Engadiner Abgründe - Gian Maria Calonder - E-Book

Engadiner Abgründe E-Book

Gian Maria Calonder

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Beschreibung

»Wenn du geschickt bist, kannst du dir hier oben als Polizist bestimmt ein gutes Leben machen.« Massimo ist sich da nicht so sicher wie Bernhild, die resolute Wirtin des Gasthofs ›Zum Wassermann‹. Die ungewohnte Höhe im Engadin bereitet Capaul Kopfschmerzen, ihm ist noch schlecht von der Fahrt über den Albulapass, aber Zeit zum Ankommen bleibt nicht. Noch vor dem offiziellen Dienstantritt muss er zu seinem ersten Einsatz: In Zuoz brennt eine Scheune. Nur wenig später stirbt ihr Besitzer, der kauzige Rentner Rainer Pinggera. Ein vermeintlich natürlicher Tod. Seiner Ordnungsliebe folgend, geht Capaul dennoch einigen Ungereimtheiten nach. Dabei lernt er das ganze gesellschaftliche Spektrum des Oberengadins kennen, vomSt. Moritzer Jetset bis zu den wortkargen Bauern in der schummrigen Dorfbeiz.Aber den Alteingesessenen gefällt es gar nicht, wenn jemand in ihrer Mitte für Unfrieden sorgt.

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Gian Maria Calonder

Engadiner Abgründe

Ein Mord für Massimo Capaul

Kampa

I

Der Gasthof Zum Wassermann lag nicht weit vom Bahnhof Samedan, einem in die Jahre gekommenen Giebelhaus mit pickligem Rohputz, eingekeilt zwischen neueren Zweckbauten. Es sah aus, als wäre es einmal Teil einer ganzen Arbeitersiedlung gewesen, die inzwischen überbaut war, und nur der Wassermann-Wirt hatte sich widersetzt. Der Schaukasten von Elmer Citro war leer bis auf eine Kinderzeichnung der Samedaner Wappengestalt, ebenjenes Wassermanns, und ein mit Schreibmaschine beschriebenes Kärtchen, das mit Stecknadeln an die schimmlige Faserplatte geheftet war: Übernachtung ab 40,–. Laut Tourismusportal im Internet kostete sie inzwischen fünfzig.

Als Capaul die Tür aufstieß, mit dem Koffer die schweren vergilbten Plastikvorhänge auseinanderschob und sich hindurchzwängte, schlug ihm der Geruch von Kaffee-Schnaps, Kuhmist und Katzenfutter entgegen. Auch die Wirtsstube atmete den Geist alter Tage, über die Tische waren karierte Tücher geworfen, in einer Vitrine standen Pokale und Trophäen von Viehschauen. Am schweren eichenen Stammtisch saßen vier Männer, einen fünften hatte er draußen rauchen sehen. Offensichtlich waren es Bauern, sie trugen Faserpelzjacken und schwere, mit Kot verklebte Schuhe.

»Guten Tag, geht es hier zu den Zimmern?«, fragte er.

»Allegra«, sagte einer in einem Tonfall, als wollte er ihn nicht grüßen, sondern zurechtweisen. Die anderen musterten ihn stumm. Capaul war von durchschnittlicher Größe und Statur, eher stämmig als hager, er war unauffällig gekleidet – schwarze Cordsamtjeans, ein schwarz-blau kariertes Flanellhemd und gut eingetragene schwarze Halbschuhe, alles aus der Migros –, allerdings hatte er unüblich hübsche schwarze Augen mit fast endlos langen Wimpern und dunkles Haar voller Wirbel. »Kälbchen« hatte seine Mutter ihn in ihren freundlicheren Phasen genannt. Auch einer der Männer murmelte etwas wie »Jungstier«, dann rief er nach einer gewissen Bernhild.

Es schepperte in der Küche, und eine kleine, drahtige Frau wohl um die sechzig kam hinter der Theke hervor, wischte die Hände an einer Schürze ab, auf der in roten Lettern stand: Hier kocht der Chef, und richtete mechanisch die Frisur, ein eigenwilliges Gebilde, das Capaul im ersten Moment für ein Eichhörnchen hielt.

Sie betrachtete ihn mit unverhohlenem Interesse, bis er sagte: »Ich habe ein Zimmer reserviert.«

Etwas in ihrem Gesicht erlosch. »Das billige, ja? Das muss ich erst parat machen. Die für sechzig hätten das Bad auf der Etage.«

»Was hat das billige?«

»Das liegt unterm Dach, das Bad ist also einen Stock tiefer.«

»Aber es ist dasselbe Bad?«

»Ja, wir haben nur das eine.«

»Nein, dann bleibe ich beim billigen.«

»Nur damit Sie sich ein Bild machen können: Die unteren Zimmer grenzen direkt ans Bad, Sie müssen also nicht erst aufstehen und die Treppe runter, um festzustellen, dass es besetzt ist. Das werden Sie noch schätzen, denn der Flur ist nicht geheizt, und die Septembernächte hier oben sind kühl.«

»Haben Sie überhaupt andere Gäste?«, wollte er wissen.

»Das war mehr allgemein gesprochen. Aber hören Sie, das Mittagessen ist auf dem Herd, die Spaghetti kochen gleich über, die Bolognese brennt an. Ich richte Ihnen das Zimmer, kein Problem, aber dann stellen Sie sich so lange an den Herd.«

»Nein, ich gehe«, sagte einer der Bauern, bevor Capaul reagieren konnte, stemmte sich schwer hinter dem Tisch hervor und ging mit knallenden Schritten in die Küche, womöglich trug er Nagelschuhe.

Bernhild kramte währenddessen in einer Schublade nach dem Zimmerschlüssel, dann ging sie zu der schmalen Treppe. Capaul nahm den Koffer auf und wollte sie begleiten, doch sie sagte: »Bei mir bekommen die Gäste einen Welcome-Drink. Frank, zapf ihm ein Kleines.«

Jetzt erst bemerkte Capaul, dass jemand hinter ihm stand, es war der Bauer, der draußen geraucht hatte, offenbar hatte Capaul ihm den Weg versperrt. Freundschaftlich ließ der Mann seine schweren Hände auf Capauls Schultern fallen und schob sich an ihm vorbei, dann zapfte er ihm ein kleines Bier, drückte Capaul das Glas in die Hand und setzte sich zurück an den Stammtisch. »Wo ist der Peter?«, fragte er.

»In der Küche, abverdienen.«

»Der Idiot hat auch noch Nein gestimmt.«

»Viele, die verkauft haben, haben Nein gestimmt.«

Capaul wollte kein Bier, ihm war noch schlecht von der Fahrt über den Albulapass, weniger der Kurven wegen als der Horden von Motorradfahrern, die offensichtlich die letzten schönen Tage ausreizten. Mehrmals war er grob fahrlässig überholt worden – einmal, als er gerade den kleinen roten Waggons der Rhätischen Bahn nachsah, die in bizarrer Höhe über ein Viadukt zuckelten, vor Schreck hätte er um ein Haar das Auto in die Schlucht gelenkt. Zudem hatte er, wie meist, zu wenig gefrühstückt. Er trat, den Koffer noch in der Hand, an die Theke, um das Bier abzustellen, dann vertrieb er sich die Zeit damit, auf einem Stapel Tischsets die Landkarte des geplanten olympischen Skigebiets zu studieren.

Am Stammtisch wurde noch immer debattiert. »Ist ja auch egal, verkauft ist verkauft. Allerdings hat der Peter sein Geld nicht ausbezahlen lassen, jedenfalls nicht alles, der hat es stehenlassen. Er hat gehofft, dass es noch mehr wird. Wenn du dein Geld stehenlässt, und gleichzeitig stimmst du Nein, hast du doch einen Vogel.«

»Das sagt der Richtige, du hast doch auch Nein gestimmt. Und was trägst du auf deinem Idiotenschädel?«

»Das ist etwas völlig anderes, die Mütze war gratis. Im Gegenteil, wenn einer wie ich die trägt – ich bin ja nun keine Schönheit –, schade ich denen sogar. Negativwerbung nennt sich das.«

Jener Frank hatte das gesagt. Capaul tat, als suche er im Raum nach einer Uhr, und warf einen Blick auf die Mütze. Sie trug den Slogan der Olympia-Befürworter. Derselbe Slogan zierte die Tischsets. Frank fing seinen Blick auf und zwinkerte ihm zu. Alles war recht rätselhaft.

»Niemand kann sagen, ob das Nein richtig war«, stellte inzwischen der Älteste am Stammtisch fest, einer mit käsiger Haut und geröteten Augen, die er hin und wieder mit einem arg gebrauchten Stofftaschentuch auswischte. »Und überhaupt: Nachjassen stinkt.«

»Trotzdem hat der Peter nur wegen den Jungen das Lager gewechselt. Die haben ihn zusammengeschissen, dass er überhaupt verkauft hat, danach wollte er das Geld wenigstens noch rausziehen, aber zu spät. So fand er, das wenigste, was er noch tun kann, ist, Nein zu stimmen.«

»Ich frage mich, wie lange ihn die Bernhild noch anschreiben lässt.«

»Wieso, die hat auch Nein gestimmt.«

»Das meine ich nicht, sie …«

Dann stockte das Gespräch, denn Bernhild kam quietschenden Schrittes die Treppe herab. Sie trug grasgrüne Crocs.

»Hier, Ihr Schlüssel«, sagte sie zu Capaul. »Gehen Sie, bringen Sie den Koffer hoch, der verstellt hier alles. Dann kommen Sie essen. Spaghetti Bolognese für acht Franken, mit Menüsalat zehn. Oder ist Ihnen schon das zu teuer?«

Sie verschwand in der Küche, und Capaul nahm den Koffer wieder auf.

»Sie meint es nicht so«, erklärte der Triefäugige.

»Im Gegenteil«, sagte Frank. »Was sich liebt, das neckt sich.«

»Sagte die Katze und fraß die Maus.«

 

Das Pappfähnchen am Schlüssel trug die Zwanzig, an der Tür selbst war die Zwei abgefallen, ein Scherzbold hatte dafür eine zweite Null gemalt. Das Zimmer war winzig und lag in der Dachschräge, aufrecht gehen konnte man nur in einem ellenbreiten Korridor von der Tür zum Schrank. Es gab weder Kommode noch Stuhl, und der Spannteppich roch nach nassem Hund. Um das Kippfenster zu öffnen, musste Capaul sich aufs Bett knien, die Spiralfedern gaben bis fast zum Boden nach. Das Fenster kippte nicht hoch, sondern drehte um die Mittelachse. Als er sich mit sportlichem Schwung von der Matratze erheben wollte, schlug er sich an der Fensterkante den Kopf an.

 

In der Wirtsstube war es laut geworden, alle Tische waren mit Handwerkern und Bahnarbeitern besetzt. Bernhild platzierte ihn zu einem Trupp Maler oder Gipser, sie waren jedenfalls in weißen Overalls. Seine Portion stand schon bereit, Menüsalat inklusive. Bernhild trug ihm die Stange Bier nach und fragte: »Ist das Zimmer recht?«

Er zögerte. »Die Aussicht ist schön. Wie heißt der Berg?«

»Piz Padella. Sind Sie gut zu Fuß? Es gibt dort schöne Wanderwege. Gratis.«

Capaul hörte ihren Unterton und fühlte, wie er errötete. »Ich bin nicht in den Ferien. Ich bin der neue Polizist. Das heißt, ab Montag.«

»Polizist, Sie?« Es schien, als würde sie eine spitze Bemerkung hinunterschlucken. »In dem Fall eilt es mit dem Meldezettel wohl nicht«, sagte sie dann nur und wartete, bis er die erste Gabel im Mund hatte. »Schmeckt’s?«

Er antwortete nicht darauf, sondern fragte nur zurück: »Wo kann ich eigentlich parken? Mein Auto steht jetzt unten an der Straße, ich glaube, der Parkplatz gehört einem Stromunternehmen.«

Die Gipser, die mitgehört hatten, lachten über die Frage, und der Jüngste, ein Blondschopf, sagte: »Eine Buße werden Sie als Polizist ja wohl nicht kriegen.«

Capaul wusste darauf nichts zu erwidern, er trank jetzt doch einen Schluck Bier.

Währenddessen klingelte das altbackene Wandtelefon. Peter kam aus der Küche, nahm ab, dann rief er: »Ein Massimo Capaul?«

Er erhob sich.

»Polizei«, sagte Peter noch und gab ihm den Hörer.

Es war Linard, Polizist im zweiten Jahr. »Der Dienst ruft. In Zuoz brennt eine Scheune, fahr hin und schreibe den Rapport. Wir sind gerade unterwegs zum Malojapass. Dort hat’s gekracht, zwei Töffs.«

»Ich habe noch nicht mal den Dienstausweis.«

»Du sollst auch keinen verhaften. Der Rapport ist für die Versicherung.«

Capaul hängte auf, borgte von Bernhild einen Block – Calanda Bräu stand auf jedem Blatt – und ging zu seinem Auto, einem grün metallisierten Chrysler Imperial Automatic, Baujahr 1982. Unter dem Scheibenwischer fand er einen Strafzettel, sauber gefaltet. Er setzte sich in den Wagen, entfaltete ihn und las: Capaul, Capaul, das fängt ja gut an!

 

Die Weite des Tals, die scharf gezeichneten Berggrate und der veilchenfarbene Himmel versöhnten ihn gleich wieder, und nachdem er in Zuoz gebührenpflichtig beim Bahnhof geparkt hatte, genoss er beim Aufstieg in den Dorfkern die klare, würzige Luft. Zuoz gefiel ihm besser als Samedan, das Sitz der Kreisverwaltung war und entsprechend geheimnislos. Auch Zuoz war an seinen Rändern hässlich überbaut, doch der Dorfkern war bezaubernd: Ausladende alte Häuser mit schweren Toren und trutzigen Mauern standen um einen mit kopfgroßen Flusssteinen gepflasterten Platz wie Kühe um die Tränke. Die kleinen, nach innen versetzten Fenster gaben ihnen etwas Verschlafenes, und selbst die fast überall aufgepinselten Wappen hatten etwas eher Rührendes als Stolzes.

Gebrannt hatte es links vom Dorfplatz, im bescheideneren Ortsteil hinter Somvih, wobei »bescheiden« relativ war, denn auch hier standen wuchtige fünfhundertjährige Häuser, nur waren sie heruntergekommener.

Dem Haus, zu dem man ihn wies, hätte zumindest ein Anstrich gutgetan: Von der Fassade blätterten mehrere Schichten Farbe. Die Dachtraufe hing, und hier und da zerfiel ein Fensterrahmen oder -laden. Das einzige erhaltene Wappen, direkt unter der Traufe in eine Ecke gequetscht, zeigte den Bündner Steinbock.

Spuren eines frischen Brandes konnte er nicht entdecken, dafür saß eine brünette Feuerwehrfrau auf dem Treppenmäuerchen zum Heustall, spielte auf den Stufen mit ihrem Helm Karussell und reichte ihm, als er sich vorstellte, eine leicht schwitzige Hand. Ihren Namen verpasste er.

»Alles halb so wild«, berichtete sie. »Der Alte, der hier wohnt, ein Rainer Pinggera, hat Schlimmeres verhindert. Eine Art Heizgebläse hat Altpapier in Brand gesetzt, er hat mit dem Gartenschlauch Wände und Balken abgespritzt, damit das Feuer sich nicht ausbreitet. Bestimmt war es mehr Glück als Klugheit, dass er den Strahl nicht auf das Gebläse gerichtet und einen Stromschlag gekriegt hat. Wir haben das Teil vom Netz getrennt und das Feuer erstickt. Eine Sache von Minuten.«

»Wann genau war das?«

»Der Alarm kam zehn nach zwölf, zwanzig nach war alles vorbei, würde ich sagen.«

»Hatte er selber das Feuer gemeldet?«

»Nein, er hat am Brandherd ausgehalten, bis wir kamen. Touristen haben in der Bäckerei Klarer Bescheid gesagt, von dort hat jemand angerufen.«

Capaul notierte alles auf sein Blöcklein.

Sie sah ihm zu. »Wie einer von der Polizei siehst du zuletzt aus.«

»Die Uniform macht viel aus. Darf ich hinein?«

Sie lachte. »Das meine ich. Du bist die Polizei, was fragst du? Muss ich dich führen?«

Er versuchte zu lächeln, dann fragte er: »Wo finde ich diesen Pinggera?«

»Wir haben ihn zur Kontrolle ins Spital nach Samedan gebracht. Er wirkte verwirrt, außerdem kamen Chemikalien in Brand. Möglich, dass er eine Vergiftung hat.«

»Wohnt sonst noch jemand hier?«

»Ja, im oberen Stock. Rita und Fadri, aber die reisen seit drei Wochen durch die amerikanischen Nationalparks.«

Bevor Capaul den Stall betrat, schrieb sie ihm noch ihre Nummer auf den Block. Sie hieß Luzia. »Mir gehört der Geschenkladen bei der katholischen Kirche. Ich habe auch Kissen und Handtücher, für den Fall, dass du dich noch einrichten musst.«

Er murmelte etwas und nahm die Rampe, die hinunter in den Viehstall führte.

»Der Brand war oben im Heustall«, rief sie ihm nach.

 

Die Stallungen boten Platz für sicher drei Dutzend Vieh und waren sauber gewischt. Selbst die Abläufe waren rein gehalten, das Löschwasser war schon fast versiegt. In einer Ecke hingen Viehketten, in einer anderen stapelten sich Pappschachteln von Elektrogeräten des vergangenen Jahrhunderts.

Eine Leiter führte hinauf in den Heustall. Auch dort war alles ordentlich und gepflegt, vieles sah aus, als wäre es noch in Gebrauch, die Werkbank mit dem Schnitzzeug, den zahlreichen Hobeln, Messern und dem Werkzeug für die Weißküferei etwa oder der Malschrank. Die Eisengewichte der alten Waage waren frisch gefettet, keine Spur von Rost, und an einer der Sensen, die gemeinsam mit Sicheln, Harken, Hacken, Schaufeln, Spaten und anderem Gartengerät die Wand zum Wohnteil verstellte, klebte noch frisches Gras. Die meisten Gerätschaften sahen handgearbeitet aus, ausnahmslos alles war Vorkriegsware, manches sorgsam geflickt, nichts kaputt.

Den Brand ausgelöst hatte ein kleiner gelber Heißluftventilator, Marke Rextherm, der unter der Werkbank stand. Die Feuerwehr hatte, um die Stromzufuhr zu kappen, schlicht den Stecker gezogen. Capaul konnte sich denken, dass man kalte Füße bekam, wenn man hier im Winter hobelte: Zu drei Seiten hin war der Heustall großflächig nur mit Latten verkleidet, in die Verzierungen gesägt waren, die den Durchzug verstärkten. Den Brand schien eine Verkettung unglücklicher Umstände ausgelöst zu haben: Der Alte hatte unter der Werkbank einige Zeitungsbündel gestapelt gehabt, eines war offenbar vom Stapel gefallen und hatte eine Spanholzkiste derart angestoßen, dass die daraufliegende Schachtel Skiwachs und Belagsreiniger auf jenes Bündel gerutscht und damit direkt der Heißluft ausgesetzt gewesen war. Das Wachs war geschmolzen, hatte das Papier getränkt, dieses hatte sich entzündet, und die aufsteigende Hitze hatte eine Plastikflasche mit Farbreiniger schmelzen lassen, die auf der Werkbank gestanden und deren Inhalt ebenfalls zu brennen begonnen hatte. Glücklicherweise waren die Flammen schnell verpufft und hatten sich nirgends tiefer ins Holz gefressen, verkohlt war lediglich die Unterseite der Werkbank.

Um den Rapport abzuschließen, brauchte Capaul nun bloß noch Pinggeras Aussage und Unterschrift sowie eine Stellungnahme des Arztes, bei dem er eingeliefert worden war. Dass er noch einen Blick in den Wohnteil des Hauses werfen wollte, war pure Neugierde. Er kam auch nicht weit, auf halbem Weg erschreckte ihn eine fuchsrote Katze, die ihm plötzlich von einem der Heuböden vor die Füße sprang, daraufhin machte er kehrt und ging zurück zum Wagen.

 

Die Sicht talaufwärts auf die Alpen war noch imposanter. Hinter der ewigen Weite des Hochtals wirkten sie gleichzeitig verloren und drohend, und Capaul hätte um ein Haar die Ausfahrt nach Samedan verpasst.

Auch der Parkplatz des Spitals kostete, und nachdem er geparkt hatte, ging er nochmals zur Schranke zurück, um herauszufinden, wie er zu einem Beleg für die Spesenabrechnung kam, den zu beziehen hatte er in Zuoz versäumt.

Die Frau an der Pforte verwies ihn an einen gewissen Dr. Hauser, sie sprachen sich im Flur. »Herr Pinggera absolviert noch einen Lungenfunktionstest, der aber bisher unauffällig verläuft«, erklärte Hauser. »Abgesehen von seiner altersbedingten Verwirrung scheint alles in Ordnung. Wenn Sie kurz warten, können Sie ihn gleich nach Hause fahren.«

Capaul notierte, dann fragte er: »Wenn er verwirrt ist, wie Sie sagen, besteht dann nicht die Gefahr, dass er gleich noch so etwas anrichtet?«

»Oh, sein Neffe wird sich um ihn kümmern, Pinggera Rudi. Und morgen früh sieht die Spitex vorbei, das ist schon organisiert. Das Wichtigste ist, dass er viel trinkt.«

Die Bemerkung stieß Capaul darauf, dass er selbst viel zu wenig getrunken hatte, das erklärte seinen wachsenden Brummschädel. Während Hauser zurück zu Pinggera ging, suchte er eine Toilette, um vom Hahn zu trinken. Bevor er sie fand, zupfte ihn eine junge Frau am Arm, die wohl die Schwesternhilfe war.

»Sind Sie der Polizist?«

Rainer Pinggera war entlassen worden und wartete in der Cafeteria auf ihn. Er war ein kleines, verkrümmtes Männchen mit roter Strickmütze, das exzessiv in der Nase bohrte.

»Da drin ist immer noch alles voller Ruß«, erklärte er, als Capaul sich neben ihn setzte und anbot, ein Taschentuch zu besorgen. »Aber geh weg, du, ich warte auf die Polizei.«

»Ich bin die Polizei.«

»Du?« Pinggera wollte vielleicht lachen, es kam ein Husten. »Ausweis her.«

»Den bekomme ich erst am Montag.«

»Ja, aber davor fängst du dir eine. Der Pinggera Rainer kann sich wehren. Bist du überhaupt volljährig? Richte denen aus, wenn sie mich schon umbringen lassen wollen, dann durch einen richtigen Kerl. Oder noch besser durch so eine Killerblondine.«

»Niemand will Sie umbringen«, versicherte Capaul. »Sie sollten nur diesen Ofen nicht mehr benützen, den Rextherm. Sie hatten sehr viel Glück.«

»Sieh mich an«, befahl Pinggera. »Ein Leben lang war ich vom ersten April bis zum ersten Oktober in kurzen Hosen unterwegs, aus Prinzip, außer zum Holzen. Und was haben wir? September. Im September werde ich wohl heizen.«

»Sie tragen keine kurzen Hosen«, bemerkte Capaul.

»Nein, weil mir die neue Mode nicht gefällt. Wir hatten einen fahrenden Händler aus dem Vorarlberg, den Gustl. Irgendwann hat er übergeben, der Nächste auch, aber wir nannten sie alle Gustl. Gustl kam mit dem Handkarren, einmal im Jahr, und zwar im Juni, er brachte die Ware, die man bestellt hatte, dann zeigte er den Katalog, und man bestellte fürs nächste Jahr: Heuhemden, Wollhosen, Melkmützen. Anno ’97 kam er das letzte Mal, es hat ihm nicht mehr rentiert. Seither trage ich auf, was ich noch habe, danach kann ich sterben. Aber wie gesagt, das ist Qualitätsware, so schnell werdet ihr mich nicht los.«

»Ich will Sie nur heimbringen.«

»So nennt ihr das. Ich gehe mit keinem als mit Rudi.«

»Das ist Ihr Neffe, ja? Ich sorge dafür, dass man ihn ruft.«

Er tat es, danach warteten sie schweigend, Capaul sah Pinggera beim Nasebohren zu. Manchmal erwiderte Pinggera den Blick, sah ihn forschend an, und endlich sagte er: »Du hast Augen wie eine Kuh. Das ist ein Kompliment, woher hast du die?«

»Es hieß, von meinem Vater. Der war Sizilianer.«

»War? Hast du ihn auch kaltgemacht?«

»Niemand will Sie kaltmachen«, versicherte Capaul nochmals. Er wollte sich eben erkundigen, ob die Empfangsfrau Rudi erreicht hatte, da kam er durch die Tür, und Capaul begriff, warum Dr. Hauser den Namen so herausgestrichen hatte, als müsste man ihn kennen.

Pinggera Rudi trug Sportkleidung, doch im Gegensatz zu der italienischen Sippschaft in Ski-Vollmontur, die den Empfang blockierte und dabei wie ein Pulk Osterhasen aussah, kam er daher wie ein Prinz.

Sein silberfarbener Ski-Anzug war offensichtlich maßgeschneidert, dazu hatte er den lässigen Gang eines Menschen, dem in seinem Leben alles glückt.

»Ach, Onkelchen«, rief er quer durch den Raum, »muss man dich jetzt rund um die Uhr bewachen?«

II

»Du hättest mich sehen sollen«, erzählte Rainer Pinggera seinem Neffen, während sie ihn zu Rudis Auto führten. Es stand nicht auf dem Besucherparkplatz, sondern im Personalbereich gleich beim Eingang. »Ich mit dem Gartenschlauch wie damals der Jenatsch. Ich sage dir, so leicht erledigen sie mich nicht.«

»Welcher Jenatsch? Der Schuhmacher von Ftan?«

»Nein, der Kämpfer natürlich, der Jenatsch eben.«

»Der Jürg? Den haben sie aber sehr wohl erledigt. Erst hat ihn einer, als Bär verkleidet, über den Haufen geschossen, die anderen sind danach mit Axt und Knüppeln über ihn her. Ich muss es wissen, Onkelchen, ich war im Schultheater der Bär.«

»Dann eben nicht wie der Jenatsch. Du hättest mich trotzdem sehen sollen.«

Rudi steuerte einen silbernen Mercedes C-Klasse an.

»Sind Sie der neue Polizist?«, fragte er.

»Ab Montag«, sagte Capaul.

»Ab Montag, und schon eingespannt?« Rudi lachte. »Lassen Sie mich raten, Sie sind Anfänger.«

»Ich arbeite gern«, sagte Capaul nur. »Ich habe bloß noch keinen Ausweis.«

Der Alte beschwerte sich: »Was flirtet ihr zwei Turteltäubchen da die ganze Zeit? Schließ auf. Oder besser, bring mich zurück, ich muss aufs WC. Die haben mich saufen lassen, dass es mir zu den Ohren rauskommt.«

Also gingen sie zurück, Rudi wusste, wo die Toiletten waren. Capaul wollte die Gelegenheit nutzen, um endlich zu trinken, doch Rudi hielt ihn zurück. »Ich glaube, das schafft er allein«, sagte er lächelnd, und ehe Capaul sich erklären konnte, fragte er: »Was ist eigentlich Ihre Lieblingsdisziplin?«

»Lieblingsdisziplin? Ich verstehe nicht.«

»Sport, ich rede natürlich von Sport.«

»Ach so.«

»Polizisten sind Sportskanonen. Also was? Skifahren? Tennis? Oder sind Sie etwa Leichtathlet?«

»Ich wandere gern«, sagte Capaul aufs Geratewohl.

Rudi lachte. »Kommt man heutzutage mit Wandern durch den Eignungstest?«

»Nein, da habe ich mich durchgebissen«, sagte er offen, doch Rudi redete schon weiter.

»Meine ist das Skifahren. Und inzwischen Tennis. Natürlich golfe ich auch, die wichtigen Deals werden fast immer auf dem Golfplatz abgeschlossen. Wissen Sie was? Ich nehme Sie mit.«

»Ich habe keine Ahnung von Golf. Ich weiß nicht …«

»Nein, auf dem Golfplatz hat einer wie Sie auch nichts verloren. Ich rede vom Skifahren.« Er öffnete die Toilettentür und rief: »Onkelchen, lebst du noch?«

Man hörte ein Stöhnen, dann krächzte der Alte: »Ja, ja, es dauert halt. In meinem Alter macht man kein Wettbrunzen mehr.«

»Dann lass dir Zeit.« Rudi schloss die Tür und sah Capaul mit stahlblauen Augen an. »Und? Kommen Sie mit?«

»Das hat ja noch Zeit. Erst muss es schneien.«

»Diese Flachländer, von Tuten und Blasen keine Ahnung!«, rief Rudi und verdrehte clownesk die Augen. »Was glauben Sie, wo ich gerade herkomme? Zermatt, Klein Matterhorn, herrliche Pisten. Zu der Zeit, als ich noch Rennen gewonnen habe, konnte man auch hier im Engadin im Sommer Ski fahren, St. Moritz, Pontresina, oder in Laax … Inzwischen muss man reisen, aber wozu gibt es Hubschrauber? Und den Flugplatz haben wir ja vor der Nase. Ich gehe aus dem Haus, eine Stunde später stehe ich auf dem Gletscher.«

»Was haben Sie damals gewonnen?«, wollte Capaul wissen.

Rudi stöhnte und raufte übertrieben das silbergraue, volle Haar – er schien ein Scherzbold zu sein. »Jetzt fühle ich mich richtig alt. Es gab Jahre, da konnte ich nicht auf die Straße, ohne um ein Autogramm angebettelt zu werden. Nein, ernsthaft, der Höhepunkt meiner Karriere war Olympia-Silber. Deshalb wollte ich jetzt die Spiele auch unbedingt zu uns holen. Wie die Abstimmung ausging, wissen Sie ja wohl. Passé, ich nehme es sportlich.«

Er gab Capaul seine Visitenkarte, im selben Moment kam sein Onkel vom Pissoir. »Gelöscht«, sagte er.

Rudi hakte sich bei ihm unter. »Dann schaffen wir es diesmal bis heim, Onkelchen? Was ist, Capaul, helfen Sie zwei Greisen noch mal zu ihrem Auto? Danach packe ich’s allein.«

 

Nachdem sie fort waren, wollte Capaul in seinen Chrysler steigen, doch sein Kopfweh war inzwischen so stark, dass er es sich anders überlegte und zum zweiten Mal ins Spital zurückging.

»Ich bin wohl die Höhe nicht gewohnt«, erklärte er der Pförtnerin und bat um eine Dafalgan-Tablette.

»Womöglich ist es auch der Wetterwechsel, am Wochenende soll es schneien«, sagte sie lächelnd.

Das schien ihm doch sehr unwahrscheinlich, viel zu lieblich leuchteten die goldenen Lärchen an den Hängen, er hatte Bienen summen hören, und im Park vor dem Spital tanzten Schmetterlinge.

»Ich gebe Ihnen eine Brausetablette, die wirkt schneller«, sagte sie noch.

Er bat: »Geben Sie mir zwei.«

Das tat sie. »Hier ist auch ein Pappbecher. Wasser finden Sie dort drüben.«

Sie zeigte zu den Toiletten, die kannte er ja inzwischen. Im Pissoir war der Fußboden überschwemmt, offenbar hatte der Alte wirklich nochmals gelöscht.

Capaul sagte einer Putzfrau Bescheid, dann setzte er sich ins Auto und fuhr zum Revier. Der Weg war gut beschildert, nur waren alle Parkplätze belegt. Dazu kam, dass unmittelbar hinter dem Polizeiposten die Straße in einem Durchfahrtsverbot endete, die einzige Abzweigung auch. Capaul wollte wenden, das wiederum verhinderte ein Kastenwagen der Polizei. Schließlich manövrierte ihn ein hilfsbereiter Passant rückwärts zwischen Steinpoldern und geparkten Autos hindurch. Er parkte auf dem Gebührenparkplatz unten beim Bahnhof und ging zurück ins Städtchen. Immerhin ließen dabei die Schmerzen nach.

Der Posten war in einem blassen Bürohaus im Dorfkern untergebracht, das Schmuckste daran waren ein überdimensioniertes Leuchtschild mit der Aufschrift POLIZIA CHANTUNELA GRISCHUN und ein leuchtend gelber Postkasten, der die Hälfte des Eingangs versperrte.

Capaul klingelte und musste eine Weile warten, ehe drinnen der Summer gedrückt wurde.

Der Schalterraum war möbliert wie wohl alle Bündner Polizeistationen, auch der Spannteppich war vermutlich der gleiche. Ein Polizist saß einsam hinter dem Computer, auf dem Namensschild stand L. Meier. Linard grinste, als er ihn sah.

»Capaul, Capaul! Und wo hast du jetzt geparkt?«

Capaul suchte das Glück in der Flucht nach vorn. »Euer Kastenwagen steht im Weg«, beschwerte er sich. »Da ist auch das Fahrverbot, man kann nicht wenden, und rückwärts kommt man nur mit gütiger Hilfe der Passanten.«

Linard feixte. »Das war Jon Lucas Einfall. Fahren die Leute durchs Verbot, schnappt er sie. Natürlich nur Touristen, sonst gäbe es schnell böses Blut. So kassieren wir innerhalb von zwei, drei Tagen unser Monatssoll an Bußgeld.«

Capaul konnte nicht erkennen, ob er sich einen Spaß erlaubte, und beschloss, das Thema zu wechseln. »Ihr wart vom Malojapass schnell wieder zurück.«

»Nur ich, um die Meldung aufzugeben. Die anderen sammeln noch Leichenteile ein. Keine Ahnung, ob die Motorräder stärker werden oder nur die Fahrer schlechter, jedenfalls gibt es jedes Jahr mehr Tote.«

»Woher willst du das wissen? Du bist doch erst ein Jahr im Dienst.«

»Weil ich lese, hier, Statistik.« Linard zeigte auf den Bildschirm. »Jetzt mache ich Platz, damit du den Rapport schreiben kannst.«

»Ich bin noch nicht so weit.«

»Was fehlt denn?«

»Die Aussage des Opfers.«

»Opfer«, wiederholte Linard. »Der Mann hat seine eigene Scheune angezündet. Hier, das sind Opfer.« Er tippte auf der Tastatur, drehte den Bildschirm und zeigte Capaul ein Foto des Motorradunfalls. Matsch in Ledercombi, hätte ihr Dozent in Forensik dazu gesagt. »Dein Klient dagegen«, sagte Linard, »ist doch schlicht senil.«

»Was weißt du davon?« Linard gefiel ihm nicht.

»Ich weiß noch viel mehr. Dass der Löschmannschaft deine traurigen Augen gefallen, zum Beispiel. Auch ich habe Kontakt zur Feuerwehr.« All das sagte er im selben süffisanten Tonfall. Dann fasste er in die Brusttasche, zückte seinen Ausweis und gab ihn Capaul. »Pinggera hat grauen Star im fortgeschrittenen Stadium und eine beidseitige Makula-Degeneration. Er wird nicht sehen können, wessen Ausweis du ihm unter die Nase hältst. Geh und schließ den Fall ab, sonst muss ich morgen der Sache nachrennen, und dazu habe ich nicht die geringste Lust. Wir sind für morgen mit den Münstertaler Kollegen zur Verkehrskontrolle auf dem Ofenpass verabredetet. Das heißt Sonne tanken. Man gönnt sich ja sonst nichts.«

»Das Wetter soll kippen, habe ich gehört.«

»Erst in der Nacht auf Sonntag. Laut Flugplatzwetterdienst. Wir handeln mit Fakten, Capaul, nicht mit ›soll‹ und ›habe ich gehört‹. Apropos, deine Handynummer. Ich kann dich nicht jedes Mal ausrufen lassen.«

»Ich habe kein Handy.«

Linard war einen Augenblick sprachlos. »Wie, ›kein Handy‹? In welchem Jahrhundert lebst du?«

Das wäre der Moment gewesen, sich abzuwenden und zu gehen. Er verpasste ihn. »Ich gehe gleich«, versprach er. »Aber habt ihr nicht auch eine Bescheinigung, die ich ins Auto legen kann, damit ich nicht ewig einem Parkplatz nachrenne? Auf den Gebührenparkplätzen zahlt man sich ja dumm und dämlich.«

»Du meinst so was wie das ›Arzt im Dienst‹-Schild?«

»Ja.«

»Du verkennst die Situation, du bist nicht im Dienst.«

»Was dann?«

»Du tust mir einen Gefallen, das ist alles.«

 

Also parkte er auch jetzt, zurück in Zuoz, wieder am Bahnhof und stieg ein gepflastertes Weglein ins Dorf empor. Als er Rainer Pinggeras Haus erreichte, war die Sonne hinter den Dächern verschwunden, und gleich wurde es empfindlich kalt. Mehrmals betätigte er die alte Zugglocke. Da er nichts hörte, nahm er an, dass sie nicht funktionierte, und drückte die Klinke. Die Tür war verriegelt. Er sagte sich, dass die Mieter eine eigene Klingel haben müssten, womöglich gab es einen zweiten Eingang. Er ging ums Haus, doch er fand nichts. Nachdem er abermals geklingelt und versucht hatte, die Tür zu öffnen, sah er hinter den Gardinen eines kleinen Erkers, der spitz wie eine Nase aus der Hausfassade in die Gasse hinausragte, den Alten hocken. Er starrte auf ihn herab, so schien es zumindest.

Capaul rief: »Ich hätte noch ein paar Fragen. Sehen Sie, ich habe jetzt auch einen Ausweis.« Aber Pinggera rührte sich nicht.

Währenddessen war Rudis Mercedes die Gasse hinabgerollt, so geräuschlos, dass Capaul ihn erst bemerkte, als die Hitze aus der Kühlerhaube an sein Bein drang. Sobald Rudi ausstieg, öffnete auch der Alte das Fenster und rief: »Gut, dass du kommst, der stellt mir wieder nach.«

Rudi nahm Capaul kurz den Ausweis aus der Hand und betrachtete ihn lächelnd, dann rief er hoch: »Er ist wirklich Polizist. Und wenn der Staat dich würde töten wollen, Onkelchen, könnte er es viel leichter haben.«

»Wie denn?«, fragte Capaul verwundert.

»Ach, Alte seines Schlags muss man nur in ein Heim stecken, und dafür findet sich immer ein Vorwand. Sie sind wie Füchse, eher beißen sie sich die Pfote ab, wenn sie in die Falle tappen, als dass sie sich einsperren lassen.«

Capaul sagte darauf nur: »Ihr Auto ist vorschriftswidrig geparkt.« Es stand mitten in der Gasse.

Rudi winkte ab. »Das ist kein Problem, hier kennen mich alle. Wenn einer durchwill, meldet er sich. Jetzt kommen Sie, Sie sehen ganz durchgefroren aus.« Er schloss die Tür auf und führte ihn ins Haus. »Ich bringe den Polizisten«, rief er. »Er will dir helfen, damit die Versicherung den Schaden zahlt.« Dann fragte er Capaul: »Das stimmt doch, oder?«

Capaul zögerte. »Das ist einer der Zwecke des Rapports.«

Sie zogen die Schuhe aus und betraten eine enge Stube. Es sah aus, als hätte seit dem Krieg die Zeit stillgestanden: geklöppelte Deckchen auf den Armlehnen der Sessel, die Deckenlampe noch mit Kerze, das Linoleum mit Messingleisten und zahllosen Schräubchen verlegt. Gleichzeitig war alles penibel sauber gehalten, es roch nach Schmierseife und Javelwasser.

»Putzen Sie noch selbst?«, fragte er den Alten, während er niederkniete, um das modernste Objekt im Raum zu betrachten, einen Röhrenfernseher von Blaupunkt, wohl eines der ersten Farbmodelle.

»Natürlich, wer sonst?«

»Das stimmt nicht ganz, Onkelchen. Lina hilft dir.«

»Schweig du still, Lina geht die Polizei nichts an.«

Capaul notierte Schwarzarbeit?, doch nur um der Ordnung willen. »Wer räumt denn auf?«

»Ich«, versicherte der Alte. »Die Augen wollen nicht mehr, ohne Ordnung wäre ich am Arsch.«

Rudi lachte. »Du warst schon immer ein Pedant.«

»Ja, ja, ja.« Der Alte winkte missmutig ab. »Was muss ich denn jetzt erzählen?«

»Wie es war«, bat Capaul.

»Wobei du nicht sagen solltest, dass du vergessen hast, das Öfelchen auszuschalten, Onkel, sondern dass du die Stecker verwechselt hast.«

»Welche Stecker?«

»Du wolltest Licht machen, deiner Augen wegen, stattdessen hast du das Öfelchen eingesteckt, und dummerweise war es noch an.«

»Aber ich habe keine solche Lampe im Stall. Keine, die ich einstecken könnte.«

»Dann hast du dich eben geirrt, das kommt vor. Du hast dir kurz eingebildet, du seist im Schlafzimmer. Es geht nur darum, dass diese Öfelchen inzwischen verboten sind. Die Versicherung zahlt nichts, wenn du das Öfelchen mit Absicht verwendet hast.«

»Habe ich auch nicht. Aber ich verstehe dich nicht. Das Einzige, was kaputtgegangen ist, ist dieses Öfelchen. Was soll die Versicherung dann überhaupt bezahlen, wenn nicht das Öfelchen? Und wozu bitte habe ich Licht gebraucht?«

»Du wolltest doch die Klobrille reparieren«, erinnerte ihn Rudi. Zu Capaul sagte er: »Er hat noch ein Plumpsklo, die Brille ist aus Holz, und als er auf sie gestiegen ist … Wieso eigentlich?«

»Was ›wieso‹?«

»Wieso bist du auf die Brille gestiegen? Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn du ins Klo gefallen wärst.«

»Die Glühbirne ist kaputt. Dort habe ich nämlich wirklich eine Lampe, nur ist dauernd die Birne kaputt.«

»Ich wechsle sie dir nachher. Nächstes Mal steigst du nicht mehr hoch, lass einfach die Tür auf, dann scheint die Straßenlampe herein.«

Rudi ging hinaus, um sich die Sache anzusehen. Rainer Pinggera rief ihm nach: »Ich habe eine Taschenlampe. Aber kannst du beim Licht einer Taschenlampe sehen, ob dein Hintern sauber ist? Ich nicht.«