Energie vereint - Stefanie Fox - E-Book

Energie vereint E-Book

Stefanie Fox

0,0

Beschreibung

Die Prinzessin der Reinheit ist zurückgekehrt. ICH bin wieder zurück. Zurück aus dem wirbelnden Sog meiner Gefühle. Trauer. Angst. Panik. Mein Herz rast. »Ich muss hier raus, ich bekomme keine Luft.« Hoffnung. Sie keimt in mir. Sie wächst zu einem Baum und meine Finger glühen heiß. Die Fingerspitzen graben sich eigenmächtig in den Boden, reiben den vulkanschwarzen Kies. Ich summe, der Kies erleuchtet. Mein ganzes Ich erleuchtet und die innere Kraft sprüht wie ein Feuerwerk. Sie können mit der Zunge schnalzen, so oft sie wollen, aber unsere Menschlichkeit können sie nicht mehr löschen, oder doch?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 374

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Triggerwarnung

Liebe Leser:innen, dieses Buch enthält potenzielle triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Ich wünsche mir für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Von Herzen eure Füchsin

BEWAHRE DEIN LEUCHTEN!

PLAYLIST

Monsoon - VIZE

Number 1 - Nico Santos

Summer of Love - Shawn Mendes

Sonne im Kopf - Mara

All Stars - Martin Solveig

Bad Memories - Meduza

Hundred Miles - Yall

Mon Soleil - Ashley Parker

Shallow - Ashley Parker

Where Did You Go - Jax Jones

Give It To Me - Matt Sassari

No Therapy - Felix Jaehn

Redlight - Glockenbach

Belly Dancer - Imanbek

Bad Girl - Usher

WORTH NOTHING - Twisted

Off My Face - Justin Bieber

Was habt ihr gedacht - Wincent Weiss

Midnight City - M83

Ausmacht - Emilio

Sweet Child O Mine - Viggo Mortensen

La La La - Nicolas Julian

Ghost Town - VIZE

When the party's over - Billie Eilish

Komet - Udo Lindenberg & Apache 207

No Time To Die - Billie Eilish

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL ENIS: SCHÖNE BEINE

KAPITEL ZWEI: HOMO RUDOLFENSIS

KAPITEL DREI: ANSTECKENDE UNPÜNKTLICHKEIT

KAPITEL VIER: RAY BAN

KAPITEL FÜNF: KOTZERITIS

KAPITEL SECHS: EMOTIONEN

KAPITEL SIEBEN: CARO

KAPITEL ACHT: PRIVATSPHÄRE (LIA)

KAPITEL NEUN: ABSTURZ

KAPITEL ZEHN: FLASHBACKS

KAPITEL ELF: NÄCHTLICHE BESUCHER

KAPITEL ZWÖLF: RAPEINLAGE

KAPITEL DREIZEHN: TAG DER OFFENEN TÜR

KAPITEL VIERZEHN: POLVO A LAGAREIRO

KAPITEL FÜNFZEHN: ICH HABE NOCH NIEMALS

KAPITEL SECHZEHN: SEIFE

KAPITEL SIEBZEHN: CLUSTER - HUDDLE

KAPITEL ACHTZEHN: FÜNFHUNDERT QUADRATMETER

KAPITEL NEUNZEHN: KNICK - KNACK

KAPITEL ZWANZIG: ZIEMLICH UNFAIR

KAPITEL EINUNDZWANZIG: STAR LORD UND GROOT

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG: LEGOLAS

KAPITEL DREIUNDZWANZIG: SCHWARZES LOCH

KAPITEL VIERUNDZWANZIG: LIEBLINGSVERSTECK

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG: WASSER UM WASSER

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG: TATENDRANG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG: FUGEN GLÄTTEN

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG: BLITZ UND FEUER

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG: GEWISSENSBISSE

KAPITEL DREISSIG: ROLLIGE MIEZEKATZE

KAPITEL EINUNDDREISSIG: KLEINE SCHLAMPE

KAPITEL ZWEIUNDDREISSING: EISKÖNIGIN JADIS

KAPITEL DREIUNDDREISSING: SEELENBLÜTENFEST

KAPITEL VIERUNDDREISSIG: KHABA!

KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG: ERLÖSUNG

KAPITEL SECHSUNDDREISSIG: DAS MUNDSTÜCK DER DUNKELHEIT

KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG: BRUNFTSCHREIE

KAPITEL ACHTUNDDREISSIG: LIAM

KAPITEL NEUNUNDDREISSIG: LIA

KAPITEL VIERZIG: HUNGER

KAPITEL EINUNDVIERZIG: GEDANKEN, WENN… DANKE!

KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG: DIE SCHLEUSE

KAPITEL DREIUNDVIERZIG: LICHTGESTALT

POLVO A LAGAREIRO

PASTEIS DE NATA

EINS

SCHÖNE BEINE

Zum trillionsten Mal löse ich meine überschlagenen Beine und wähle eine gemütlichere Sitzposition.

Dieser Stuhl ist nicht nur hart und ungemütlich, an dem zerschlissenen Stoffbezug erkennt jeder Blinde auf zehn Meter Entfernung, dass er mindestens seit hundert Jahren im Sekretariat steht.

Ich kratze an dem alten Kaugummi, der tief im Stoff eingesessen wurde, bis mir einfällt wie ekelhaft das eigentlich ist. Ein leises Seufzen entschlüpft mir. Warten zählt nicht gerade zu meinen Stärken.

Während ich meine Jeansshorts zurecht zupfe, schiele ich zum wiederholten Male auf die große Uhr, die über unserer Sekretärin Frau Köble hängt. Sie klopft beschäftigt auf die Tastatur ein, doch meine Nervosität entgeht ihr nicht. Ein mahnender Blick über ihre Brille straft mich meiner Ungeduld.

Josie und Freddy laufen provokant winkend an der gläsernen Front bereits zum dritten Mal vorbei, welche das Sekretariat vom Schulflur abtrennt. Ein Augenrollen kann ich mir dieses Mal nicht verkneifen. Auch das bleibt Frau Köble nicht verborgen. Sie nippt, sichtlich ebenso genervt wie ich, an ihrer Kaffeetasse.

Nun entschlüpft ihr ein Seufzer.

Nach weiteren fünfzehn Minuten tanzen Pierre und Caro den »Wednesday Adams-Tanz« an der Glasfront entlang. Meine Freunde handeln mir noch Ärger im Schulsekretariat ein.

Endgültig entnervt lasse ich meinen Kopf in den Nacken fallen und spiele zur Beruhigung an meiner Kristall-Kette.

Eine strenge Stimme jagt mir einen Schock in alle Glieder. Frau Köble bricht unerwartet ihr Schweigegelübde. »Wenn die beiden Mossners zum Ende der großen Pause nicht auftauchen, geht ihr alle wieder in den Unterricht! Ich finde dieses Empfangskomitee ohnehin etwas zu dick aufgetragen.«

Zum zillionsten Mal ändere ich meine Sitzposition in eine aufrechte und straffe die Haltung. »Naja, unsere Rektorin Frau Keilbach meint es wahrscheinlich nur gut. Mir würde der Wechsel von einem Land in ein anderes bestimmt auch nicht sonderlich leichtfallen. Selbst dann, wenn ich die Sprache beherrschen würde, wie die beiden.«

Ein spöttisches Grunzen kriecht aus Frau Köbles Nase. »Ich glaube vielmehr die Stellung der Eltern ist ausschlaggebend, wie aufwendig das Komitee aufgestellt wird. Wie dem auch sei, du kannst gerne die Uhr im Auge behalten oder die Ohren für den Pausengong spitzen. Nach der Pause hört dieses Affentheater vor meiner Tür auf.« Sie linst über den Brillenrand und zeigt mit ihrem Zeigefinger kreisend zur Glasfront. »Du sammelst deine Äffchen da draußen ein und dann geht ihr euren Verpflichtungen als Schüler nach.«

Widerworte kennt Frau Köble nicht, direkt hüllt sie sich wieder in Schweigen und quält ihre Tastatur weiter. Liam, der außen an der Türe lehnt, erfrischt kurzzeitig meine Laune mit einem schelmischen Grinsen über die Schulter.

Wenn die beiden nicht auftauchen, hätten wir heute Nachmittag auf jeden Fall Zeit, Dinge zu tun, die ich schon seit Wochen gern mit dir tun würde. Schickt er in Gedanken und zwinkert mir zu.

Verlegen wechsle ich zum billionsten Male meine Position und vergrabe meinen Kopf in meinen Schultern. Meine vertraute Freundin, die Anspannung, macht sich wieder in mir breit.

Mittlerweile ist es Normalzustand. Anspannung und Schuldgefühl sind seit Wochen meine täglichen Begleiter. Ohne sie fühle ich mich fast nackt. Ich sitze hier, zusammen mit meinen Freunden.

Zusammen mit meiner Liebe.

Wir versuchen uns in Normalität. Deshalb schirme ich jetzt auch meine Gedanken ab und spiele unruhig an meinen Fingern. Die anderen sollen nicht schon wieder meine Sorgen spüren können.

Bei Gaya, die gesamten Sommerferien über haben wir versucht das Weltentor zu öffnen, um auf Assunta nach dem Rechten zu schauen, aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund will uns das einfach nicht gelingen. So vieles wäre dort zu tun. Ganz Assunta und alle Lebewesen dort benötigen unsere Unterstützung.

Meine Heilung!

Die Gedanken in meinem Kopf bringen mich noch um. Gaya sei Dank kann ich schon viel besser meine Gefühle und Gedanken vor den anderen abschirmen. Das gelingt uns allen mittlerweile sehr gut. Auch Freddy und Josie haben vieles gelernt und aufgearbeitet. Das Einzige, was noch aussteht, ist die Übergabe der Energiesteine. Meine Sorgen um Assunta und nicht zu wissen, was sich gerade dort abspielt, machen es mir fast unmöglich, die Zweisamkeit mit Liam zu genießen. Jetzt, wo er endlich entspannter und lockerer mit unseren Gefühlen umgeht und gerne Dinge mit mir anstellen würde, von denen ich die ganze Zeit geträumt habe, habe ich eine Blockade.

Eine Blockade, die unsere Vereinigung nicht zulassen kann. Wie könnte ich mich der menschlichen Liebe hingeben, die für uns Santis so viel mehr bedeutet, solange meine alte Heimat wegen mir in Trümmern liegt.

Zum Verzweifeln ist das. Allein der Gedanke daran, wie er mich berührt und küsst, aktiviert das altbekannte Kribbeln in meinem Unterleib. In meinen Fantasien gibt es kein Zurückhalten. Wärme steigt in mir auf und treibt mir Röte ins Gesicht. Ich muss daran denken, wie Liam nachts in mein Zimmer steigt.

Und er tun darf, was er möchte.

Awww, verdammt.

Diese Fantasie entfacht ein Feuer in meinem Unterleib, welches ich kaum bändigen kann. Das Element steht nämlich schlagartig in den Startlöchern. Feuer züngelt bereits in meinen Fingerspitzen und hofft auf Unterstützung der Blitze. Irgendwie muss ich die Energie entladen, bevor ich das Sekretariat in ein Inferno verwandle. Nur für eine Millisekunde dürfen die beiden Fähigkeiten über die Innenseite meiner Oberschenkel huschen, um den Druck ein wenig zu entlasten.

Wieder awww.

Verdammt! Zu meiner Überraschung fühlt sich das erstaunlich gut an und der gewünschte Effekt bleibt leider aus. Die Erregung stärkt meine Anspannung.

Das Schmunzeln, das über Frau Köbeles Gesicht huscht, lässt die Vermutung aufkeimen, dass sie ebenso Gedanken lesen kann wie ich. Mahnend beiße ich mir auf die Unterlippe und straffe sicherheitshalber die mentale Mauer nach.

Vielleicht deutet sie einfach deine Gesichtsfarbe und deine Körperhaltung, Prinzessin. Diesmal dreht sich Liam nicht um, aber seine Belustigung kann ich deutlich spüren. Außerdem entgeht mir auch seine Erregung nicht, die Flammen meines Feuers haben seine Männlichkeit erreicht.

Na super, nicht das Sekretariat verwandelt sich in ein Inferno, sondern meine Mitte.

Vielleicht löst sich die Blockade doch noch auf. Ich wünsche es mir.

Erhitzt suche ich Liams Blick und muss schmunzeln. Sein schiefes Grinsen wartet schon auf mich. Doch der äußerst laute Pausengong holt mich zurück in die Realität.

Zeitgleich öffnet sich die Glastür und die Mossners treten ein.

Peinlich berührt lass ich eine Millisekunde meinen Kopf durchhängen. Hoffentlich kann man mir meine Erregung nicht ansehen. Aber dann fange ich mich wieder, straffe meine Haltung und stehe auf. Das schwarzhaarige Mädchen lässt keinen Moment verstreichen und streckt mir freundlich ihre Hand entgegen.

»Hi, ich bin Meggie Mossner. Freut mich sehr dich kennenzulernen.« Ein kesses Lächeln huscht ihr über das Gesicht »Was kostet ein Blick in deine Gedanken?«

Sie schärft ihren Blick. »Unbedingt muss ich den Gedanken erfahren, der dir diese Röte ins Gesicht treibt!«

Das leicht rollende »R« ist nicht zu überhören. Es unterstreicht ihren gebräunten Teint und ihr glattes pechschwarzes Haar, das sie gerade elegant über ihre Schulter streicht. Wenn ich nicht bereits wüsste, dass sie eigentlich in Deutschland geboren ist und deutsche Eltern hat, würde ich sie glatt für eine geborene Portugiesin halten. Unglaublich sexy und zugleich wunderbar elegant. Ihre grünen Augen starren mich an, während sie immer noch fordernd mit ihrer ausgestreckten Hand vor mir steht.

»Erde an Lia Leander! Verstehst du mich nicht? Spreche ich vielleicht nicht deutlich genug? Ich bin Meggiiiiiie!« Ihre dünne Stimme wirkt jetzt etwas schrill.

Mühselig löse ich meine Starre und greife in die offene Hand, die sie mir nach wie vor entgegenstreckt. Unsere Blicke treffen sich, während sich unsere Hände berühren. Ihre Augen sagen so vieles, doch unsere Berührung sagt nichts.

Nichts?

Nichts!

Es ist das allererste Mal in meinem Leben, dass eine Berührung mir nichts sagt. Immer schon konnte ich aus einer Berührung das Gefühl der Person gegenüber deuten, was sie dabei empfindet. In ihren Augen jedoch lodert ein großes Feuer, dass nach mehr Holz verlangt.

Hinter Meggie tritt eine große muskulöse Person hervor und unsere Berührung löst sich automatisch.

»Jetzt bin ich aber dran, Meggie. Sie gehört dir nicht alleine. Mein Name ist Rio Mossner, hi!« Wie konnte diese gewaltige Erscheinung hinter Meggie verborgen bleiben. »Und wie ist das jetzt, nennst du uns den Preis?«

Seine stahlblauen Augen durchbohren mich und seine Hand scheint eine magnetische Verbindung zu meiner herzustellen. Diese Augen senden kein Feuer wie bei Meggie, sondern erotische Eiseskälte. Das kurzweilige Händeschütteln hingegen sendet mir Hitze, die sich in mich einbrennt. Lässig fährt er sich durch das blonde Haar, das ihm dabei ins Gesicht fällt. Sein schiefes Grinsen vergleiche ich unmittelbar mit Liams. Erschrocken über mich selbst sauge ich schwer Luft ein.

»Na sag schon, wie viel?«, fordert er erneut.

Verwirrt suche ich meine fehlenden Worte auf dem Fußboden »Ähm, ich … ähm, verstehe nicht ganz …«

»Schon gut, Lia Leander, behalte deine heißen Gedanken für dich. Es werden sich noch eine Menge Gelegenheiten bieten« Rio zwinkert mir lässig zu und verschränkt seine starken Arme. Himmel nochmal, der Typ muss gute eins neunzig groß sein. Jedenfalls muss ich meinen Kopf in den Nacken kippen, um in sein Gesicht zu schauen.

»Jetzt ist aber genug mit anstarren und anschmachten. Macht das draußen weiter, während ihr ihnen die Schule zeigt.« Offenbar ist der Geduldsfaden der Sekretärin am Ende. Sie stemmt ihre Hände auf den Schreibtisch, vornübergebeugt, um zum weiteren Tadel auszuholen, wenn nötig.

Wieder öffnet sich die Glastür und Caro streckt verlegen den Kopf hindurch, als würde ihr das Glas einen gewissen Schutz bieten. »Tschuldigt bitte, aber können wir dann mal los? Wir sind schon alle gespannt auf euch Mossners.«

Das amüsierte Lächeln verrät, wie sehr Meggie die Aufmerksamkeit genießt. Rio dagegen eher nicht. Seine stahlblauen Augen verhärten sich. Doch er folgt Meggie ohne zu zögern. Wir alle folgen, mit leichter Irritation über ihre Zielstrebigkeit.

Nachdem wir das gesamte Schulhaus durchlaufen haben, alle Räumlichkeiten durch sind, setzen wir die Führung in Richtung Klassenzimmer fort. Zuerst legen wir einen kurzen Stopp an unserem ein, danach folgen wir Pierre, um Rio sein Klassenzimmer für dieses Schuljahr zu zeigen. Pierre und Rio sind in der gleichen Klasse. Rio klopft Pierre freundschaftlich auf den Oberarm.

»Das Abschlussjahr wuppen wir gemeinsam, ich kann spüren, dass wir beide auf der gleichen Welle schwimmen. Vielleicht nimmst du mir ja die eine oder andere Hausarbeit ab. Mathe ist nicht so mein Ding.«

Pierre boxt gönnerisch in Rios Bauch: »Na oder du nimmst mir welche ab. Schauen wir mal, wer der Klügere von uns beiden ist. Hatte schon Hoffnung du würdest meine Matheaufgaben übernehmen.« Rio war auf den Klopfer in den Bauch nicht vorbereitet und ringt leicht nach Luft. Freddy und Josie werfen Pierre einen vorwurfsvollen Blick zu und haken sich ungefragt bei Rio ein.

Es entgeht uns allen nicht, dass die beiden ein Auge auf ihn geworfen haben, und er begrüßt das Interesse der beiden mit einem süffisanten Lächeln. Seine Selbstsicherheit lässt keinen Zweifel übrig, dass er Bewunderung gewohnt ist.

Belustigt und ausgelassen schlendern wir zur Schulmensa, um den beiden Neulingen die Stundenpläne zu zeigen. Solche Freiheiten hatten wir hier bisher nicht. Noch nie wurde um neue Schüler so ein großes Tamtam gemacht, doch wir alle genießen es. Stolz führt Rio seine beiden hübschen Bewunderinnen an unseren Stammtisch, als kenne er sich bereits aus. Josie und Freddy weichen ihm keinen Millimeter von der Seite. Wie zwei rollige Mietzen schmiegen sie sich rechts und links neben ihn.

Caro und ich besorgen für die komplette Runde Kaffee. Auf dem Weg zur Theke entdecken wir Sarah, alleine an einem Tisch in der Ecke. Ich hätte sie fast übersehen, aber ihre Traurigkeit packt meine Aufmerksamkeit im Genick und schüttelt sie fest. Caro drückt meinen Arm und lässt einen schweren Seufzer raus.

Könnte ich ihr nur ihre Last nehmen, aber sie spricht einfach nicht darüber, was sie so bedrückt. Ihre Traurigkeit wird sie auffressen, wenn sie es weiter zulässt. Ich weiß nicht, wann genau das angefangen hat. Aber mittlerweile lässt sie niemanden mehr an sich ran. Möchtest du mal mit ihr sprechen, Lia? Unsere Telepathie läuft mittlerweile von selbst. Wir folgen unserem Vorhaben und unterhalten uns stumm. Ohne Blickkontakt, Mimik und Gestik, so erahnt niemand im Geringsten irgendwas. Berta, unsere Mensa-Perle reicht uns automatisch Kaffeelöffel und Milch über die Theke, wie immer.

Caro, ich habe es einige Male versucht. Aber sie blockt direkt ab. Meinst du die neuen Pflegeltern sind auch nicht gut zu ihr?

Auf dem Rückweg zum Tisch winkt sie uns verstohlen zu und senkt sofort wieder ihren Blick auf das aufgeschlagene Buch, das vor ihr liegt.

Ich weiß es nicht. Vertrauen wir einfach darauf, dass sie sich uns öffnet, wenn sie Hilfe braucht.

Am Tisch verteilen wir die Kaffee-Becher. Währenddessen packt Meggie aus einem kleinen Papiertütchen sechs geflochtene Lederbändchen, in denen aufwendig smaragdgrüne Kristalle eingearbeitet wurden, aus. Behutsam schiebt sie die Bändchen wie einen wertvollen Schatz in die Mitte des Tisches.

»Es ist eine Tradition in Portugal neue Freundschaften mit Freundschaftsbändchen zu besiegeln. Ich möchte gerne jedem von euch eines dieser Bändchen als Symbol meiner Dankbarkeit schenken. Wir haben nicht damit gerechnet hier bei euch so herzlich aufgenommen zu werden. Eigentlich fällt es mir und meinem Bruder schwer, uns in eine Gemeinschaft einzufügen.« Nervös sucht sie Rios’ Blick »Ist doch so Rio, oder? Sag doch auch mal danke für den netten Empfang.« Unruhig verlagert sie ihr Gewicht auf ihrem Stuhl.

»Tut mir echt leid. Ich muss mich für meine Schwester wirklich entschuldigen. Jedes Mal kommt sie mit so nervigem Traditionsgedöns. Ich habe sie gerade so überreden können die Armbänder mit den grünen Turmalin-Kristallen zu nehmen, sonst hätte sie euch so knalliges Neon-Zeug mitgebracht. Kein Mensch mag doch so Billigsouvenirs. Ihr müsst die Dinger überhaupt nicht annehmen, sind eh made in China.« Resigniert schiebt er seine Hände tief in seine Jeans und schielt zu Freddy und Josie.

Uns ist allen klar, dass sein Desinteresse völlig geschauspielert ist. Immer noch wartet er die Reaktion der beiden Mädels ab.

Nun scannt er auch mein Gesicht, um herauszulesen wie ich die Bändchen finde. Doch in dieser Sekunde schnappen sich Josie und Freddy gierig eines der sechs Armbänder. Begeistert legen sie sie sich um das Handgelenk.

Ein warmes Gefühl überkommt mich. Können wir ein Geschenk, das von Herzen kommt, ablehnen?

Außerdem ist es eigentlich eine nette Geste.

Ich schnappe mir das nächstgelegene vom Tisch und begutachte es in meiner Hand genauer. Liam und Caro verschränken ihre Arme ausdruckstark.

Als Pierre sich über den Tisch beugt, beugt sich in diesem Moment auch Meggie über den Tisch, um den Schmuck jeweils dem vorgesehenen Besitzer zuzuschieben. Sie stoßen leicht mit den Köpfen aneinander und ihre Hände kreuzen sich auf dem gleichen Armband. Belustigt kichern sie, wie zwei kleine Kinder vor sich hin. Meggie fixiert Pierre mit ihren grünen Augen.

Eine Mikrosekunde interpretiere ich einen Flirtversuch in Meggies Blick.

Den auch Caro interpretiert. Ein genervter Zungenschnalzer unterbricht die Situation. Caro lässt so laut wie möglich ihren Stuhl nach hinten gleiten. Ausdrucksstark stemmt sie ihre Ellenbogen auf den Tisch und legt übertrieben belustigt ihren Kopf auf ihre Hände. Mit spöttischem Gelächter stimmt sie in das Gekicher mit ein.

»Ähähähähääääääää!«, raunt Caro Pierre zu und lässt übertrieben ihre Augenbrauen gestikulieren.

Ich bin völlig baff und überfordert mit der Stimmung, die hier gerade abrupt umschwenkt. Josie und Freddy lösen ihre Begeisterung über ihr Geschenk und versuchen zu retten, was noch zu retten ist.

»Hat jemand Hunger?«, stottert Josie in die Runde.

»Also, ich könnte schon was vertragen. Du nicht auch, Caro?« Die Hoffnung in Freddys Stimme ist nicht zu überhören.

In diesem Moment stößt Meggie aus völlig unersichtlichem Grund Caros Kaffeebecher um. Die gesamte warme Brühe rinnt Caro über die Arme entlang der Tischkante hinunter zu ihren Schenkeln.

»Oh nein, das tut mir jetzt aber wirklich ausgesprochen leid!« Übertrieben aufgesetzt legt Meggie eine Hand vor ihren Mund, um sich einen entsetzen Ausdruck zu verleihen. Wir alle am Tisch wissen, dass dieses Verhalten von Meggie dem Frieden nicht besonders förderlich ist. Hecktisch stecke ich mein Armband in die Hosentasche.

»Ich würde vorschlagen wir gehen jetzt am besten alle in den Unterricht.« Während Rio seine Empfehlung ausspricht, schnappt er Caro behutsam am Arm und fordert sie zum Mitkommen auf, die noch damit beschäftigt ist, die Kaffeereste von ihren Oberschenkeln zu tupfen. »Was ein Glück, trage ich heute einen Rock und der Kaffee war bereits abgekühlt«, murmelt sie eigentlich nur zu sich selbst. Fürsorglich unterstützt Rio Caro mit einer Serviette beim Trockentupfen.

»Was ein Glück für mich, dass meine Schwester manchmal so unkontrollierte Hände hat. Deine Beine sind die schönsten Beine, die ich je trockentupfen durfte.« Er setzt wieder dieses nette schiefe Lächeln auf, das ich vorhin schon im Sekretariat mit Liams vergleichen wollte. Das ist zu viel, meine Telepathie gibt Caro eine leichte Backpfeife.

»Wach auf Caro, der hat dich nicht so anzutatschen« Pierre bedankt sich telepathisch bei mir für die mentale Backpfeife und entschuldigt sich im gleichen Atemzug bei Caro. Pierre schiebt Rio beiseite und geht mit Caro voraus. Rio schnappt sich Josie und Freddy und folgt den beiden. Liam, der das ganze Spektakel stillschweigend beobachtet hat, nimmt mich an der Hand und gibt mir einen weichen Kuss. Meggie bleibt mit verschränkten Armen trotzig alleine am Tisch zurück.

ZWEI

HOMO

RUDOLFENSIS

W ie ein Nummerngirl im Boxring hält unsere Deutschlehrerin, Frau Krieger, unsere diesjährige Pflichtlektüre mit beiden Armen stolz in die Luft. »Der goldene Topf, von E.T.A. Hoffmann«, trällert sie voller Vorfreude.

Mit der Reclam Lektüre posierend läuft sie eine Runde durch das Klassenzimmer und fordert Beifall. Wenn ich nicht so in Gedanken wäre, würde ich diesen auch wie immer beisteuern. Am Rande nehme ich Poppys und Marcs Buhrufe wahr, während ich unter meinem Tisch die Uhrzeit auf dem Smartphone erfahren will.

Neben der Tafel, dort wo noch vor ein paar Tagen in jedem Klassenzimmer eine analoge Uhr ihren Platz hatte, steht nun in krummen dicken Lettern - Zeit, sich zu bessern! - mit Edding geschrieben. Es stand mal zur Sprache, es sollen die Analoguhren durch Digitaluhren ersetzt werden, doch unsere Rektorin war die Einzige in der ganzen Region, die das verweigerte, weil sie dies als den Untergang der Fähigkeit zum Uhrenlesen verurteilte. Leider gab das den Schülern der anderen Gymnasien die Steilvorlage für unseren Spitznamen Homo Rudolfensis. Nun haben alle Schulen digitale und wir haben überhaupt keine, weil sich einer oder mehrere meiner Kammeraden diese Retourkutsche erlaubt haben.

Mein Smartphone leuchtet auf. Die Unterrichtsstunde hat vor fünfzehn Minuten begonnen, doch von Meggie keine Spur.

Ich bin nicht nur von ihrem Verhalten vorhin irritiert, sondern auch von ihrem Mut. Denn als neue Schülerin nicht nur das Empfangskomitee fast eine gesamte Schulstunde warten zu lassen, sondern danach auch nicht beim Unterricht zu erscheinen, ist schon allerhand.

Ein wenig Sorgen mach ich mir schon. Vielleicht kann sie das Klassenzimmer nicht finden. Die Schule ist schon recht unübersichtlich, deswegen hatten wir den beiden ja auch alles gezeigt und dann lassen wir sie in der Mensa einfach alleine zurück. Mein Gewissen schüttelt mich. Liam und Pierre durften bei ihrer Ankunft Wochenends zusammen mit ihrem Onkel durch die Schulgänge schlendern, weil Herr Dubois bei Lehrermangel als Biologiedozent angestellt wurde, ansonsten hätten die beiden auch eine Führung nötig gehabt. Ich stelle mir das Weibertheater vor, wenn für unsere Jungs auch ein Begrüßungskomitee zusammengestellt worden wäre. Die Fangirls wären in Scharen über sie hergefallen.

Belustigung kitzelt mir in der Kehle. Schmunzelnd drücke ich nochmals die Seitentaste meines Smartphones, das in meinem Schoss liegt. Auweia, über zwanzig Minuten und keine Meggie weit und breit. Mitleid und Schuldgefühle überkommen mich. Es war nicht in Ordnung von uns sie einfach stehen zu lassen.

»Fräulein Leander, von Ihnen bin ich Besseres gewohnt. Seit wann, bitte schön, kann etwas unter Ihrem Tisch mehr Aufmerksamkeit erreichen als unsere geliebte Pflichtlektüre? Es sei denn Sie suchen dort ihre Cheerleader Pompons, damit lass ich mich besänftigen.«

Erwartungsvoll hebt Frau Krieger ihre Augenbrauen und stemmt die Hände in ihre Hüften. Dass die Tür sich unhörbar öffnet, nimmt sie nicht wahr und verweilt mit ihrem Blick abwartend auf mir. Eine Meggie mit verheulten Augen und geröteten Wangen steht nun verlegen neben Frau Krieger und räuspert sich. Unsere gut besetzte Frau Krieger macht einen Satz in die Luft.

»Herrschaftszeiten, Mädchen, hast du mich jetzt aber erschreckt!«

Meggie seufzt und zuckt mit den Schultern, ihre geröteten Wangen leuchten.

»Entschuldigen Sie bitte vielmals, das war nicht meine Absicht! Es ist mir nur unglaublich peinlich, dass ich so spät dran bin, ich wollte den Unterricht nicht stören.« Voller Unsicherheit blinzelt sie mit ihren großen smaragdgrünen Augen unsere Lehrerin an. Ihre überaus liebenswerte Art eilt meinen Schuldgefühlen zur Hilfe und gemeinsam würgen sie an mir.

»Nun, schon gut Mädchen, möchtest du dich einmal kurz vorstellen?« Mütterlich tätschelt sie Meggie über den Rücken und schiebt sie vor das Lehrerpult, um die Sicht auf sie zu verbessern. Bevor Meggie zur Ansprache ansetzt, wirft sie sich ihr schwarzes seidiges Haar schwungvoll über die Schulter und räuspert sich.

»Hallo zusammen,« mit einem charmanten Lächeln winkt sie der Klasse zu »ich heiße Meggie. Wir, also meine Eltern, mein Bruder Rio und ich, sind zum zigsten Male umgezogen.« Sie schenkt uns ein weiteres, und dieses Mal überwältigend sympathisches, Lächeln, dem keiner entkommen kann und spricht sanft weiter. »Endlich wieder zurück in unserem Heimatland. Zuletzt wohnten wir in Porto in Portugal.« Poppy unterbricht sie mit einem sexy Pfeifen, das seine Bewunderung auf Poppy-Art zum Ausdruck bringen soll. Meggie wiederum begrüßt es mit einer selbstgefälligen Geste und fährt fort. Ihre Selbstsicherheit beeindruckt mich.

»Meine Eltern haben einige besondere medizinische Geräte entwickelt, die eine innovative Licht- und Wassertherapie ermöglichen. Damit lassen sich viele Krankheiten behandeln, manche sogar heilen. Da die Geräte so vielversprechend sind, werden sie von den Ländern subventioniert und die besten Fachleute in Europa arbeiten an der Optimierung mit. Deswegen auch die vielen Umzüge.«

Sie macht eine kleine Pause. In der Klasse herrscht absolute Stille, alle Aufmerksamkeit gilt Meggie. Frau Krieger schiebt sich mit ihren kurzen Beinen und ihrem üppigen Hinterteil mühselig auf das Pult. Mit aufgeklapptem Mund und gerunzelter Stirn nickt sie Meggie höchst interessiert zu. Anscheinend erfährt sie erst jetzt diese Details über die Mossners. Als ob das Lehrerkollegium nicht bestens über den Zuwachs informiert worden wäre. Aber nach der Menge an Gerüchten, die im Ort kursieren, weiß tatsächlich keiner mehr so genau, was nun Wahrheit und was Geschichten sind.

Meggie fährt fort. »Leider darf ich keine weiteren Details erzählen,« sie winkt vergnügt ab »unterliegt der Schweigepflicht.« Wieder strahlt sie die Klasse mit ihrem vereinnahmenden Lächeln an.

»Dank Herrn Schmidt und dem Oberbürgermeister konnte bereits das gesamte Labor und auch unser Wohnbereich eingerichtet werden. Es sieht grandios aus.« Mit einem spitzbübischen Grinsen streicht sie durch ihr langes Haar.

»Ich wende gerade meine gesamte Überredungskunst bei meinen Eltern an, um sie davon zu überzeugen, wie wichtig eine Begrüßungsparty ist.« In der Klasse bricht lauter Beifall aus. Klopfen auf den Tischen artet in schrilles Pfeifen aus.

»Genug, das ist genug! Schluss jetzt!« Frau Krieger lässt einen bedrohlichen Schrei los und das Pult kippt fast vornüber, als sie davon abspringt. Alle wissen, was das bedeutet. Keiner wagt nun mehr einen Mucks. Sie deutet Meggie an, sich einen Platz zu suchen. Protestierend packt Liam seinen Rucksack auf den freien Platz neben sich. Caro stupst mich in die Seite.

Liam hat wohl keine Sympathie für eine Tischkollegin, schickt sie mir per Gedanken.

Scheinbar nicht für DIESE Tischkollegin, sende ich ihr mitleidig zurück.

Meggie läuft an uns vorbei und schenkt uns ein besänftigendes Lächeln. Ich frage mich, ob sie sich um die Macht ihres Lächelns bewusst ist. Hinter uns, neben Sarah ist noch ein Platz frei, auf dem sie Platz nimmt.

Danach verläuft der Vormittag sehr unspektakulär.

Es herrscht natürlich enormes Interesse an den Neuen. Frischfleisch ist in unserem verschlafenen Dörfchen immer willkommen. Vor allem wenn sie so »prominent« sind wie diese beiden. Und so unglaublich gutaussehend. Kann mir mal bitte jemand erklären, warum reiche Leute immer so unglaublich attraktiv sind. Zur Mittagspause ist mir dieser Rummel einfach zu viel. Ich kann dieses Begaffen immer noch nicht leiden.

Seit langem ruft mal wieder mein vertrauter Rückzugsort, doch zuerst macht sich mein Kaffeekonsum in Form eines sehr dringenden menschlichen Bedürfnisses bemerkbar.

Bei meinem Abstecher zur Toilette begegne ich Sarah.

Sie wäscht sich auffällig gründlich die Hände und flucht leise vor sich hin, eine einzelne Träne läuft über ihre Wange. Mir stockt der Atem und mein Herz wiegt schwer wie Blei.

Hier auf der Toilette hatten wir beide ein einschlägiges Erlebnis. Zusammen waren wir stark, haben aber niemals darüber gesprochen. So liebenswert und hilfsbereit sie anderen gegenüber ist, so unnahbar kann sie wiederum sein.

Damals als ich ihr aus der Klemme half, wusste ich nicht, wer und was ich wirklich bin. Mir fehlten schlichtweg der Mut und die Überzeugung, etwas bewirken zu können.

Sarahs Eltern waren verlorene Seelen. Als sie vier Jahre alt war, hatte der Kindergarten das Jugendamt eingeschaltet, weil ihr kompletter Oberschenkel mit Brandmalen, die nur von Zigaretten stammen konnten, übersät war. Damals war ich der Meinung, die Abreibung der Oberstufler hatte sie nicht so sehr schockiert wie mich. Heute weiß ich es besser und bin mir meiner Verantwortung bewusst! Schon Spiderman musste es lernen, mit großer Macht folgt große Verantwortung.

Außerdem braucht jeder eine Schulter zum Anlehnen. Den Kloß, der sich nun in meinem Hals bildet, schlucke ich schwer weg, dann lege ich mein »alles wird Gut-Lächeln« auf. Erst als ich an ihr vorbeilaufe nimmt sie mich wahr. Erschrocken zuckt sie zusammen.

»Oh Lia, ich dachte alle sind draußen bei den Mossners. Du nicht?« Schnell senkt sie wieder ihren Blick und eine tiefe Traurigkeit zeichnet sich auf ihr ab. Wieso weicht sie mir immer aus? Sie stellt das Wasser aus und trocknet ihre Hände. So einfach lass ich mich dieses Mal nicht abwimmeln.

Aufmunternd schenke ich ihr mein liebevollstes Lächeln und zucke mit den Schultern.

»Naja, gegen ein dringendes menschliches Bedürfnis kommen nicht mal die unglaublichen Mossners an!« Ich forme meine Augen zu zwei schmalen Schlitzen. »Es sei denn,« kurz überlege ich »ihre Eltern hätten auch dafür bereits ein innovatives Gerät entwickelt.«

Ein Schmunzeln huscht über ihr Gesicht. Dieses kleine kurze Lächeln, das ich ihr schenken konnte, motiviert mich.

»Sarah bitte, wir sehen alle, dass es dir gerade nicht so gut geht. Über Probleme oder Kummer zu sprechen kann einen schon ein wenig befreien.» Ich wage einen Schritt näher an sie heran und berühre sachte ihren Rücken.

»Bitte schenke mir dein Vertrauen und deinen Kummer. Du wirst es nicht bereuen. Geteiltes Leid ist halbes Leid.« Meine Hand ruht auf ihrem Rücken und ich schicke ihr heilende Energie. Meine Fingerspitzen kribbeln und das geliebte Summen leuchtet schwach auf. Diese Berührung sendet mir Einblicke in Sarahs Leben. Szenen verschiedenster Erinnerungen flackern in mir auf.

Schlimme Dinge.

Traurige Dinge.

Schmerzhafte Dinge.

Aber auch all die Liebe, die sie so gerne jemandem schenken möchte. Die Sehnsucht nach Freundschaft und Zugehörigkeit brennt lodernd auf. Und plötzlich spüre ich die Entspannung unter meiner Hand. Meine Liebe und Heilung findet Platz in ihrem Herzen. Sie entspannt sich und dreht sich zu mir um. Ich kann spüren, dass sie bereit ist, sich anzuvertrauen.

»Lia, ich ähm …«

Plötzlich öffnet sich die Tür und eine Gruppe Mädchen aus der Zehnten betreten in ausgelassener Plauderei die Sanitäranlage.

»Boa, hast du seine stahlblauen Augen gesehen? Und wie groß der ist? Schon sehr sexy!« Verlegen kichert eine von ihnen in die Hand.

»Ja, da bräuchte ich einen Hocker, bei meinen eins sechzig, um ihn zu küssen.« Diese scheint schwer von sich selbst überzeugt und stemmt aufreizend eine Hand in die Hüfte.

»Ha, schaut mal, mir hat er direkt seine Nummer zugesteckt. Vielleicht habe ich mit meinen eins siebzig genau die richtige Größe zum Knutschen.« Triumphierend hält die Größte von ihnen einen Zettel in die Runde.

»Im Liegen spielt die Größe überhaupt keine Rolle«, wirft die Vierte der aufgekratzten Runde ein.

Sarah schüttelt ungläubig den Kopf und schnaubt schwer aus. Beim tiefen Wiedereinatmen baut sich ihre gesamte Anspannung wieder auf. Unsere Verbindung erlischt. Als die Zehntklässlerinnen sich am Spiegel breitmachen, resigniert Sarah völlig.

»Lia, lass uns einfach wann anders sprechen.« Dann verlässt sie eilig den Raum.

Alle vier Waschbecken werden jetzt vereinnahmt. Jedes der Mädchen packt den Inhalt ihrer kleinen Kosmetiktasche auf der Armatur aus. Eine rempelt mich forsch zur Seite.

»Sorry, aber du bist doch fertig, oder? Make-up trägst du ja offensichtlich keines.« Mit einem Schnips in die Luft beendet das Mädchen ihre divenhafte Ansage, welches gerade eben die Nummer von Rio präsentiert hatte. Ein ausdruckstarkes Augenrollen muss ich einfach hinterlassen, bevor auch ich eilig aus dem Raum flüchte.

DREI

ANSTECKENDE

UNPÜNKTLICHKEIT

E ine Menge Gedanken vernebeln mir gerade mein Hirn. Wie bitte, bei Gaya, kann Rio direkt am ersten Tag an einer neuen Schule seine Nummer rausgeben, um direkt ein paar Mädels klarzumachen. Ist einfach ein Tick zu heftig für mich. Andererseits werden sie ja genauso schlimm belagert, wie noch vor ein paar Monaten Liam und Pierre.

Liam.

Sehnsucht steigt in mir auf.

Sorry, meine Prinzessin! Wir verteidigen hier tatkräftig Rio und Meggie. Die haben es noch schwerer als ich und Pierre. Heute werden keine Wetten abgeschlossen. Heute veranstalten die hier alle einen Basar. Ich höre pure Entrüstung in Liams Gedanken.

Ich habe einen kleinen Eindruck auf der Toilette bekommen, flüstere ich gedanklich.

Liam prustet laut aus. Pierre schickt mir seine Belustigung und Caro zeigt mir wie offensichtlich Meggie und Rio das Ganze genießen. Diese Situation ist für die beiden überhaupt nichts Neues und sie befinden es keineswegs als befremdlich. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, wenn ich noch einen Milchkaffee auf meiner Tischtennisplatte genießen möchte, muss ich mich ins Zeug legen.

Berta und ich verstehen uns stumm. Ich lege ihr das passende Kleingeld hin und sie reicht mir die Café-au-Lait-Münze für den Automaten mit Rührstäbchen und einem Sandwich über die Theke. Ein nettes Zwinkern obendrauf vergisst sie niemals. Ohne unsere Berta wäre die Mensa ein kalter, liebloser Raum.

Beim schnellen Schritt schwappt mir der Kaffee über den Becherrand, erwischt den Saum meiner Jeans Short und sucht über mein Knie den Boden. Tja, wenn’s läuft, dann läuft’s eben. An der Tischtennisplatte lege ich mein Sandwich und meinen Kaffeebecher ab und tupfe alles mit der Serviette trocken. Als ich aufschaue blickt mir Sarah scheu ins Gesicht.

»Ich dachte,« entschuldigend blinzelt sie mir zu, »wo könnten wir besser miteinander reden als hier hinten? Vielleicht teilst du deinen Rückzugsort heute ausnahmsweise mit mir?« Unsicher senkt sie wieder ihren Blick, während sie ihr Haar hinter das Ohr streicht. Erst jetzt bemerke ich eine Verfärbung über ihrem Auge.

»Sarah, Moment mal. Was hast du da?« Eschrocken reagiere ich, bevor ich überlege. Behutsam hebe ich ihr Kinn an, um bessere Sicht auf ihr Gesicht zu bekommen. Ein ordentlicher Bluterguss zeichnet sich dunkel über ihrem Auge ab.

»Was ist da passiert? Wer hat dir das angetan? Sind deine Pflegeeltern gut zu dir?«

Scheinbar waren meine Worte zu direkt. Mit zittriger Stimme antwortet sie mir zwar, aber ich kann ihre Abwehrhaltung bis ins Mark spüren.

»Das, oh das ist überhaupt nichts Schlimmes. Ich bin in der Dusche ohnmächtig geworden und hab mich dabei an der Badarmatur gestoßen. Passiert mir in letzter Zeit öfters.«

Konzentriert verdeckt sie die Stelle wieder mit ihrem Pony und holt ihr rotes welliges Haar hinterm Ohr hervor. Ungläubig schüttle ich den Kopf.

»Ich bin einfach ein Tollpatsch, Lia. Meine Pflegeeltern sind dieses Mal die Besten, die ich je hatte!«

Mit starker Überzeugungskraft halten ihre großen blauen Augen meinem skeptischen Blick stand. »Ich werde alles dafür tun, um bei diesen ausgesprochen liebevollen Menschen bleiben zu dürfen! Sie sind so geduldig mit mir. Haben Verständnis für meine Vergangenheit.« Ihre Fassade bröckelt, schluchzend vergräbt sie ihr Gesicht in den Händen. Ein schmerzender Stich rammt sich in mein Herz. Es sind ihre Schmerzen, die ich fühlen kann. Sie zerreißen mich fast.

»Sarah, aber wenn auch sie dir weh tun, finden wir eine bessere Lösung. Ich kann dir diesmal sicher helfen. Wir können dir helfen.« Energisch nicke ich ihr zu während ich mit dem Finger hinter mich in Richtung Pausenhof zeige. Dorthin, wo sich mein Cluster gerade vehement darum bemüht, die Mossners zu verteidigen.

»Wir sind jetzt älter und haben mehr Möglichkeiten. Wirklich, Sarah, du könntest dich auf uns verlassen.« Doch sie zieht ihre Mauer spürbar vor sich hoch, die sie immer aufbaut, wenn ihr jemand näherkommt. Die Tränen wischt sie mit der Hand aus dem Gesicht.

»Lia, ich brauch keine Hilfe. Meine Pflegeeltern sind die besten. Sie bemühen sich sehr um mich. Ich kann hier weiter zur Schule gehen, muss nicht mehr stundenlang mit dem Bus herumfahren, um hierher zu gelangen und ich habe sogar ein eigenes Zimmer.«

Kurz holt sie Luft und legt den Kopf schief. »Aber eine Freundin könnte ich gut gebrauchen.« Ihre vollen sinnlichen Lippen kräuseln sich zu einem Lächeln. Keine Sekunde zögere ich und falle ihr um den Hals. »Lia, du erdrückst mich.« Ich löse unsere Umarmung und wir kichern wie zwei kleine Kinder.

»Also eine Freundin könnte ich auch gut gebrauchen. Oder auch zwei. Und ein bisschen Abstand vom türkischen Basar, der da vorne stattfindet.«

Das rollende »R« ist unverwechselbar. Wir drehen uns um und die schöne schwarzhaarige Meggie funkelt uns mit ihren grasgrünen Augen an. Ein kurzer Blickaustausch zwischen Sarah und mir stellt klar, eigentlich würden wir gerne diesen Moment zwischen uns, alleine auskosten. Doch ist uns auch bewusst, dass jemanden auszuschließen nicht das Richtige ist.

Widerwillig winken wir sie zu uns. Ein wenig Ablenkung schadet wahrscheinlich nicht. Schwungvoll nimmt sie neben uns auf der Tischtennisplatte Platz und wir formatieren uns im Dreieck zum Schneidersitz. Meggie greift tief in ihre Hosentasche. Zum Vorschein kommt ein weiteres hübsches Armband mit diesem tollen grünen Stein, das sie auch mir bereits geschenkt hatte.

»Eines hätte ich noch übrig. Pierre und Liam waren zwar nicht so sehr davon angetan, aber Geschenke lehnt man nun mal nicht ab. Caro bekommt ihres auch noch.« Sie zwinkert mir entschuldigend zu. Während Meggie das Band in der Luft baumeln lässt, fällt ihr Blick auf Sarahs nackten Oberschenkel.

»Ai Jesus, was sind das für schreckliche Narben?« Bestürzt schlägt sich Meggie die Hände vor den Mund. Ich kann ihr Entsetzen förmlich spüren. Es ist offensichtlich, dass die Narben von Zigaretten stammen. Wir übersehen diese Narben schon seit vielen Jahren. Sie gehören zu Sarah und keiner will es ihr noch schwerer machen. Dafür haben sie alle viel zu gern. Beschämt schiebt Sarah schnell ihre kurzen Shorts zurecht und bedeckt ihre Oberschenkel wieder. Plötzlich schnappt sich eine zartgebräunte Hand das schöne Armband, welches Meggie immer noch in die Luft streckt.

»Na, bevor ich doch noch leer ausgehe, muss ich schnell zugreifen«, sagt Caro zynisch und bindet es sich direkt um. Während sie es genauer betrachtet, fährt sie mit gemilderter Stimme fort. »Es ist unglaublich hübsch, ich werde es in Ehren tragen. Vielen Dank, Meggie.«

Erneut greift Meggie tief in ihre Tasche und zaubert das letzte Band heraus. Dann schmeißt sie es gezielt zu Sarah, die es geschickt auffängt.

»Sag mal Meggie, darfst du uns wirklich nichts von eurem Labor und der Arbeit deiner Eltern verraten?«, fragt Caro und setzt sich im Schneidersitz zu uns. Meggie schüttelt den Kopf.

»Nein, leider nicht.« Sie überlegt einen Augenblick. »Aber ich habe andere gute Storys auf Lager. Da gibt es eine Menge lustiger Geschichten. Wie zum Beispiel zuletzt in Porto.« Ein kurzes grunzendes Bauchlachen rutscht ihr heraus, das mich sehr an mein eigenes erinnert. »Als Rio in Hungerstreik gegangen ist, weil unsere Mum zusammen mit einigen einheimischen Avós die portugiesischen Spezialitäten rauf und runter gekocht hatte.« Dramatisch hebt sie die linke Augenbraue. Wir Frauen lieben Bacalhau und Polvo á lagareiro, das sind sehr leckere Fischspezialitäten.« Sie spricht die Gerichte in ihr Smartphone und die Suchmaschine liefert sofort ekelhafte Bilder von Tintenfischen mit langen dicken Tentakeln, die in Knoblauch, Petersilie und Olivenöl schwimmen. Wir alle rümpfen die Nase. Ein kurzes Bauchgrunzen, dann fährt sie fort. »Aber die Männer des Hauses haben das Zubereiten dieser Gerichte unter Todesstrafe gesetzt. Was meiner Meinung nach an Diktatur grenzt! Und dabei schmeckt das so unglaublich lecker.« Beim Anblick der Bilder schüttle ich mich heftig, um die Gänsehaut loszuwerden, die mir über meinen kompletten Leib kriecht. Ein kurzes »Bäh« kann ich mir nicht verkneifen. Wieder verfällt sie in ein grunzendes Bauchlachen. »Ihr könnt euch also alle sehr gut vorstellen, wie sehr ich mich auf die gute alte Küche unserer Heimat freue!«, schimpft Rio, der gerade mit Josie und Freddy am Arm zielstrebig in unsere Richtung stapft. Gefolgt von Liam und Pierre, die eine Runde Kaffee für uns alle in den Händen jonglieren.

»Jap, Mum möchte heute Kutteln in Tomatensoße kochen! Wird bestimmt lecker.« Wieder hebt Caro dramatisch die linke Braue.

»Wruggg, wruggsss …« Rio stützt sich theatralisch mit einer Hand an Pierres Schulter ab, mit der anderen hält er seinen Bauch.

»Pierre, kann ich mich heute zum Essen bei euch einladen? Alles ist besser als Kutteln!« Wieder entfahren ihm schreckliche Würgegeräusche.

Verständnisvoll hält Pierre Rios Hand. »Selbstverständlich, ich fühl dich, Bruder.« Pierre zuckt nun neckisch mit seinen beiden Augenbrauen. »Bei uns gibt es heute eine französische Spezialität, Froschschenkel im Höschen, mhhh …«

Nun reagieren in der Runde alle mit ausgiebigen Würgegeräuschen und ich stimme mit meinem lauten grunzenden Bauchlachen mit ein. Das Würgen, verstummt und alle werfen mir im Kollektiv unverständliche Blicke zu. Die Jungs verschränken abwehrend die Arme vor der Brust.

»Okay, sorry«, ergebend halte ich meine Hände in die Luft. »ich lade euch heute alle auf eine Pizza ein.« Kurz überlege ich, dann beiße ich mir verlegen auf die Unterlippe. »Ähm Caro, kannst du mir zwanzig Euro leihen, ich habe mein letztes Geld in der Mensa gelassen.« Erneut grunzt Meggie vor sich hin. Da kann sich Sarah nicht mehr halten vor Lachen.

»Lia, Meggie kann grunzen wie du, wenn die nicht zu uns passt, wer dann?” Sarah kippt aus ihrem Schneidersitz in Caros Schoß. Nun grunzen wir alle gemeinsam ein ausgiebiges Bauchlachen.

Es ist so schön und befreiend mal für einen Augenblick Assunta und das Weltentor, das wir im Moment nicht öffnen können, außen vor zu lassen und einfach nur ein Haufen blödelnder Jugendlicher zu sein. Jeden einzelnen in unserer Runde scanne ich. Ich sauge deren Freude tief in mich hinein. Als mein Blick auf Liam trifft, erkenne ich erst, dass er mich die ganze Zeit über beobachtet. Überhaupt ist er heute sehr still, aber immer zur Stelle, wenn ich das Bedürfnis habe.

Er lächelt mich an.

Sein Gedanke, den er mir schickt, trifft mich wie eine Kanonenkugel.

Mitten in mein Herz.

Sein Gedanke ist geladen mit bedingungsloser Liebe und Dankbarkeit. Meine Hände kribbeln und summen einen Moment, ein klitzekleines Leuchten flackert auf, aber sofort habe ich es unter Kontrolle. Aufmerksam checke ich die Lage ab. Keiner hat etwas gesehen. Alle plaudern angeregt. Liam streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht und gibt mir einen sanften Kuss. Mach dir keine Sorgen, wir haben es mittlerweile so gut im Griff. Keiner bemerkt etwas, beruhigt er mich gedanklich.

Josie und Freddy hopsen hektisch von der Tischtennisplatte.

»Leute, wir sind schon zehn Minuten drüber. Der Nachmittagsunterricht hat schon begonnen.« Josie bricht fast in Tränen aus.

»Boa Lia, deine Unpünktlichkeit muss ansteckend sein!«, schimpft Caro und sammelt die leeren Kaffeebecher ein.

»Ihr habt doch uns als Alibi! Ist unser erster Tag, wir haben Welpenschutz«, beschwichtigt Rio und geht mit Josie und Freddy voraus.

»Lasst uns später am See treffen!«, ruft Freddy über die Schulter.

VIER RAY BAN

E in stolzes Schmunzeln umspielt meine Lippen. Ich bin die Erste an unserer geliebten »Stammbank«. Schnell lehne ich mein Rad am hohen Schilf an, der den See rundherum strauchweise ziert. Einen tiefen Atemzug des leckeren Wassergeruches sauge ich gierig in meine Lunge, dann erst nehme ich die Tatsache wirklich wahr. Einen dezent angedeuteten Freudentanz des Triumphes kann ich mir nicht verkneifen. Der »Wednesday-Adams-dance« ist momentan unser Tanz für eigentlich jede Gelegenheit. Vergnügt tanze ich zur Bank und hocke mich auf die Lehne. Heute bin ich die Erste.

Ich. Bin. Überpünktlich. Binde ich dem gesamten Cluster geistig auf die Nase.

Ich bin stolz auf dich. Ich kann Liams Grinsen deutlich spüren.

Bäh, geht überhaupt nicht klar. Bringt mich völlig aus dem Konzept! Bei Gaya, Lia auf dich ist aber auch kein Verlass mehr, ich brauch noch zehn Minuten! Auch Caros verborgenes Lächeln entgeht mir nicht.

Ach, lass ihr doch mal für den Moment die Genugtuung! Jeder fängt mal klein an. Pierres spöttisches Gelächter ist einfach so sympathisch, man kann ihm niemals böse sein.

Wir sind auch gleich da, keucht Josie. Freddy kichert nur belustigt vor sich hin. Sie klingen beide sehr abgehetzt.

Das heißt für mich, das erste Mal seit Wochen, ein paar Minuten für mich in der Natur.

Alleine.

Liebevoll reibe ich meinen Energiestein, der sich an meinen Hals schmiegt. Das Summen und Leuchten beruhigt mich sehr. Winzige Miniblitze piksen meine Fingerspitzen und spielen zwischen ihnen und meinem Stein fangen. Ich stelle mir vor, es wäre ein Gummiband, das ich am Armgelenk schnalzen lasse. Dieses Gefühl hat mir die letzten Wochen immer wieder aus der Tiefe geholfen. Die kleinen Blitze halten meine Empfindungen auf Trab, damit sie nicht mit mir durchgehen. Assunta bereitet mir solch große Sorgen und ein eigenartig mulmiges Gefühl breitet sich seit einigen Tagen weiter und weiter in meinem Bauch aus.

Assunta.

Gedankenverloren spiele ich mit der freien Hand mit meinen Elementen. Das ist momentan mein Trostpflaster. Wir sind nach nur so kurzer Zeit eins. Das Summen in der einen und das Elementenspiel in der anderen Hand nähren meinen Geist. Die Wasserkügelchen glitzern in der Sonne und tänzeln im Slalom zwischen meinen Fingerspitzen abwechselnd mit Kieselsteinen um die Wette. Genüsslich lehne ich mich zurück und schließe die Augen. Warme Sonnenstrahlen wärmen meine Haut. Minutenlang.

Schlagartig wirft sich Dunkelheit über mich. Ein gehässiges Gelächter schallt in meinen Ohren. »Sei gegrüßt, meine Schwester! Schön, dass du so berechenbar bist, dafür muss ich mich bei dir bedanken!«

Entsetzt reiße ich meine Augen auf.

Schnappatmung.

Meine Elemente verstummen und das Wasser fällt, zusammen mit den Steinchen, der Erdanziehungskraft zum Opfer.

Das laute Gelächter rüttelt mich heftig an der Schulter.

Zu heftig.

Es schmerzt.

»Lia…«

»Liaa…«

»Liaaaa!« Freddy krallt mächtig ihre Finger in meine Schulter und rüttelt an mir, bis ich wieder bei mir bin.

»Lia, was ist los mit dir? Du stehst völlig neben dir!« Sie wirft einen prüfenden Blick über ihre Schulter zu Josie, die gerade zusammen mit Meggie und Rio ihr Rad abstellt. Möglichst beiläufig setzt sie sich neben mich auf die Rückenlehne. In Gedanken fährt sie fort.

Du kannst doch nicht einfach so, mir nix, dir nix, den Elementen freien Lauf lassen! Sie rümpft ihre Nase und schnaubt schockiert aus.

Nicht nur die Erinnerung, die gerade so real in meinem Kopf gehämmert hat, sondern auch Freddys Maßregelung machen mich fassungslos.