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Der zweite Band der fantastischen Krimiserie mit Erwin Düsedieker und seinen Laufenten Lothar und Lisbeth
Was ist los in Bramschebeck? Erwin Düsedieker, der Sohn des ehemaligen Dorfpolizisten, hat das Waffenlager eines mörderischen Geheimbundes ausgehoben. Trotzdem gilt er weiterhin als Trottel, der in Gummistiefeln über Äcker und Wiesen stapft und mit seinen Enten Lothar und Lisbeth spricht. Bald heißt es im Dorf, er habe in dem Waffenlager Geld gefunden und unterschlagen. Und dann liegt auch noch eine grässlich zugerichtete Leiche in seinem Gartenteich. Erwin hat das Gefühl, in einen Strudel aus Erpressung und Verdächtigungen zu geraten. Und Lothar und Lisbeth droht der Entenblues …
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DAS BUCH
Erwin Düsedieker lebt im Dorf Bramschebeck als Sohn des verstorbenen Ortspolizisten. Er hat einen spektakulären Mordfall gelöst, eine Bande von Alt- und Neonazis überführt und gilt dennoch als Trottel – denn Erwin stapft gern in Gummistiefeln über Äcker und Wiesen und spricht mit seiner Laufente Lothar. Nun hat er sich auch noch eine zweite Ente zugelegt: Lisbeth. Die Idylle der drei wird empfindlich gestört, als in Erwins Gartenteich plötzlich eine Leiche liegt und in seinem Keller eine Tüte mit Geld. Bald hat er das Gefühl, in einen mörderischen Strudel aus Verdächtigungen zu geraten. Die lokale Presse schreibt böse Artikel über ihn, und Kommissar Kuno Bökenbrink von der Kreispolizeibehörde in Dettbarn hat ihn auf dem Kieker. Zum Glück ist Erwin nicht allein, denn neben seinen beiden Enten ist da auch noch Lina Fiekens, die an seine Unschuld glaubt und ihm hilft.
DER AUTOR
Thomas Krüger, geboren 1962 in Ostwestfalen, arbeitete zunächst als Journalist für Tageszeitungen und Magazine. Heute ist er Hörbuch- und Kinderbuchverleger, Autor von Kinderbüchern, Fantasy und zahllosen Sonetten – u. a. an Donald Duck. Mit Erwin, Mord & Ente legte er seinen ersten Krimi vor und betrat mit der Figur der »Ermittlungsente« Lothar völlig neues Terrain. Thomas Krüger lebt mit seiner Familie in Bergisch Gladbach bei Köln.
THOMAS KRÜGER
ENTEN
BLUES
Ein Kriminalroman
mit Erwin Düsedieker
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Originalausgabe 12/2014
Copyright © 2014 by Thomas Krüger
Copyright © 2014 by Wilhelm Heyne Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Redaktion: Edgar Weiß
Umschlaggestaltung: Der Anton
Umschlagillustration: © shutterstock/Makym Bondarchuck
und © Robert Dowling/CORBIS
Karte: Ina Hattenhauer
Satz: KompetenzCenter; Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-14437-1
www.heyne.de
Für Markus und Dietmar,
die wunderbaren Entenversteher.
Und für Watson & Otto,
die sich manchmal benehmen wie Enten.
Prolog
Liebe ist …
… wenn man das weiche Ding, das eine Schleimspur hinterlässt, einfach ignoriert, bis es … ZACK!
Jetzt ist es verschwunden.
Wohin?
Was geschah in diesem Moment in diesem Garten?
Ein Mord?
Die Sonne schien – endlich, nach vielen Tagen Regen. Eine schneeweiße Laufente, die noch nie in ihrem Leben eine Schnecke kampflos aufgegeben hatte, tat genau dies. Der Kopf der Ente, der sich neugierig, um nicht zu sagen gierig, nach dem klebrigen Teil nah dem Salatbeet gereckt hatte, hielt inne. Ein Leuchten verklärte die schwarzen Knopfaugen. Dann, als handelte es sich bei dem Tier um einen verträumten Jungvogel, schlossen sich die Augen, und ein zweiter Kopf, so weiß und leuchtend wie der erste, ruckte vor.
ZACK!
Die Schnecke war futsch.
Verschluckt.
Die verträumte Ente – ein Erpel von besonderem Verstand – öffnete die Augen wieder und wirkte ganz und gar nicht unglücklich.
Obwohl ihm die Schnecke weggeschnappt worden war.
Mit schnellen Schritten, in einem Gemisch aus Hopsen, Watscheln und Sprint, sauste der Erpel um jene zweite Ente herum, die noch immer nicht satt war. Der schneeweiße Erpel duckte sich, die Flügel eng an den Leib gepresst, als gelte es, eine Art Schallmauer – nun ja, die Größenverhältnisse des Gartens berücksichtigend, ein Schallmäuerchen – zu durchbrechen. Die verdauende Ente nahm das ungestüme Verhalten scheinbar nur im Augenwinkel wahr. Mehrmals flitzte der Erpel an einer Reihe roter Blumen vorbei, brachte die zierlichen, hübschen Blütenköpfe mit dem Luftstrom seiner Bewegung zur Wallung.
Sollte das eine Geste sein?
Ließ er Blumen sprechen?
Ebenso ungestüm, wie er davongeflitzt war, kehrte er zurück zur verdauenden Ente, umkreiste sie einige Male, und dann …
… öffnete er die Flügel, spannte sie engelweit auf, sprang wie betrunken in die Höhe, um anschließend fast auf die Nase – das heißt den Schnabel – zu fallen.
Übermut. Aber der Ente schien diese Show durchaus zu gefallen. Sie stieß ein fast zärtliches Quaken aus.
Die übermütige Ente – der Erpel – antwortete.
Nun, die Stimme einer männlichen Laufente ist alles andere als schön. Was man gemeinhin Quaken nennt oder auch Schnattern, gleicht doch eher einem reibenden, knarzenden, knarrenden Geräusch. Liebe allerdings ist …
… wenn die Ohren der angesprochenen Ente in diesen merkwürdigen Lauten nichts anderes hören als die wichtigsten Worte des Universums:
Ich liebe dich.
Ich liebe dich.
Ich liebe dich.
Seit Wochen verschickte der Garten mit dem kleinen Teich keine anderen Botschaften.
So steht es geschrieben
Erwin Düsedieker beschloss am späten Nachmittag, die Badewanne aufzusuchen. Er hatte lange in der Küche gesessen und Zeitung gelesen, wie schon in den Tagen zuvor. Das war insofern bemerkenswert, als Zeitunglesen nicht zu den Tätigkeiten gehörte, denen Erwin häufiger oder gar täglich nachging. Neuigkeiten wurden ihm von Arno Wimmelböcker oder von Lina Fiekens überbracht.
Arno, mit Feldmütze, speckiger Filzjacke und dem jovial-kariösen Lächeln eines 62-jährigen Wacholdertrinkers, war eine Konstante in Erwins Leben. Doch Lina war etwas ganz und gar Neues. Sie hatte ihn nun schon drei Mal innerhalb von zwei Monaten besucht. Lina war die einzige Frau, die das düstere Haus am Grenzweg 2, die alte Polizeiwache von Versloh, seit dem Tod von Erwins Mutter Gertrude betreten hatte – wenn man von den wöchentlichen Visiten der Gemeindeschwester Diekmann absah. Was man aber getrost tun konnte, denn Schwester Diekmann trat nicht als Frau in Erscheinung. Linas Besuche hatten also etwas geradezu Ungeheuerliches, zumal in den Augen der Bewohner von Versloh, jener aus den Dörfern Bramschebeck und Pogge sowie einigen verstreut liegenden Bauernhöfen bestehenden Landgemeinde zwischen dem Golfplatz von Fechtelfeld und der Landesklinik von Pökenhagen.
Die Badewanne stand mitten in der Bibliothek, die sich Erwin im Wintergarten der alten Wache eingerichtet hatte. Das vergoldete Prachtstück mitsamt umgebender Buchwelt war so was wie ein Geheimnis. Erwin liebte diesen Raum, von dem kaum jemand in Versloh etwas wusste.
Er setzte sich jedoch nicht wegen Lina in die Wanne, sondern wegen des Dettbarner Kreisblatts vom 28. Juli.
Der doppelseitige Zeitungsartikel, der Erwin so sehr beschäftigte, dass er ihn immer wieder hatte lesen müssen, lag auf dem Küchentisch. Mittlerweile zierten ihn Kaffeeringe in einem vage olympischen Muster. Und mitten in dem großen Foto des Artikels prangte ein Loch.
Heute war der 1. August, ein heißer Tag nach einem eher regnerischen Monat. Erwin hatte also umso mehr Mühe, das Aufwallen innerer Hitze zu bändigen.
Vielleicht half ja die Wanne.
Als er Wasser einließ und einen Schuss Sandelholz-Schaumbad für den gestressten Herrn, dachte er wieder an den Entenkopf. Erwin litt bisweilen unter Bildern oder besser: Erwin wurde dann und wann von Gedanken überrascht, die Bilder erzeugten. Gedanken, die wie eigenständige Wesen in seinem Kopf umhersprangen und die Netzhaut seines inneren Auges als Leinwand nutzten. Viele dieser Bilder stammten aus Büchern, aus in Büchern Gelesenem – aus Worten, die in Erwin zu Bildern wurden. Erwin liebte Bücher, deren Worte sich verwandelten. Mit anderen Büchern hatte er Schwierigkeiten, und mit den Zeitungen des Kreises – dem Pökenhagener Landboten oder dem größeren Dettbarner Kreisblatt – konnte er wenig anfangen. Die Berichte in diesen Blättern ließen Bilder entweder verhungern oder ersaufen. Beides war schlecht.
Das Bild des Entenkopfs war allerdings nicht die Folge eines Leseversuchs gewesen.
Oder doch?
Erwin drehte die Wasserhähne zu. Trotz der Erschütterungen, die der Zeitungsartikel in ihm ausgelöst hatte, musste er lächeln. Das hatte einerseits mit der plötzlichen Erkenntnis zu tun, dass ein Wannenbad in dieser Stunde wohl auch als Versuch gelten konnte, Bilder zu ersäufen – die des Artikels nämlich. Andererseits war es die Erinnerung an den Entenkopf, die Erwin erheiterte. Erwin hatte sich ausgezogen. Er hatte die Kleider am Fuß des Lesepultes vor den Buchregalen abgelegt und glitt schwer ins Badewasser. Mit der Wärme trat ihm dieser Blick noch deutlicher vor Augen, begleitete die wohlige Entspannung: die Laufente Lothar, die ihn ansah, als wollte sie ihn trösten, ihm Mut zusprechen.
Am Abend des 28. Juli war das gewesen. Im Garten hinter dem Haus. Erwin hatte auf der neuen Gartenbank neben dem Teich gesessen. Lina Fiekens hatte sich an diesem Samstag grade verabschiedet, und er hatte die Zeitung wieder aus dem Haus geholt. Die Zeitung, die er Lina nicht hatte zeigen wollen. Erwin hatte das riesige Blatt mit ausgebreiteten Armen gehalten und angestarrt wie einen Schaden. Zum Lesen war ihm im Kopf zu heiß, aber gelesen hatte er den Artikel ja schon. Mehrfach hatte er sich durch die Spalten des Gedruckten gequält. Das Lesen fiel Erwin nicht leicht, auch wenn er es liebte. Gelesene Worte durchliefen in seinem Hirn einen komplizierten Prozess. Sie mussten aufbrechen und ihre Inhalte freisetzen. Das dauerte. Doch wenn er einen Text einmal bewältigt hatte, kannte Erwin die Worte besser als mancher Profileser.
So war es auch mit dem Artikel. Erwin hatte also dagesessen und das monströse Blatt gehalten. Die Spalten des Artikels hatten sich in eine Art Gefängnisgitter verwandelt. Ein Gitter, das die Überschrift GEISTIG BEHINDERTER FÜHRT POLIZEI VOR trug. Es sperrte ihn ein. In seiner Vergangenheit:
Erwin Düsedieker, 57, der geistig behinderte Sohn des ehemaligen Bramschebecker Dorfpolizisten Friedhelm Düsedieker … blablabla … Mit einer Ente im Gefolge stapft er Tag für Tag über die Äcker und Wiesen nah dem Dorf. Er trägt Gummistiefel, Trainingshosen, Bundeswehrparka – und manchmal setzt er sich die alte Polizeimütze seines verstorbenen Vaters auf. Trauen Sie einem solchen Menschen die Lösung eines komplexen Kriminalfalles zu? … blablabla … Alt- und Neonazis blieben in Versloh jahrelang unbehelligt. Sie konnten ein Waffenlager anlegen und Verbindungen in die Szene der gesamten Republik knüpfen. Die Polizei war ahnungslos. Über Jahre hinweg. Dann kam der – verzeihen Sie die saloppe Formulierung – Dorfdepp mit seiner Ente daher, und …
Bei Dorfdepp mit seiner Ente war es Erwin schwarz vor Augen geworden. Und dann – ZACK! – war Lothar erschienen. Im Rahmen des Lochs, das sein vorschnellender Kopf genau an die Stelle geschossen hatte, wo das Foto platziert gewesen war. Lothars Schnabel war eine gute Waffe – insbesondere Schnecken wussten das. Lothar hatte mit einer Wut, die man ihm nicht ansah, das Foto zerstört. Das Foto, auf dem Erwin leutselig lächelnd neben der Ente gestanden hatte. Zwischen Entenhaus und Teich. Im Abendsonnenschein. »Ja, genau. Super! Genau so kucken! Sie sehen ja fast wie ein Kommissar aus! Schade, dass Sie die Dienstmütze nicht aufsetzen wollen. Könnten wir nicht vielleicht doch ein Foto mit Mütze machen? Nur ein einziges? Nur für mich persönlich. Ich werd’s auch nicht verwenden. Fest versprochen! Es war so ein nettes Gespräch mit Ihnen …!«
So’n Arschloch, dachte Erwin. Arschloch war ein Wort, das er selten dachte, geschweige denn benutzte. Jens Buschfranz, der Lokalreporter des Dettbarner Kreisblattes, hatte ihn allerdings reingelegt auf eine Weise, die das Wort rechtfertigte. Natürlich hatte Buschfranz das Foto mit Mütze genommen, und Erwin sah saublöd aus in dieser Pose, mit diesem Lächeln. Nie wieder hatte er die Mütze tragen wollen: die Mütze seines Vaters, der ebenfalls verstrickt gewesen war in die Machenschaften der Nazis von Bramschebeck. Friedhelm Düsedieker, seit 12 Jahren tot. Ein Polizist, der die Vergangenheit nicht hatte abstreifen können. Ein Polizist, der – vielleicht nicht selbst als Täter, aber doch im Geiste – an Morden beteiligt gewesen war. Ein Polizist, der seinen Sohn täglich verprügelt hatte, weil er ihn für zurückgeblieben hielt. Der die Dummheit aus Erwin herausprügeln wollte, um ihn …
Ja, was?
Je häufiger Erwin über Friedhelms Erziehungsmethoden nachdachte, desto weniger verstand er sie. Da war nichts, was ihm die Züchtigungen erklärte. Überhaupt fiel es Erwin schwer, Bilder aus seinem früheren Leben, seiner Kindheit, wachzurufen. Aber was die vergangenen Wochen betraf, wusste er, dass er sich über die Rolle, die er darin gespielt hatte, klar werden musste. Er hatte einen Nazi-Ring auffliegen lassen. Er und Lothar und niemand sonst. Lothars Kopfstoß, sein Schnabelhieb, war mehr als nur ein Zeichen gewesen. Lothar hatte Erwin davor bewahrt, wieder zurückzufallen in die Gefangenschaft der Vergangenheit. Lothar, diese kluge Ente, hatte recht: Erwin musste seine Fesseln abstreifen, zerreißen, sprengen. Er selbst musste das erkennen, nicht andere. Worte wie geistig behindert taten weh, rissen alte Wunden auf. Aber er, Erwin, würde diese Worte nicht verhindern können. Sie würden ihn hier im Dorf nie für etwas anderes halten als den zurückgebliebenen Sohn Friedhelm Düsediekers. Bramschebeck würde niemals begreifen, dass Friedhelm als Polizist über all die Jahre die Machenschaften eines Geheimbundes namens Des Teufels Sieben gedeckt hatte: jenes Trupps von 1930 Geborenen, die das Dritte Reich niemals hatten vergessen können. Männer, die nach dem Krieg ein Netzwerk aufgebaut hatten, um einem nationalsozialistischen Führer die Rückkehr zu ermöglichen. Ewiggestrige, die in einem gigantischen Lager unter dem Bramschewald Waffen gesammelt hatten und die zugleich beste Beziehungen bis hinauf ins Polizeipräsidium von Dettbarn pflegten.
Alles dies war so surreal, dass sich Erwin, von tiefen Gefühlen bewegt, in der Wanne erhob. Das vom Sandelholz-Schaumbad grünlich verfärbte Wasser schwappte gefährlich nah an das verlängerte Kopfende heran. Da die Wanne, wie erwähnt, nicht in Erwins Badezimmer stand, sondern auf dem Holzfußboden in seiner Bibliothek, war die Gefahr für etwas, das Lina eine ziemliche Sauerei nennen würde, recht groß. Doch Erwin achtete jetzt nicht auf wogende Badewellen. Er wurde aktiv. Er traf Entscheidungen. Er stellte fest:
Die Vergangenheit war vergangen. Er würde sich jetzt von ihr abwenden. Er hatte einen Kriminalfall von unvorstellbaren Ausmaßen gelöst. Mochten diverse Polizeibehörden noch lange damit beschäftigt sein, das Nazi-Netzwerk zu entwirren: Für Erwin war die Sache erledigt. Die Vergangenheit von Versloh gehörte zu den Akten. Auch wenn sich arrogante Journalisten darüber wunderten, dass ein Mensch mit gewissen geistigen Beschränkungen eine bessere Spürnase als alle Kommissare des Landes gehabt hatte: So war es eben. Erwin guckte von nun an ausschließlich nach vorn (obwohl er in diesem Moment verkehrt herum in der Wanne stand). Er würde nie wieder Friedhelms Polizeimütze tragen. Selbstverständlich wollte er seine geliebten Streifzüge über die Äcker und Wiesen des Landstrichs nicht aufgeben. Wanderungen mit Ente im Gefolge und Gummistiefeln an den Füßen würde er sich nicht vermiesen lassen. Schon gar nicht von Menschen, die ihn weder verstanden noch achteten. Menschen wie Jens Buschfranz. Freispruch also für die Gummistiefel, die Trainingshose, den Parka – und lebenslänglich für die Mütze. Nein, Erwin würde nie wieder Polizist spielen.
Schluss. Aus. Ende.
Die Vergangenheit war Hass gewesen, rätselhaft, eine Welt von Tod und Töten. Die Zukunft würde womöglich genauso rätselhaft sein. Dann aber unter anderen Vorzeichen. Das Wort Liebe dämmerte diffus in der Ferne. Erwin spähte mit gewisser Nervosität durch die Glasfront des Wintergartens, wo sein aufgewühlter Blick erwidert wurde. Draußen vor dem Wintergarten stand Lothar, die treue Ente. Lothars Blick hatte noch immer etwas von der aufmunternden Kraft, die er beim Durchstoßen der Zeitungsseite gezeigt hatte. Heute jedoch kam noch etwas anderes hinzu: etwas Entrücktes, Mildes, Verklärtes, das die kleinen schwarzen Pupillen zu einem Weltraum erweiterten: einem Universum, das Platz fand in Lothars Kopf. Lothar war verliebt. Seit Wochen schon lebte er nicht mehr allein in seinem Entenhaus im Garten. Seine Liebe hieß Lisbeth. Sie erschien nun an seiner Seite und sah ihm sehr ähnlich: eine weiße, wie aus sich selbst heraus leuchtende Laufente. Ganz besonders ähnelte sie Lothar, was die Augen betraf – obwohl Lisbeths Blick eine Spur weniger verträumt schien. Aber diese Vertrautheit … Hätte Erwin das Wort Synchronschwimmer parat gehabt, es wäre eine schöne Formulierung gewesen für den Eindruck, den die Augenpaare der Enten in ihren wie aufeinander abgestimmten, miteinander tanzenden Bewegungen bei ihm hinterließen. Wobei Erwin allerdings die Möglichkeit übersah, dass Lothar und insbesondere Lisbeth vielleicht einfach nur verwundert waren über den Mann in der Wanne, diesen in Schaum gekleideten Endfünfziger, der dort halb eingerahmt von hohen Buchwänden in den Folgen einer kleinen Sturmsee stand, aufrecht wie ein Kapitän, und die Enten anstarrte – während der Schaum an den peinlichsten Stellen zerriss.
Die Liebe. Erwin verließ die Wanne so gegen 18 Uhr, wischte auf, zog sich einen Bademantel über und machte sich ans Bücherstudium. Die Unruhe hatte ihn nicht wieder losgelassen. Erwin verstand von Liebe ausgesprochen wenig, was der Liebe allerdings egal war. Sie hatte sich am Grenzweg niedergelassen. Vor etwa zwei Monaten hatte es begonnen, als Lisbeth ins Haus kam und Lothar sich verwandelte. Urplötzlich. Und natürlich hatte die Liebe auch Erwin verwandelt.
Sie hatte ihn total verwirrt.
Erwins Leben in der ehemaligen Polizeiwache folgte gewissen Regeln. Seine Eltern hatten zwar dafür gesorgt, dass er im Dorf als zurückgeblieben, um nicht zu sagen als doof galt, aber er verdankte ihnen auch eine kleine Rente und gewisse Unabhängigkeiten. Nach dem Tod seiner Mutter war es Erwin gelungen, das Leben im Haus allein zu meistern. Die Besuche der Gemeindeschwester ertrug er, damit man ihn seitens der Behörden nicht weiter behelligte. Im Grunde genoss er die wöchentlichen Visiten sogar, denn Schwester Diekmann war eine sehr nette Person, mit der er gut Kekse essen konnte.
Erwins und Lothars unfreiwilliger Einsatz als Polizist plus Ermittlungsente hatte im Dorf zu Turbulenzen geführt. Die anschließenden Berichte in der Presse hatten dabei natürlich eine Rolle gespielt. Dennoch blieben Erwins Geheimnisse wie auf wunderliche Weise gewahrt: die Buchliebhaberei, die Bibliothek, der Wintergarten mit Luxus-Badewanne zwischen Regalen und Gartenfenster. Von diesem anderen Erwin wusste Versloh weiterhin nichts, weil es nichts davon wissen wollte. Erwins Leben im Dorf war – noch immer – offiziell eines, das aus Nichtstun, Kaffeetrinken, Gartenarbeit, Gemeindeschwesterbesuchen, Gesprächen mit Arno Wimmelböcker, Spaziergängen mit Ente und kleinen Einkäufen im Dorfladen von Lina Fiekens bestand. Es war das Leben eines harmlosen Bekloppten.
Und nun war es die Liebe, die Besitz von diesem Leben ergriff. Anfang Juni war Erwin zusammen mit Arno zu Enno Gösemeier gegangen, um eine zweite Laufente ins Haus zu holen. Gösemeier hatte eine Zucht, und Arno hatte Erwin davon überzeugt, dass eine kluge Ente wie Lothar nicht allein bleiben sollte. Nun ja, Erwin verstand. Er hatte eine ziemlich gute Beziehung zu Lothar, aber vielleicht gab es da gewisse Dinge, die Lothar lieber von Ente zu Ente …?
Nicht wahr?
Jedenfalls hatte Erwin zugestimmt, und sie waren losgezogen. In einem Meer von Geschnatter und Gekrähe auf Gösemeiers Hof hatte sich Erwin dann bei der Frage ertappt, ob er Lothar nicht besser mitgenommen hätte, damit der die Wahl selber hätte treffen können. Genau in diesem Moment, in dieser verwirrenden Menge von Geflügel, war Erwins Blick auf Lisbeth gefallen. Sie ragte – im wörtlichen Sinn – aus der Masse heraus. Alles Nachdenken und Zweifeln war plötzlich verpufft. Erwin, der Lothar auf zahlreichen Wanderungen über Wiesen und Felder als eine Art Persönlichkeit kennengelernt hatte – gerade weil ihm manches im Verhalten der Ente rätselhaft blieb –, hätte später schwören können, dass er in jenem Moment auf höhere Weisung, womöglich gar auf Weisung Lothars, handelte. Die Ähnlichkeit zwischen schneeweißen Laufenten und Engeln drängte sich Erwin wieder auf, als er den Arm ausstreckte und auf die watschelnde Figur im Format einer Doppelmagnum-Flasche wies. Lisbeth war es. Sie oder keine. Erwin wusste in jener Sekunde, wie Lothar fühlte – und dachte.
Es gab keinen Zweifel: Lisbeth.
Weil Erwin nicht allzu gut darin war, seelische Ergriffenheit zu überspielen, vermutete Enno Gösemeier, Erwin Düsedieker sei noch viel bekloppter, als es Gerüchte seit Jahrzehnten behaupteten. Kopfschüttelnd verfolgte Enno, wie sich Erwin der Ente vorstellte. Fassungslos stellte er fest, dass auch Arno Wimmelböcker wie ein Kind auf das Tier reagierte. Und dann, nach getätigtem Kauf, sah er sie davonschreiten: Arno und Erwin. Erwin, der die Ente, vorsichtig an seine Brust gedrückt, in den Armen hielt. Die Ente, die den Hals stolz nach oben reckte, hoch über Erwins linke Schulter hinaus, und Enno einen letzten Blick zuwarf. Einen ganz besonderen Blick. Enno behandelte seine Tiere gut, keine Frage. Aber er verstand sie nicht. Und so verstand er auch nicht, dass Enten wie Lisbeth auch ohne Hände durchaus in der Lage waren, Menschen den ausgestreckten Mittelfinger zu zeigen.
Es war Liebe auf den ersten Blick, als Lisbeth in die alte Polizeiwache einzog. Lothar und Lisbeth waren vom ersten Moment an unzertrennlich. In den Tagen nach Lisbeths Ankunft wurde Erwin sogar von dem Gedanken gequält, dass die Vertrautheit zwischen ihm und Lothar nun vielleicht dahin sei. Lisbeth war immerhin eine Frau, und Frauen und Gespräche unter Männern, das war … nun ja …
Die Liebe näherte sich Erwin also sogleich mit jenem Gefühl, das der Liebe folgt wie …
Ja, wie der Geier dem verendenden Esel:
Eifersucht.
Erwin ertappte sich dabei, dass er den Enten ganz besondere Mahlzeiten servierte. Er begann, auf nahen Feldwegen Schnecken zu sammeln. Er kaufte Bachflohkrebse, Mehlwürmer und Garnelen in Linas Dorfladen. Er verwandelte einen Teil des Hausgartens in Salatbeete, und er hatte immer was Leckeres in den Taschen.
Lothar und Lisbeth nahmen diese Köstlichkeiten wie selbstverständlich an. Doch wenn Erwin sich aufmachte, um in Gummistiefeln, Trainingshose und Parka über die Felder zu stapfen, dann blieben die Enten zu Hause.
Wochenlang ging das so.
Erwins Unsicherheit wuchs. Er versuchte, sich die Lage schönzureden. Hatte die Verweigerungshaltung der Enten vielleicht damit zu tun, dass Lisbeth es nicht gewohnt war, weite Strecken über freies Feld zurückzulegen? Dann wäre Lothars Verhalten das Verhalten eines Kavaliers gewesen und höchst lobenswert. Lisbeth war ja, wie Erwin sich wiederholt bewusst machte, eine Frau, und Frauen waren, was ausgedehnte Fußmärsche betraf, vielleicht …
Stopp! Erwin musste sich sofort korrigieren. Nicht nur, dass er von Frauen zu wenig verstand, um solche generellen Aussagen zu treffen: Lothars und Lisbeths Zweisamkeit hatte von Anfang an ein ganz spezielles, rätselhaftes Muster gezeigt. Wohin und wie schnell auch immer sich die Enten bewegten: In den allermeisten Fällen zog Lisbeth voran, und Lothar folgte. Lisbeth war resolut. Lothar eher vorsichtig.
Was hatte das zu bedeuten?
Dieses Rätsel namens Liebe …
Erwin wälzte die Bücher seiner Bibliothek. Es gab dort kein einziges Buch mit dem hilfreichenTitel Erscheinungsformen der Liebe – Wie geht man mit ihnen um? oder Liebe: So tritt sie auf – So weichst du ihr aus. Nein, die Liebe versteckte sich gradezu in den Büchern. Das einzige sachliche Buch – eines, das Verbindungen zog zwischen Vögeln und etwas Liebesähnlichem – kam mit der unsäglichen Theorie daher, dass man Graugänse zum Beispiel dazu bringen konnte, Gummistiefel zu lieben.
Als Erwin, am Lesepult stehend, diesen Quatsch las, stieß er ein seinem Naturell ganz und gar nicht entsprechendes Lachen aus. Solch ein Unsinn. Als Experte für Gummistiefel musste er in aller Schärfe widersprechen. Außerdem war er der Meinung, dass es zwischen Graugänsen und leuchtend weißen Laufenten einen himmelweiten Unterschied gab.
Erwin schloss Sachbücher von der weiteren Forschung aus. Bis auf eines über Die Minne. Es handelte sich um einen prächtigen Band voller Bilder und schöner, fremder Worte: ein Buch mit erstaunlichen, auch verstörenden Einsichten, über die Erwin länger würde nachdenken müssen. All die anderen Bücher, die Erwin studierte, gehörten zum weiten Feld der Literatur.
Romeo und Julia zum Beispiel oder Lolita.
Gerade diese beiden Werke stellten ihn vor große Aufgaben.
Weshalb die Enten Erwins Spaziergänge verschmähten, beantworteten die Bücher allerdings nicht. Doch da Erwin auf dem Land aufgewachsen war, konnte er sich irgendwann einem gewissen Verdacht nicht mehr entziehen.
Vielleicht nutzten die Enten Erwins Spaziergänge, um …
Um …
Um allein zu sein …?
Arno hatte das noch Mitte Juli auf den Punkt gebracht.
»Mönsch, Äwinn, was is denn mit die Eier?«, hatte er während eines Besuchs gefragt. Er hatte sich im Garten und im Entenhaus umgesehen und dann das sich umtänzelnde Entenpaar betrachtet.
»Eier?«, hatte Erwin geantwortet.
»Na ja, die Eier. Gips keine Eier?«
Erwin hatte nachgedacht. Eier. Das war jetzt doch überraschend gekommen.
»Na, die Deesy. Also, die Lissbett, die leecht doch Eier, nä?«
Arno, der für Lisbeth den Namen Daisy vorgezogen hätte, hatte nicht lockergelassen:
»Da wirsse hier doch bald, ich mein. N’ paa Enten wirsse bald mehr ham, wenne die Eier nich … Is dochn Mädchen, die Lissbett, nä? Un Lothar. Der is dochn Junge!«
Das fällt dann wohl auch unter den Begriff Liebe, hatte Erwin gedacht.
Aber es gab keine Eier.
»Nee«, hatte Erwin geantwortet. »Eier gibts nich. Also …«
»Hmm. Vielleicht is se noch zu jung?«
»Lissbett?«
»Jou. Wie alt is se denn?«
Lolita. Ein Blitzen in Erwins Kopf. Dann war es wieder dunkel geworden dort drinnen.
»Weiß nich. Die is … Also …Weiß nich.«
»M-hm. Sieht ja nich krank aus.«
»Nee, krank is die nich.«
»Hmmm.«
Arno hatte sich bald verabschiedet, war heimwärts zu Hilde Gerkensmeier gestiefelt. Er hatte Erwin ratlos zurückgelassen.
Die Liebe.
Zum Glück hatte sich Lothars Verhalten, was Erwin betraf, schließlich normalisiert. Lothar begann, sich wieder für Erwin und seinen Tagesablauf zu interessieren. Der Schnabelstoß am 28. Juli, ausgelöst durch den unsäglichen Zeitungsartikel von Jens Buschfranz, war der erste Hinweis. Zwei Tage später unternahmen sie zu dritt einen Abstecher zur Bramsche, westlich der alten Wache. Der Bachlauf war nach dem eher verregneten Juli angeschwollen zu einer Perlenkette von Wasserschlingen – kleinen Teichen sozusagen. Lothar und Lisbeth hatten Erwin aufgeregt begleitet und eine schöne Stelle zum Schwimmen gefunden. Bis zum Abend, dessen Licht das Gefieder der Enten in bizarrem Flamingorot erstrahlen ließ, hatten sie diverse Bäder und die Weite der Felder genossen. Wie in den alten Zeiten.
Es war ein wunderbarer Tag gewesen, voller Liebe nach den Vorstellungen Erwins. Jetzt, um 20.30 Uhr am 1. August, verblassten die Bilder der Erinnerung. Erwin …
Tock – Tock – Tock.
Das Geräusch riss ihn aus seinen Überlegungen. Lisbeth, die Resolute, klopfte mit dem Schnabel ans Glas des Wintergartens. Neben ihr stand Lothar. Die Enten blickten Erwin an, der da im Bademantel am Lesepult stand und sich umsah. Sie hatten Hunger.
Erwin schlug das Buch, in dem er gedankenversunken geblättert hatte, zu und kümmerte sich um drei Mahlzeiten. Alles war wieder im Lot. Der Zeitungsartikel war fast vergessen. Eine Zeit des Friedens stand bevor.
Das konnte Erwin jedoch nur denken, weil ihm die Gabe der Vorsehung fehlte und weil der 2. August des Jahres noch nicht begonnen hatte.
Ein Männlein, still und stumm
Die Nacht verlief dramatisch. Die Hitze der vergangenen Tage und die vom Juli hinterlassene Feuchtigkeit vertrugen sich nicht. Gewittersturmgüsse zerzausten die Felder, die Wiesen und Wälder um Bramschebeck. In der Früh um drei, als es besonders heftig blitzte und krachte, holte der besorgte Erwin die Enten ins Haus. Er drückte sie an sich, unter einem weiten Regenmantel, als er durch den Garten zurückeilte. Der Himmel brüllte, dröhnte, sandte mit irrwitzigem, rhythmischem Trommeln Flüche auf ihn herab. Lichter flammten. Der Regen platschte, als ließe er Wasser säckeweise fallen. Dann saßen sie in der dunklen Küche, wo sie – RABABAMM!!! – alle paar Sekunden von greller Helligkeit erfasst und abgetastet wurden. Das Weiß der Enten war eine andere Farbe als das klinische Weiß dieses stroboskopischen Lichts. Es tarnte die Tiere, wenn es im Raum aufblitzte. Doch die Enten glimmten irgendwie nach in den Momenten der Dunkelheit zwischen den Zornesausbrüchen des Himmels.
Erwin fürchtete sich vor Gewittern dieser Art. Er saß an die Wand gedrückt, in der Ecke, auf der Holzbank. Dort, wo das durchs Fenster hereinzuckende Licht ihn nur schlecht erreichen konnte. Wo ein Blitz hoffentlich nicht hinlangen würde. Erwin erinnerte sich an Nächte, in denen er mit seiner Mutter hier gekauert hatte. Gertrude betend im Geschützdonner des Himmels. Worte murmelnd, in denen von Schuld und Reue die Rede gewesen war und auf unverständliche Art auch von ihm, Erwin, mit dem der Herrgott doch nachsichtig sein möge, weil er, Erwin, ja nichts dafür könne.
Wofür konnte er nichts?
Sein Vater Friedhelm war in den furchtbaren Nächten selten daheim gewesen. Oft brannte es irgendwo. Ein Hof, eine Scheune ging in Flammen auf. Die Gebäude der Hölle mögen feuerversichert sein, aber sie brennen. Die Gewitternächte in Erwins Erinnerung waren Nächte, in denen Recht und Ordnung, wie Friedhelm sie vertrat, auf die Mächte des Himmels zurückgriffen. So hatte Erwin auch Gewitter als Strafen kennengelernt – für Vergehen, deren er sich nicht bewusst war.
Das machte die Sache extrem schwierig.
Lothar und Lisbeth blieben bei allem Geschepper von Licht und Luft sehr ruhig. Erwins Verstand mochte die Enten aus einer besonderen Tierliebe heraus ins Haus geholt haben. Sein Unterbewusstsein hatte es aus Angst getan, und weil die Enten ihn beruhigten. Als Blitz und Donner sich nach einer Stunde verzogen, fiel Erwin noch in der Küche auf der Holzbank in einen unruhigen Schlaf, aus dem er gegen kurz vor fünf wieder erwachte. Draußen dämmerte es grau. Es regnete. Die Enten waren verschwunden. Schlaftrunken machte sich Erwin auf die Suche, fand die Kellertür offen, stieg hinunter und stellte fest, dass er auch die schmale Hintertür, die vom Vorratskeller aus über eine Treppe zum Garten hinaus führte, offen gelassen hatte. Wasser stand am Fuß des Treppenaufgangs. Wasser war in den Keller gedrungen. Wasserzungen ragten über die Schwelle ins Haus, bewegten sich amöbisch langsam voran, auf die Vorratsregale zu. Zwischen den Nassflächen auf dem graubraunen Steinboden unmittelbar vor der Tür sah Erwin die Abdrücke von Entenfüßen. Er meinte in seiner Schlaftrunkenheit und im Halbdunkel auch Abdrücke von Stiefeln zu erkennen. Aber darüber dachte er nicht nach. Die Enten waren wohl zurück in ihr Gartenhaus gegangen. Zweisamkeit. Die Liebe. Und sie kannten sich in den Räumen der alten Wache aus. Lisbeth hatte das Haus schneller und gründlicher erkundet als damals Lothar, fiel ihm ein.
Erwin schloss die Tür und machte, dass er noch einmal ins Bett kam. Er fror, obwohl es warm und schwül werden würde an diesem Tag. Wenn die Wasserpfützen im Keller mittags noch nicht getrocknet waren, würde er aufwischen. Jetzt war er müde. Bis um halb acht verbrachte er die Zeit in traumlosem Schlaf. Dann meldete sich Arno Wimmelböcker.
Das Klingeln an der Haustür war drängend. Erwin hob den Kopf, sah auf das gelbliche Zifferblatt des mechanischen Weckers. Arno wusste, dass Erwin mitunter nicht ganz so früh unterwegs war wie er selbst, und nahm morgens meist Rücksicht. Weshalb also läutete er Sturm? Vor knapp zwei Wochen war Arnos Mutter gestorben, und Erwin hatte tagelang nichts von Arno gehört. Erwin hatte Theresia Wimmelböcker nie kennengelernt, und Arno selbst hatte schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt. Erwin wusste, dass Arno in einem früheren Leben ein ziemlicher Säufer gewesen war, der irgendwann enterbt und von seiner schon seit Jahren verwitweten Mutter aus dem Haus und vom Hof gejagt worden war. Diesen früheren Arno hatte Erwin nie kennengelernt. Seit dem Rauswurf lebte Arno bei Hilde Gerkensmeier in einer Funktion, die ein vergangenes Zeitalter wohl Stallknecht genannt hätte.
Was das aktuelle Zeitalter zu Arno sagen würde, darüber konnte man nur spekulieren. Jedenfalls soff er nur noch einmal in der Woche, in Gerda Kluckhuhns Dorfkrug, und war ansonsten ein bescheidener und herzensguter Mensch.
»Äwinn!? Bisse schonn wach!?«
Jetzt brüllte Arno auch noch vor der Tür herum. Erwin wälzte sich aus dem Bett, warf den alten Morgenmantel über, schob seine Füße in das Paar Pantoffeln vor der Bettkante und stolperte zur Zimmertür. Die Nacht hatte ihn irgendwie ausgelaugt. Oder lag das an der kommenden Hitze? In Erwins Kopf schmerzte was.
»Äwinn?!«
»Jaddoch! Komm ja schonn!«
Erwins Schlafzimmer befand sich in der zweiten Etage des Hauses: ein kleiner, angeschrägter, fast lichtloser Raum neben dem ehemaligen Elternschlafzimmer von Gertrude und Friedhelm Düsedieker. Dort drüben stand das alte Ehebett. Dort lagerten seit Friedhelms Tod und der Auflösung der Polizeidienststelle Versloh auch Teile des Mobiliars der damaligen Wachstube: der große Schreibtisch, einige Aktenschränke, Büroutensilien und dergleichen. An dem Schreibtisch saß Erwin, wenn er ermittelte.
Aber das war ja Vergangenheit, brachte ihm der Kopfschmerz wieder ins Gedächtnis. Und die Polizeimütze, die dort irgendwo lag, würde Erwin nie wieder aufsetzen.
Vorsichtig stieg Erwin die Holztreppe hinab. Schritt für Schritt wurde sein Gang sicherer. »Komme!«, rief er Richtung Haustür. Arno konnte, wenn er klingelte und Erwin im Haus vermutete, schnell ungeduldig werden. Dann war er vor allem laut. Lautstärke war nicht gerade das, was Erwin jetzt brauchte. Nicht nach dieser Nacht.
Erwin öffnete die Tür, und Arno fuchtelte mit der linken Hand, in der er eine zusammengefaltete Zeitung hielt. Waren das nicht sogar zwei Zeitungen?
»Mönsch, Äwinn. Jetz bisse richtich berühmt. Möönsch!«
»Morgn, Arno.«
Arno ließ sich nicht ausbremsen. Das Fuchteln seiner Linken gründete in Wiegebewegungen, die Arno mit ganzem Körper ausführte. Er war aufgeregt.
»Werner sacht, da hasse bestimmt was mitgehn lassn. Hätter auch gemacht, sachta!«
»Werner? Was hätt er mitgehn lassn?«
»Na, so Geld, nä? Wassn mit Steuern? Musste aufpassn, sacht Werner!«
»Steuern? Sach mal, wass’n los, Arno?«
»Steht inne Zeitung. Hier. Hat Werner alles schonn gelesn. Unn Hilde!«
Die Zeitung. Erwins Kopfschmerz wurde stärker.
»Werner sacht, du biss jetz wohl was Bessers. Hass die Mütze auch gaa nich mehr auf. Habbich schonn gemerkt. Biste nich mehr nurn Pollezist, nä? Is sogar was inn Kreisblatt!«
»Was? Äh … Werner?« – jetzt war Erwin vollkommen verwirrt. Hörte er da nicht auch einen leisen Vorwurf in Arnos Stimme? »Die Mütze? Pöhlings Werner?«
»Nee!« – Arno schüttelte den Kopf: »Nich Pöhling. Blitzwerner!«
»Blitzwerner?«
»Weiße doch! Der kam grad mitte Zeitung. Nachn Gewitter n’büschn spät. Sogar in beide bisse drin. Ich habse hier. Werner wollt das Kreisblatt noch zu Siggemann rüber in Pogge. Der liest das ja. Aber Hilde hatts behalten. Kenns ja Hilde …«
»Nee, so nich«, meinte Erwin abwesend und starrte auf die beiden gefalteten Zeitungen, die Arno in der Hand hielt. Zwei Zeitungen, tatsächlich: den Pökenhagener Landboten und das Dettbarner Kreisblatt. Hatte Jens Buschfranz wieder zugeschlagen? Erwin befürchtete Schlimmes. Blitzwerner – oder Werner Ottensmeier – war der Postbote von Versloh. Der Mann mit dem höchsten Dienstfahrradverschleiß im gesamten Kreis. Werner trug morgens, oft schon um fünf Uhr früh, die Zeitungen aus und wiederholte seine Radrunden mittags mit der Normalpost. Werner Ottensmeier also, Blitzwerner, hatte …
»Komm ma rein, dass’s mir zu kompliziert für anne Tür«, sagte Erwin, und Arno griente, weil er ein Pinnchen Wacholderschnaps witterte – oder zwei.
Sie setzten sich in die Küche, wo nichts an die bange Stunde in der Nacht erinnerte. Und auch nichts an die Enten, denn Lisbeth und Lothar waren ausnehmend saubere Tiere. Allerdings wären Arno Spuren von Einstreu oder Ähnlichem wohl nicht aufgefallen. In seinem Bett auf dem Hof von Hilde Gerkensmeier hatten auch schon mal Ferkel übernachtet, als in einer fürchterlichen Winternacht vor vier oder fünf Jahren eine geschwächte Sau gestorben war, nach Ausfall der Heizungsanlage. Da hatte Arno seine ganze menschliche Größe gezeigt und den Wurf mit seiner Körperwärme gerettet.
Solch ein Mensch war Arno.
Nachdem Erwin Kaffee gekocht und ein erstes Schnäpschen als Aperitif zum Filtertütengebräu gereicht hatte, berichtete Arno mit lockerer Zunge von den Gerüchten in Bramschebeck und Umland. Was Arno ausließ, nicht wusste oder missdeutete, erklärten die Zeitungsberichte. Einer stammte von Jens Buschfranz. Beim anderen hatten mehrere Reporter, die Erwin nicht kannte, zusammengearbeitet.
Die Untersuchungen der Kreispolizei zu jenem unglaublichen Kriminalfall, den Erwin Düsedieker zusammen mit Lothar gelöst hatte, hatten ergeben, dass im geheimen Depot unter dem Bramschewald nicht allein Waffen gelagert worden waren. Waffen, die eine furchtbare Bande von Alt- und Neonazis gesammelt und vermutlich bei zahlreichen noch nicht aufgeklärten Anschlägen in der gesamten Republik eingesetzt hatte. Nein, man hatte dort versteckt neben Gewehren, Granaten, Panzerfäusten und Munition vor allem wohl auch …
Erwins Kopf wummerte. Jetzt kehrte die Vergangenheit zurück – nur wenige Stunden nachdem er ihr die Tür gewiesen hatte. Verdammt!
»Siehste. Da hammse auch Geld unn so gefundn …«
Geld? Erwin las von Banküberfällen, Erpressungen, Einbrüchen. Es waren Aktionen, die dazu dienten, den nationalsozialistischen Untergrund zu finanzieren. Von dem Raubgeld fehlte ein beträchtlicher Teil. Erwin wurde zunächst nicht klar, wie man das herausgefunden hatte. Waren das Mutmaßungen der Reporter? Nein, wohl nicht, die Berichte gingen detailliert auf die erbeuteten Summen, und was davon noch gefunden worden war, ein.
Mutmaßungen allerdings äußerten sowohl der Kreisblatt-Mann Buschfranz als auch seine Kollegen Pinkas Keller, Hendrik Stürmer und Tilman Bracksiek vom Landboten. Mutmaßungen, die Erwin betrafen.
Erwin, den Jens Buschfranz in seinem ersten Artikel als Dorfdepp bezeichnet hatte.
Dieses Wort fiel weder im Kreisblatt noch im Landboten. Es wirkte dort – angedeutet – aber durchaus fort. Buschfranz, Keller, Stürmer & Bracksiek beschworen darüber hinaus einen ganz anderen, einen perfiden Verdacht: Tat Erwin Düsedieker vielleicht nur so, als sei er geistig ein wenig … nun ja, einfacher gestrickt? Um die Ermittlungsbehörden an der Nase herumzuführen? Hatte er Geldwerte in beträchtlichem Umfang an sich genommen und sich dann den Untersuchungen der Polizei entzogen, quasi indirekt, indem er den Harmlosen spielte? Einenuns nachdenklich machen sollenden Fall scheinbarer mentaler Inhibition – wie Stürmer es formulierte? Der war im Landboten für politische Analysen zuständig und bekam die wenigsten Leserbriefe.
Das Wort Schweijkiade fiel – bei Bracksiek, einem Mann mit abgeschlossenem Studium. Es quietschte in Erwins Gehirn, als er sich durch die Buchstabenfolge mühte.
Erwins Kopf glühte. Er wusste ja, dass ihn die Polizei in Ruhe gelassen hatte, weil sie ihn für doof hielt. Insofern hatten die Schreiber recht. Aber was sie hier in ihren Artikeln daraus machten …
ENDE DER LESEPROBE