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Die Kölner Kriminalpsychologin Elsa Wegener, Anfang vierzig, steht vor dem Scherbenhaufen ihrer Ehe. Nachdem sie ihren Mann, einen erfolgreichen Richter, in flagranti ertappt hat, verlässt sie Hals über Kopf die Stadt. Im bayerischen Nirgendwo will sie einen beruflichen wie privaten Neuanfang wagen. Allerdings wird sie in dem kleinen Dorf in der Nähe des Chiemsees nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Auf Fremde reagiert man hier zurückhaltend, die Dorfgemeinschaft hält zusammen. Und auch Anna, Elsas pubertierende Tochter, ist von ihrer neuen Heimat alles andere als begeistert. Doch Elsa bleibt kaum Zeit, über solche Probleme nachzudenken. Als kurz nach ihrer Ankunft eine Frauenleiche entdeckt wird, hat sie der Arbeitsalltag längst eingeholt: Die Tote wird als Silke Maihauser identifiziert, die vor über zwanzig Jahren spurlos verschwand. Mit zahllosen Affären sorgte sie damals für reichlich Wirbel in der bayerischen Idylle …
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Seitenzahl: 310
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Gabriele Diechler
Engpass
Elsa Wegerners erster Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2010 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 07575/2095-0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2010
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung / Korrekturen: Katja Ernst / Susanne Tachlinski,
Doreen Fröhlich
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Dirk Suhm / PIXELIO
ISBN 978-3-8392-3456-3
Solange Sühne handelt,
harrt Finsternis aus,
allein Licht vertreibt Dunkelheit;
Liebe läutert jedes Verbrechen!
Elsas Atem stockt. Sie spürt, wie ihre Hände eisig werden. Mechanisch steckt sie sie in die Manteltaschen. Vergräbt sie tief hinein. Sie spürt den kalten Griff ihrer Pistole. Hinter der Tür, vor der sie steht, wartet der Mörder. Kein Geräusch dringt nach außen. Alles wie hinter Watte. Es ist jedes Mal anders und im Grunde doch gleich, denkt Elsa, bevor sie die Klinke hinunterdrückt.
Jedes Verbrechen ist ein Irrtum. Der Entschluss liegt im Verstand begründet. Gedanken übernehmen die Kontrolle, spielen täuschend echt eine Begrenzung vor, die es in der Realität so nicht gibt. Man könnte sagen, jemand träumte, es gäbe keinen Ausweg. Um sich dieser Bedrohung zu entziehen, wird er zum Mörder.
Auch wenn eine Frau ihren Mann betrügt, spielt sich das Ausmaß, die Auswirkung dieser Realität lediglich im Gehirn des Betroffenen ab. Dort wächst sie zu seiner Schein-Wirklichkeit heran, langsam, unmerklich und doch so kraftvoll. Eine Vorstellung steigert sich ins Unvorstellbare und erschafft das Kriminelle, das zuvor nicht existiert hat.
Alles beginnt im September. Es ist der Tag, an dem Elsa Köln für immer verlässt …
Elsa lenkt den Wagen die einsame Landstraße entlang.
Das Problem sitzt hinten. Zwischen hochgezogenen Brauen, die ihre hellblauen Augen überdachen, hat sich eine Falte in das Gesicht der 15-jährigen Anna gegraben. Die Lippen streng aufeinandergepresst, ziehen und zerren die Finger des Mädchens, drücken Wut und Verzweiflung hin und her.
Als sich die ersten Bergspitzen hinter der Kurve zeigen, knackt Annas Daumenknochen aus Protest auf.
Elsa schluckt einen Kommentar hinunter. Gerade noch. Konzentriert hält sie ihren Blick auf die Fahrbahn gerichtet.
Tiefes Schweigen zwischen ihr und Anna.
Die Landschaft zeigt drei Farben. Grün. Braun. Grau. Und der lichte Himmel darüber.
»Wir werden es uns schön machen«, verspricht Elsa in Annas Gedanken hinein. Ihre Stimme klingt optimistisch. Anna entscheidet sich, stumm zu bleiben, verdrängt eine leise Ahnung von Verständnis.
In Elsas Kopf überschlagen sich die Gedanken. Sie hat ihren Mann verlassen. Fort von zu Hause. Anna zieht die Stirn erneut in Falten. Niemand hat sie ernsthaft gefragt, ob sie weg will aus Köln. In die Provinz, nach Bayern. Tiefstes Land.
»Wir haben doch gar kein Geld für ein Haus im Süden«, versuchte Anna Elsa anfangs zu überzeugen.
»Ich hab was gespart«, entgegnete Elsa ruhig.
»Hast du schon die Scheidung eingereicht?«
»Mach ich morgen.«
»Wieso denn?«
Schweigen.
»Er liebt sie doch gar nicht.«
»Darum geht es nicht.«
»Er liebt dich!«
Elsa stockte. Warum schaffte Anna es jedes Mal mit Leichtigkeit, die bittere Gegenwart hervorzuzerren, vehement und gnadenlos? Zwei Frauen und ein Mann. Zu viel Abwechslung für neun Jahre Ehe.
Anna denkt an Lars. Vor zwei Monaten hat sie ihn kennengelernt. Beim Tanzen in Köln. Heillos verliebt ist Anna seitdem.
Elsas Handy meldet sich.
»Willst du nicht rangehen? Sicher ist es Papa.«
Elsa versucht, gelassen zu bleiben.
»Gib’s mir.« Anna will nach Elsas Handy greifen.
Jetzt legt Elsa bestimmend ihre Hand aufs Telefon.
»Er will sich mit dir aussprechen.«
Elsa bleibt stumm und Anna gibt auf.
Donnert mit ihren Boots verzweifelt gegen den Rücksitz anstatt weiterzusprechen. Das Handy hat aufgehört zu läuten. Elsa reißt sich zusammen. Sie wird Annas Reaktion vergessen, so lange, bis sie es wirklich kann.
Dann sind sie da. Elsa sieht das große Schild mit dem schwarz-weiß gezeichneten Haus drauf. Frisch fertiggestellt. Wie in der Annonce beschrieben.
»Da ist es!«, ruft Elsa mit vibrierender Stimme und stoppt den Wagen. Sie steigt aus und verschränkt die Arme hinterm Nacken, atmet tief die würzige Landluft ein und platziert sich schließlich neben das Schild.
Anna ist an der Seite ihrer Mutter erschienen.
»Ach, Anna!« Elsa schaut ihre Tochter versöhnlich an.
»Wie lange es wohl dauern wird, bis wir all das hinter uns haben?«, meint Anna nur.
Der Mann lehnt sich gemächlich in seinen Bürostuhl.
»Warum wollen Sie bei uns, in Traunstein, anheuern? Ausgerechnet in dieser Einöde?«, will er von Elsa wissen.
»Private Gründe.« Elsas Blick macht deutlich, dass er nicht weiterfragen soll, sie wird ihm ohnehin nichts sagen.
»Private Gründe«, wiederholt der Mann und starrt wieder in die Mappe vor sich.
»Ich muss das fragen«, fängt er erneut an. »Ihre Referenzen und die sensationelle Erfolgsquote geben mir Rätsel auf, was Sie hier bei uns zu suchen haben.« Der Mann beginnt, am Reißverschluss seiner Jacke herumzuspielen.
»Geben Sie sich einfach damit zufrieden, dass ich hier bin«, meint Elsa kurz angebunden.
»Und was ist, wenn ich möchte, dass Sie bleiben? Was nützt es mir, wenn’s Ihnen langweilig wird? Das ist Land hier. Tiefes Land.«
»Gibt’s hier keine Menschen?« Elsa schaut ihm zwischen die Augen. »Wo Menschen sind, finden Verbrechen statt.«
Einen Moment zögert er. Einen kurzen Moment, der kaum Gelegenheit zum Atmen lässt.
»Ich gebe mich geschlagen.« Er hält ihr die Hand hin.
Zögernd schlägt Elsa ein.
»Willkommen in Oberbayern, Frau Kollegin!« Karl Degenwald lächelt unmerklich.
Elsa sagt nichts weiter, dreht sich um und geht.
Anna hat Abendbrot gemacht.
Einen Tisch und eine Bank im Esszimmer gibt es schon. Und Betten im ersten Stock. Ansonsten ist das Haus unmöbliert.
»Warum gleich für immer dableiben?«, will Anna wissen. »Reicht nicht erst mal ’ne Probezeit?«
Elsa ignoriert Annas Vorschlag. »Wir können uns vor Ort die Möbel aussuchen. Du kannst dein Zimmer einrichten, wie du magst.«
»Können wir heute Abend nicht wenigstens mal nach München fahren?«
»Ich bin hundemüde, Anna. Wirklich.«
Mit geschmierten Broten, dicken Socken an den Füßen und einer Decke über dem Bauch hockt Elsa später auf dem Parkettboden.
»Papa wird uns vermissen«, seufzt Anna und beißt in eine Gurke.
Elsa sagt nichts dazu. Sie ist mit Essen beschäftigt.
Das frische Brot schiebt sich zwischen die Zähne. Elsa fährt mit der Zunge daran entlang, löst die klebrige Stärke.
Annas Handy klingelt.
Elsa lehnt sich sachte nach hinten. Ihr Gesicht wird weich. Das wird jetzt dauern. Über Annas nächste Handyrechnung wird sie großzügig hinwegsehen müssen.
»Ihre erste Tote in Bayern, Frau Kollegin. Nein, nichts Frisches. Schon ’n älteres Semester. Nein, keine Alte. Eine Junge, so um die 30, vielleicht auch jünger.«
Elsa räuspert sich ins Telefon. »Können Sie sich auch so ausdrücken, dass man Sie versteht?«, verlangt sie.
»Ist jung gestorben. Vor ungefähr 20 Jahren, meint der Gerichtsmediziner.« Degenwalds Stimme klingt dröhnend durch Elsas Handy.
»Ich komme«, antwortet sie.
»Bringen Sie Gummistiefel mit«, rät Degenwald noch. Doch Elsa hat längst das Gespräch unterbrochen.
Sie geht in den Flur, greift nach ihrer Jacke und verlässt das Haus.
Anna schaut aus dem Fenster. Der kleine Ausschnitt Außenwelt zeigt ihre davoneilende Mutter. Elsa, die in den Golf eingestiegen ist, schließt den Fensterspalt auf der Fahrerseite, den sie offen gelassen hat, startet und gibt Gas.
Anna schaut dem Wagen einen flüchtigen Moment lang zufrieden grinsend nach. Dann kippt sie das Fenster ihres Zimmers, holt ihr Handy vom Tisch und ruft Lars’ Nummer ab. Ihr Grinsen verwandelt sich in ein richtig hübsches Lächeln.
Degenwald wartet am rot-weißen Balken, der den Forstweg abgrenzt. Er hebt seinen Hut, als Elsas Golf vor ihm abbremst.
»Ich dachte, bis hierhin finden Sie’s«, begrüßt er sie. Er ist um den Wagen herum zur Fahrerseite gegangen.
»Ich hätt’s auch noch weiter gefunden. Immer geradeaus, was?« Elsa hat die Scheibe hinuntergekurbelt und schaut zu Degenwald hoch.
»Frauen!«, brummt der. »Da will man helfen, und was hat man davon? Eine Belehrung darüber, dass sie ohnehin alles selbst wissen. Darf ich?« Er öffnet die Beifahrertür und steigt ein. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber hier spricht man die Dinge unmissverständlich an. Sie haben ständig so eine Schärfe in der Stimme. Hab ich Ihnen was getan? Irgendwas, das mir nicht aufgefallen ist?«
Elsa sieht Degenwald argwöhnisch an. Dann lächelt sie, obwohl sie es gar nicht will. Sie legt den ersten Gang ein und fährt an. »Wo ist die Tote?«, fragt sie. Keine Entschuldigung, keine Entgegnung. Nichts.
»Wenige Autominuten von hier. Sie werden begeistert sein.« Degenwald seufzt.
»Sie sind makaber, Degenwald.« Jetzt lächelt Elsa gewollt.
Elsa fährt die braungrüne Eintönigkeit entlang. Dreimal steigt sie mit Degenwald aus, schafft Äste und Zweige beiseite, die der Wind von den Bäumen gerissen hat.
»War ein fürchterlicher Sturm gestern«, murmelt ihr Kollege.
»Unten im Dorf hat man’s gar nicht gemerkt«, wundert sich Elsa.
»Wir sind hier den Naturgewalten ausgesetzt. Land, Frau Kollegin, pures Land. Ich hatte es Ihnen bereits angedroht.«
Eine Weile fahren sie schweigend, dann spricht Degenwald erneut. »Haben Sie übrigens schon eine Unterkunft gefunden, oder harren Sie noch im Hotel aus?«
»Ich habe ein Haus in Unterwössen gemietet. Gleich neben der Kirche.«
»So ein Zufall«, unterbricht Degenwald sie. »Da wohne ich auch. Nur wenige Minuten von Ihnen entfernt. Den Kirchackerweg hinauf, Richtung Hochgern.«
»Hochgern?«, fragt Elsa.
»Kleine Aufklärungsstunde gefällig?« Degenwald scheint in seinem Element. »Der Hochgern ist unser Hausberg. Sonnenuntergänge mit ihm im Vordergrund machen sich besonders gut. Darauf sollten Sie in Zukunft achten.«
»Ich bin eher an der Aufklärung diverser Fälle interessiert als an röhrenden Hirschen und Sonnenstrahlen auf Gebirgsmassiven.«
»Verstanden!« Degenwalds Blick bleibt auf die Straße gerichtet. »Wie könnte man Sie auch missverstehen? Bei der Eindeutigkeit.«
»Die sieht ja noch richtig gut aus«, murmelt Elsa, während sie die Leiche studiert.
Im Moor ist es feucht und rutschig. Schon nach einer Minute kann sie sich nur noch mit der Hand an einem Ast festkrallen, weil ihre Straßenschuhe kein Profil haben.
»Vor 20 Jahren, sagten Sie.« Elsa schaut Degenwald an.
Der fährt sich mit dem Zeigefinger über die Oberlippe, nickt dabei. »Ungefähr«, bestätigt er.
»Und woher wissen Sie so schnell etwas über das Alter der Toten?« Elsa hat sich dem Gerichtsmediziner, einem ältlichen, hageren Mann mit grauer Walkjacke und Hut, zugewandt.
»Ein Scherz unseres lieben Degenwald«, lacht der. »Er übernimmt zwischendurch gern mal meinen Job. Prognosen, Vermutungen, Spekulationen.«
Elsa sieht ihren Kollegen erneut an. Eine Spur zweifelnd. Degenwald grinst. Wie ein Junge, dem ein guter Scherz gelungen ist.
»Unser lieber Dr. Degenwald garniert seinen Beruf gern mit dem ein oder anderen Anekdötchen. Sonst überlebt man diesen Job nicht, nicht wahr?« Der Arzt schlägt Degenwald kameradschaftlich auf die Schulter. Die Männer grinsen sich an, wie eine Verschwörergemeinschaft.
»Man hat schon so viel miteinander erlebt, aufgeklärt, zu den Akten gelegt, et cetera, et cetera. Sehe ich das richtig?«, kommentiert Elsa die Sache.
»So ist es«, kommt es unisono aus den Mündern der Männer. Dann lachen sie. Einträchtig.
Zu Hause wird Anna sich jetzt vor Langeweile mit Schokoladenpudding vollpumpen, denkt Elsa plötzlich. Pubertät ist eine schreckliche Zeit.
»Sie sind also die Neue«, unterbricht der Mediziner Elsas Gedanken.
Sie hält ihm die Hand entgegen. »Elsa Wegener. Aus Köln. Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.«
»Angenehm, Michael Horn. Mich finden Sie in der Gerichtsmedizin in München. Aber das wissen Sie sicher schon.«
Elsa spürt einen festen Händedruck. Der Förster schließt sich an. Nennt seinen Namen, drückt die Hand, lüpft den Hut.
»Unser hochgeschätzter Dr. Horn liebt die Natur und leistet sich, sozusagen als Aufputz zu seiner Wohnung in München, eine Dependance in Marquartstein. Wir haben ihn also oft zur Verfügung«, klärt der Förster Elsa auf.
Degenwald indes frisst sich zwischen ihre Augen, genau an die Stelle, an der sie eine kleine Narbe hat. Sein Blick fährt darüber, streift sekundenschnell über das vernarbte Fleisch.
»Lassen Sie uns gehen«, meint er. »Bevor unser liebes Hörnchen«, er blickt Dr. Horn an, »nichts geleistet hat, können wir uns Zeit lassen. Also, auf geht’s!« Er presst Elsa mit der Hand auf ihrer Schulter Richtung Auto.
Dr. Horn ruft sie zurück.
»Nicht so schnell, Karl. Ich hab schon was zu sagen, ob du’s glaubst oder nicht.«
Degenwald hat sich erneut nach Hörnchen umgeblickt.
»Eine Moorleiche ist das Beste, was euch passieren konnte. Moor konserviert, eigentlich unbegrenzt.« Hörnchen deutet auf die Knöpfe, die man an den Überresten der Jacke der Toten erkennen kann. »Morgen machen wir ein CT und eine schöne toxikologische Untersuchung. Alles vom Feinsten. Dann wissen wir auch, ob dieses nette Exemplar hier«, er deutet auf die Tote, »schon tot war, als sie im Moor verscharrt wurde.«
»Also kannst du uns doch noch nichts sagen, Hörnchen. Jetzt lass uns halt gehen.« Degenwald hakt sich bei Elsa ein, als kenne er sie eine Ewigkeit, und verschwindet mit ihr Richtung Auto. Elsa lässt es geschehen. Ihre Schuhe sind schwarze Klumpen. Sie spürt, wie der Schlamm sich an ihren Knöcheln hinauffrisst. Degenwalds Arm ist ihre Versicherung gegen eine unfreiwillige Landung im Matsch.
»Ich möchte noch mit Ihnen sprechen, im Büro«, sagt Degenwald. Dabei lächelt er Elsa an, wie jemand, der es wirklich ernst meint.
Anna hockt auf dem Heizkörper der Videothek und sieht das Sortiment durch.
»Hey«, ruft sie dem jungen Typen hinterm Tresen zu. »Habt ihr ›Breaking the waves‹ von Lars von Trier?«
Der Junge, ungefähr 18, ziemlich pickelig und offenbar schwer von Begriff, schlurft näher. »Was?«, grunzt er Anna entgegen.
»Diesen Superfilm von Lars von Trier. ›Breaking the waves‹. Habt ihr den?«
»Na«, murmelt der Pickelige, ohne überhaupt nachzuschauen.
»Check das doch mal im Computer«, verlangt Anna und deutet auf den PC auf dem Tresen.
»Brauch i net«, weigert der Typ sich.
»Scheiße!«, tönt Anna genervt und hangelt sich von der Heizung. »Genauso hab ich’s mir hier vorgestellt. Danke für deine Hilfe!« Sie öffnet die schmierige Glastür und verschwindet hinaus. »Blödes Kaff, Hinterwaldprovinz«, schimpft Anna vor sich hin, als sie sich auf das klapprige Fahrrad schwingt, das sie neben dem Garten ihres Hauses gefunden und sich schnell mal ausgeliehen hat, um rascher im Ort zu sein.
Ein leiser Nieselregen hat eingesetzt, verwandelt die Fahrbahn in eine schmierige Seifenfläche.
Annas Rad gleitet über den grauschwarzen Asphalt. Die kleinen Regenpunkte setzen sich wie Nadelstiche in ihr Gesicht und schmelzen zu einem kleinen, wässrigen See, der ein Rinnsal Richtung abwärts schickt.
»Hey, hey, du!«
Anna bremst. Das Vehikel macht einen Sprung, wie ein wildes kleines Pferd, das zugeritten wird. Anna sieht sich über den Lenker fliegen, ein rascher Ruck, ein leiser Plumps, dann liegt sie auf der Fahrbahn. Sie spürt was Nasses unterm Hintern, sieht sich um, Gott sei Dank kommt kein Auto daher, und flucht.
»Verdammte Scheiße!«
Der Pickelige läuft ihr entgegen. Den Film schwenkt er in der Linken. »I hab ihn. Breaking the was woaß i.«
»Du verdammter Idiot!«, ärgert Anna sich lautstark, steht aber auf und fasst sich an den Po.
Sie schiebt das Rad von der Fahrbahn. Inzwischen ist ein Honda angefahren gekommen und hupt, als habe Anna eine Massenkarambolage verursacht. Jetzt endlich steht der Typ aus der Videothek vor ihr, mit nassgeschwitztem oder nassgeregnetem Gesicht. Seine Pickel glänzen, als wären sie mit Vaseline eingeschmiert worden.
Anna hat fast Mitleid. Muss nicht leicht sein, wenn man so aussieht, denkt sie. Sagen tut sie nichts, greift nach dem Film, steigt wieder aufs Rad und saust davon.
»Hey, du da«, ruft der Pickelige ihr nach.
»Du lädst mich auf den Film ein, nach allem, was du verursacht hast«, ruft Anna über ihre Schulter zurück. Sie grinst in den Regen hinein, hält den Film auf die Lenkstange gedrückt und starrt immer wieder, während sie fährt, auf den Namen des Covers: Lars, Lars, Lars!
Ein unentwegtes Hüpfen schüttelt ihren Magen durch. Es gibt nichts Schöneres als den Namen Lars. Gleich wird sie ihn anrufen.
Degenwald, inzwischen durchnässt, hält Elsa auffordernd den Arm hin. Scheint eine Macke zu sein, überlegt Elsa. Sie sieht Degenwald an, als mache er ihr ein unmoralisches Angebot. Versteht nicht, was er von ihr will.
»Ihre Jacke«, sagt Degenwald eindringlich.
»Ach so.« Elsa zieht sich den pitschnassen Stoff vom Körper und hält ihn ihm hin. »Was sagen Sie andauernd zu mir? Land, Land, wir sind hier auf dem Land. Und wo, bitte schön, sind die Parkplätze?« Elsa blickt auf den vollgestellten Parkplatz hinunter, dann zu Degenwald.
Der hängt Elsas Jacke an die Garderobe, stellt den Abfalleimer darunter, der das Wasser auffangen soll, und setzt sich hinter seinen Schreibtisch. »Der Guggenbichler Sepp hat Geburtstag. 65 wird er. Da steht hier nun mal das ein oder andere Auto herum. Man feiert gern. Verständlicherweise. Und man hält zusammen.«
Elsa hat sich Degenwald gegenüber gesetzt.
»Die Leute hier reden nicht gern, sie erzählen nur. Sie teilen sich nicht mit, sie plaudern.«
»Was glauben Sie, wie’s in Köln zugegangen ist? Großstadt, ja das schon, Menschen allerdings sind überall gesprächig, wenn sie wollen, und verschwiegen, wenn’s ihnen an den Kragen geht. Ich hab in Köln so viele Schweigsame erlebt, dass ich an manchen Tagen gedacht hab, ich zahl was, wenn nur jemand endlich den Mund aufmacht.«
Degenwald grinst. »Na ja, mich müssen Sie fürs Reden zumindest nicht bezahlen. Und deswegen, kommen Sie mal mit.« Degenwald geht durch ein leer geräumtes Zimmer, in dem ein abgewohnter Schreibtisch steht, in einen kleineren Raum, der alles aufzuweisen hat, was man zum Arbeiten braucht. Einen schlichten Schreibtisch mit PC, Drucker, Scanner, eine Telefonanlage, einen ergonomisch geformten Bürostuhl, zwei Besuchersessel aus Lederimitat. Degenwald deutet darauf und zuckt mit den Achseln. »Mehr war nicht drin.« An der Wand zwei Drucke bayerischer Landschaften und eine Deutschlandkarte. Gegenüber ein zweitüriger Aktenschrank.
Elsa setzt sich zur Probe in ihren neuen Sessel, dreht sich hin und her, nimmt den Hörer vom Apparat und spricht einen Satz hinein. Dann nickt sie. »Für den Anfang … geht es«, meint sie verhalten.
Degenwalds Haltung wird steif. »Sicher«, sagt er. »Sie sind Besseres gewöhnt.«
Bevor Elsa zu einer Erklärung ansetzen kann, ist er verschwunden, schließt die Tür des leer geräumten Zimmers, das wie eine Sicherheitszone zwischen ihnen liegt.
Elsa steht auf, sieht aus dem Fenster in das ewig gleichbleibende Nieseln draußen, lehnt den Kopf gegen das schmutzige Fenster. Müde und abgespannt fühlt sie sich, und allein. Im Kopf ein ziehender Schmerz. Sieht so ein neues Leben aus? In einem Kaff in der Provinz, mit einem Büro mit Lederimitatstühlen. Von einem Penthouse in bevorzugter Lage in der Großstadt in ein gemietetes Bauernhaus im Kleinformat. Verdammte Ironie. Das Leben konnte so was von ungerecht sein.
Anna liegt auf ihrem improvisierten Bett, einer Ausziehgarnitur mit einer Patchworkdecke darüber. Das Telefon hat sie ans Ohr gedrückt.
»Und?«, will sie von Lars wissen. »Wann kommst du und rettest mich vor dem Tod durch Unterlastung?«
Lars’ Lachen durchs Handy. »Meine Alten fassen mir doch an den Kopf, wenn ich sag, hey, ich steig mal eben in den Zug und düs nach Bayern. Ich muss sie erst überzeugen.«
»Ich hol dich in München vom Bahnhof ab, hörst du, Lars? Und dann machen wir uns zwei wunderschöne Tage. Slow motion, in allen Belangen, hörst du?«
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