neuesten Klatsch und Tratsch Bescheid. Neuzuzöglinge werden prinzipiell von den Schmidts willkommen geheißen und mit Kaffee und Kuchen empfangen. Dabei werden sie in die Gepflogenheiten des Dorfes eingewiesen und die Vereine werden vorgestellt.

Die »Neuen« sollen sich ja auch schnell wohlfühlen und ein Mitglied der Gemeinschaft werden, laut Caros Vater.

Nun gut, jetzt bin ich auch auf dem Laufenden. Ich setze mich auf den Sattel. »Ja cool. Ich werde beim Heimweg mal ein Auge darauf werfen.«

Hektisch fuchtelt Caro mit ihren Handflächen auf und ab. »Warte, warte, es kommt noch besser. Die Familie ist ja nicht alleine eingezogen, sondern mit ihren zwei Neffen. Die sind sogar in unserem Alter und jetzt rate mal, wie einer von ihnen heißt. Ich habe mir vor Lachen fast ins Höschen gemacht.«

Überfordert schaue ich sie an, doch Caro wartet nicht mal eine Sekunde.

»Okay, ich sag’s dir, du wirst es doch nicht erraten. Er heißt Liam!« Sie macht eine dramatische Pause, aber mein leichtes Lächeln scheint nicht genug Reaktion zu sein. Ihre Augen werden groß. »Ist das ein Omen oder was? Da wissen wir doch schon, von wem unsere Lia endlich ihren ersten Kuss bekommt.« Sie grinst breit und ich lache erheitert auf.

»Ja klar, ich werde sicher irgendeinen Jungen küssen, nur, weil er so ähnlich heißt wie ich. So weit kommt’s noch.«

»Auch nicht, wenn er unverschämt gut aussieht? Das tut er nämlich!«, sagt sie mit einem verschwörerischem Augenzucken. »Ich wette, er ist genau dein Geschmack. Aber du wirst ihn ja morgen in der Schule sehen. Er könnte sogar in unserer Klasse sein. Sein Bruder ist wahrscheinlich eine Stufe über uns, aber den habe ich leider noch nicht gesehen. Bin mal gespannt, ob der genauso gut aussieht.«

Zugegeben, neugierig bin ich schon auf die beiden Brüder, aber ehrlich gesagt, kann ich Jungsgeschichten im Moment überhaupt nicht gebrauchen. Schließlich muss ich mich auf das große Geburtstagsevent konzentrieren und an meiner Pünktlichkeit arbeiten. Zwei Dinge, die sehr anspruchsvoll sind. Da bleibt keine Zeit für jegliche Ablenkung. Amüsiert über mich selbst muss ich laut lachen, mitsamt typischem Grunzen schwinge ich meinen Hintern auf das Fahrrad. Beim Wegfahren dreht sich Caro nochmal um und zeigt mir ausdrucksstark und mit gerunzelter Stirn den Vogel, da sie meinen unangebrachten Grunzanfall nicht versteht.

Als ich in die Hofeinfahrt rolle, kann ich schon den Grill riechen.

Mhhh wie lecker, genau das brauche ich jetzt und bemerke, wie groß das Loch in meinem Magen ist. Dieser macht sich auch prompt lautstark bemerkbar. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, es ist schon nach halb acht. So ein Mist, um sieben hätte ich zu Hause sein müssen. Ich kann meine Mum schon durch das Küchenfenster rufen hören. Eilig stelle ich mein Rad an seinen Platz, suche den Haustürschlüssel und gebe währenddessen meiner Mum Antwort.

In diesem Moment lässt mich ein kalter Schauer erstarren, im Augenwinkel erhasche ich flüchtig einen Schatten.

Kann das wahr sein?

Prüfend schaue ich mich um. Entweder meine Fantasie geht langsam aber sicher mit mir durch, oder irgendjemand will mir einen echt doofen Streich spielen. Bemüht beobachte ich das Maisfeld, das gegenüber wächst.

Nichts!

Und zwar überhaupt nichts, was nicht in das gewohnte Bild passt, gibt sich zu erkennen.

Doch etwas unerwartet Kühles lockt mich in Richtung Maisfeld und ein leichtes, gleichmäßiges Summen nimmt mich in seinen Bann. Hypnotisiert laufe ich weiter hinein. Ein Gefühl, ähnlich wie dem am Gerstenfeld, schlingt sich an meinen Beinen hoch, doch nicht exakt so. Das Vorherige erfüllte mich, machte mich zufrieden und glücklich. Dieses Gefühl hier klettert aggressiv an mir hoch, zwängt mich ein und macht mir höllisch Angst. Mein Herz zerplatzt fast vor Panik. Ich kann einen schwarzglänzenden Staub erkennen, der sich über meine Brust sowie meinen Hals schlingt und mir den Atem raubt. Kälte sperrt mich ein und lässt mich schaudern. Grade als mir mein Verstand zuschreit, dass ich dringend Luft holen muss, ich aber somit diesem angsteinflößenden Staub Zugang in meinen Körper gewähren müsste, ertönt ein Knick-Knack!

Maisstängel, die beim Gehen umknicken. Ist da etwa noch jemand? Jemand, der mir helfen könnte? »Hiiiil…«, hastig kratze ich an meinem Hals und versuche die bedrohliche Schlinge zu lösen, um nach Hilfe zu rufen.

Wenn da noch jemand ist, MUSS er mir helfen. Ein knappes, ersticktes »Bitte hilf mir« kämpft sich über meine Lippen.

Niemand kommt zur Hilfe, doch der mysteriöse Staub lässt abrupt von mir ab. Ich stehe da.

Allein!

Die Panik und meine Atemnot sind wie weggeblasen. Absolute Ruhe, kein komisches Gefühl mehr, keine Spur des mysteriösen Staubs. Ganz zu schweigen von dem Knick-Knack-Geräusch. Nichts mehr!

»Hallo?«, bringe ich zu meiner eigenen Überraschung standhaft hervor, im Gegensatz zu meinen Knien, die sind weich wie Butter.

Wut kommt in mir auf.

Egal was das eben gewesen sein mag, eines steht fest, ich hätte nicht gedacht, dass meine Neugierde mich derart schnell in Schwierigkeiten bringen würde.

Plötzlich packt jemand meinen Arm. Schock!

Ich erstarre.

Millisekunden ziehen in Zeitlupe an mir vorbei und quälen mein Gemüt, doch ich sammle mich wieder. Ich wage einen Blick zur Seite und schaue in das verärgerte Gesicht meiner Mum.

»Verflixt und zugenäht, Lia Leander, schau mal auf die Uhr, jetzt ist es schon nach acht. Du weißt doch, wie wichtig es deinem Vater und mir ist, dass wir wenigstens am Abend alle fünf zusammen am Tisch sitzen.«

»Entschuldige Mum, ich war noch mit Caro unterwegs.«

»Warum hast du sie nicht mitgebracht? Sie ist immer ein gern gesehener Gast und wenn unsere Männer Grillmeister spielen, könnten sie einen ganzen Hofstaat satt machen.« Stirnrunzelnd schüttelt sie den Kopf. »Und überhaupt, was treibst du denn eigentlich hier im Feld. Komm rein! Wasch dir die Hände und pass auf, was dir die Jungs wieder auf den Stuhl gelegt haben!« Grinsend dreht meine Mutter mir den Rücken zu und ich folge ihr ohne ein weiteres Wort.

Im Badezimmer wasche ich mir brav die Hände und kann es kaum fassen, was ich grade erlebt habe. Verliere ich langsam den Verstand? Ich schaue in den Spiegel und blicke mir in die Augen, dann schmeiße ich mir eine kräftige Ladung kaltes Wasser ins Gesicht. Geschafft stütze ich mich am Waschbecken ab und schaue mir erneut entgegen. Eindringlich flüstere ich mir selbst zu, »Diese verrückten Vorkommnisse werde ich einfach verdrängen. Ich wasche sie einfach weg!« Eine weitere Handvoll Wasser landet in meinem Gesicht, um sicherzugehen, dass es seine gewünschte Wirkung hat.

Ich rapple mich auf, trockne mich ab und schlendere hungrig auf die Terrasse, ohne die Warnung meiner Mutter zu vergessen. Diese zwei Chaoten, die sich meine Brüder nennen, haben doch tatsächlich ein Meer aus Reißnägeln auf meinem Platz arrangiert und sitzen breit grinsend gegenüber, hoffnungsvoll fiebernd auf das Schlimmste. Na wartet, denen mache ich einen Strich durch die Rechnung. Ganz langsam setze ich mich hin und fahre vorsichtig mit einer Hand über den Sitz, ohne dass es die Jungs sehen. Prima! Alle Reißnägel auf die Seite geschoben und keiner hat meinen Hintern geküsst. Ganz geschockt schauen sie sich und unseren Papsch an, dann folgt lautes Geschrei.

»Mama, Lia ist ein Alien. Die hat den Hintern voller Reißnägel und verzieht keine Miene!« Plötzlich muss ich wieder lauthals losgrunzen und alle stimmen mit ein.

ZWEI FRISCHFLEISCH

Ich stehe in der Küche, mit meinem üblichen Milchkaffee in der Hand und schaue aus dem Fenster. Die Aussicht fällt über den Hof, direkt auf das große Maisfeld. Jeden Sommermorgen lausche ich dem Lied, das der Wind auf den Blättern des Maises spielt. Und jeden Sommermorgen liebe ich es aufs Neue. Mit lautem Gepolter, als würde ein Riese aus seinem Bett fallen, ist Schluss mit der herrlichen Ruhe. Dem Geräuschpegel zufolge sind meine Brüder nun auch abmarschbereit und im selben Moment fährt Caro auf den Hof. Die zwei Hobbits, die gerade einen Riesen aus seinem Bett geworfen haben, geben mir einen dicken Schmatzer über die Schulter und machen sich auf den Weg zum Busbahnhof für die Schule.

Caro und ich fahren schon seit wir in der Oberstufe sind mit dem Rad zur Schule, einfach der Fitness wegen. Caro fährt sogar bei Regen und sieht trotzdem immer top gestylt aus. Wie sie das schafft, frage ich mich immer wieder, doch hinter dieses Rätsel bin ich leider noch nicht gekommen. Ich hingegen sehe dann aus wie ein begossener Pudel und habe mich entschieden, bei Regen eher auf die Fitness zu verzichten. Meine Augen sind das Einzige an mir, das ich ohne Einschränkung richtig toll finde. Die makellos Schöne und Beliebte ist definitiv Caro. Mit meinen hellbraunen, langen, leicht gelockten Haaren und einem eher schmalen Körperbau bin ich die nette Freundin daneben. Ob ich mich nach einer Fahrt durch den Regen auf meine hübschen Augen besinnen könnte, wäre zu überlegen. Heute jedenfalls ist unglaublich schönes Wetter und sie holt mich ab, wie immer.

Kaum bin ich aus der Tür, plappert sie total überdreht auf mich ein.

»Guten Morgen meine noch sechzehnjährige Freundin. Gib Gas, Babe und schwing dich auf deinen Sattel, wir wollen los, um das Frischfleisch zu begutachten! Wenn wir wieder spät dran sind, wie meistens, sind wir die Letzten, die sie beäugeln! Und du weißt genau, wie sehr ich es hasse, die Letzte zu sein.«

Ich kann mir ein Augenrollen nicht verkneifen.

»Guten Morgen erstmal, meine liebe Caromaus! Und du weißt genau, ich finde es das Letzte, die Neuen zu begaffen, als wären sie die neueste Kollektion von Jean Paul Gaultier, anstatt sie herzlich und freundlich an ihr neues Zuhause zu gewöhnen.«, antworte ich mit erhobener Hand, um sie zum Schweigen zu bringen.

Natürlich kann ich ein Grinsen (diesmal ohne grunzen) nicht unterdrücken, eile auf mein Rad und trete in die Pedale, sodass Caro kaum nachkommt.

»Lia, das machst du mit Absicht, nur damit ich tatsächlich die Letzte bin!«

An der kleinen Brücke am Bach kurz vor dem kleinen Waldstück hat sie mich endlich eingeholt und ich muss staunen. Denn Caro ist mächtig aus der Puste und das kommt ausgesprochen selten vor.

»Hey, so langsam wächst du über dich hinaus. Sag mal, trainierst du heimlich, oder was? Das ist nicht fair und das auch noch unter besten Freunden! Ich hoffe, es regnet bald!«, hechelt sie schwerfällig.

Sie setzt ein schiefes Lächeln auf und wirft mir ein Küsschen zu. Daraufhin wedle ich neckisch mit dem Mittelfinger, als wir beide plötzlich ein Pfeifen hinter uns hören.

Prompt sind es zwei Pfiffe, mittlerweile einer neben mir und einer neben Caro, die in unser Ohr trällern. Bis wir die beiden unverschämt grinsenden Störenfriede jedoch richtig wahrnehmen, sind sie schon einige Meter vor uns.

»Hey Caroline, sag deiner Mum, der Kuchen war großartig und deinem Dad nen Gruß. Wir freuen uns schon auf den Sportverein. Bis später ihr zwei Hübschen, deine Freundin kannst du mir und meinem Bruder später in der Schule vorstellen, falls ihr pünktlich ankommt«, ruft uns einer von ihnen zu.

Auf Anhieb ist mir klar, wer diese unbekannten Jungs sein müssen und da kann ich mir meinen Kommentar nicht verdrücken.

»Tja, Caro, doch nicht die Letzte. Durch mich sogar die Erste, die das Frischfleisch begutachten kann. Was sagst du dazu?« Diesmal setze ich das schiefe Lächeln auf und Caro wedelt mit dem Mittelfinger. Nachdem ihre Hand, die scheinbar ein Eigenleben bekommen hat, wieder den Lenker umgreift, nickt sie zufrieden.

»Na dann, darf ich vorstellen? Das waren Pierre und Liam Dubois.«

»Wir beide sind die Ersten«, murmle ich vor mich hin. Dann düsen wir in Höchstgeschwindigkeit zur Schule.

Angekommen, natürlich wieder extrem knapp, ketten wir unsere Räder an und eilen über den Schulhof in Richtung Eingang. Dort stelle ich fest, dass ich meinen Schlüssel im Fahrradschloss stecken gelassen habe. Sowas passiert doch wirklich immer nur mir, typisch für mich.

Caro sprintet die Treppe in Richtung Aula hoch und zuckt entschuldigend mit den Schultern.

»Sorry Lia, ich muss pünktlich sein, bin doch heute als Erste mit der Präsentation über das Phänomen Blitze dran!«

Als ich hektisch zurückrenne, mit den Gedanken schon im Klassenzimmer, stoße ich plötzlich mit jemandem, der sich anfühlt wie eine Wand, zusammen. Meine Tasche fällt, mit der Öffnung nach unten, geradewegs auf den Boden. Deren Inhalt verteilt sich über die größtmögliche Fläche. Das hat mir noch gefehlt. Ist ja nicht so, als stünde ich unter Zeitdruck.

Vor mich hin brummelnd sammle ich, ohne hochzusehen, alle Utensilien auf.

»Typisch für mich! Ich könnte auch zwei Stunden früher losfahren und würde es schaffen, zu spät zu kommen. Das heißt wieder mal einen Eintrag wegen Unpünktlichkeit, zur Abwechslung mal was ganz Neues.«

Meine Aufregung wird abrupt unterbrochen. Eine starke, aber gepflegte, sogar manikürte und leicht gebräunte Hand nimmt mir meine Tasche und meine unordentlich zusammengewurschtelten Unterlagen ab, um sie dann fein säuberlich und gekonnt in diese reingleiten zu lassen. Als ich aufblicke und in das vollkommenste Gesicht schaue, das ich jemals gesehen habe, überkommt mich wieder unvorbereitet dieses Gefühl vom Gerstenfeld.

Mein Körper summt und ich fühle mich absolut zufrieden und erfüllt.

Er fährt sich lässig durch sein sandfarbenes Haar, wonach es wuschelig in sein zart gebräuntes Gesicht fällt. Ich halte seinen rehbraunen Augen stand, obwohl mich sein durchbohrender Blick verlegen macht. Dabei entdecke ich die goldenen Striche zur Iris hin, die wie der Umriss eines Sterns wirken. Diese Augen. Dieser Ausdruck darin. Irgendwoher kenne ich diesen fesselnden Blick, der mich in seinen Bann zieht und nicht mehr loslässt.

Lia, hör auf zu schmachten!

Aus dem Nichts formt sich vor meinem inneren Auge eine ausgesprochen sexy und selbstbewusste Lia, in einem göttlichen Gewand.

Das ist die Geburt meiner imaginären Göttin.

Ich schmachte dennoch.

Seine Lippen fesseln meine Aufmerksamkeit. Sie sind so perfekt geschwungen, dass sie für nichts anderes bestimmt sein können, als von meinen geküsst zu werden. Schon allein die Vorstellung, wie seine auf meine Lippen treffen, versetzt mich in einen Liebeswahnsinn.

Während ich mir ihren süßen Geschmack ausmale, verformen sie sich zu einem liebevollen Lächeln und dann ist es um mich geschehen.

Erst jetzt nehme ich die ganze Person wahr. Sein Körper ist definitiv sportlich. Ein V-Körper zeichnet sich unter dem weißen Poloshirt ab und nach den beigen Shorts zeigen sich straffe Schenkel und perfekt trainierte Waden. Dann macht es endlich Klick. Der pfeifende Radfahrer von vorhin, Liam Dubois!

Mein Herz setzt für eine Sekunde aus. Verdammt nochmal, hatte Caro da Voodoo betrieben oder was? Immer noch lächelnd streckt er mir seine Hand entgegen. »Ich bin der Neue bei euch, Liam Dubois, meinen Bruder Pierre hast du ja vorhin auch schon gesehen. Wir wohnen nur eine Straße von euch entfernt. Du bist die Freundin von Caroline, nicht wahr?«, stellt er sich gentlemanlike vor.

Als ich meine Hand in seine lege und antworten möchte, überkommt mich wieder dieses schöne Gerstenfeldgefühl. Die Berührung löst ein Déjà-vu in mir aus, als würde ich diese fremde Person kennen. Vertrautheit umgarnt mich. Und eine schreckliche Furcht, ohne dieses Gefühl nie mehr leben zu können, versetzt mir einen Kloß im Hals.

Meine frischgeborene innere Göttin watscht mich zurück in die Wirklichkeit. Ich bin mir nicht sicher, ob diese imaginäre Frau das Potenzial zu einer Freundin hat.

So langsam werde ich wahnsinnig. Diesmal vielleicht sogar liebeswahnsinnig. Ein Blick auf unsere Hände lässt mir den Atem stocken.

Sie glühen in einem hellen Silberblau und es beginnt sich auszubreiten in Richtung Arm. Geschockt ziehe ich die Hand zurück und genauso schnell erlischt unser Leuchten. Nervös schaue ich mich um, um zu prüfen, ob jemand das Gleiche gesehen hat wie ich. Aber es ist keiner weit und breit zu sehen. Klar! Es sind ja auch alle im Unterricht, dort wo sie sein sollten. Nur wir nicht. Mir fällt grade noch Liams ebenfalls verunsicherter Ausdruck auf, als er schnell zu einem schiefen, frechen Lächeln wechselt.

»Wie es scheint, hat es dir die Sprache verschlagen.«

»Oh… entschuldige, ich bin Lia. Und ja, ich bin Caros Freundin«, bringe ich ungeschickt hervor.

Meine innere Göttin schüttelt verächtlich den Kopf.

Noch immer lächelt er. »Nun Lia, ab heute kommst du nicht mehr alleine zu spät zum Unterricht. Du bekommst tatkräftige Unterstützung von mir höchst persönlich. In Zukunft kommt Lia gemeinsam mit Liam zu spät.«

Mein typisches Lachgrunzen bricht aus mir hervor, was mir sofort peinlich ist. Verlegen stehe ich da und die innere Göttin macht einen theatralischen Abgang. Liam stattdessen fällt in mein Lachen ein.

»Komm, lass uns gehen«, sagt er schließlich und zusammen gehen wir in unsere erste gemeinsame Unterrichtsstunde mit Verspätung.

Als wir das Klassenzimmer betreten, kommt uns stilles Schweigen entgegen. Caro ist grade fertig mit ihrem Vortrag. Gott sei Dank, sie hätte mich gelyncht, wenn ich sie durch meine Unpünktlichkeit aus dem Konzept gebracht hätte. Alle gaffen uns an und man könnte meinen, sie atmen nicht einmal mehr. Die Stille hält an, bis unsere Physiklehrerin, Frau Geiger, den neuen Mitschüler willkommen heißt. Bei mir bedankt sie sich, weil ich so nett bin, mich um unseren Klassenzuwachs zu kümmern. Sie führt auch meine Unpünktlichkeit darauf zurück. Doch leise höre ich sie mir, mit zusammengebissenem Kiefer, zumurmeln.

»Dein Glück, Fräulein Leander! Herr Dubois hat bei dir was gut! Denn er hat dir soeben deinen nächsten Klassenbucheintrag erspart!«

Liam, der das auch hören konnte, grinst mich frech an, zuckt kurz mit einer Augenbraue und sucht sich wortlos einen freien Platz in der letzten Reihe. Der natürlich, wie könnte es auch anders sein, genau hinter mir ist. Wie soll ich jemals wieder den Unterricht mit voller Aufmerksamkeit verfolgen, wenn mir ein so himmlisch schöner Kussmund im Nacken sitzt? Aber ich werde meinen Platz nicht wechseln. Ich sitze gern weit hinten. Den Vortritt lasse ich lieber der High Society, wie sich die Eltern meiner Mitschülerinnen Freddy und Josie selbst nennen und ihre Kinder es ihnen stolz gleichtun. Das soll aber nicht heißen, dass ich sie nicht mag. Sie sind eigentlich absolut in Ordnung, ich kann sie im Großen und Ganzen gut leiden. Caro ist sogar sehr gut mit ihnen befreundet. Aber ich persönlich bin eher der Typ, der sich im Hintergrund hält. Nicht, dass ich schüchtern wäre oder so, aber ich präsentiere mich nicht so gern wie diese Mädchen. Außerdem haben die Mädels gut betuchte Eltern, die ihnen ausreichend Finanzkraft bieten können, um sich mit teuren Markenklamotten zu verpacken. Die neuesten Trends sind natürlich auch Tagesthema in dieser Runde. Es ähnelt fast einem Wettbewerb, wer zuerst die neuesten Styling-Tipps mitbringt oder den aktuellsten Fummel trägt. Selbst wenn meine Eltern mich genauso sponsern könnten, könnte ich nie im Leben die gleiche Begeisterung dafür aufbringen, wie das Trio es jeden Tag aufs Neue schafft. Bei Caro läuft das irgendwie nebenher mit.

Nebenan schneidet Popper Grimassen, damit ich ihm meine Aufmerksamkeit schenke. Eigentlich heißt er Michael Pop, aber alle nennen ihn einfach Popper, weil er seit seinem dreizehnten Lebensjahr nur diese eine Sache im Kopf hat. Gerade leckt er süffisant mit der Zunge seine Lippen ab. Weil ich ihm einfach keine Beachtung schenke, geht er in die Offensive.

»Hey Leander, du siehst heut so mega hammerscharf aus. Wann bist du denn so lecker geworden? Du solltest lieber den obersten Knopf deiner Bluse zu machen, wenn du nicht willst, dass ich dich hier auf’m Tisch direkt vernasche!«

Ungläubig schüttle ich nur mit dem Kopf und kratze mich mit dem Mittelfinger an der Stirn. Im gleichen Moment tippt mich eine Hand von hinten an. Liams Hand werde ich unter Tausenden wiedererkennen, zu gut hat sich ihr Bild in mein Hirn eingebrannt.

»Wo der Junge recht hat, hat er recht! Denn der Einblick in diese Bluse ist wirklich nicht von schlechten Eltern!«, flüstert er mir über die Schulter zu.

Unglaublich, jetzt bin ich wirklich in keiner Weise mehr in der Lage, die Stunde auch nur im Geringsten zu verfolgen. Was zu viel ist, ist zu viel.

Ich meine, mal im Ernst, behandelt zu werden wie Freiwild ist eine Sache. Aber vor mir sitzt ein leibhaftig gewordener blonder Engel, in Form eines jungen Mädchens, die demnächst ein Supermodel bei Victoria Secret ablösen könnte. Und die anderen drei davor und daneben stehen dem in nichts nach. Freddy, Josie und Sarah sind im Besitz gut ausgeprägter B-Cups und haben von der Sonne geküsste Beine. Das reicht allemal, um mich in den Schatten zu stellen. Die volle Auswahl mit verschiedensten Haarfarben und Haarlängen. Nun bin ich absolut davon überzeugt. Ich bin drauf und dran, meinen Verstand zu verlieren. Das kann einfach alles nicht wahr sein! So langsam wird es schwierig mit dem Verdrängen.

Endlich höre ich den erlösenden Gong zur großen Pause.

So schnell wie ich kann, schnappe ich meine Tasche und verdrücke mich an meinen Lieblingsplatz für die Pause. Manchmal kommt Caro mit, aber meistens bin ich ganz froh, dort allein zu sein. Die Tischtennisplatten werden schon lang nicht mehr benutzt. Ist zurzeit nicht so angesagt. Mein Glück! Auf einer Platte mache ich es mir bequem und genieße den Ausblick. Die Tischtennisplatten stehen auf dem hinteren Schulgelände und grenzen an Weizenfelder und Maisfelder. Zu mindestens dieses Jahr, da die Bauern die Saat alle paar Jahre wechseln, um den Boden nicht auszumerzen. Ich liebe die Musik, die der Wind spielt, wenn er die Blätter streichelt. Ich rieche den Duft des jungen Maises und atme tief ein. Das entspannt mich jedes Mal und schenkt mir neue Kraft.

Tief durch die Nase ein und langsam aus dem Mund aus. Dabei sauge ich alles Positive durch die Nase in mich hinein und lasse den unbrauchbaren Rest aus dem Mund wieder hinausströmen. Jeglicher Stress fällt endlich von mir ab.

Doch plötzlich höre ich leise Schritte hinter mir. Mir bleibt fast das Herz stehen, nach all den ominösen Vorfällen in letzter Zeit ist das auch kein Wunder, oder?

Aber recht schnell erkenne ich Liam, der grinsend auf mich zuschlurft. Ohne um Erlaubnis zu fragen, setzt er sich zu mir auf die Platte. Direkt neben mich, ziemlich nah.

Fast schon zu nah, sodass ich mich etwas befangen fühle. Unsere Schenkel berühren sich. Doch ihm scheint das nichts auszumachen. Im Gegenteil, mir kommt es so vor, als würde er unsere beiläufige Berührung genießen. Noch etwas verunsichert von unserem Leuchten am Morgen beende ich unsere Berührung, indem ich meine Sitzposition ändere. Im Schneidersitz, mit dem Gesicht zu ihm, löst sich die Befangenheit ein wenig. Dann kramt er seine Limo raus. Bevor er zum Trinken ansetzt, beugt er sich grinsend vor, um mir etwas zu zuflüstern und schaut mir dabei tief in die Augen.

»Der Knopf von deiner Bluse ist immer noch offen!«