Erwin, Enten & Entsetzen - Thomas Krüger - E-Book + Hörbuch

Erwin, Enten & Entsetzen Hörbuch

Thomas Krüger

4,6

Beschreibung

Erwin Düsediekers Freundin Lina Fiekens ist verschwunden. Sie wollte ihre Schwester auf der Insel Oddinsee besuchen. In den Zeitungen wird von einer unbekannten Toten berichtet. Erwin muss in den Norden, ans Meer, um sie zu finden. Selbstverständlich reist Erwin nicht ohne seine Laufenten Lothar und Lisbeth und deren Nachwuchs Alfred. Auf Oddinsee erleben sie eine Welt voller Mythen & Morde.

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:9 Std. 24 min

Sprecher:Dietmar Bär
Bewertungen
4,6 (19 Bewertungen)
13
5
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



THOMAS KRÜGER

ERWIN,

ENTEN &

ENTSETZEN

Ein Kriminalroman

mit Erwin Düsedieker

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Auf Seite 9 wird zitiert aus: Elias Lönnrot: Kalewala, Übersetzung von Gisbert Jänicke, © 2004 Jung und Jung, Salzburg und Wien

Copyright © 2015 by Thomas Krüger

Copyright © 2015 by Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 20827 Garbsen

Redaktion: Edgar Weiß

Umschlaggestaltung: Der Anton

Umschlagillustration: © Robert Douling/CORBIS (Ente)

Karte: Ina Hattenhauer

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 9783641153526V001

www.heyne.de

Mit Dank an Ulle Bourceau – und ihren Alfred

Prolog

Alles beginnt in einem Garten, in paradiesischer Ruhe. Die Sonne scheint. Insekten krabbeln, fliegen umher, speisen und werden verspeist, ohne dass der große Weltenlenker Anlass sieht, das Wort paradiesisch aus dem Werbekatalog für diesen Garten zu streichen.

Er oder sie weiß wohl, dass die Region, was Verbrechen, Mord und Tod betrifft, mit Nachsicht behandelt werden muss. Aber vielleicht ist es auch nur so, dass der Weltenlenker Geschehnisse anders gewichtet. Man kommt, man geht. Man kommt nie freiwillig, und man geht nie freiwillig.

So what?

Bilder und Beschreibungen des Paradieses sind immer sehr … paradiesisch – voller Licht und Herrlichkeit und einer Nacktheit, die jeden Hintergedanken verbietet.

Das Paradies ist ein Ort größter Harmonie.

Aber wer kann schon sagen, wie der Weltenlenker das sieht? Vielleicht gehört zu einem Paradies dann und wann auch Unordnung dazu? Bäume, unter denen angebissene Äpfel liegen; Füße, die ins Bild ragen; achtlos beiseitegelegte Gartengeräte, die den einen oder anderen unfreiwilligen Abgang verantworten.

Wer weiß?

Vielleicht ist nicht immer alles weiß und leuchtend und voller Unschuld?

Und …

Hui, ein Schatten flitzt durchs Bild. Ein schwarzer Schatten.

Na also. Schon geht es los. Ausgerechnet schwarz. Von allen Tieren des Paradieses sind Vögel die paradiesischsten. Vielleicht nicht gerade Aasgeier, aber weiße Vögel. Zarte Wesen. Aufrecht gehende Vögel, die Engeln gleichen. In diesem Garten sind es zwei Enten. Weiße Laufenten: Lothar und Lisbeth. Sie sind verliebt. Ihre Liebe hat etwas Heiliges, weil sie … nun ja, weil sie nicht ständig an das eine denken, sondern sich beim Schnäbeln gern auf Geistiges beschränken. Lothar und Lisbeth sind eine Seele in zwei Körpern.

Jetzt hopsen sie durch das herrliche Sonnenlicht, scheinen zu tanzen. Das Bild ist berührend, und …

Ssssst – schon wieder flitzt der schwarze Schatten vorbei.

Nein, es sind zwei schwarze Schatten. Der eine gehört definitiv zu einer Katze.

Einer schwarzen Katze. Einem Tier also, bei dem ein traditioneller Paradiesbeschreiber Vorbehalte hätte.

Sie saust mit atemberaubender Geschwindigkeit über den Rasen, auf dem auch heute Gartengeräte liegen, nah dem kleinen Teich. Sie durchbricht ein Beet noch nicht aufgeblühter Dahlien und lässt einen Stängel geknickt zurück. Dann fährt sie die Krallen aus und …

… düst den Stamm eines Apfelbaums hinauf.

Verschwunden. Zwischen sich rundenden Früchten.

Der Weltenlenker scheint ein Wesen mit Humor zu sein …

Lothar und Lisbeth kümmern sich nicht um die Katze. Der zweite schwarze Schatten ist nicht zu sehen.

Hat er sich versteckt?

Lothar und Lisbeth widmen sich den Schnecken im Garten. Schnecken sind in fast allen Paradiesdarstellungen verpönt, weil sie … nun, weil sie etwas sehr Sinnliches darstellen. Insofern handeln die weißen Enten sozusagen in heiligem Auftrag, wenn sie …

Schwupp …

Wie gesagt: Man geht nie freiwillig.

Und dann ist die Katze wieder da. Sie hat den Baum verlassen. Sie ist gewarnt. Ihre Bewegungen sind vorsichtig. Katzen sind elegante Tiere. Sie hält sich an den Boden gedrückt und hat einen anderen Baum im Auge. Dort im Geäst hüpft ein Vöglein, das …

Zu spät.

Plötzlich ist der zweite Schatten zurück. Es handelt sich um eine weitere Laufente. Diese ist glänzend schwarz. Von den Füßen bis zum Schnabel. In der Sonne bekommt das Schwarz einen giftigen Grünstich, und Füße und Schnabel mögen Anteile von Grau enthalten – aber sie wirkt schwarz wie ein Racheengel.

In diesem Moment senkt die schwarze Ente, die sonst stolz und aufrecht geht, Kopf und Hals, verwandelt sich in etwas, das zunächst an eine Schlange erinnert.

Dann aber an einen Torpedo, einen Paradiesgarten-Torpedo.

Die Ente saust los, den Kopf, den Schnabel, wie die Spitze eines Torpedos oder eines Pfeils nach vorn gereckt – und die Katze vergisst, dass SIE das Raubtier in diesem Garten ist. Sie nimmt Reißaus.

Ssssst – jetzt ist sie endgültig verschwunden.

Ja, um es auch ein drittes Mal zu sagen:

Man geht nie freiwillig …

Erwin allein zu Haus

Erwin Düsedieker nahm ein Schaumbad und dachte an den kommenden Sommer. Es war Juni, Ende Juni, das Wetter war herrlich. Es würden helle, warme Tage werden. Vielleicht würden sie in diesem Sommer sogar zusammen baden gehen, Lina und er. Die Wanne in Erwins Wintergarten, zwischen Regalen voller Bücher, war ein Ort, der zu kühnen Gedanken ermunterte.

Gedanken, die Erwin nie zuvor gedacht hatte.

Natürlich würden sie nicht gemeinsam in der Wanne sitzen. So weit wagte er sich nun doch nicht. Zumal die Wanne – ein vergoldetes Modell mit nostalgischem Charme – kaum größer war als eine normale Badewanne, Lina 71 Jahre alt war und Erwin 100 Kilo wog. Aber die Wanne war ein passender Ort, um über das Baden nachzudenken. Der alte Wassergraben am Barthelweddebüx’schen Gutshof war in den vergangenen Wochen von einzelnen Dörflern zweckentfremdet worden. Der Mai war warm gewesen, und der Hof stand seit Monaten leer. Da passierte so was wohl. Außerdem gab es da nah dem Süllbach einen kleinen, versteckten Teich …

Erwin fühlte sich beim Gedanken an einen Sommertag mit Lina ganz verwegen. Überhaupt, seine Stimmung war gut. Das Haus am Grenzweg 2, die alte Polizeiwache von Versloh-Bramschebeck, war nicht länger ein düsterer Ort für Erinnerungen an eine düstere Kindheit. Erwin, Sohn des ehemaligen Dorfpolizisten Friedhelm Düsedieker und dessen Frau Gertrude, hatte nach dem Tod der Eltern allein gelebt – als Mann, der in Gummistiefeln, Trainingshose und altem Parka übers Land stapfte und die Polizeimütze seines Vaters trug. Erwin war ein Original, ein Mensch, den man im Ort belächelte. Anders als sein Vater war Erwin kein Polizist. Er konnte gar kein Polizist sein. Obwohl er schon Kriminalfälle gelöst hatte. Mysteriöse Fälle, die den Landstrich erschüttert hatten.

Erwin war und blieb in Bramschebeck der Dorftrottel mit der Mütze.

Nun, die Sache mit der Polizeimütze war Geschichte. Erwin trug sie nicht mehr. Zu vieles war passiert. Und zu viel hatte er herausgefunden über die Vergangenheit seines Vaters, die keine saubere, sondern eine ziemlich braune gewesen war. Erwin hatte beschlossen, sich nicht länger zum Gespött der Leute zu machen. Er hatte die Mütze in einem alten Schrank auf dem Dachboden deponiert. Lange hatte er gebraucht, um aus den Schatten seiner Eltern herauszutreten. Jetzt war es geschafft. Erwin war fast 59 Jahre alt, und seit dem 1. Mai lebte Lina Fiekens bei ihm im Haus. Was man im Dorf nicht verstand.

Aber die Liebe war eine wunderbare Macht.

Erwin ließ warmes Wasser nach, atmete den Duft von Rosenblüten ein, der aus dem Schaum stieg. Dann blickte er auf die Regalwände. Bücher waren, neben der vergoldeten Wanne, sein zweites Geheimnis. Erwin, der Dummkopf, liebte Bücher. Das wusste in Bramschebeck kaum jemand. Die Wände des Wintergartens waren bis unter die Decke vollgestellt mit Werken der Literatur, mit Bildbänden, Folianten, Klassikern, auch Sachbüchern. Die Wanne stand sozusagen im Brennpunkt eines Kosmos, dessen Fixsterne Shakespeare hießen, Milton, Goethe, Dante oder Homer.

Da Erwin ein Mensch ohne Dünkel war, fanden sich hier auch der Struwwelpeter und diverse Comics. Doch seit Wochen bestimmte Homer den Geist seiner Bibliothek: die Ilias und vor allem die Irrfahrten des Odysseus. Jetzt, wo er die Regale betrachtete, sah Erwin in den Buchrücken bunte Segel.

Manchmal überwältigten ihn solche Bilder.

Immer wieder gingen ihm die alten griechischen Seefahrer-Geschichten durch den Kopf. Sie passten gut zur Wanne. Eine Wanne war ein bisschen wie das Meer und ein bisschen wie ein Schiff. Aber die Wanne war nicht der Grund für Erwins seltsame Gedanken.

Der Grund war Lina.

Lina hatte vor acht Tagen ihre Koffer gepackt, hatte sie vom Gepäckservice der Bahn abholen lassen und war auf die Insel Oddinsee gereist, wo ihre Schwester Theresa in der Nähe eines Dorfes namens Grübchen einen Ferienbauernhof betrieb. Den Hof ihrer Eltern. Lina und Theresa hatten sich lange nicht gesehen. Früher, so hatte Lina erzählt, hatte sie im Sommer immer einige Wochen bei Theresa verbracht, hatte zur Ferienzeit auf dem Hof geholfen. Aber dann war der Kontakt abgebrochen. Als Lina zu Erwin in die alte Wache zog, war sie auf die Idee gekommen, ihre Schwester zu besuchen, ihr alles zu erzählen. Lina hatte gestrahlt. Sie sei glücklich, hatte sie gesagt. Und Erwin hatte gemerkt, dass Lina auch Theresa glücklich sehen wollte. Sie hatte angedeutet, dass Theresas Leben auf der Insel nicht immer einfach gewesen war.

Lina war also losgefahren, vom Dettbarner Bahnhof aus. Mit ihrem Fahrrad im Gepäck. Erwin hatte versucht, ihr die Reise auszureden. Ohne Erfolg. Das Einzige, was er hatte tun können, war, den Hinterreifen des alten Damenrades Marke Torpedo zu wechseln. Der war ziemlich runtergefahren. Über den Dorfladen bestellte er einen Reifen mit Blockprofil. Der hieß Explorer und war die richtige Wahl für ein Rad, dessen Besitzerin hinaus in die Wildnis wollte. Als Erwin den Reifen aufgezogen hatte, hatte Lina gelächelt. Er selbst hatte einen Kloß im Hals gehabt.

»Ach, Erwin. Das wird schon«, hatte sie gesagt.

Er hatte genickt.

Der Stolz der Frauen.

Ja, die Idee mit der Reise hatte ihn enorm verunsichert. Er selbst hatte Versloh-Bramschebeck, das Universum seiner Fußmärsche, selten verlassen. Erwin reiste nicht, er wanderte. Und er blieb mit jedem Schritt ein Teil der klebrigen Äcker, der fladenreichen Wiesen, der dunklen Wälder. Erwin benutzte niemals ein Fahrzeug, nicht einmal ein Fahrrad. Nun war Lina davongefahren, mit Zug und Fähre, auf eine ferne Insel. Eine Insel in einem Meer, das so groß war wie der Himmel.

Anfang Juli wollte sie wieder bei ihm sein. So war es versprochen.

Erwin lehnte sich in der Wanne zurück und blickte durch die Fensterfront des Wintergartens. Wie um sich abzulenken, betrachtete er den Gartenteich und die Blumen. Die Tage ohne Lina hatten dafür gesorgt, dass Alfred ungestört in der Teichrandbepflanzung hatte marodieren können. Alfred war erst wenige Monate alt, eine Laufente, wie Lothar und Lisbeth. Doch Alfred unterschied sich grundlegend von seinen Eltern. Lothar und Lisbeth waren schneeweiß. Leuchtend weiß. Ihr Gefieder strahlte etwas aus, das Erwin immer mal wieder ein Signal war, ein Licht in der Dunkelheit des Lebens. Alfred hingegen war schwarz. Vom Schnabel bis zu Bürzel und Füßen. Pechschwarz. Wie auch immer das geschehen konnte und welche Gesetze der Vererbung die Natur herangezogen haben mochte: Alfred war anders – vielleicht nicht das schwarze Schaf, aber doch die schwarze Ente der Familie. Er hatte weder die vornehme, manchmal scheue Zurückhaltung Lothars noch die sachliche Art seiner Mutter Lisbeth. Alfred war ein jugendlicher Heißsporn mit einer Impulsivität, die Lothar und Lisbeth allein in Krisenmomenten, beim Lösen von Kriminalfällen zeigten.

Lothar und Lisbeth waren immerhin so was wie Ermittlungsenten.

Wann immer Erwin in den vergangenen zwei Jahren, ohne es zu wollen, in einen Kriminalfall geraten war, hatten sie ihm geholfen. Eine Ente, die vor einem Problem stand, war immer bereits ein erster Schritt zur Lösung des Problems.

So dachte Erwin bisweilen.

Alfred, der junge Erpel hingegen, gefiel sich darin, immer mal wieder ein erster Schritt zu einem Problem zu sein. Die Farbe Schwarz tarnte ihn im dunklen Landstrich namens Versloh. Er wurde bei allem, was er tat, später ertappt als andere.

Das kam seiner Neigung zum Risiko entgegen.

Nun, vielleicht würde er im Alter ruhiger werden, und das Alter begann bei Enten ja schon recht früh. Erwin konnte Alfred jedenfalls nie böse sein. Die Enten genossen im Garten hinter dem Haus Narrenfreiheit.

Trotzdem gedachte Erwin vor Linas Heimkehr noch ein wenig Ordnung in die beschädigte Bepflanzung zu bringen. Das wollte er nicht auf die lange Bank schieben. Die Geräte lagen bereit. Frauen – das wusste Erwin nicht allein von seiner verstorbenen Mutter Gertrude – hatten ein strenges Verhältnis zur Ordnung. Ein weit strengeres jedenfalls als eine junge, pechschwarze Ente.

So erhob sich Erwin aus der Wanne, stieg vorsichtig auf das bereitgelegte Frotteetuch auf dem Holzfußboden, trocknete sich ab und trat, noch nackt, an das Lesepult neben den Regalen.

Ein Brief lag auf der geneigten Fläche. Ein Brief von Lina. Abgeschickt kurz nach ihrer Ankunft auf Oddinsee. Erwin las die so akkurat und voller Schwung gesetzten Zeilen:

Grübchen, 22. Juni. Lieber Erwin. Bin gut angekommen. Die Insel ist unbeschreiblich. Eines Tages reisen wir zusammen hierher. Gib Dir einen Ruck. Hier fahren keine Autos. Hier kannst Du wandern, stundenlang. Du wanderst, ich begleite Dich. Es würde Dir gefallen. So viel Grün. So viel Sand. Auch Wälder. Und es gibt viele Vögel hier. Ich hatte fast vergessen, wie schön Oddinsee ist. Theresa hat was auf dem Herzen. Das fühle ich. Werde Dir berichten. Aber alles wird gut. Sie hat es nicht leicht. Ich vermute, das Geld ist knapp. Morgen kommen neue Feriengäste. Viel Arbeit! Und ich will auch lesen. Wie versprochen. Unser Buch! Unsere Bücher! Jetzt geht die Sonne auf. Herrlich! Ich bin aufgeregt wie ein junges Mädchen. Habe nur vier Stunden geschlafen. Die Frühe erwacht – mit Rosenfingern! Ja, ich bin angekommen. Ich freue mich. Und ich vermisse Dich sehr! Wie verrückt das Leben ist. »Einiges wird dein Herz dir selber sagen, o Jüngling; Anderes wird dir ein Gott eingeben. Ich denke, du bist nicht ohne waltende Götter geboren oder erzogen.« Und nun Du! Ich muss hinaus ans Meer. Vor dem Frühstück!

Lina

Worte – wie Wolkenfetzen. Erwin hatte den Brief wieder und wieder gelesen. Aus Linas Sätzen klang Begeisterung. Aber auch etwas Abenteuerliches, Unstetes, Gehetztes, das ihn beunruhigte. Die Insel. Linas Schwester. Da war ein Ton, der Erwin verstörte. Lina sprach von etwas, von dem sie nicht sprechen wollte. Viel Arbeit! Und ich will auch lesen. Dazwischen fehlte was. Irgendwas. Und dann diese Stelle aus dem Buch. Die Odyssee erschütterte Erwin mit ihren Bildern und atemlos großen Versen. Er hatte, als er Linas Brief zum ersten Mal las, eine Weile gebraucht, bis er begriff, dass Lina aus der Odyssee zitierte. Homer war ein Dichter mit merkwürdigem Namen. Er enthielt das Wort Meer. Ein Grieche, der vor fast 3000 Jahren Seefahrt-Geschichten geschrieben hatte. Geschichten von verrückten Göttern und verrückten Männern und dem Krieg um eine Frau.

Für Lina hätte auch Erwin Waffen geschwungen. Er hatte ihr bereits zweimal geschrieben. Die Odyssee sollte ihre Verbindung sein während Linas Zeit auf Oddinsee. Sie hatten noch im Mai, vor ihrer Abreise, begonnen, das Epos gemeinsam zu lesen. Erwin las langsam, aber gründlich. Irgendwie sprach das Buch zu ihm. Als Lina ihm ihre Reisepläne eröffnete, hatte er diesen Taumel gespürt, eine wilde See unkontrollierbarer Gefühle. Seitdem suchte er bei Homer nach Antworten. Vieles in der Odyssee sprach von Lina. Das freute und verwunderte Erwin. Der Dichter Homer hatte gar nichts wissen können von Lina Fiekens, der Besitzerin des kleinen Dorfladens von Bramschebeck. Und doch war sie Teil der Geschichten:

Also sprach sie und band sich unter die Füße die schönen / Goldnen ambrosischen Sohlen, womit sie über das Wasser / Und das unendliche Land im Hauche des Windes einherschwebt …

Ein Bild von großer Schönheit. Erwin fragte sich, ob auch Gummistiefel ambrosisch besohlt sein konnten, denn manchmal kam ihm ja doch der Gedanke, Lina nachzureisen.

Er zog sich an und erinnerte sich an weitere Verse, die sie ihm vorgelesen hatte. Gleich am ersten Tag ihrer gemeinsamen Odyssee:

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, / Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung, / Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat …

Der Beginn des Buchs. Raunende Worte.

»Das bist du, Erwin«, hatte Lina gesagt und ihn seltsam angesehen. Erwin hatte das nicht verstanden. Städte gesehn? Außer Dörfern wie Bramschebeck und Pogge kannte er wenig. Fechtelfeld oder das größere Dettbarn hatte er nur selten besucht. Und vielgewandert? Nun ja, aber doch anders als Odysseus, der Weltreisende. Erwin war Fußgänger.

Dennoch hatte das Bild ihn ergriffen.

Die Taten des vielgewanderten Mannes …

Lina hatte nicht die Gummistiefel gemeint.

Sie war eine Seele.

Erwin hörte Geschnatter aus dem Garten und drehte sich um, sah durch die Glasfront des Wintergartens zum Teich. Alfred hampelte mit seinen Plattfüßen in den Beeten herum, verheddert in Grünzeug, das er zunächst mit dem Schnabel in Unordnung gebracht hatte. So was passierte ihm häufiger. Erwin seufzte und machte sich auf zu helfen. Wenn Alfred lärmte, lärmten bald auch Lothar und Lisbeth, und der Krach wurde, nun ja, anstrengend.

Als er draußen war, gab er den Enten gleich auch Futter und stellte mit einer provisorischen Absperrung sicher, dass Alfred zumindest für die nächsten Stunden die Garten-Arrangements verschonte. Wenigstens das, was davon noch übrig war. Erwin wusste, dass Lina nach ihrer Rückkehr ein Krisengespräch anberaumen würde.

Leider nutzten Ermahnungen bei Alfred nichts.

Sie versagten ja meist auch bei Lothar und Lisbeth.

Es wurde Abend, und mit schwindendem Licht wechselte Erwins Stimmung. Er konnte nichts dagegen tun. Die Enten verschwanden in ihrem Gartenhaus, Erwin machte sich bettfertig, wurde unruhig, hatte spät noch einen Pott Kaffee getrunken. Die Unruhe kam aber nicht vom Kaffee. Lina hätte schon längst einen zweiten, einen dritten Brief schreiben müssen. So war es besprochen: alle zwei Tage ein Brief. Telefonieren konnten sie ja nicht. Im Haus gab es keinen Apparat. Es gab auch keinen Fernseher oder Computer. In der alten Wache am Grenzweg 2 hatte moderne Technik keinen Platz. Sie war einfach nicht Erwins Ding. Er hätte einen halben Kilometer querfeldein zum Hof von Hilde Gerkensmeier gehen können, wo auch sein Freund Arno Wimmelböcker wohnte und bei der Stallarbeit half. Arno war in Sachen Technik zwar mindestens so vorgestrig wie Erwin, aber Hilde hatte ein Telefon. Leider wusste Erwin nicht einmal, ob der Inselhof über einen Anschluss verfügte. Und die Nummer kannte er schon gar nicht.

Er seufzte. Am nächsten Tag würde ein Brief kommen. Ganz sicher. Auf Lina war Verlaß. Erwin zwang sich zur Ruhe, legte sich hin. Dann nahm er das Buch vom Nachttisch und schlug es auf. Das Meer, die Sonne Griechenlands. Er las von Pallas Athene, und die Züge der Göttin glichen plötzlich denen Linas. Athene lenkte das Schicksal der Seefahrer, half Odysseus. Das Licht der Nachttischlampe ließ die Buchstaben auf dem groben Papier hervortreten. Doch dann:

Weinend saß er am Ufer des Meers. Dort saß er gewöhnlich, / Und zerquälte sein Herz mit Weinen und Seufzen und Jammern / Und durchschaute mit Tränen die große Wüste des Meeres …

Erwin schloss das Buch. Die Götter waren gegen ihn. Er löschte das Licht und drehte sich in das dicke, daunengefüllte Oberbett. In den folgenden Stunden glich seine Koje einer unruhigen See, so oft warf er sich hin und her. Erst gegen vier Uhr morgens fiel er in Schlaf. In seinen Träumen hatte Pallas Athene allerlei Gefahren zu trotzen, und der Meeresgott Poseidon ließ Sturm um Sturm aufziehen. Schweißgebadet, wie mehrfach von Wellen überspült, erwachte Erwin um kurz vor sieben. Ein Geräusch lauter als das Tosen seiner Träume hatte ihn geweckt. An der Haustür stand Arno Wimmelböcker. Der hatte, wie so oft, verdrängt, dass es Menschen gab, die nicht um halb fünf Uhr morgens aus dem Bett stiegen. Es gab allerdings einen triftigen Grund für Arnos Klingeln: Er hatte die Zeitung dabei und darin stand etwas, das Erwin stärker aufwühlen würde als jeder Orkan.

Kein Anschluss unter dieser Nummer

MORD AUF DER TRAUMINSEL – Claustritz, 28. Juni. Das friedliche Oddinsee steht unter Schock. Im nördlichen Vogelschutzgebiet der Insel wurde die Leiche einer etwa 70jährigen Frau gefunden. Die Polizei geht von Mord aus. Doch die Todesumstände sind auch für einen Mord ungewöhnlich. Wie die Polizeiinspektion Strulow in einer Presseerklärung bekannt gab, wurde der Frau ein Pfeil ins Herz geschossen. Die Identität der Toten konnte noch nicht geklärt werden. Womöglich handelt es sich um eine Touristin. Die Leiche hat laut Untersuchungsbericht schon einige Tage an einer unzugänglichen Stelle nah der nördlichen Steilküste gelegen. Auf der Insel ist man alarmiert. Wer mag der Mörder sein? Was bewegte ihn zu einer solch verstörenden Tat? Die Polizei ist bemüht, den Fall so schnell wie möglich aufzuklären. Im Amt Claustritz, dem Verwaltungssitz der Insel, befürchtet man, die grausige Geschichte könnte langfristig Urlauber von einer Reise nach Oddinsee abhalten.

»Lina?«

Erwin starrte Arno an.

»Nee, hör auf! Das … nee. Das is doch nich Lina. Bestimmt nich!«

Arno wiegelte ab. Obwohl er, als ihm Hilde Gerkensmeier den Artikel bei Kaffee und Wurstbrot vorgelesen hatte, genau dasselbe gedacht hatte:

Lina.

Erwins Hände zitterten. Er legte die Zeitung beiseite.

»Was … was meint denn Hilde? Weiß die was?«

»Nee. Die sacht nur, du machs dir bestimmt Sorgen. Weil Lina doch …, nä? War ja selbs ganz erstaunt, die Hilde. Wiese das so liest, nä?«

»Aber Hilde vermutet doch was, oder?«

»Nee! Sacht nur, besser nix Äwinn sagen. Macht sich nur Sorgen.«

Arnos Beweggründe, ihm den Artikel dennoch zu zeigen, verwirrten Erwin. Was steckte dahinter? Fürsorge oder Sadismus? Erwin hielt es nicht mehr am Küchentisch. Er erhob sich und atmete tief durch. Sein Herz schmerzte.

»Ne Touristin …«, er räusperte sich. »Das kann nich Lina sein. Die is doch bei ihrer Schwester. Hilft da. Aufm Hof. Die hat gar keine Zeit für Steilküste und so. Da is viel zu tun, aufm Hof.«

Arno nickte.

»Hat se sich gemeldet, die Lina?«

Arno bewies großes Geschick darin, mit schmutzigen Fingern in Wunden zu wühlen. Erwin schloss die Augen, schüttelte den Kopf.

»Hab’n Brief, mehr nich.«

»N’ Brief?«

»M-hm. Kam vor ner Woche.«

»Ne Woche? Mönsch, solange is die ja auch schonn tot. Die Tote. Steht in’n Brief was drin von son’n… son’n Bognschützn? Wenn nich, denn … denn musse dir keine Sorgn machn. Die kenn’n sich immer, die Opfers und die Mörders, nä?«

»Arno, hör auf!«

Erwins Herz pochte. Er sah aus dem Fenster, ins Nichts der Äcker. Arnos Logik war bizarr – und ärgerlich. Hatte er etwa angefangen, Kriminalromane zu lesen? Das konnte nicht gutgehen.

»Da is nix, Äwinn«, sagte Arno beruhigend. »Trink mal’n Schnaps. Hasse nich’n Schnapps?«

Schnaps, na klar. Auf einen Wacholderschnaps – oder mehrere – war Arno natürlich scharf. Erwin holte die Flasche, um seine Ruhe zu haben. Die Flasche bunkerte er nur Arnos wegen. Erwin selbst trank nie. Arno bediente sich, erzeugte beängstigende Schluckgeräusche, und ließ vier Mal ein kehliges »Aaaah!« folgen. Dann war der Glanz in seinen Augen wieder aufgefrischt.

Erwin fasste unterdessen einen Entschluss. Schnell und spontan – doch auch als Folge der Vorwürfe, die er sich seit Linas Abreise gemacht hatte:

»Los!«, rief er. »Wir müssen zu Hilde!«

Arno hustete in ein fünftes Wacholderschnaps-Pinnchen und verteilte den kostbaren Inhalt auf dem Küchentisch.

»Hilde? Was willze denn bei Hilde?«

»Komm schonn!«

Erwin war bereits im Flur, zog die Gummistiefel an, riss die Haustür auf. Arno verließ verwirrt Flasche und Pinnchen und folgte. Erwins Energie war beängstigend.

»Äwinn! Warte mal!«

Keine Antwort.

Arno verstand die Welt nicht mehr. Und niemand kam ihm zu Hilfe, denn auch die Enten sausten plötzlich hinter dem Haus hervor, als hätten sie Erwins Gedanken gelesen und wollten ihm beistehen. Sie folgten ihm, als er den Grenzweg überquerte, den Randstreifen zwischen den Feldern betrat und Richtung Gerkensmeier-Hof davonstürmte. Die Tiere schalteten auf Sprint. Das Ruckeln ihrer Köpfe und Körper folgte Erwins entschwindender Gestalt. Es ergab ein Bild, als würde ein breites Boot mit Gischt in der Hecksee davonbrausen.

Wobei das Schwarz Alfreds den Eindruck etwas verdarb.

Nun, Arno war für Bilder dieser Art ohnehin nicht empfänglich.

Kaum fünfzehn Minuten später saßen sie alle in Hildes Wohnzimmer. Das heißt, die Enten blieben draußen. Hilde Gerkensmeier hatte Arno wegen der Sache mit der Zeitung gerüffelt, sodass er nun schwieg und die bei Erwin gekippten Schnäpse mit starkem Kaffee verdünnte. Unterdessen versuchte Hilde, Erwin zu beruhigen.

»Mensch, da is bestimmt nix passiert. Arno spinnt doch. Wir rufen da mal an, bei Linas Schwester. Haste ne Nummer?«

Eine Telefonnummer. Aber Erwin hatte ja keine.

»Mannmann, Äwinn. N’ bisschen moderner könntste schonn manchmal, weißte …?«

Erwin nickte.

»Wo wohnt se denn, die Schwester?«

»Auf’m Hof. Herreet-Hof heißt der.«

»Aha. Haste ne Adresse?«

»Adresse?«

»Ne Straße? Der liegt doch anner Straße, der Hof.«

»Nee!«

»Wie, nee?«

»Hab ich nich, ne Adresse. Nur Herreet-Hof, Grübchen. So hab ich das geschriebm.«

Hilde schüttelte den Kopf:

»Na, lass ma kuckn. Theresa Fiekens?«

»M-hm.«

»Gut …«

Hilde seufzte und nahm die Sache in die Hand. Zunächst telefonierte sie mit der Auskunft. Sie hoffte, dass sie mit dem Namen Herreet-Hof weiterkam. Als sie ihn der Auskunft mitteilte, warf sie Erwin einen Blick zu, der bedeuten sollte: Ich hoffe mal, wenigstens das haste dir korrekt gemerkt.

Erwin schwitzte.

»Ja, genau: HERREET. Auf Oddinsee. Is ne Insel.«

Augenrollen. Das galt der Auskunft.

»Nein, nicht Herr Reet. Is ne Frau, heißt Fiekens. Theresa.«

Sehr intensives Augenrollen.

»Herreet. Wie Herr und Reet … So Dachstroh. Schonn mal gehört? Nein, ich sach doch: NICH Herr Reet! Fiekens! Theresa! Oddinsee!«

Hilde blies die Backen auf, stieß Luft aus. Sie war rot geworden.

»Fie – kens! Ja. Jetz hamses. Glückwunsch.«

Hilde kritzelte was auf ein Stück Papier, brummte »Danke«, und legte auf.

»Geht doch«, grummelte sie.

Sie hatte eine Telefonnummer. Immerhin.

Dann nahm sie den Telefonhörer erneut ab, wählte – und wartete.

Nichts.

»Keiner da.« Hilde legte wieder auf. »Muss aber nix heißen, Äwinn.«

»Nee, muss nich.«

Seinem Gefühl nach hieß es allerdings doch was. Hilde griff ein drittes Mal zum Hörer und rief bei der Zeitung an, raunzte sich durch diverse Ressorts, bis sie den Schreiber des kurzen Artikels über den Mord auf Oddinsee an der Strippe hatte. Sie konnte ihm entlocken, dass er nichts Genaueres über den Fall wusste. Er hatte eine Agenturmeldung ausgeschmückt. Mehr nicht.

Agenturmeldung. Was immer das war.

Der Redakteur gab Hilde den Rat, es bei der Polizeiinspektion Strulow zu versuchen. Die sei zuständig für Polizeidinge auf der Insel. Er gab ihr eine Telefonnummer. Sie war Teil der Agenturmeldung gewesen, für Leser im Kreis Dettbarn aber wohl nicht wichtig.

»Denkste«, raunzte Hilde zu sich selbst. Der Redakteur hörte es dennoch.

In der folgenden halben Stunde setzte sich Hilde mit einem Beamten in Strulow auseinander. Sie fragte nach, ob die gefundene Tote schon identifiziert sei, sprach von ihrer Sorge um eine Freundin, die auf Oddinsee Urlaub mache, etc. etc. Diesmal hielt sich Hilde zurück. Erwin ahnte, dass ihr bewusst war, welch ungeheure Vermutung in diesem Anruf mitschwang. Sie konnte Lina unmöglich zu einem Mordopfer machen. Und doch musste sie diese Befürchtung irgendwie loswerden. Das nötigte selbst Hilde Fingerspitzengefühl ab. Sie sagte also, dass Lina sich habe melden wollen, es aber bisher nicht getan habe. Nun sei man aufgrund des Zeitungsberichts doch ein wenig in Sorge.

Der Beamte aus Strulow notierte alles und bestätigte, dass noch niemand wisse, um wen es sich bei der Toten handle. Dann versuchte er, Hildes Sorgen zu zerstreuen. Urlauber genössen die Abgeschiedenheit der Insel. Da sei mancher eben mal länger nicht erreichbar. Auszeit nehmen und so. Auf jeden Fall wollte er einen Kollegen zum Hof schicken. Der läge ja ein Stück abseits, außerhalb der Inseldörfer. Die Sache würde sich sicher schnell aufklären. Hilde sollte sich am nächsten Tag, gegen Nachmittag noch einmal melden. Dann ließ er sich ihre Telefonnummer geben.

Klick. Das Gespräch war beendet.

»Keine Sorgen machen«, brummelte sie. »Da kennste den Äwinn nich.«

Erwin hörte das und schwieg.

Hilde versuchte es erneut auf dem Hof. Wieder nichts. Arno setzte sich nach vier Pott Kaffee in die Ställe ab. Und gegen Abend, nach zwei weiteren erfolglosen Telefon-Versuchen, machte sich Erwin auf den Heimweg.

»Wirst sehen, die is morgen wieder da, die Lina«, verabschiedete ihn Hilde.

»Meinste?«

»Na klar. Is ja kein Kind mehr, die Lina.«

»Nee«, sagte Erwin.

»Und deshalb macht se, was se will, weißte.«

»Ja«, sagte Erwin und seufzte. Dann zog er ab, die Enten im Gefolge. Die hatten den Nachmittag über ebenfalls gemacht, was sie wollten, und Hildes Garten von Schnecken befreit. Insbesondere Alfred hatte vollen Einsatz gezeigt und Hilde für den nächsten Tag Arbeit in den Beeten aufgehalst – was sie noch nicht wusste. Das Drama um Lina hatte die Tiere bisher nicht erreicht.

Erwin blieb in der Nacht ruhelos. Den Beschwichtigungen des Polizisten glaubte er kein Wort. Eine Auszeit nehmen: Niemand aus Bramschebeck musste eine Auszeit nehmen. Lina schon gar nicht. In Erwins Bibliothek brannte lange das Licht. Er studierte einen alten Schulatlas und versuchte, sich eine Distanz von etwa 500 Kilometern vorzustellen. So weit lag Oddinsee vom Haus am Grenzweg entfernt. Die Insel war ein bauchig-länglicher grün-gelber Fleck am Rand der Karte. Dort, wo die Karte hellblau war und dann dunkelblau. Das Meer, tiefer werdend. Erwin verstand den Inselfleck als etwas, in dem ein ganzes Leben verschwinden, versinken konnte. Der Fleck versteckte was vor ihm. Das hatte auch mit der Entfernung zu tun …

Sein Entschluss reifte.

Noch weit nach Mitternacht begab er sich in den Entenstall, um sich Rat von Lothar und Lisbeth zu holen. Alfred war noch zu jung für ernsthafte Gespräche und wirkte nach der Gartenarbeit bei Hilde erschöpft. Er saß apathisch im Stroh. Erwin murmelte vor sich hin. Die Augen der beiden erwachsenen Tiere spiegelten etwas von der Verstörung, die ihn bewegte. Zugleich waren sie unbeteiligt, voller Ruhe, hätten auch einem Pokerspieler nichts verraten. Erwin dachte nicht wie ein Pokerspieler. Er sah Antworten, wo es keine gab. Es war ja nicht so, dass Lothar und Lisbeth mit ihm sprachen. Ihre bloße Anwesenheit zeigte Wirkung. Sie schienen auf abgeklärte Weise zu lauschen. Erwins lautes Nachdenken über Lina und ihr Verschwinden glich einer Beichte. Er gab sich die Antworten auf seine Fragen selbst, und was mit Trauer und Angst begann, endete um vier Uhr morgens, zurück in der Bibliothek, mit einem Norwegerpullover.

Doch der Reihe nach: Nach einer knappen Stunde im Stall ging Erwin zurück ins Haus und verschwand zwischen den Regalen. Dort suchte er nach einem Gedicht, das ihn bisweilen beschäftigte. Er fand es und las. Erwin hatte Schwierigkeiten mit Gedichten. Die schwierigsten aber waren zugleich die geheimnisvollsten. Obwohl er ihre Sprache nicht verstand, zog sie ihn mit. Er verreiste mit den Versen. Diese hier, die Verse eines Sonetts von Rainer Maria Rilke, handelten von einem griechischen Gott namens Apollo. Sie beschrieben eine Skulptur des Gottes, eine zum Teil zerstörte, einen Torso. Ein Torso war ein Körper, dem Kopf und Gliedmaßen fehlten. Erwins Bibliothek enthielt Bücher, die solche Worte erklärten. Der Torso Apollos bestand laut Sonett aus weißem Marmor und schien zu glühen, zu leuchten – so wie Lothar und Lisbeth leuchteten. Die Beschreibungen und Bilder überstrahlten alles Klare, Eindeutige. Und dann, ganz am Ende, tauchte der Sinn der Verse auf, schoss aus dem Bau des Gedichts hervor wie eine Muräne. Ein Befehl:

Du mußt dein Leben ändern.

Es war wohl so weit.

Nun machte sich Erwin daran, seine eigene Odyssee vorzubereiten. Er würde aufbrechen, in den Norden, wo die Insel Oddinsee lag. Er informierte sich über den Norden. Vielleicht benutzte er die falschen Bücher, aber Bücher waren seine Türen zur Welt. In einem Werk mit dem Titel Nordische Sagen las er von Ungeheuern in Schnee und Eis. Von Fenriswolf und Midgardschlange und einer schwankenden Regenbogenbrücke namens Bifrost, über die man musste. Außerdem von hässlichen Hrimthursen: Eisriesen, die man mit einem Hammer erschlug. Um die beunruhigenden Eindrücke zu mildern, suchte er schließlich nach dem Norwegerpullover, den er schon lange nicht mehr getragen hatte.

Das war, wie gesagt, um vier Uhr morgens gewesen. Um sieben, nach wenig Schlaf und schnellem Frühstück, hatte Erwin begonnen, eine Tasche zu packen und sein Leben tatsächlich zu ändern. Ganz gleich, ob an diesem Tag eine Nachricht von Lina kam oder nicht: Er würde abreisen, zur Insel Oddinsee. Erwin hatte keine Ahnung, wie er das ohne Auto, Reiseerfahrung und Plan schaffen sollte. Es war ihm egal. Er wollte mit Hilde und Arno sprechen. Die sollten sich um das Haus kümmern. Und er wollte – die Situation verlangte es – ein Telefon. So ein modernes, zum Mitnehmen, ein Smartphone oder Mobilfon oder wie das hieß. Hilde sollte ihm eines besorgen und ihm zeigen, wie man damit umging. Dann konnte er reisen und dennoch in Kontakt bleiben mit Hilde. Vielleicht sogar mit Lina, wenn sie wieder auftauchte auf ihrer Insel, bei ihrer Schwester, die man ja anrufen konnte …

Erwin atmete schwer. Er machte sich mit seinem Monatsgeld, das er im Küchenschrank bunkerte, und den Enten auf zu Hilde und Arno. So ein Telefon war sicher nicht billig. Und auch die Reise würde was kosten. Zum Glück gab er sonst nur wenig Geld aus.

Als er bei Hilde ankam und sich halbwegs erklärt hatte, war die Verwunderung groß. Hilde versuchte, ihn zu beruhigen:

»N’ Tellefon? Und zur Insel? Nu setz dich erst mal und trink’n Kaffee.«

Arno, der etwas später in die Küche kam, verstand nicht sofort, worum es ging. Er wartete ab. Hilde hingegen bemühte sich, Erwin innerlich runterzukühlen.

»Überstürz mal jetz nix«, sagte sie. »Die ham doch noch gar nich angerufen, die vonner Polizei. Hammse sicher gefunden, die Lina. Denn wird alles gut. Und wie willste denn da hin? Allein? Mensch, Äwinn, du machs Sachn. Nu komm. Trink mal’n Schnaps!«

»Nee, nee!«

Arno hob erwartungsfroh die Hand. Erwin aber winkte ab, ließ sich auf einen Stuhl fallen. Die Probleme der Reise hatten schon beim Marsch über die Gerkensmeier’schen Felder begonnen. Jeder Schritt hatte Schmerzen bereitet. Erwin sagte nichts, doch er bemühte sich, die Fragen, die Hilde ihm stellte, für sich zu beantworten. Er würde mit dem Zug reisen. In Dettbarn gab es einen Bahnhof. Auch Lina hatte den Zug genommen. Vielleicht fuhr der bis auf die Insel. Er würde es herausfinden. Und die Enten kamen mit. Auf jeden Fall. Mit geradezu kindischem Starrsinn wehrte er sich gegen jeden vernünftigen Gedanken, sie zu Haus, bei Arno, zu lassen. Hoffentlich durften sie Bahn fahren. Wenn nicht, dann konnten sie vielleicht alle zusammen einen Viehwaggon nehmen. Von solchen Reisen hatte er mal gelesen …

Während Erwin nachdachte und Hilde mit Sorge seinen grüblerischen, nach innen gewandten Blick beobachtete, fütterte Arno die Enten, die sich munter in der Küche umtaten. Hilde hätte das – unter anderen Umständen – kaum geduldet. Nun aber gelang es Alfred sogar, einen Stuhl zu erobern und nachzusehen, was es auf dem Tisch gab. Arno hatte seinen Spaß und legte kleine Weißbrotstücke auf die Tischkante. Arno und Alfred zogen sich irgendwie an. Das Spiel mit der Ente lenkte Arno vom Nachdenken über Hildes Schnapsversteck ab.

Das Holz des Tisches machte klackende Geräusche …

Und dann klingelte Hildes Telefon. Erwin hielt die Luft an. Hilde ging rüber ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. Erwin wollte dem Gespräch nicht lauschen. Er vertraute Hilde. Nach wenigen Minuten kehrte sie zurück.

Und schwieg.

»Lina?«

Erwin wusste plötzlich, dass Hilde keine guten Nachrichten hatte.

»Kuck ma, der Alfred! Is’n ganz Wilder, nä? Na komm …«, sagte Arno, der nichts mitbekommen hatte. Er war drauf und dran, Alfred mit Brot in der Hand vom Stuhl auf den Tisch zu locken. Weder Hilde noch Erwin beachteten ihn.

»War die Polizei«, sagte Hilde. »Die warn aufm Hof.«

»Bei Lina?«

Hilde holte tief Luft und erklärte, dass die Polizei den Herreet-Hof mittlerweile aufgesucht hatte. Dort gebe es neben dem Haupthof zwei Ferienhäuser, mit Gästen. Die Besitzerin des Hofs, Theresa Fiekens, sei nicht angetroffen worden. Auf Nachfrage hätten die Feriengäste ausgesagt, dass man sie seit Tagen nicht gesehen habe. Da sich die Gäste selbst versorgten, störte das niemanden. Man wusste vom Besuch der Schwester und vermutete, dass die Damen gemeinsam unterwegs seien. Vielleicht besuchten sie jemanden auf der Insel oder auf dem Festland.

»Das hätte mir Lina geschriebn!«, rief Erwin. Alfred hüpfte vor Schreck vom Tisch.

»Nu bleib ma ruhig«, mahnte Hilde.

»Wir müssen … ne Vermisstenanzeige. Dann müssen die suchen, ob se wolln oder nich!«

Erwin sprang auf. Aber Hilde wiegelte ab:

»Hab ich versucht. Nix zu machen. Die sagen, für ne Vermisstenanzeige liegen nich genügend … wie heißt das? Verdachtsmomente. Die liegn nich vor. Also noch nich. Sie bleiben dran. Sagen se jedenfalls. Melden sich wieder.«

»Möönsch, du hass abba Hunger. Willze mal’n richtich Großer werden, nä?«

Hilde sah sich um:

»Arno, sach ma …!«

Alfred war zurück auf dem Stuhl und lugte über die Tischkante. Hilde entdeckte dort Futterreste neben Frühstücksresten und wollte aufbrausen. Alfred zog sich augenblicklich zurück, was Intelligenz bewies. Arno konnte sich nicht so leicht wegducken. Erwin kam ihm unvermutet zu Hilfe:

»Ich fahr morgen«, sagte er. »So oder so. Ich geh Lina suchen. Ich warte nich auf Verdachtsmomente. Da is was faul.«

Hilde riss die Augen auf und vergaß Arno: »Äwinn, du …«

»Nee«, wiegelte er ab. »Hab schonn gepackt. Hätt gleich mitfahrn solln. Feige war ich, weißte? Kannste mir so’n Taschentelefon besorgen?«

Arno schaltete schnell: »Mönsch, Äwinn?«, sagte er, »unn … unn die Entn? Die kannze doch nich …? Willze die hierlassen? Ich pass auch gut auf, nä?«

»Die nehm ich mit«, sagte Erwin. Er hatte das ja längst beschlossen. »Lothar unn Lisbeth, die ham mir immer geholfen. Wenns kriminell wird. Weißte doch.«

»Jau.«

Arno nickte. Lothar und Lisbeth, die Ermittlungsenten. Alfred musste seine Fähigkeiten noch unter Beweis stellen.

Als Hilde Erwin so sah, entschlossen wie nie, gab sie ihren Widerstand auf. Sie seufzte und traf eine folgenschwere Entscheidung:

»Äwinn«, sagte sie. »Wir kommen mit. Arno und ich. Und’n Tellefon kriegste auch. Ich fahr gleich los, nach Fechtelfeld. Da is so’n Laden. Mir selbs besorg ich auch eins. Mannmannman …«

»Was’n …? Wollze …? Wie …? Mit’n … nee, nä …?«

Arno Gehirn brauchte einen Neustart. Hilde stellte den Schnaps auf den Tisch.

»Trink einen, Arno«, sagte sie. »Wir verreisen. Nehmen den Transporter von Wilfried. Der is ja inn Knast1. Hartwin kann hier solange aufpassn, und den Trecker kanner auch ham. Braucht er ja sowieso dauernd. Und nu is gut, Arno. Vier reichen. Gib mir auch mal einen.«

Hilde war auf Mission. Arno fühlte Nebel aufziehen.

In den kommenden Stunden bereitete sie alles für die Fahrt nach Oddinsee vor. Sie sprach mit Hartwin Jasperneite und mit Marco Ottonottebrock. Letzterer war ihr noch einen Gefallen schuldig, weil er sich Arno öfter mal von ihr auslieh. Für den Stall und so. Dann besorgte sie Smartphones und griff auf ein sehr günstiges, eigentlich schon abgelaufenes Angebot zurück. Bei der ersten Abrechnung würde sich vermutlich das Kleingedruckte des Vertrags melden. Dann würde Hilde dem Laden einen zweiten Besuch abstatten, damit auch das Kleingedruckte sie kennenlernte.

Sie packte für sich und Arno Reisesachen zusammen und kaufte im Dorfladen, den Annemie Pölkens in Linas Abwesenheit leitete, Futter für die Enten. Sollten die Tiere Symptome von Reisekrankheit entwickeln, halfen vielleicht Leckerlis: Bachflohkrebse, Mehlwürmer und solche Sachen. Die hatte Lina aus verständlichen Gründen immer im Sortiment.

Am Abend hatte Hilde alles erledigt und genehmigte sich einen zweiten Schnaps. Arno assistierte. Anschließend schmuggelte er die Flasche in Wilfrieds Transporter, der auf dem Hof parkte. Sie waren bereit. Hilde wollte am nächsten Morgen gleich in der Frühe bei der Polizei anrufen – in der Hoffnung, dass es gute Neuigkeiten gab. Dann würden sie losfahren, erleichtert oder bedrückt.

Die Nacht war stürmisch und voller Träume – zumindest für Erwin.

1 Siehe Band II: Entenblues

Die Reise des vielgewanderten Mannes

Der Morgen des 30. Juni war ein blutiger. Erst als Erwin kurz nach neun im Transporter saß und Hilde so schwungvoll vom Hof bretterte, dass es die Enten fast durch den Wagen kegelte, war er in der Lage, über die neuesten Entwicklungen im Fall nachzudenken. Ihm war noch ganz flau.

Handelte es sich tatsächlich um einen Mord?

Genau genommen um einen Dreifachmord?

Was war los auf dieser Insel, die Lina immer als ein Paradies bezeichnet hatte? Trieb sich dort ein Wahnsinniger herum?

Schuld war der Pökenhagener Landbote. Erwin hatte bei Hilde gefrühstückt, wie besprochen. Die Zeitung hatte noch ungeöffnet auf dem Tisch gelegen, während Hilde erneut mit der Polizei in Strulow telefonierte – leider gab es keine Entwarnung. Arno las ja eher selten, also hatte Erwin nervös einen Blick in das Blatt geworfen. Ihn trieb die Hoffnung auf neue Erkenntnisse zum Fund der Toten – idealerweise mit Lösung des Falls und einem Namen, der dann nicht Lina Fiekens lautete. Das hätte ihn gefasst nach Oddinsee reisen lassen. Doch der Artikel, auf den er stieß, machte alles nur noch schlimmer.

Oddinsee stand unter Schock. Es hatte weitere Tote gegeben. Zwei Männer. Einer, so hieß es, sei ein pensionierter Grundschullehrer aus dem Ort Claustritz. Erwin suchte vergeblich nach dem Namen. Das andere Opfer war noch nicht identifiziert. Der Grundschullehrer war mit einem Pfeil erschossen worden, wie die noch Unbekannte einige Tage zuvor. Man hatte auch seine Leiche im ausgedehnten Vogelschutzgebiet der Insel gefunden. Hatte man bei der ermordeten älteren Frau zunächst an eine Touristin gedacht, so wurde nun von einer möglichen Beziehung zwischen den auf so bizarre Weise Umgekommenen spekuliert. Der Tote Nummer drei hingegen war weniger spektakulär gestorben. Es war nicht einmal klar, ob es sich um einen Mord handelte. Der Mann wurde mit zerschmetterten Knochen am Grund der nördlichen Kliffküste gefunden, nah der Vogelwarte. Dort ging es dreißig Meter steil abwärts. Da der Reporter des Landboten gern dramatisierte, präsentierte er eine Reihe von Indizien, die auch diesen Toten zum Opfer eines wahnsinnigen Inselmörders machten.

Zu Lina oder ihrer Schwester Theresa schwieg der Schreiber, obwohl sein Artikel die gesamte dritte Seite der Zeitung einnahm. Der sonst so betuliche Landbote hatte erkannt, dass die fernen Geschehnisse das Sommerloch füllten. Bei der nächsten Leiche war dann sicher die Titelseite fällig.

Eine Faust umklammerte Erwins Herz. Er saß im Transporter, auf dem Rücksitz, neben der strohgepolsterten Kiste mit den Enten, und schwieg vor sich hin. Hilde und Arno wussten nichts von dem Artikel. Vorn war man mit anderem beschäftigt.

»Das is die falsche Karte, Arno. Blätter mal zurück.«

»Falsch? Och …«

»Noch weiter. Links oder rechts jetz?«

»Äh … das’s … n… nee …«

»Zur Küste, Arno. Da vorn geht’s nur links oder rechts. Gib ma her!«

Hilde stoppte. Arno reichte ihr den Straßenatlas von 1987.

»Mönsch, da is Siggi. Kanns ja velleicht’n Siggi fragen. Siggi!!«

Arno brüllte, noch bevor er das Seitenfenster des Transporters herunterkurbelte. Siegfried Kinkelbur stand am Straßenrand der B 61c neben seinem Trecker und zerrte an der Anhängerkupplung herum.

»Mach das Fenster wieder zu!«, schimpfte Hilde. »Siggi weiß bloß, wo’s zu seiner Güllegrube oder zum nächsten Zapfhahn geht, aber nich zum Meer.«

»Meinze?«

»Mein ich.«

Hilde studierte die Karte. Blätterte. Hinter Dettbarn ging es auf die Autobahn. Ab da war es einfach. Sie drückte Arno das sortierte Kartenmaterial in die Hand, kuppelte, schaltete, gab Gas. Wagen und Insassen vollführten ruckende Bewegungen.

»Kuck ma ab und zu, wo wir sind. Wegen Rast. Die Bundesstraße is die gelbe. Autobahn is rot. Raststätten sind so rote Punkte. Für Pipi machen. Butterbrote hab ich. Gibste sonst nur Geld für aus.«

»Pipi? Kannze doch einfach an’n Baum, unn…?«

»Arno, ICH stelle mich nich an’n Baum!«

Arno wurde rot. Siegfried Kinkelbur sah sie, hob die Hand, winkte. Er wunderte sich. Und grinste. War das nicht Erwin, der Dorfdepp? Und sogar mit seinen Enten? Drei Stück mittlerweile?

»Mensch, Äwinn, fährsse Auto?!«

Nun kurbelte Hilde das Fenster runter, schob den Kopf raus:

»Urlaub, Siggi!«, rief sie. »Tapetnwechsel. Seeluft. Nich so’n Mief wie hier. Bleib sauber!«

Sie kurbelte das Fenster wieder hoch, grummelte »Blödmann«, betätigte vorschriftsgemäß, aber brutal, den Richtungsanzeiger, drehte am Lenkrad und trat mit dem Fuß aufs Gaspedal.

Der Transporter beschleunigte und stieß Schmerzlaute aus.

Versloh begann im Rückspiegel zu verschwinden. Wilfrieds nicht mehr ganz junges Fahrzeug zog eine kräftige Ölfahne hinter sich her. In den folgenden Stunden sorgte der schwarze Qualm dafür, dass Hilde die Überholspur der Autobahn blockieren konnte, ohne dass sich Nervensägen allzu nah an ihr Heck wagten.

Erwin sah sich nicht um. In all die Sorgen, die ihn quälten, mischte sich ein seltsames Gefühl. Er empfand es als gar nicht so außergewöhnlich, die Welt seiner Fußmärsche über Äcker und Felder hinter sich zu lassen. Er hatte sich Gedanken gemacht vor der Abreise. So viele Jahre war er in Trainingshosen, Gummistiefeln, fleckigem Parka und mit der alten Polizeimütze seines Vaters auf dem Kopf umhergestreift. Lothar hatte ihn begleitet. Lothar und später auch Lisbeth. Nie war er weiter gekommen als bis kurz hinter Pogge oder zum Bramschewald, dem Golfplatz, Pökenhagen. Nun fuhr er 500 Kilometer weit ans Meer, wo die Welt endete. Seine Ledertasche war voll mit Sachen, die er auf der Insel vielleicht benötigte. Oh ja. Er hatte lange vor dem alten Schrank auf dem Dachboden gestanden. Und dann hatte er sogar …

Lothar und Lisbeth meldeten sich, während Alfred döste.

Vorsichtig kraulte Erwin den beiden erwachsenen Enten den Rücken. Alfred wollte er nicht stören. Das weiche und zugleich harte Gefieder gab ihm Halt. Das Knistern unter seinen Fingern war etwas Vertrautes. Es sprach Grundsätzliches zwischen ihnen aus. Lothar und Lisbeth benahmen sich nie wie Haustiere, die Ergebenheit, Freude, Unterwürfigkeit vorgaukelten. Sie waren eigene kleine Welten, und sie gingen auf ihrer unendlichen Reise ein Stück des Weges mit ihm.

Das wusste Erwin sehr zu schätzen.

Dann dachte er an das Telefon, dieses Smartphone, das Hilde besorgt hatte. Sie waren etwa zwei Stunden unterwegs und befanden sich schon länger auf der Autobahn, als er das schwarze Ding aus seiner Hosentasche zog. Hilde hatte ihm gezeigt, wie es funktionierte. Drei Nummern hatte sie eingespeichert. Die von ihrem eigenen Apparat, die von der Polizei in Strulow und die vom Inselhof.

Hilde und Arno guckten nach vorn. Arno hatte den Kopf leicht zur Seite gelegt, gegen das Fenster, war dem Fahrtschlaf anheimgefallen. Hilde machte munter Strecke, sang leise vor sich hin. Erwin blickte auf das Display, drückte die Tasten in der gelernten Reihenfolge. Eine Nummer erschien. Ein Druck auf eine Taste mit grünem Symbol. Er schob sich das Phone heimlich ans Ohr, sodass Hilde es beim Blick in den Rückspiegel nicht sah.

Das Tuten zog sich hin. Niemand nahm ab. Ein Nebelhorn, dessen Signale ins Unbekannte gingen, in den Dunst, der Seeungeheuern Verstecke bot: Ungeheuern und Untiefen, zerklüfteten Felsen an gefährlichen Küsten. Erwin war allein an Bord. Das Schiff schlingerte.

Nein, Hilde schlingerte, weil sie von einem anderen Fahrzeug überrascht worden war:

»Idiot!«

Arno schreckte hoch, schlief aber sofort weiter. Lisbeth schnatterte.

»Gips doch nich! RECHTS ÜBERHOLN IS VERBOTN!!«

Hildes Blick in den Rückspiegel ging zur hinteren Sitzbank. In ihren Augen rollten dunkle Wolken. Dann erkannte sie, was Erwin tat, und lächelte.

»Ach, Äwinn«, sagte sie. »Hast bestimmt nich überall Empfang hier. Heißt gar nix, wenn da keiner rangeht, weißte? Vielleicht ham die Probleme mit’m Anschluss. So was kann dauern.«

»M-hm.«

Erwin wusste, dass Hilde ihn beruhigen wollte. Er schob das Phone zurück in die Hosentasche. Die Fahrt ging weiter. Endlos lang. Sie hielten nur ein einziges Mal. Hildes mitgeschleppte Vorräte reichten für weit mehr als 500 Kilometer, aber es gab an Bord keine Toiletten. Arno wollte angesichts einer leeren Wasserflasche einwerfen, dass er schon mal in so was … In Gegenwart Hildes ließ er aber davon ab. Man fand eine Raststätte mit WC – und Wäldchen.

Arno war Arno.

Und dann, am Nachmittag gegen 16 Uhr, erreichten sie Strulow, die Stadt am Meer.

Es ergriff Erwin, wie Wind in ein Segel griff: eine unerwartete Kraft und doch lautlos. Für Minuten verschwand seine Trauer. Da war nur noch Staunen. Es gab im Zentrum der Stadt einen kleinen Fischereihafen mit Fährbetrieb. Das Becken stach wie die breite, gekrümmte Klinge eines Dolchs zwischen zwei Molenköpfen hindurch ins Herz des Ortes, und Erwin sah die Schiffe. Sie lagen ringsum am Kai, Kutter und Segelboote, zwei Trawler, kleine Yachten. Bunt: blau, rot und grün. Am Rand des Hafenbeckens, an einer abgesenkten Rampe parallel zur Kaimauer, lag das größte Schiff: ein weißes, die Fähre nach Oddinsee. Erwin nahm die Eindrücke auf. Die Masten der Schiffe ragten in den Himmel. Auch die Fisch- und Krabbenkutter trugen Masten: ein sanft schwankender Wald entlaubter Bäume. Die Bewegungen erzählten Geschichten, flüsterten. Erwin verstand sie nicht, aber der unbekannte, feine Ton, den auch die Möwen nicht übertönen konnten, rührte ihn. Hilde parkte unweit der Fähre und machte sich daran, die Lage zu erkunden.

»Mal kuckn, wie teuer das wird mit Auto und so«, brummte sie, und zog los.

Arno, der dem Meer nicht traute, blieb sitzen. Erwin stieg aus.

Und atmete diese so ganz andere Luft.

Freiheit, dachte er, als er Hilde nachsah, die in einem Haus neben der Landungsbrücke verschwand. Ein altes Zollhaus mit dem Schalterraum der Strulower Dampfschiff-Reederei. Dort gab es Fahrkarten für die Überfahrt.

Erwin fühlte sich wie ein Mensch, dessen Füße erstmals Mondoberfläche betraten. Das Verlassen des Transporters war ein Riesenschritt gewesen. Das Meer lag jenseits der schmalen Hafeneinfahrt und glänzte im spätnachmittäglichen Sonnenschein. Es war noch kein richtiges Meer. Ein von Schiffen bebilderter Horizont fehlte. In sommerdunstiger Ferne sah Erwin Land. Das musste Oddinsee sein. Friedliches grün-weißes Land. Von weißem Licht entzündet. Und plötzlich hatte Erwin das Gefühl, dass Lina ihm ihre Liebe zu dieser Insel persönlich übermittelte. Hier und jetzt.

Lina.

Sie war ihm nah – und so fern. Der Gedanke an Lina ließ die Trauer zurückkehren. Wind und Sonne und die friedlich ruhende Insel konnten daran nichts ändern. Erwin fühlte nun umso stärker, dass er die Überfahrt wagen musste. Er musste dorthin, wo sich Linas Spur im Meersommer verlor.

Im Mordsommer …

Zu allem Unglück fiel sein Blick auch noch auf einen Zeitungskasten, angekettet an einen Laternenmast neben dem Parkplatz. Die Schlagzeile des Boulevardblattes aus einer weit entfernten Millionenstadt stimmte hier vorbeikommende Feriengäste auf Oddinsee ein:

ER BRACHTE DEN TOD – dazu passend, quer über die Titelseite gelegt, das Bild eines in der Forensik heimlich fotografierten Pfeils. Ein teils blutiger, weißbefiederter Schaft. Und eine blutige Spitze. Erwin fühlte Übelkeit aufsteigen und sah weg.

»So ne KACKE!«

Er zuckte zusammen. Hilde kam zurück. Mit rotem Gesicht.

»Auto geht nich!«, fluchte sie. »Muss hierbleiben. Die ham da keine Autos. Is nur ne Personenfähre. Mannmannmann. Flut gibt’s hier anne Ostsee ja nich so. Aber Vorsintflut.«

Für jemanden aus Bramschebeck war das eine gewagte Aussage.

Erwin erinnerte sich daran, wie Lina ihm erzählt hatte, auf Oddinsee sei Autofahren bis auf wenige Ausnahmen verboten. Es gab dort keine Asphaltstraßen, nur Fuß-, Rad- und Kutschwege. Er fand das nicht schlimm. Im Gegenteil. Die Insel war ideal für Wanderschuhe und Gummistiefel. Hilde aber dachte an das Gepäck. Der Transporter war so was wie ihr Planwagen. Ein Planwagen für Pioniere, die in den Wilden Norden zogen.

»Arno?«, rief sie. »Komm ma raus! Seeluft beißt nich!«

Arno stieg aus, skeptisch. Seine Nase vermisste was. Stallwürze. Die fehlte in dieser Luft. Hilde stemmte die Arme in die Hüften, überlegte. Dann öffnete sie die hinteren Türen des Transporters.

»Na gut. Müssen wir den Kram eben tragen. Arno, den großen Koffer. Und den hier auch noch. Kannste ziehn. Äwinn, du hast ja nur ne Tasche. Die Wurst pack ich noch ein. Wär doch schade …

»Und die Entn? Lothar, Lisbeth, Alfred?«

Die Enten guckten Erwin aus der Transportkiste heraus an, die Augen voller Neugier. Anders als Arno erregte sie der Duft des Wassers. Erst jetzt erkannte Erwin, wie kühn und leichtsinnig er gewesen war. Enten und das Meer, das barg Risiken. In Bramschebeck bot Auslauf kaum Gefahren. Selbst Hofhunde waren berechenbar. Hier aber verführte das Meer womöglich zu tollkühnem Verhalten. Noch saßen die drei friedlich in der Kiste. Doch allein der Blick Alfreds verhieß Abenteuer und Seenot. Alfred war ein Draufgänger. Zurücklassen konnte Erwin die drei aber auf gar keinen Fall. Er …

»Mist! Hast recht«, sinnierte Hilde. »Das war aber auch ne Idee. Gibt’s hier keine Tierpängsion …?«

Erwin wollte von so was nichts wissen. Arno stand ihm bei.

»Könnt Alfred noch untern Arm nehm’n!«, meinte er.

»Nix da!«, brummte Hilde, während sie sich die fragile Ente unter einer biotopisch gesehen sehr lebendigen Achsel vorstellte. Arno spitzte den Mund, erwiderte aber nichts.

In Erwins Kopf ratterte es. Eine Tierpension kam ganz und gar nicht in Frage. Die Enten mussten mit. Aber wie?

Sein Blick fiel auf eines der bunten Häuser, die die schmale Hafenstraße säumten. Ein bestimmtes Haus, mit einem Laden im Erdgeschoss. Läden gab es hier viele. Über den Schaufenstern hingen Schilder an schmiedeeisernen Halterungen.

Plötzlich hatte er eine Idee.

Eine knappe Viertelstunde später steckten die drei Enten in weichen, ledernen Rucksäcken, kleinen Seesäcken, die man oben nach der Art eines Beutels zuschnüren konnte.

»Nee, nä?«, sagte Arno. Hilde hätte es nicht besser formulieren können.

»Doch!«, sagte Erwin, ungewohnt resolut.

Es war ihm tatsächlich gelungen, Lothar, Lisbeth und Alfred mit gutem Zureden, sehr viel Geduld und einigen Leckerlis in die schmucken Beutel zu setzen. Jetzt guckten die Köpfe heraus.

Leuchttürme, was sonst. Zwei weiße, ein schwarzer.

Und dann nahmen Hilde, Arno und Erwin jeweils eines der Tiere auf den Rücken. Dabei ging sogar Arno behutsam vor: Erwin trug Lothar. Hilde trug Lisbeth. Und Arno trug Alfred.

Menschen, die am Hafen flanierten oder unterwegs waren zur Fähre, tuschelten, zeigten auf die drei. Kommentare unterblieben, weil Hilde deutlich machte, dass ihre Kritikfähigkeit momentan nicht sehr ausgeprägt war.

Sie schifften sich ein. Wobei es eine Diskussion mit einem Seemann gab, der die an Bord gehenden Fußgänger an der Bugrampe kontrollierte.

»Was seid ihr denn für welche?«, brummelte er – die Fahrkarten, die Hilde ihm gereicht hatte, zerreißend. Der Mann trug Bart, hatte ungewöhnlich dicke Finger, und seinen Kopf zierte eine speckige Strickmütze in ehemaligem Blauweiß.

Sein Zeigefinger näherte sich einem Ziel:

»Ick glöv dat nich. Issas ne Ente da auf dein’n Rückn?«

Die Frage ging an Hilde. Die zog dem Trupp voran.

»Nee«, sagte Hilde. »N’ Saurier.«

Da Hilde eine Frau war, verzichtete der Seemann auf den Standardsatz: »Nu werd mal nich frech!«, sondern hob mahnend den Zeigefinger und wies, angesichts zweier weiterer Entenrucksäcke, auf die Tiere:

»Deck-Schieter sinn dat. Dat geit nich.«

Hilde nickte. Dann zeigte sie hoch, zum Radarmast der Fähre:

»Und die da?«

Sitzende Möwen. Die taten, was sitzende Möwen so tun.

Der Seemann räusperte sich, wusste nicht, wie er auf Hildes Frechheit reagieren sollte. Die Enten überforderten ihn, weil er die Beförderungsbedingungen der Reederei entgegen seinen Anweisungen nicht kannte.

Zum Glück kam Hilfe – allerdings nicht für ihn:

»Hinnerk, wass lous?!«