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Dieser Band dokumentiert Bewegungen in einer Kirche, die sich heute auf ihr Morgen hin ausrichtet: Die Zukunft ist nicht vorhersagbar, aber sie wird auf dem Weg entdeckt. Damit wird eine theologische Spurensuche ausgelöst: Wie lässt sich erkennen, was neu werden will? Wie bewerten wir es? Was können wir fördern, was nur dankbar wachsen lassen? Was müssen wir aufgeben? Wieweit und wo können Umbruchsprozesse beeinflusst oder gesteuert werden? Grundlagenbeiträge rufen die Perspektiven der Pastoralpsychologie, der Psychologie und der Kreativitätsforschung ab, um Handlungsoptionen für die Kirche zu öffnen. Forschungsergebnisse, missionarische Formate und kybernetische Entscheidungen setzen sich mit dem Verhältnis von Umbau, Rückbau, Ausbau und Aufbau auseinander. Die Perspektive des anglikanischen Bischofs von London zeigt im Sinne einer Inspiration aus der Ökumene, wie Kirchenleitung als langfristiges Ineinander von unpopulären Entscheidungen, Ehrenamtsförderung und Strukturvereinfachung geschieht. Mit Beiträgen von Sandra Bils, Annegret Böhmer, Richard Chartres, Axel Epe, Maria Herrmann, Reiner Knieling, Konrad Merzyn, Gert Pickel, Hans-Hermann Pompe, Dietmar Schicketanz, Thomas Schlegel und Hubertus Schönemann.
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Seitenzahl: 206
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Entdeckungen im Umbruch der Kirche
Im Auftrag des Zentrums für Mission in der Region
herausgegeben von Hans-Hermann Pompe und Benjamin Stahl
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2016 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016
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Gesamtgestaltung: Kai-Michael Gustmann, Leipzig
Coverbild: Hands of a potter, creating an earthern jar (Bildnr. 465331784)
© Getty Images/iStockphoto, Zzvet
ISBN 978-3-374-04701-7
www.eva-leipzig.de
Cover
Titel
Impressum
Hans Hermann Pompe/Benjamin StahlEinführung
Die fetten Jahre sind vorbei: Entdeckungen der Kirche im Umbruch
Hans-Hermann PompeKreativität im Umbruch
Annegret BöhmerSalto ecclesiale
Von der Angst zur Motivation kommen im Umbau, Abbau, Aufbruch der Kirche im 21. Jahrhundert
Christhard EbertMission und Region
Gert PickelKirche im Umbruch?
Gesellschaftliche Herausforderungen an die Evangelische Kirche
Konrad MerzynKirche im Umbau
Perspektiven aus der V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung für die kirchenleitende Praxis
Hubertus Schönemann„Vom Ehrenamtsmanagement zur Volk-Gottes-Sensibilität“
Charismen verändern Kirche
Thomas SchlegelUmbau – Rückbau – Aufbau
Eine dialektische Verhältnisbestimmung
Richard ChartresNeues Feuer in London
Über Gemeindewachstum in der englischen Hauptstadt
Autorinnen und Autoren
Erstveröffentlichungsnachweis
Weitere Bücher
Fußnoten
Die fetten Jahre sind vorbei: Entdeckungen der Kirche im Umbruch
„Die fetten Jahre sind vorbei“ – der Titel des Kultfilmes von 2004 zitiert biblisches Gedankengut aus Genesis 41. Die Berliner WG-Bewohner Jan, Peter und Julia verstehen sich als Großstadt-Revolutionäre: Sie brechen in die Villen von Wohlhabenden ein, ohne etwas zu stehlen. Stattdessen schaffen sie provozierende Unordnung durch verrückte Möbel oder hinterlassen Botschaften für die Zurückkehrenden wie etwa: „Die fetten Jahre sind vorbei“. Der biblische Hintergrund dieser Provokation spielt keine erkennbare Rolle, aber ein prophetischer Anspruch ist bei aller Kindsköpfigkeit und Inkonsequenz der drei jungen Leute spürbar. Sie agieren wie Fremdpropheten in einer saturierten Gesellschaft. Sie verkörpern einen unausgesprochenen Schrei nach Josef (Gen 41,33–38), nach verständigem und weisem Handeln in der Krise, nach Menschen mit dem Geist Gottes, die den vorhandenen Überfluss klüger einsetzen können, um für karge Zeiten vorzusorgen.
Verständiges und weises Handeln im Umbruch? Die christlichen Kirchen in Deutschland sind gut beraten, die Empfehlungen des Josef nicht zu ignorieren oder zu delegieren, sondern zu ihrer eigenen Sache zu machen: Die fetten finanziellen Jahre gehen ohne Frage zu Ende, das verbleibende Fenster ist weise zu nutzen, bevor es sich endgültig schließen wird. Solche Zeiten des Überganges haben ihre eigene Dynamik, folgen anderen Gesetzen als das nostalgisch geregelt wirkende volkskirchliche Herkommen einer vergehenden Zeit.
Gelegentlich hinterlassen die drei Berliner Fremdpropheten Jan, Peter und Julia auch die Botschaft: „Sie haben zu viel Geld.“ Und zeichnen mit: „Die Erziehungsberechtigten“. Man kann die absehbar zurückgehenden Mittel der Kirchen als Verlust sehen und ihrem Erhalt alles andere unterordnen. Man kann sie aber auch als Aufbruchssignal deuten, als Lerneinheiten vom Herrn der Kirche: Er formt seine Kirche, wie ein Töpfer auf der Drehscheibe aus Lehm ein Gefäß formt. Umbrüche können auf ein offenes Handeln Gottes deuten.
Wir befinden uns mitten in Umbrüchen und fragen: Was sollen wir verlassen? Worauf gehen wir zu? Was lockt uns auch vorwärts? Welche Weisheiten und Verheißungen begleiten uns? Auch in der Josefsgeschichte geht die Zeitanalyse „Umbruch“ nicht ohne neue Hoffnung einher. Ägypten steht anfangs für eine Verheißung und später für eine Erfahrung von Unfreiheit und Unterdrückung. Wie ist das eine Ägypten von dem anderen zu unterscheiden? Was lernen wir im Rückblick auf diese Geschichte im Umgang mit unseren heutigen Ängsten und Hoffnungen?
Offensichtlich liegen die Versuchungen Ägyptens nie hinter der Kirche, sondern begleiten sie als aktuelle Versuchung auf ihrem Weg. Vermeiden kann sie diese Versuchungen nicht, nur sich bewahren lassen von dem, der sie auf seinen Weg in die Freiheit ruft. Oder sich herausrufen, sich neu formen lassen und in einer anders geprägten Mehrheitsgesellschaft, in „der Wüste der Völker“ (Ez 20,35) wieder die Gottesliebe lernen und ihren Auftrag finden.
Vor diesem Hintergrund entstand die Jahrestagung des EKD-Zentrums für Mission in der Region im Herbst 2015. Leitend waren die Fragen: Welche Entdeckungen gibt es im Umbruch und welche Erfahrungen für den Umgang mit Umbrüchen waren hilfreich? – Oder im biblischen O-Ton: Siehe, ich will Neues schaffen. Seht ihr es denn nicht? (Jes 43,19). Der Ertrag dieser Tagung ist in diesem Band zusammengetragen und erweitert worden. Im Einzelnen widmen sich die Beiträge dem Umbruch der Kirche aus verschiedenen Perspektiven.
Hans-Hermann Pompe plädiert für die Suche nach „Geburtshelfern der Veränderung“. Dazu bezieht er sich auf Einsichten aus der Kreativitäts- und Innovationsforschung. Auch wenn genügend Ideen vorhanden sind, gilt es Freiräume für deren Umsetzung zu schaffen. Dazu benötigt die Kirche Neugier auf das Neue, Vertrauen als Basisressource und den Mut, Menschen freizusetzen. Der Umgang mit dem zu erwartenden Mangel ist eine besondere Herausforderung auf dem Weg in die Zukunft. Pompe führt aus, dass Armut kein Hindernis ist – verschiedene Formen von Trägheit dagegen schon. Zum Schluss fragt Pompe nach den Personen, den „Pionieren des Wandels“ oder „Schlüsselpersonen in Veränderungsprozessen“. Sie gedeihen da, wo Freiwilligkeit und ein hohes Maß an Kommunikation möglich ist. Deren Förderung und der damit einhergehende Balanceakt zwischen Effizienz und Chaos wird ein spannendes Lernfeld für Kirche auf allen Ebenen werden.
Annegret Böhmer stellt in einem interaktiv angelegten Vortrag kirchliche Handlungsmuster auf den Kopf und argumentiert therapeutisch für eine Fokussierung auf Lebensqualität in der Kirche. Lebensqualität entsteht ihrer Meinung da, wo sich Menschen auf das konzentrieren, was ihnen Freude bereitet und positiv für sie ist. Das Arbeiten für den unbekannten anderen lähmt. Allerdings bedarf es auch einiger Übung, sich auf das Positive einzustellen und dem natürlichen Sorgen nicht nachzugeben.
Christhard Ebert zeigt in seinem Beitrag die Zusammenschau und die Gemeinsamkeiten von Mission und Region. Region ist ein Containerbegriff, der vieles beinhaltet. Grundlegend ist dazu zu sagen, dass Regionen nicht einfach vorhanden sind, sondern in verschiedenen Prozessen entstehen. Die Beschreibung dieser Prozesse aus der Perspektive der Mission mit Verheißungen und Orientierung am Grundauftrag der Kirche bringt den entscheidenden Unterschied einer ‚Regionalentwicklung‘ zu eher rückbauorientierten Prozessen der ‚Regionalisierung‘.
Gert Pickel fragt nach den Trends im Umbruch. Seine Analysen beruhen vor allem auf den Daten derV. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Er argumentiert, dass eine genaue Analyse der Gegenwart den Weg in die Zukunft weist. Traditionsabbruch und Pluralisierung sind die zu organisierenden Herausforderungen. Gleichzeitig zeigt sich in den Analysen die Relevanz der Kirche für die Gesellschaft. Kirche, die als Gemeinschaft die Basis für Religiosität bildet, bietet Gelegenheitsstrukturen für zivilgesellschaftliches Engagement. Dies trifft einerseits auf die Werte der Kirchenmitglieder und andererseits auf die Erwartungen an Kirche von innen und außen. In diesen (lokalen) Netzwerken zeigt sich die Relevanz von Kirche. Bei all dem wird Pickel nicht müde darauf zu verweisen, dass Indifferenz oder besser Religionslosigkeit eine gesellschaftlich relevante Option ist, die nicht auf ein neues Aufblühen der Religion zuzugehen scheint.
Konrad Merzyn bringt eine kirchenleitende Sicht auf die Ergebnisse derV. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung ein. Sein Ansatz steht deutlich in Spannung zu den Ausführungen von Gert Pickel. Letzterer argumentiert für den Vorrang der Säkularisierungstheorie, während Merzyn eine Vermittlung der drei gängigen Religionstheorien als Grundlage für kirchenleitendes Handeln bestimmt. Gegen Pickel votiert Merzyn auch, dass die Theologie eine nicht unbedeutende Rolle hat, um Kirche von morgen zu entwickeln. Der Weg von der Volkskirche zur pluralismusfähigen Großkirche ist ein anspruchsvoller Rückbau. Einig sind sich Merzyn und Pickel in der Bedeutung der (frühen) religiösen Sozialisation für die Kirchenbindung. Merzyn legt auf dieser Grundlage Schwerpunktsetzungen bei kirchlichen Handlungsoptionen dar. Hierzu gehört unter anderem auch die Förderung der Außenorientierung und Kommunikation in der Öffentlichkeit.
Thomas Schlegel widmet sich der komplexen Verhältnisbestimmung von Umbau, Rückbau und Aufbau in der Kirche. Er bringt die Zusammenhänge auf die griffige Formel: Umbau ist Neuaufbau im Rückbau. Diese Formel wird dann dreifach beschrieben, so dass die Beziehung von Aufbau und Rückbau deutlich wird. Rückbau ist und bleibt ein Trauerprozess, der nicht automatisch zu Neuem führt. Trotzdem bringt der Rückbau günstige Rahmenbedingungen für Neues mit sich. Wo zurückgebaut wird, entsteht Freiraum, und Not macht erfinderisch. Aufbau ist gleichermaßen ein eigenständiger Prozess, der ebenso wie der Rückbau Energie, Personal und Finanzen benötigt. Auch wenn Not erfinderisch macht, gibt es eben keinen kausalen Zusammenhang von Rückbau und Aufbau. Schlegel zeigt, dass deswegen beides im kirchenleitenden Handeln zusammenkommen muss: die Planung des Rück- und Aufbaus. Da der Rückbau derzeit in Fahrt ist, muss der Aufbau besonders gefördert werden. Aufbauprozesse entziehen sich jedoch zentraler Planbarkeit, weswegen hier Mut und Vertrauen in Akteure vor Ort investiert werden sollten, weil bei ihnen entscheidend Neues entsteht.
Hubertus Schönemann beschreibt nach einer konzisen Zeitanalyse und Reflexion theologischer Grundlagen die kopernikanische Wende im Denken über das Ehrenamt. Der katholische Theologe zeigt, dass die Kirche im Umbruch diesen neuen Umgang mit Ehrenamtlichen entdeckt: Nicht die Aufgaben brauchen Menschen, die sie ausführen, sondern die Gaben der Menschen – des Volkes Gottes – führt zu den Aufgaben der Kirche. Neben Anmerkungen, welche Veränderungen das in den Berufsbildern der Hauptamtlichen mit sich bringt, verweist Schönemann – mit weitem ökumenischen Horizont – auf vorhandene Praxisbeispiele und Seminare zur Entdeckung und Förderung von Gaben.
Ein analytischer ökumenischer Blick kommt mit der Lambeth Lecture des anglikanischen Bischofs Richard Chartres aus London. Er zieht sein Fazit aus 20 Jahren Kirchenleitung in der englischen Metropole. Was hat das zerstrittene und um 1990 kurz vor dem finanziellen Kollaps stehende Bistum London zu einer der blühendsten und innovativsten Diözesen der Kirche von England werden lassen? Chartres reflektiert hoch komplexe Entscheidungen über Gebäude, Stellen, Finanzen, Gremien, Personal oder Theologie, er führt geistliche Leitung zurück auf einige wenige, aber unaufgebbare Aufgaben eines Bischofs. Als ‚Geburtshelfer des Wandels‘ will er die Zukunft des Ganzen im Blick haben, steht auch zu unpopulären Entscheidungen oder riskanten Prozessen. Anhand einer Fülle von komplexen Zusammenhängen und kybernetischen Prozessen reflektiert er, wie geistliche Klarheit wächst und so eine große Diözese mehr und mehr von Aufbruchsgeist, missionarischen Visionen und zukunftsfähigen Strategien durchdrungen wird.
Wir sind dankbar für die Fertigstellung des Bandes als erweiterte Dokumentation der Jahrestagung des EKD-Zentrums für Mission in der Region 2015. Besonders danken wir Frau Dr.Annette Weidhas von der Evangelischen Verlagsanstalt für die Betreuung des Bandes, stud. theol. Nico Limbach für die Übersetzung und stud. theol. Frederike Kathöfer für alle Hilfe bei den Korrekturen.
Hans-Hermann Pompe und Benjamin Stahl
Hans-Hermann Pompe
Es gibt den Traum von einer Vergangenheit, in der alles besser und leichter war. In Köln waren dafür die Heinzelmännchen zuständig: Sie haben die ganze Arbeit übernommen, den Kölnern ein leichtes Leben ermöglicht:
„Wie war zu Cölln es doch vordem,
Mit Heinzelmännchen so bequem!
Denn, war man faul: … man legte sich
Hin auf die Bank und pflegte sich:
Da kamen bei Nacht,
Ehe man’s gedacht,
Die Männlein und schwärmten
Und klappten und lärmten
Und rupften und zupften Und hüpften und trabten
Und putzten und schabten ….
Und eh ein Faulpelz noch erwacht, …
War all sein Tagewerk … bereits gemacht!“1
Man kann die Ballade des Breslauers August Kopisch als eine zeitgenössische Kritik lesen: Er transportiert 1836 die Sage aus dem Siebengebirge in die wachsende Großstadt Köln – in einem vorrevolutionären Zeitraum mit drohenden gesellschaftlichen Konflikten, unter einer für die katholischen Kölner fremden preußischen Staatlichkeit, die für die traditionsreiche Stadt ebenso Ärger wie Wachstum und Wirtschaftsaufschwung bedeutete. Die schönen Zeiten der kurkölnischen Vergangenheit waren vorbei, die Gegenwart war eine Umbruchsituation mit Verlierern und Gewinnern, die Zukunft hieß allemal Eigenverantwortung. Ein kräftiger Schwung Aufklärung schwingt mit bei der Ballade vom Verlust der geheimnisvollen Schutzmächte, so etwas wie der unbeabsichtigte Ausgang des Menschen aus seiner selbst bejahten Unmündigkeit.
Kreativität im Umbruch bedeutet für die Kirche Annahme einer neuen Situation, Aufbruch zur Eigenverantwortung. Sie bringt Arbeit zusammen mit Motivation, Gaben mit Aufgaben, Herausforderungen mit Ideen. Aber potenzielle Kreativität muss befreit werden, denn sie kann in realen Heinzelmännchen-Fallen feststecken: Etwa in der nostalgischen Verklärung geschichtlicher Privilegien einer ehemaligen Mehrheitskirche; in den Kränkungen durch Desinteresse, Indifferenz und Austritte; im Rückzug auf die verbleibenden Inseln gelingender Kirchlichkeit; in der Selbstsuggestion scheinbarer Bestandsfestigkeit; oder in der illusorischen Rechtfertigung von Nichtteilnahme der Mitglieder als Ausweis evangelischer Freiheit.
Ich will für eine Kirche im Umbruch einen anderen Weg gehen, um gottgeschenkte Kreativität als Ressource zu entdecken: Ich will (1) die Räume der Kreativität abstecken, (2) den absehbaren Mangel als Chance entdecken und (3) eine kreative Typologie der Verantwortlichen vorlegen.
1. Die Räume: Das kreative Feld öffnen
Die Kreativitätsforschung sieht in Freiräumen zum ungewohnten Denken und Handeln einen der zentralen Schlüssel zu kreativen Lösungen: Freiraum, um Neues zu entdecken, das verborgen schlummert; Freiraum, um Sicherheiten zu verlassen und etwas Ungewohntes zu wagen; Freiraum, um Fehler zu machen, die das notwendige Risiko jeder Veränderung sind; Freiraum für unersetzliche Querdenker, die sich nicht einpassen lassen.
2012 legte eine Expertenkommission für die Bundeskanzlerin die Ergebnisse aus dem „Dialog über Deutschlands Zukunft“ vor. Die Untergruppe Innovationskultur stellte fest: „Deutschland ist reich an Innovationskapital und an wissenschaftlichen Ressourcen. Aber es mangelt an einem kreativen Umgang mit unseren Möglichkeiten und Ressourcen sowie an positiven Leitbildern.“ Und sie schlug vor: „Innovationen bedürfen kreativer Freiräume, in denen sie sich entfalten können, und grundlegender Kompetenzen, mit einer unsicheren, aber gestaltbaren Zukunft umzugehen. Dazu bedarf es einerseits Infrastrukturen für Innovationen, die technische und soziale Elemente neu verknüpfen, und Möglichkeitsräume, in denen mit neuen Formen des Innovierens experimentiert werden kann. Andererseits erfordert die Komplexität und Langfristigkeit der relevanten (globalen) Entwicklungen ein strategisches Vorgehen, das die grundlegende gesellschaftliche Kompetenz voraussetzt, mit einer ungewissen Zukunft umzugehen (‚Futures Literacy‘).“ Solche Freiräume ständen bislang nicht ausreichend zur Verfügung, in denen man „Innovation lernen und erfahren“ kann.2
Man kann diese gesellschaftliche Analyse genauso wie den entsprechenden Innovationsbedarf auf die evangelische Kirche übertragen. Wir haben einen hohen Bedarf an Freiraum für Innovations- und Möglichkeitsräume. Möglicherweise haben wir als Kirche in der prophetischen Tradition etwas bessere Chancen, um mit einer ungewissen Zukunft umzugehen. Aber ich bezweifle einen kirchlichen Automatismus, denn Prophetie hat dort die größten Schwierigkeiten, wo sie dem Kontext entstammt: „Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Haus“, sagt Jesus resignierend über seine Heimatstadt (Mk 6,4). Die Kirche muss wie alle anderen lernen, den prophetischen Widerspruch zuzulassen, zu hören und im Aufbruch gehorsam zu sein.
Freiraum entsteht zwischen Chaos und Effizienz, sagt der Organisationsentwickler Leo Baumfeld: „Vor allem soziale Systeme, die eine Organisation haben, aber nicht darauf reduziert werden können wie z.B. Kirchen, spüren die Dynamik zwischen Ordnung und Chaos. Das nicht Berechenbare soll aus der Sicht der Organisation in eine Ordnung münden. Gleichzeitig leben diese sozialen Systeme auch von der Unordnung, dem nicht Berechenbaren. Die Vielfalt ist die Grundlage dafür, nachhaltig lebensfähig zu sein. Die Ordnung ist die Grundlage dafür, effizient zu sein.“3 Vitalität ist nach Baumfeld da am nachhaltigsten, wo beides in guter Balance ist.
Was fördert Freiräume in der Kirche? Ich meine nicht die individualistischen Freiräume eines protestantischen Jedertut-was-er-will, und von anderen oder von oben lassen wir uns schon gar nichts sagen. Auch nicht die theologischen Freiräume des anything goes, wo evangelisch heißt: „alles ist möglich und nichts ist klar“. Auch nicht die liberalen Freiräume des „Jeder kann glauben, was und wie er will, und wir bleiben irgendwie unter dem Evangelium zusammen“. Auch nicht die orthodoxen Freiräume von „Klare Kante, klare Verkündigung, Schluss mit lustig“, wo die Freude des Evangeliums längst einer verbissenen Rechthaberei gewichen ist. Es geht mir um diejenigen Freiräume, die Gott öffnet. Hier gilt Vorsicht vor jedem Enthusiasmus: Gottes Freiräume entsprechen selten unseren Wünschen, sie führen häufig durch tiefe Wasser oder in dürre Wüsten, ihre Begleitmusik ist Murren und Widerstand. Aber erst sie sind wirklich Frei-Räume, denn unser Schöpfer führt uns zurück in seine Freiheit. Einer öffnet sie, der sich für die Fesseln hingegeben hat, an die wir uns gewöhnt haben. Sie entstehen unter dem liebevollen Werben des Geistes, der uns leise an unsere eigentliche Berufung erinnert.
Was fördert diese Freiräume des Aufbruchs? Ich nenne drei Faktoren.
Zuallererst unsere Basisressource Vertrauen. Es ist eine meiner seltsamen Erfahrungen in den letzten Jahren, dass wir als Evangelische aus Glauben leben wollen, uns auf Vertrauen (fides) als reformatorische Grundkategorie berufen, aber gegen die Frage nach Gottes Leitung und noch stärker gegeneinander ein verhinderndes Misstrauen kultivieren. Viele in der Kirche trauen Jesus keine Zukunft seiner Kirche zu, weil sie selber am Ende ihrer Möglichkeiten sind. Pfarrerinnen und Pfarrer leben untereinander gerne eine gepflegte Skepsis, Gemeinden sehen die Nachbargemeinden als Konkurrentin, die Handlungsebenen in der Kirche begegnen sich vielerorts mit latentem Misstrauen. Wie soll da etwas Neues entstehen, wo Vertrauen nicht gesucht, erhalten und gebaut wird?
Vertrauen ist ein knappes Gut, das sich schnell verbraucht, wenn es nicht ständig gefördert und neu gegeben wird. Viel Kreativität erfordert viel Vertrauen: Vertrauen der Angesprochenen in ihre eigene Begabung durch den Schöpfer, Vertrauen der Verantwortlichen in die mühsamen Innovativen, Vertrauen der Organisation zu den Umsetzern, Vertrauen der Institution in die quer zum System Stehenden, Vertrauen der Innovativen zu denen, die ihnen den Rücken freihalten. Der Freiraum zum Aufbruch stellt ständig die Vertrauensfrage, und wo Vertrauen verweigert wird, schrumpft er.
Außerdem benötigt der Freiraum der Kreativität Neugier, also schlicht Lust auf das, was nicht schon immer so war: Interesse an denen, die noch nicht dabei sind, Neugier auf ungebahnte Wege, Lust zu ungewohntem Verhalten. Neugier war in Köln der Auslöser für den Abschied von einer überholten Vergangenheit: Die neugierige Frau des Schneiders streut Erbsen auf die Treppe, die Heinzelmännchen stolpern und verschwinden für immer. Ein Bild für die unberechenbaren Folgen von Neugier, aber auch für Eigenverantwortung, die Probleme und Arbeit nicht mehr an andere Instanzen delegieren will. Neugier entsteht aus Leiden an Unzureichendem, aus Unzufriedenheit mit zu engen Möglichkeitsräumen, aus nicht akzeptierten Sackgassen.
Und Kreativität lebt schließlich von Freisetzen: Sie ist weder zu befehlen noch zu reglementieren, aber sie wird freigesetzt, wo Menschen Gutes zugetraut wird. Die Bildungsforscherin Teresa Amabile hat Kreativitätskiller bei Kindern erforscht.4 Kreativität wird z.B. verringert durch Beaufsichtigung: Wenn wir unter ständiger Beobachtung stehen. Oder durch Bewertung: Wie beurteilen mich andere? Auch durch Gängelung: Vorschreiben, was wie zu tun ist – Selbstständigkeit und Exploration erscheinen dann als Fehler. Oder durch Einengung der Entscheidungsspielräume, statt Kinder nach Lust entscheiden zu lassen und Neigungen zu bestärken. Druck verhindert Kreativität: Überhöhte Erwartungen an Leistungen. Auch das Vorenthalten von Zeit, also Reglementieren, Unterbrechen und Herausreißen – statt Kinder selbst den Zeitbedarf festlegen zu lassen. Freisetzen eröffnet einen Freiraum für Kreativität – nicht die endlosen Sitzungen unserer Gremienkultur, die Zeit und Personen verschleißen. Sondern die Erlaubnis zum Experimentieren, zum Anfangen und zum Scheitern.
Wir haben in missionarischer Hinsicht erhebliche Freiräume in der offenen Gesellschaft, z.B. Freiräume zur Beteiligung am Leben anderer Menschen, Freiräume für Interesse, Präsenz, Gastfreundschaft, Beziehungen. Der Soziologe Hans Joas erzählt ein Beispiel: „Einer der Erfurter Theologieprofessoren, mit dem ich auch etwas befreundet bin und der in einem Dorf in Thüringen lebt, hat mir ein Beispiel gegeben: Er erzählte, im Regelfall gibt es rein säkulare Bestattungen, er habe es sich aber zum Prinzip gemacht, all diese Bestattungen zu besuchen und gewissermaßen als ‚Mitbewohner‘ dort anwesend zu sein. Das führe sehr häufig dazu, dass trauernde Angehörige in den nächsten Tagen bei ihm zu Hause vorbeischauen und sich bedanken für seine Anwesenheit. Aus diesen eigentlich nur als kurze ‚Stippvisite‘ gedachten Besuchen entwickeln sich oft stundenlange Gespräche über Trauer, über den Tod, über das, was wohl nach dem Tod kommt usw. Ich will damit sagen: Er leistet Seelsorge im allerbesten Sinn gegenüber Menschen, die nicht nur nicht Mitglied einer Kirche sind, sondern denen überhaupt jeder Zugang zu dem, was unter Kirche und Glauben läuft, abhanden gekommen ist und vielleicht sogar schon über mehrere Generationen.“5
Was passierte, wenn sich Gemeinden verabreden, offene Türen zu nutzen, z.B. bei den Beerdigungen der Konfessionslosen? Wenn wir als Pfarrer nicht zuerst fragen, ob wir zuständig sind, sondern ob jemand uns braucht? Das wären ähnliche Haltungen wie die der ersten Christen, die den anonym Verstorbenen eine Beerdigung in Würde ermöglichten. Kaiser Julian, der versuchte, die Hinwendung zum Christentum zurückzudrehen, konzedierte widerwillig: „Begreifen wir denn nicht, dass die Gottlosigkeit (= das Christentum) am meisten gefördert wurde durch ihre Menschlichkeit gegenüber den Fremden und durch ihre Fürsorge für die Bestattung der Toten? … Die gottlosen Galiläer ernähren außer ihren eigenen Armen auch noch die unsrigen; die unsrigen aber ermangeln offenbar unserer Fürsorge.“6 So etwas würde uns einen erheblichen Anteil an gesellschaftlichem Respekt wie Vertrauen zurückbringen, das die Kirchen mit Missbrauchsfällen, irrelevanten Gottesdiensten oder überkommenen Privilegien auf Spiel gesetzt haben.
2. Die Situation: Kreativität im Mangel entwickeln
Ein berühmtes Foto von 1948 zeigt das Wenige, das Gandhi am Ende seines Lebens besaß: zwei Paar Sandalen, eine Brille, eine Uhr, zwei Messer, ein Buch … ein unglaublich einfaches Leben mit einer enormen Wirkung weit über Indien, weit über sein Leben hinaus. Wir gelten weltweit als eine der reichsten Kirchen – und das Verrückte ist: Obwohl wir mehr Menschen verlieren als wir gewinnen, haben wir immer noch viel Geld. Klaus Pfeffer, der Generalvikar des Bistums Essen sagte sinngemäß bei einer Tagung:„Das wieder kräftig sprudelnde Geld wird fatal wirken, denn es hält von notwendigen Veränderungen ab.“ Mehr Geld, weniger Mitglieder – beunruhigt uns das wirklich? Ein Vers aus dem Sendschreiben an die Gemeinde in Laodicea sagt: „Du sprichst, ich bin reich und habe genug und brauche nichts, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß“ (Offb 3,17).
Nun bedeutet Mangel, Knappheit nicht immer Gutes. Es gibt Mangel als Defätismus, oder mit Karl Barth gesprochen, als Trägheit, also als grundlegendes Format von Sünde. Trägheit ist des Menschen Unglaube: „Er verschließt sich dem göttlichen Wohlwollen, das ihm in der göttlichen Forderung zugewendet ist“, er möchte von diesem, von Gott ihm gesandten Nächsten, von Jesus, mit dessen „Ruf in die Freiheit in Ruhe gelassen sein. Er hält die ihm in seiner Existenz angekündigte Erneuerung des menschlichen Wesens für unnötig […]. Ein ernstliches Bedürfnis, ein Hunger und Durst nach dessen Erneuerung ist ihm unbekannt.“7
Trägheit erscheint bei Barth in den klassischen Formaten von Dummheit, Unmenschlichkeit, Verlotterung und Sorge. Ich erlebe sie heute v.a. als Resignation, als Gekränktheit, als Verweigerung oder Nostalgie. Man könnte sie klinisch als ‚Anelpidose‘ diagnostizieren, als Hoffnungsmangel8: ein Unglaube, der unserem Gott die Zukunft nicht mehr zutraut und deshalb lieber Sündenböcke sucht als schwierige Veränderungen annimmt. Der Anelpidose fehlt die Verheißungsorientierung, das Vertrauen auf Gottes Möglichkeiten, so wie den Skorbutkranken früherer Jahrhunderte Vitamin C fehlte und ihnen damit allen Antrieb nahm.
Mangel als Trägheit heißt: alles geschehen lassen, die Weiterrechnung der Trends als Fatum sehen, sich absehbaren Entwicklungen einfach hingeben, die Propheten göttlicher Möglichkeiten als Träumer diskreditieren. Wer die Zukunft nur als Extrapolation bisheriger Entwicklungen sehen kann, unterstellt sich anderen Gesetzen als denen von Jesaja 43,19: Denn da setzt das unberechenbare Wirken Gottes eine Realität, die der entscheidende Faktor jeder Zukunft ist. Die einzige Voraussetzung menschlicherseits ist das Unableitbarkeitskriterium des Jesaja: nicht vom Früheren, vom Vorigen allein die Zukunft ableiten, sie ist ja gerade neu, unableitbar – und „siehe!“, die Augen für alles öffnen, was aufzuwachsen beginnt, es will entdeckt werden.
Trägheit hat auch Anteile von Kurzsichtigkeit. Kann es denn sein, dass die sieben finanziell fetten Jahre jetzt vor allem zur Erhöhung der Rücklagen oder zur Sicherung der Altersversorgung der Babyboomer-Generation genutzt werden? Viel wichtiger wären das Ermöglichen von neuen Formen, das Aufspüren von Alternativen, die Herausforderung ungewöhnlicher Ziele, der Umbau überkommener Strukturen, der Aufbau von Alternativen zur herkömmlichen Finanzierung, die Freistellung von Pionieren für Arbeit unter Unerreichten.
Es gibt biblisch auch einen klugen Umgang mit Ressourcen bei absehbarem Mangel: in den fetten Jahren klug umgehen mit dem Reichtum, um für den kommenden Mangel vorbereitet zu sein (Gen 41). Dann gibt es Segen im Mangel. Nur so kann Mangel zur Ressource werden, kann Knappheit zum Antrieb führen. Nur dann ist Hunger der beste Koch, der ungewohntes Denken fördert und handeln lässt.
Ich bin kein Prophet, und das Ärgerliche am biblischen Kriterium für falsche bzw. echte Prophetie ist, dass man erst im Nachhinein klüger ist (Dtn 18,20–22). Aber es gibt einiges Aufbrechende, was es wert wäre, jetzt mit allem unterstützt zu werden, was uns möglich ist, damit sich daraus mögliche Zukunft entwickeln kann. Neue Formen von Gemeinde z.B., die sich nicht in die herkömmliche Trias von Institution, Organisation oder Bewegung fassen lassen. Auch eine Willkommenskultur für die vielen Gemeinden der fremdsprachlichen Christen unter uns wäre zukunftsfähig: Teilen unserer Gebäude statt Mietzahlungen von Geschwistern, Besuche in ihren Gottesdiensten statt exotischer Gesangsauftritte in unseren Gottesdiensten, Neugier auf Gottes Wirken dort statt Angst vor einer unberechenbaren Theologie und Frömmigkeit.9
Oder der Aufbruch zu Unerreichten. Warum sollen in den kommenden Jahren nicht auch Menschen aus der muslimischen Bevölkerung hier in Jesus mehr und anderes entdecken als nur einen Vorläufer ihres 700 Jahre später gekommenen eigentlichen Propheten Mohammed? Es sind die jungen Einwanderer, die unsere Zukunft mitbestimmen werden. Was hindert uns, um sie mit der Liebe Christi zu werben? Nicht in der Situation von Verfolgung und Mangel, da brauchen sie Gastfreundschaft und Solidarität. Aber in absehbar kommenden Begegnungen auf Augenhöhe, in allen Kontaktmöglichkeiten, die unsere offene Gesellschaft braucht und