Engel - Anja Hilling - E-Book

Engel E-Book

Anja Hilling

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Beschreibung

Wer weiß schon, was ein Engel sein soll. Oder wo man so was wie einen Engel trifft. Also muss man zu jeder Zeit damit rechnen und überall, nachts in einer Bar, am helllichten Tag auf einer U-Bahn-Treppe, in einem Tätowierstudio oder in einem polnischen Hotel. Doch wie soll man erkennen, dass einer so was wie ein Engel ist, wenn er es ja nicht einmal selber weiß. Asta arbeitet in einer Bar. In die Haut ihres Rückens ist eine sterbende junge Frau in den polnischen Dünen eingeritzt: Elisabeths Tod. Der Tresen trennt Asta von den unbegreiflichen, verletzten, verletzlichen Menschen, die die Dauer eines Cuba Libre oder eines Biers miteinander teilen, nicht mehr, manchmal doch. Hardy hat Astas Rücken bebildert, er hat Elisabeth sterben sehen, das Beweisstück, einen flachen Stein, hat er Asta geschenkt. Wie kann Elisabeth aber tot sein, wenn sie in der Bar auftaucht, um sich ihr Bild auf Astas Rücken anzusehen?Hanno und seine Frau kennen sich seit ein paar Stunden, nein, viel länger, schon immer. Vor drei Jahren ist sie gestorben, Krebs, und an diesem Nachmittag zurückgekommen. Sie ist die U-Bahn-Treppe hinuntergefallen. Bis zum Sturz hieß sie Sonja, doch jetzt ist sie Elfi, sie ist wieder da, trotz der falschen Haarfarbe, und auch wenn ihre Tochter das nicht glauben will, sie erinnert sich an alles: an alte Verletzungen, alte Signale, alte Liebesbeweise. Der eingerissene Daumennagel, dreimal kurz, zweimal lang, Kätzchen – kann man sich das einbilden, so was? Axel hat das reine Glück erlebt. Mit Ulla. Neunzehn Jahre später, an diesem Abend, treffen sie sich wieder. Ulla ist ihm fremd, nur an ihr Haar erinnert er sich: fest und rot, gelockt, ein einziges Leuchten. Sie werden die Nacht miteinander verbringen, er hat vorgesorgt. Es wird Kerzen, Sekt und Erdbeeren geben. Wie damals. Das reine Glück: Ein Versuch. Ein Scheitern? Wer bleibt übrig? Heike und Olaf. Die Tochter, die keine Mutter mehr hat; oder doch? Der Geliebte, der kein Mörder mehr ist; wirklich nicht? Heike sucht ein Zimmer. Olaf hat eins frei. Und vor einem polnischen Hotel geht heute keine Sonne unter. Ein Text wie ein Kaleidoskop. Auf den ersten Blick ein überwältigendes Wimmeln: Gesichter, Geschichten, Erkennungsmale. Mit jeder Erschütterung ordnen sich die Elemente zu neuen Formationen an. Jemand taucht auf und geht wieder; jemand verschwindet und kehrt zurück. Und nur an einem Ort scheint alles zur Ruhe zu kommen: Am Tresen, der die Welt von Asta, der kühlen, zärtlichen Beobachterin, trennt. Nach und nach kristallisieren sich Spuren heraus, die zu Linien werden, zu Nahtstellen zwischen zwei oder drei Schicksalen. Versprengte Splitter, die sich vielleicht zu etwas zusammenfügen lassen. Poetisch, ironisch, energisch. In glasklaren Sätzen, bei aller Anmut flirrend vor Leben, lässt Anja Hilling ihr Personal aufeinander treffen, sich gegenseitig Wunden schlagen oder Halt beieinander finden – für einen Moment wenigstens. Was sie in Bewegung hält, mündet in einer einzigen Frage, frei nach Oliver Sacks: Was ist das, was man Erinnerung nennt?

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Seitenzahl: 63

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Anja Hilling

Engel

(die Verletzung, das Herz und die Gedanken)

FELIX BLOCH ERBEN

Verlag für Bühne, Film und Funk

Inhaltsverzeichnis

Title Page

Personenverzeichnis

Zitat

erster Akt: die Verletzung

I. Bar

II. Bar

III. Zu Hause

IV. Bar

V. Tattoostudio

VI. Tatoostudio

VII. Tattoostudio

VIII. U-Bahn-Treppe

zweiter Akt: die Gedanken

I. Polnisches Hotelrestaurant

II. Hotelzimmer

III. Zu Hause

IV. Bar

V. die polnischen Dünen

VI. Bar

VII. Zu Hause

VIII. Bar

IX. Zu Hause

dritter Akt: das Herz

I. Zu Hause

II. Bar

III. Hotelzimmer

IV. Zu Hause

V. Bar

VI. Polnisches Hotelrestaurant

Über die Autorin

Über das Stück

Impressum

Personenverzeichnis

Asta, die BarkeeperinElisabeth, im Sand zurückgelassenOlaf, hat ein Zimmer frei jetztHartmut (Hardy) Kopetzki, der aus dem Gedächtnis maltHanno Biskop, dem die Frau verstorben warHeike, die Tochter auf WohnungssucheSonja/Elfi, die auch nicht weiß, wohinAxel, der nostalgische LiebhaberUlla, die nostalgisch Geliebte

sowie:

vier Passanten, die in Streit verfallenzwei polnische Kellnereine Sängerin

ORTE

eine Bar

zu Hauseein Tattoostudio ein Hotelzimmereine U-Bahn-Treppeein Hotelrestaurant in Polendie polnischen Dünen

„Das Denken muss sich auf die vorliegende Lebenssituation beschränken.Alle Gedanken und Spekulationen, die darüber hinausgehen, verletzen nur das Herz.”

I-Ging: Der Berg (Die Unbeweglichkeit)

erster Akt: die Verletzung

zweiter Akt: die Gedanken

dritter Akt: das Herz

erster Akt: die Verletzung

I. Bar

Asta

Die Bar ist klein, gemütlich. Familiär könnte man sagen. Das Licht, die Polster rot, der Teppich grün. Auf dem Tresen Teelichter. Nach vier Stunden muss ich sie wechseln. Manchmal mach ich das, manchmal nicht, das hängt vom Abend ab. Ich bin Asta. Ich bin hier angestellt, nicht mehr und nicht weniger. Man sagt, ich sei schön, aber das mag am Licht liegen und am Alkohol. Es gibt vierzehn Whiskysorten, dreiundzwanzig andere Spirituosen, Gin, Wodka, Cognac, diese Dinge, vier Weißwein- und sechs Rotweinsorten. Drei Biersorten vom Fass. Wir können uns sehen lassen hier unten. Die Bar liegt im Keller. Über der Bar werden Zimmer vermietet. Aber das Geschäft läuft nicht gut. Wir befinden uns in Bahnhofsnähe. Wenn die Musik aus ist, wenn wir leise sind, kann man die Lautsprecheransagen vom Bahnsteig hören. Die Hotelgäste sind Reisende. Bleiben für eine Nacht. Manchmal zwei. Mit der Bar ist das anders. Die Gäste hier sind bekannt. Ihre Gesichter sind mir vertraut, sie verfolgen mich im Schlaf. Sie sind gerne hier, glaub ich. Vielleicht liegt die Bar auch in der Nähe oder ihnen gefällt die Musik oder das Licht oder die Barkeeperin oder oder oder. Ich weiß es nicht, ich weiß nur, ich verbringe mehr Zeit mit ihnen als mit meinem Vogel. Ein Wellensittich. Über seinen Käfig leg ich eine Decke wenn ich zur Arbeit geh.Aber um mich geht s hier nicht.Ich nenne die Gäste in ihrer Reihenfolge am Tresen, von links nach rechts.An der linken Seite Herr Hanno Biskop, schütteres Haar, aber glänzend, langes Gesicht, die Augenbrauen dunkel und dicht. Er lächelt. Vor sich ein Cuba Libre, Cola mit Rum, eine Limette am Rand. Ein Cocktailschirmchen, ausnahmsweise. Er ist nicht allein. Neben ihm eine Frau, ein verletztes Bein auf einen Hocker gelegt. Die Frau heißt Elfi. Oder Sonja. Egal. Sie lächelt ihn an.Zwei, nein drei Hocker weiter an der Ecke, am Knick des Tresens, Hardy, er hat die Jacke noch an, sein Nacken ist breit, seine Schultern auch, alles an ihm. Seine Arme können nicht dicht an seinem Körper liegen, so füllig sind sie. Über seinen Rücken sein Haar, zu einem Schwanz gebunden, reicht bis zur Brustwirbelsäule. Sein Haar ist fein, blond, fast golden im Schein der Lampe. Er trinkt Bier. Gegenüber von mir, zwei Hocker von Hardy entfernt, eine Frau. Elisabeth. Sie trinkt Sekt. Hardy kann die Augen nicht von ihr lassen. Sie sieht mich an, nicht ihn. Sie denkt, wir sind verbunden, durch ein Geheimnis, eine Art Schmerz. Auf dem letzten Stuhl, ganz rechts außen, Axel. Er ist noch nicht oft hier gewesen. Erst einmal. Aber er hat sich schon verändert. Seine Frisur ist furios geworden seitdem. Er hat ein Zimmer gemietet im ersten Stock. Länger als geplant. Sein Blick geht nach unten. In ein Glas. Er trinkt Rotwein. Im Nacken eine kleine Wunde, fast verheilt, ein Kratzer. Er würde sagen, das ist kein Kratzer, Freunde, das ist die Klaue einer Tigerin.Es ist schon viel passiert.

ElisabethMach für einen Moment die Augen zu.AstaWas.ElisabethIch würd dich gern auf die Lider küssen.AstaHör mal zu Honigbär.Du küsst mich nirgendwohin.Ich muss arbeiten. Es gibt Gäste hier.HardyJetzt weiß ich woher ich dich kenn.ElisabethWen. Mich.HardyKlar. Dich.ElisabethAstaAstaJa.ElisabethDu hast Gäste.AstaWas.ElisabethIch würd das Gespräch gern von vorne beginnen.Hanno BiskopDa hab ich so lange drauf gewartet.Elfi (Sonja)Worauf.Hanno BiskopDass du endlich vor der Tür stehst.ElisabethMach für einen Moment die Augen zu.AstaWas.ElisabethKann ich noch mal deinen Rücken sehen.AstaIch hab keine Zeit für so was.ElisabethGäste. Versteh schon.AstaNix verstehst du. Gar nix.ElisabethErklär s mir.AstaIch muss arbeiten.HardyPolen.ElisabethWas.HardyDaher kennen wir uns. Sie und ich.ElisabethWir kennen uns nicht.HardyWir sind uns in Polen begegnet.ElisabethPolen ist längst vergessen.HardyIch vergess das nicht. Nie.Ich war dabei. Als der Typ dich umgebracht hat da war ich dabei.ElisabethLassen Sie mich in Ruhe.HardyEs tut mir so leid.Dass ich dir nicht geholfen hab. Das tut mir so leid.ElisabethNiemand hat mich umgebracht.Ich lebe noch.HardyNein.ElisabethIch bin hier.HardyJa. Das ist seltsam.AstaHardy. Gäste in Ruhe lassen.ElisabethDanke.AstaDas ist mein Job.ElisabethDu hast Angst.AstaIch hab Gäste.ElisabethDu hast Angst vor uns.AstaIch hab Angst. Du sitzt in vier Stunden immer noch hier.ElisabethWas willst du. Willst du. Ich geh. Dann bin ich weg.HardyKunststück.ElisabethWas.HardyDu bist schon weg.AxelKann ich ein feuchtes Tuch haben.AstaWas.AxelEs hat wieder angefangen zu bluten.ElisabethWas hast du gedacht.Als du mich das erste Mal gesehen hast.AstaNichts.ElisabethWas macht der Sekt.AstaIch hab gedacht.Die Frau hat schöne Augen.Honigaugen.ElisabethDann bist du in Ohnmacht gefallen.AstaJa.Aber das, das alles wär nicht passiert. Wenn Hardy mir nicht seine Karte dagelassen hätte vor drei Tagen.

II. Bar

AstaDie Uhrzeit dieselbe, der Tag ein anderer. Der Tag liegt zurück, drei Tage. Aber man muss schon genau hinsehen, um das zu bemerken. Hinten in der linken Ecke noch immer Herr Hanno Biskop. Er ist alleine, aber mit Zeitung heute. Sein Glas ist leer. Das Saugen am leeren Strohhalm, die Zirkulation der letzten Colabläschen macht Geräusche. Ich frage nicht, ob er noch was trinken will. So was frag ich manchmal, ihn nicht.An der Ecke, am Knick des Tresens. Hardy. Er hat seine Jacke ausgezogen, aber dazu später.Der Platz gegenüber von mir ist frei.An der linken Ecke Axel. Seine Frisur, das muss gesagt werden, ist anders. Ein Männerhaarschnitt, solide, grau meliert, ein Haarschnitt, der untergeht, einer wie alle. Sein Gesicht glänzt. Er schwitzt. Würde er sein Jackett ausziehen, würde er die Arme heben, seine Achseln wären dunkel. Das Hemd unter seinem Jackett ist hellblau. Er hat sich Mühe gegeben mit der Kleiderwahl. Der Anzug ist dunkelblau, hinten wird das Jackett von einer hellblauen Naht geteilt. Der Anzug ist zu eng, er zu viel. Er bereut die Wahl.