Entfernte Verwandte - Veit Heinichen - E-Book
SONDERANGEBOT

Entfernte Verwandte E-Book

Veit Heinichen

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Commissario Laurenti wird in das Dorf Prosecco gerufen. Vor dem Partisanen-Mahnmal auf dem Karst, wo der Opfer der Nazi-Besatzung und des Faschismus gedacht wird, liegt ein Toter. Es gibt Hinweise auf eine Mordserie. Und Laurenti ahnt, dass jemand gekommen ist, um über die Geschichte zu richten. Ausgerechnet in einer Zeit, da der Populismus im Aufwind ist. Die Ermittlungen führen zu den ältesten Bürgern Triests. Vielleicht können ihre Erinnerungen helfen, eine weitere Tat zu verhindern. Doch in der Hafenstadt pflegt jeder seine eigene Wahrheit, und das nächste Opfer ist irgendwo da draußen. »Laurenti gehört zur Riege der großen Kommissare.« DER SPIEGEL

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:www.piper.de/literatur

Dies ist ein Roman. Die historischen Figuren sind nicht zu leugnen. Alle anderen entsprechen keinen realen Personen, Ähnlichkeiten sind unbeabsichtigt und rein zufällig. Sie sind literarische Erfindungen und folgen den exemplarisch verwendeten historischen Fakten, ihr Handeln aber dem Erzählfluss des Romans.

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Covergestaltung: zero-media.net, München

Coverabbildung: Zarko Prusac / Alamy Stock Photo

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Cover & Impressum

Zitat

Präludium

Ein Samstag im Februar

Chambéry. Savoyen, Frankreich

Am Mahnmal von Prosecco

Via Crucis

Massaker

Vergeben und vergessen

Vom Krieg

Montagswirren

Kleines Geständnis

Von der Rückkehr

Sammler und Jäger

Gedächtnisfallen

Schweres Erbe

Planabweichung

Bis ins Detail

So ist die Welt

Am Ende der Liste

Die Jagd beginnt

Keine letzten Worte

Finale

Anmerkungen

Unschuld ist eine Form von Geisteskrankheit.[1]

Graham Greene, Der stille Amerikaner

Präludium

Die Gemeinde Beausoleil trug ihren Namen in diesen Tagen zu Recht. Die Schatten der Häuser wurden Anfang Juni schon früh kürzer, gegen Mittag würde flimmernde Hitze die Straßenzüge beherrschen. Wie jeden Morgen verließ Jacques Minuzzi um acht Uhr seine Wohnung im obersten Stock eines Gebäudes aus der Belle Époque am Boulevard de la République. Er wartete noch, bis die schwere Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen war. In Fußnähe lagen Rathaus, Post und eine Dienststelle der Police Nationale, wo er die Escalier du Riviera hinunterging und sich wenig später im Fürstentum Monaco befand. Dort lag sein Büro am Boulevard des Moulins in direkter Nachbarschaft zu einer Schweizer Privatbank. Wie an jedem anderen Tag der Woche trug er ein weißes Hemd und Krawatte unter dem maßgeschneiderten Dreiteiler, dessen Jackett er nicht einmal auf dem Rückweg am Nachmittag ablegen würde, wenn er trotz der Rolltreppen, die ihn wieder hinaufbrachten, ins Schwitzen kam. Der Weg war nicht lang und tat ihm gut. Und zu dieser Stunde waren noch nicht viele Leute unterwegs. Der Verkehr erwachte erst, Geschäfte und Büros gingen den Tag ohne Hast an. Es war fast alles so wie immer.

Jacques Minuzzi kannte keine materiellen Sorgen, er arbeitete nur noch aus Gewohnheit und Leidenschaft, in zwei Wochen würde er fünfundsiebzig Jahre alt. Vermögen hatte er genug angehäuft, so viel, dass selbst seine fünf Enkelkinder noch gut versorgt sein würden. Doch seine Kompetenzen im europäischen Steuerrecht, als Vermögensberater sowie seine internationalen Verbindungen waren heute gefragter denn je. Die Wohnung in Beausoleil lief auf den Namen seiner zweitjüngsten Enkeltochter. Offiziell war auch Minuzzi Bürger des Fürstentums. Er war dort geboren worden und längst nicht der Einzige, der sich dieses Tricks bediente. Sein persönliches Einkommen blieb steuerfrei, während er, wie schon sein Vater, seit langen Jahren in Immobilien auf französischem Boden investierte. Eigentlich war sein Leben perfekt verlaufen. Nur seiner Frau Roberta war die Eintönigkeit des mondänen Lebens bereits vor über zehn Jahren zu eng geworden. Das Weingut im nahen Piemont hatte ein Vermögen gekostet, auch die Sammlung moderner Kunst und ihre in großer Regelmäßigkeit veranstalteten Empfänge verlangten häufige Zuschüsse zu ihrem Budget. Nach Beausoleil kam sie höchstens für Familienfeste oder, der Etikette wegen, zu exklusiven Anlässen wie dem Festival International du Cirque de Monte-Carlo, dem Grand Prix de Monaco oder der Saisoneröffnung im berühmten Opernhaus der Grimaldis im Grand Théâtre.

Minuzzi hätte nur am Telefon mit ihr über die andeutungsreichen Briefe zur fragwürdigen Vergangenheit seines Vaters sprechen können, die er seit etwa zwei Monaten ausgerechnet an die Adresse in Beausoleil erhielt und nicht in sein Büro. Der unbekannte Absender wusste offensichtlich über Jacques’ Leben Bescheid. Minuzzi war beunruhigt, aber nicht besorgt. Steuerrechtlich konnte ihm niemand Probleme bereiten, und sein Vater Arnaldo selig hatte nie über jene Zeit im Nordosten Italiens gesprochen, woher er stammte. Verwandte ersten oder zweiten Grades, die er zu den Anwürfen hätte befragen können, hatte Jacques dort nicht. Andere Personen zu fragen, verbat sich von selbst, jeglicher Tratsch über seine Person wäre schädlich. Schon die ersten beiden Briefe waren auf Italienisch verfasst worden. Er hatte sie schließlich ratlos im Kamin verbrannt. Den dritten hingegen, der erst gestern eingetroffen war, würde er dieser Tage vielleicht doch einem der Privatermittler zeigen, die er im Auftrag seiner Kunden bei strittigen Forderungen durch Vermögensteilungen, Scheidungen und Ähnlichem einsetzte. Doch auch das war ein zweischneidiges Schwert, und im Zweifel konnte jeder Mitwisser seiner Reputation schaden. Auch wenn Jacques Minuzzi frei von persönlicher Schuld war, könnte die düstere Vergangenheit seines Vaters seinen eigenen makellosen Ruf belasten. Vorausgesetzt natürlich, die Vorwürfe wären auch nur halbwegs glaubhaft.

Am Boulevard de France überschritt Minuzzi die unsichtbare Staatsgrenze und nahm die letzte Treppe hinunter. Vor dem Maison du Caviar wurde gerade der Gehweg erneuert. Wie jeden Morgen richtete der Kellner die Tische unter den Sonnenschirmen und kehrte den Staub der Baustelle zur Seite. »Bonjour, Monsieur Jacques«, grüßte er den gelegentlichen Gast. »Auch heute wartet ein schöner Tag auf uns.«

»Eine Spur zu warm vielleicht, mon cher Émile«, lächelte der Mann im Dreiteiler im Vorübergehen und bog am noch provisorisch errichteten Kreisverkehr in den Boulevard des Moulins ein, der ihn ohne weitere Anstrengungen bis zu seinem Büro führte. Eine kleine Grünfläche mit vier hohen Palmen über dichter mannshoher Bepflanzung lag auf der Straßenseite gegenüber.

Als er den Eingang der Apotheke passierte, fasste Jacques Minuzzi sich ruckartig an die Brust und brach mit aufgerissenem Mund und weit geöffneten Augen auf dem Gehweg zusammen. Innerhalb weniger Augenblicke verfärbten sich seine Weste und das Jackett durch einen sich rasch vergrößernden dunklen Fleck. Ein weißer Fiat Panda stoppte vor dem Palmengärtchen, ein Mann mit Sonnenbrille sowie einer tief ins Gesicht gezogenen gelben Ballonmütze trat hinter den Bäumen hervor und setzte sich auf den Rücksitz. Der Wagen verschwand so schnell, wie er gekommen war, in der nächsten Seitenstraße.

Die Untersuchungen am Tatort dauerten nicht lang. Das Fürstentum sollte von negativen Schlagzeilen beschützt werden, so gut es ging. Vor einiger Zeit hatten die Vorwürfe in der Monaco Tribune und dem Nice-Matin gegen den bisherigen Direktor der Police judicaire monégasque und seine Verstrickungen mit einem russischen Milliardär für Aufsehen gesorgt. Ein Nachfolger war noch nicht bestellt. Die Sicherheitsbehörden waren bemüht, sich von weiteren Skandalen fernzuhalten. Sie sperrten den Gehweg um das Opfer, das den Ermittlern mindestens vom Sehen bekannt war, nur kurz und nicht einmal weiträumig ab und errichteten einen hohen, undurchdringlichen Sichtschutz. Die Kriminaltechniker aus Nizza waren schon bald vor Ort und nahmen Spuren und Daten auf. Normalerweise hing in Monaco an jeder Ecke eine Überwachungskamera. Wegen der Baustelle aber fehlten sie derzeit ausgerechnet an dieser Kreuzung. Kaum hatte der Gerichtsmediziner die Leiche begutachtet, wurde sie bereits abtransportiert. Da der Todeszeitpunkt bekannt war, würde er sie erst in seinem Labor in Nizza eingehend untersuchen. Lediglich die Brieftasche sowie ein blutdurchtränktes Schriftstück hatte er in transparente Beutel gesteckt und den Ermittlern übergeben. Trotz des Blutes konnten die Beamten die Seiten noch entziffern und ablichten, bevor es sich mit der Gerinnung dunkler verfärbte. Es schien sich dabei um Fotokopien zu handeln. Manche Wörter waren mehrfach dick und fast bis zur Unlesbarkeit durchgestrichen. Commissaire Bénédict, der interimistische Amtsinhaber, beugte sich tief darüber. Er sollte vielleicht doch endlich eine Lesebrille akzeptieren.

Wir wissen so viel und doch nichts, Nora. Weil niemand sich die Mühe macht, die unzähligen Informationen zusammenzutragen. Auch deshalb sind zu viele ungestraft davongekommen. Obgleich es an Zeugnissen nicht fehlt. Bepe, mein Cousin, hat mir ausführlich von den Massakern berichtet. Lange bevor er nach Triest zurückkam, war er von der Partei im Widerstand im östlichen Friaul eingesetzt gewesen. Dort war es Partisanenverbänden 1944 gelungen, die Nazis zurückzuschlagen. Der Widerstand war groß und gut organisiert. Die Vergeltungsakte der Deutschen waren es auch. Ich glaube, die meisten Familien haben Angehörige verloren, die völlig unschuldig waren und nur ermordet wurden, um Terror zu säen. Die Deutschen hatten gehofft, dadurch den Widerstand zu schwächen. Das Gegenteil geschah. Nur will niemand mehr etwas davon wissen. Auch deshalb schreibe ich diesen Bericht. Ich habe viel zu lange gewartet. Als ich jünger war und glaubte, dass mein Leben noch eine Perspektive hat, fiel es mir noch schwerer, darüber zu sprechen. Bepe hat so viel gewusst. Ich habe mitgeschrieben und es später aus dem Gedächtnis ergänzt.

Stell dir vor, selbst mehr als fünfzig Jahre später stritten die Menschen noch über die Ursachen der deutschen Untaten. Einige gaben den Partisanen die Schuld, behaupteten, ohne Widerstand hätten die Massaker vermieden werden können. Als wollten sie die Täter entschuldigen, die ihre Opfer wahllos aus der Bevölkerung herausgegriffen hatten. Männer und Frauen, Alte und Kinder. Viele wollten nicht begreifen, was Schuld bedeutet. Und ich sage dir, Nora, solchen Menschen kann man niemals trauen. Das habe ich schmerzvoll lernen müssen.

Für einige Wochen konnte die Widerstandsbewegung die Deutschen vertreiben und die Freie Zone Ostfriaul ausrufen. Das war nach der Schlacht am Monte Plaiul oberhalb von Torlano, einem Dorf bei Nimis. Die Partisaneneinheiten hatten die Kosakentruppen zurückzuschlagen, die sich schließlich zum Sitz des deutschen Kommandos zurückzogen. Die Leute ahnten, dass das nicht ohne Folgen blieb. Aus Angst vor der Rache der Nazis flohen die meisten aus Torlano. Nur wenige blieben. Sie glaubten, die Deutschen von ihrer Unschuld überzeugen zu können. An ihren Haustüren hängten sie Zettel mit Namen und Alter der Familienmitglieder auf, um zu zeigen, dass sie selbst keine Partisanen waren. Es waren vor allem Familien mit vielen Kindern und Angst vor einer anstrengenden Flucht mit ungewissem Ausgang. Aber im Krieg kann man nicht auf Menschlichkeit hoffen.

Ende August 1944 besetzte eine Einheit der Kosaken Torlano. Zusammen mit der 24. Waffen-Gebirgs-Division des SS-Karstwehr-Bataillons. Bepe sagte, das Kommando unterstand dem SS-Offizier Fritz Wunderle. Angeführt wurde es von maskierten Faschisten der Milizia Difesa Territoriale. Italiener. Mit Masken! Als wäre ihnen bereits klar gewesen, dass sie eines Tages hierbleiben und zur Verantwortung gezogen würden, während die Deutschen und Kosaken abziehen und in Deutschland ungeschoren davonkommen würden. Die Maskierten durchkämmten die Dörfer, zogen die Menschen aus ihren Häusern und trieben sie in die Osteria. Später holten sie die Armen einzeln heraus und töteten einen nach dem anderen mit Pistolenschüssen. Dann ging der deutsche Offizier in die Osteria, wo er den Wirt, dessen Frau, die Tochter, ihren Mann sowie drei andere Angehörige ermordete. Nur ein Sohn überlebte. Er hatte sich im Kamin versteckt. Bepe, mein Cousin, kannte ihn und hat später von ihm alles erfahren. Ein Jahr später beging der junge Mann Selbstmord. Ein Pistolenschuss, angesetzt unterm Kinn. Genauso wie die Deutschen seine Familie umgebracht hatten. Er hatte den Anblick nicht ertragen können.

Nach dem Massaker vor der Osteria traf es diejenigen, die sich im Stall versteckt hatten. Die Männer wurden herausgetrieben und der Reihe nach erschossen. Die Frauen und Kinder noch in den Ställen ermordet, ihre Leichen wurden aufgeschichtet, mit Benzin übergossen und dem Feuer übergeben.

Tags darauf kamen die Menschen aus der Umgebung zusammen, um ihre Landsleute zu begraben. Doch die Deutschen und die Kosaken verhinderten es. Erst nachdem sie das Dorf geplündert hatten und abgezogen waren, konnten die Toten beigesetzt werden.

Die italienischen Faschisten wurden nach dem Krieg wegen Kollaboration verurteilt. Wenig später aber trat die erste Amnestie in Kraft, und sie waren wieder frei. Bis auf einen. Arnaldo Minuzzi, der sich schon vorher abgesetzt hatte. Bepe behauptete, er sei nach Monte Carlo gegangen, wohin er gute Verbindungen hatte. Ich weiß es nicht…

Ein Samstag im Februar

»Sie ist verschwunden! Spurlos verschwunden. Ohne Hausschlüssel, ohne Handtasche und Mantel. Einfach weg. Und Barbara ist auch nicht da. Unten am Meer hab ich nichts gefunden. Oh, mein Gott, sie wird doch nicht ins Wasser gegangen sein. Und die Kleine? Wo ist sie nur?« Ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung.

»Sie hat das Meer doch immer gehasst, Laura.« Proteo Laurenti traute seinen Ohren nicht. »Wann hast du sie zuletzt gesehen?« Sein Blick fiel aus dem Fenster auf die Überreste des römischen Theaters gegenüber der Questura. Selbst in den größten Familienkrisen hatte seine Frau stets die Nerven behalten.

»Ich war keine Stunde aus dem Haus. Sie war mit Barbara allein. Ich bin nur kurz zum Flughafen gefahren, um Livia abzuholen.« Laura konnte sich nicht beruhigen.

»Livia ist da? Davon hast du mir gar nichts erzählt.« Laurenti winkte Marietta in sein Büro, seine langjährige Assistentin, und schaltete den Lautsprecher des Telefons ein. Er flüsterte ihr zu, dass es um seine Schwiegermutter Camilla und die Enkelin ging.

»Du musst sie finden, Proteo. Schick deine Leute los. Ich flehe dich an.«

»Ist ja gut, Laura, sie wird nur einen Spaziergang machen. Mach dir keine Sorgen.«

»Allein? Das hat sie seit Jahren nicht getan. Ich bin die Straße mehrfach abgefahren. In beide Richtungen. Nichts.«

»Wie war sie gekleidet?«

»Dunkler Rock, beigefarbener Pullover, Pantoffeln. Ihre anderen Schuhe stehen alle noch hier.«

Marietta verdrehte die Augen und schrieb mit. Auch sie wusste, dass Laura normalerweise nicht so leicht aus der Fassung zu bringen war.

»Und die Kleine? Hat sie wenigstens eine Jacke an? Es ist Februar«, fragte Laurenti weiter.

»Mach mir jetzt bitte keine Vorwürfe.«

»Was hat Barbara an? Und wo ist Patrizia? Immerhin geht es um ihre Tochter.«

»Patrizia ist bei einem Bewerbungsgespräch. Roter Pullover, gelbe Hose, rosa Socken. Sie trug ein Lätzchen, als ich aus dem Haus ging.«

»Und Schuhe, Laura? Die Kleine wird doch Schuhe tragen. Sie ist viel zu schwer für Camilla.«

»Ich weiß es nicht. Und wenn sie entführt worden sind, Proteo? Wegen dir.«

»Wegen mir, Laura? Du spinnst.«

»Und wenn dich jemand erpressen will, sich an dir rächen?«

»Ausgeschlossen. Mit der Schwiegermutter kann man niemanden erpressen. Du sagtest, du hättest die Küstenstraße bereits abgesucht?«

»Ja, mehrfach. Bis zum Bahnhof sind es über zwölf Kilometer. Wäre sie dort, hätte ich sie finden müssen. Livia hat den Garten und die Terrassen bis zum Meer hinunter abgesucht.«

»Und wenn sie eine der Treppen zwischen den Weingärten genommen hat, auf den Karst hinauf nach Santa Croce?«

»Weshalb? Was soll sie denn dort? Außerdem sind das über tausend Stufen. Das schafft weder sie noch Barbara. Ich fahr jetzt noch mal los.«

»Nein, Laura, das erledigen unsere Leute. Bleib du für alle Fälle zu Hause. Sag Livia, sie möge die Treppe nach Santa Croce hochgehen. Nur zur Sicherheit. Und setz dich mit Marietta in Verbindung, wenn du mehr weißt. Ich muss in eine Sitzung. Sie wird mich auf dem Laufenden halten.«

»Kannst du nicht einmal in so einer Situation absagen, Proteo?«, rief Laura entgeistert.

»Keine Sorge, der Apparat läuft schon. Wir werden die beiden finden. Beruhige dich. Schick Patrizia eine Nachricht, dass sie umgehend nach Hause kommen soll und nicht beim Aperitif versumpft.« Laurenti legte mit einem Seufzer auf.

»Der Streifendienst ist informiert«, sagte Marietta. »Gib mir noch rasch die Personendaten, damit ich sie nachschieben kann. Wann ist deine Schwiegermutter geboren?«

»Camilla Tauris, geboren in San Daniele del Friuli. Sie wird dieses Jahr fünfundachtzig oder sechsundachtzig oder…«

»Präziser geht’s wohl nicht.«

»Schau im Computer nach.«

»Wie lange lebt sie schon bei euch?«

»Seit ein paar Jahren.« Laurenti zuckte die Achseln.

»Was bin ich froh, dass meine Sippschaft weit genug weg wohnt.« Mariettas Familie stammte zwar aus Triest, doch wegen der Arbeit ihres Vaters bei einem großen Finanzinstitut waren ihre Eltern nach Mailand gezogen, als Marietta bereits zur Schule ging. Sie hatten ihr einziges Kind in der Obhut der damals schon betagten Tante gelassen. Den festen Vorsatz, bald wieder nach Triest zurückzukehren, hatten sie nach geraumer Zeit aufgegeben, ihrer Tochter überließen sie die alte Wohnung in der Via Bellosguardo. »Ist Camilla schon häufiger ausgebüxt?«, hakte Marietta nun nach.

»Vergehen? Kann mir vielleicht mal jemand erklären, wie etwas vergehen soll, das bereits Vergangenheit ist?«, protestierte mit ihrer rauchigen Stimme die fünfundneunzigjährige Ada Cavallin, die – gemessen an ihrem Alter – von beeindruckender Vitalität war. Sie schüttelte heftig den Kopf, auf dem ein schwarzes Barett samt rotem Stern saß, wie es einst Che Guevara getragen hatte. Nicht wenige behaupteten im Spaß, sie setze die Kopfbedeckung nicht einmal im Bett ab. »Das kann höchstens vergessen oder verfälscht werden. Wer davon faselt, dass wir eine gemeinsame Vergangenheit wiederherstellen müssten, um ein geeintes Volk zu werden, hat keine Ahnung. Und dann fordert einer dieser Stadtsheriffs auch noch im Internet, die Partisanenvereinigung müsste in Säure aufgelöst werden, weil sie der Zukunft im Weg stünde. Ihr werdet schon sehen, dass er damit ungeschoren davonkommt. Alles Revanchisten.«

Der nachmittägliche Schreck über das spurlose Verschwinden von Camilla und Barbara hatte sich schon nach drei Stunden gelegt, als Ada Cavallin die beiden mit dem Auto vorbeibrachte. Die in ihrem Alter vorgeschriebene Fahreignungsprüfung bestand Ada alle zwei Jahre spielend. Sie besuchte die Laurentis an der Küstenstraße regelmäßig mit ihrem knallroten alten Maserati Biturbo. Und wie immer war sie nach dem Aperitif auch ein paar Gläsern Wein zum Essen nicht abgeneigt.

Mariettas Abfrage hatte rasch ergeben, dass Camilla und Barbara von dem großherzigen Fahrer eines Überlandbusses auch ohne Tickets bis zur Endhaltestelle am Hauptbahnhof mitgenommen worden waren. Dort hatte sich ihre Spur verloren, und Marietta terrorisierte die Kollegen an den Überwachungskameras. Von der Piazza della Libertà waren sie bergauf in einer Nebenstraße verschwunden. Wenigstens trug die kleine Barbara ihre Schühchen, ihre Urgroßmutter hingegen hatte lediglich eine leichte Strickjacke übergeworfen. Im Februar. Wie Camilla Tauris schließlich zur majestätischen Villa von Ada Cavallin fand, blieb ihr Geheimnis. Genauso wie die Antwort auf die Frage, weshalb sie sich keine Lungenentzündung geholt hatte und nun fröhlich und frei von jeglichem Schuldbewusstsein mit der gesamten Familie am Tisch saß. Sie sagte nur, sie hätte eben einen Ausflug zu einer alten Freundin gemacht, die Via Virgilio sei sie ja schon oft hinaufgegangen. Camilla verstand weder Lauras Vorwürfe noch Livias feinfühlige Fragen und erst recht nicht die wütenden Kommentare von Patrizia, die ihr ihre Tochter anvertraut hatte.

Commissario Proteo Laurenti war an diesem Samstag später als geplant von der Arbeit nach Hause gekommen. Beim Aperitif berichtete er davon, dass Feiglinge einer rechtsextremistischen Gruppe im Schutz der vergangenen Nacht im Vorort Opicina, oben auf dem Karst, gehässige Pamphlete plakatiert hatten, auf denen sie fünf Widerstandskämpfer als Terroristen verunglimpften – auf diese Weise hatte schon 1941 das faschistische Sondergericht die Todesurteile gegen die Männer begründet.

Der Präfekt hatte eine Sondersitzung der Sicherheitskräfte und des Inlandsgeheimdienstes anberaumt, in der die bekannten Fakten zu den rechtsextremen Übergriffen der letzten Monate zusammengetragen wurden. Auch die Äußerungen eines dem Vizebürgermeister unterstehenden Stadtsheriffs über die Partisanenvereinigung gehörten dazu. Offensichtlich fühlten sich einige Opportunisten durch die Statements des letzten Innenministers ermutigt, andere zu beschimpfen oder gar tätlich zu werden. Der durch maßlose Machtgier selbst verschuldete Rücktritt des Mannes war ihnen vermutlich entgangen. Oder sie hofften auf seine baldige Rückkehr an die Macht. Seine politischen Gegner fanden hingegen kein Ende, über seine Ausfälle herzuziehen und ihm damit die gewünschte Aufmerksamkeit zu gewähren. Andererseits fiel es wirklich nicht leicht, darüber zu schweigen.

»Ich habe die Zeit damals selbst erlebt. Die Menschen ertragen ihre Freiheit einfach nicht«, ereiferte sich die alte Ada und fingerte eine ihrer Ultra-Slim Zigaretten aus der Packung. »Das Regime unterdrückte alle, und überall wimmelte es von Denunzianten und Kollaborateuren. Und dann begründet dieser Schnösel von Minister seine Abwesenheit bei den Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag der Befreiung eiskalt damit, dass er nicht dafür bezahlt würde, sich an die Vergangenheit zu erinnern, sondern um das Land von Kriminellen zu befreien. Das stachelt doch nur zu Übergriffen an. Diese Idioten sind gefährlicher als jeder Verbrecher.« Sie steckte die Zigarette an und erntete sogleich eine Ermahnung.

»Nicht rauchen, solange Barbara mit am Tisch ist«, kreischte Livia entsetzt.

»Unsinn, ich bin fünfundneunzig geworden und rauche, seit ich denken kann, das schadet auch der Kleinen nicht.«

Patrizia schnappte sich ihre Tochter und ging mit ihr in die Küche.

»Ada«, ermahnte Laurenti. »Wir alle halten uns daran, nicht im Haus zu rauchen. Also, bitte.«

»Ist ja gut«, gab Ada Cavallin nach und drückte nach einem letzten Zug die Zigarette auf einem Tellerchen aus. »Und seine Verkleidungskünste erst!«, nahm sie den Faden wieder auf. »Sag mal, Commissario, hat es euch Bullen nie gekränkt, dass dieser aufgeblasene Kerl sich mit Polizeijacke über der geschwellten Brust in den Medien zeigte? Nur das Ornat des Papstes hat er nicht beschmutzt, dafür küsst er aber unablässig den Rosenkranz. Selbst als Carabiniere trat er auf und als Feuerwehrmann oder als Beamter vom Zivilschutz. Sogar als Finanzpolizist, obwohl seine Partei dafür verurteilt wurde, dass sie dem Steuerzahler Zigmillionen unterschlagen hat. Und will er eines Tages vielleicht mal seriös wirken, dann wird er vermutlich eine Brille aufsetzen, selbst wenn er keine braucht. Ein Travestiekünstler. Er könnte es mit Madonna und Lady Gaga zusammen aufnehmen. Mich wundert nicht, dass sein Verhalten von den Leuten als Freibrief angesehen wird, ihren Frust an anderen auszulassen.«

»Woher weißt du überhaupt, wer Lady Gaga ist?«, fragte Laura und strich sich eine Strähne ihres dicken blonden Haares hinters Ohr.

»Aus dem Internet. Nur weil ich alt bin, bin ich noch lange nicht von gestern«, lächelte Ada.

»Schluss jetzt mit der Politik«, mahnte Laura. »Was glaubt ihr wohl, weshalb wir uns heute hier zusammengefunden haben?« Weder ihrem Mann noch ihrer Tochter Patrizia oder ihrem Sohn Marco, dem jüngsten der drei Kinder, hatte sie bisher den Grund verraten, warum sie an diesem Abend die ganze Familie zu einem gemeinsamen Abendessen einbestellt hatte und Livia extra aus Frankfurt eingeflogen war.

»Wollt ihr euch etwa scheiden lassen?«, raunte ihr Sohn Marco.

»Ruhe.« Laura nahm Livia in den Arm, ihre älteste Tochter. »Es gibt eine große Überraschung. Livia will euch etwas sagen. Es wird ein großes Fest geben.«

»Dirk und ich haben beschlossen, nachdem wir jetzt schon drei Jahre zusammen sind …« Livia war eigentlich nie um Worte verlegen gewesen. Nicht einmal, als ihr Vater tobte wie wild, weil er erst aus der Zeitung von der Teilnahme seiner damals gerade einmal achtzehnjährigen Tochter an der Wahl zur Miss Triest erfahren hatte. »Nun gut, also einmal muss es ja raus. Dirk und ich werden …«

»Wer heiratet denn heute noch?«, prustete Marco dazwischen. Er handelte sich einen strafenden Blick seiner Mutter ein, doch er ließ sich nicht beirren.

»Und zwar im Mai. Du Spielverderber«, rief Livia pikiert.

»Ich sehe jetzt schon die Hörner, die du ihm aufsetzen wirst.«

Laurenti nahm einen großen Schluck Wein, ging in die Küche und kam mit einer Flasche Spumante vom Karst zurück. »Auf euer Wohl, Livia. Das ist wirklich eine Überraschung.«

Laura wich seinem Blick aus. Natürlich wusste sie längst von den Plänen ihrer Ältesten.

»So lange im Voraus plant ihr das? Es ist grade mal Februar.« Marco schüttelte ungläubig den Kopf. »Und danach spielst du dann die Sekretärin für deinen Mann? Oder willst du zu Hause bleiben und warten, bis der Herr Rechtsanwalt abends heimkommt und vor dem Fernseher einschläft?«

»Quatsch, Sekretärin bin ich doch nur geworden, weil ich in Italien trotz meiner Zeugnisse höchstens einen Aushilfsjob gefunden hätte. Sobald wir verheiratet sind, kann ich endlich als freie Übersetzerin arbeiten, wie ich das schon immer wollte.«

Seit drei Jahren war Livia mit Dirk Schöneberger zusammen, einem jungen Wirtschaftsanwalt aus Frankfurt, der dort in einer internationalen Großkanzlei angestellt war und sich in den kommenden Jahren würde Schritt für Schritt nach oben arbeiten müssen.

»Also, dein Papà und ich freuen uns wahnsinnig«, schritt Laura ein und antwortete für Proteo gleich mit. »Das wird eine Riesenhochzeit mit Gästen aus aller Welt. Wir haben viel zu besprechen, aber bis Mai ist Gott sei Dank noch genügend Zeit. Und du könntest endlich das Abendessen zubereiten, Marco. Ich sterbe vor Hunger.«

»Ach, das wird nicht lange dauern. Den Tisch deckt aber ihr. Ich bin schließlich nicht auch noch euer Kellner.« Marco verzog sich in die Küche.

Laurenti entkorkte eine zweite Flasche Spumante, während die weibliche Mehrheit des Hauses sich bereits in der Diskussion über die anstehenden Vorbereitungen befand. Livia erzählte, dass die deutschen Behörden von ihr mehr beglaubigte Dokumente verlangten, als andere Länder dies tun würden, und sie hatte sich noch um nichts gekümmert. Die deutschen Bürokraten verkomplizierten ihrer Meinung nach die Regeln der Europäischen Union unnötig. Als würden die amtlichen Urkunden außerhalb Deutschlands ein bisschen weniger gelten.

»Mehr als drei Austern für jeden konnte ich nicht auftreiben«, verkündete Marco, der zwei Platten voller Eis und Muscheln hereintrug. »Aber nur wenn Nonna und Barbara keine wollen. Für euch gibt’s angemachten Baccalà.«

Ada Cavallin hatte sich neben Lauras Mutter gesetzt. Camilla vergaß seit einigen Jahren die meisten Neuigkeiten sofort. Nur in Gesellschaft ihrer alten Freundin funktionierte ihr Gedächtnis besser. Ada war zwar zehn Jahre älter als sie, aber in jeglicher Hinsicht in bester Verfassung. Sie kümmerte sich oft und rührend um Camilla, bei deren Familie in San Daniele im Friaul sie einst Unterschlupf vor den Nazis gefunden hatte. Einer der Nachbarn ihrer Eltern musste sie als Botin der Partisanen denunziert haben, worauf sie wochenlang in Triest und Umland gesucht worden war. Bei einer Razzia verwüsteten die Deutschen damals ihr Elternhaus und folterten ihre Mutter in stundenlangen Verhören. Adas Vater war da schon längst nach Deutschland deportiert worden. Von den entfernten Verwandten in San Daniele wussten die Nazis nichts.

Die frischen Austern waren im Nu verputzt. Marco verschwand wieder in der Küche und hörte nicht, wie die anderen auf das Hochzeitsessen zu sprechen kamen. Wenig später stellte er eine riesige Schüssel voll dampfender Venus- und Miesmuscheln in der Mitte des Tischs ab.

»Das würden sogar die deutschen Gäste essen«, sagte Patrizia. »Wie viele Leute wollt ihr denn einladen, Livia, und woher werden sie kommen?«

»Mit der Gästeliste stehen wir noch ganz am Anfang. Es hängt auch davon ab, wo wir feiern werden.« Livias Blick ließ ahnen, dass sie bereits klare Vorstellungen hatte. Doch noch hütete sie sich davor, sie zu äußern. »Im Mai müsste das Wetter halten.«

»Wollt ihr etwa kirchlich heiraten?«, fragte Patrizia.

»Das wissen wir noch nicht. Dirk ist Protestant. Wenn überhaupt, dann ökumenisch. Mir ist’s eh egal.«

Ihr Vater runzelte die Stirn. Seit Jahrzehnten besuchte er Gottesdienste nur, wenn er dort einen Tatverdächtigen vermutete. Oder wenn es sich um eine Beerdigung handelte. Auch Laura betrat Kirchen ausschließlich aus künstlerischem Interesse.

Marco biss sich auf die Zunge und verschwand für den nächsten Gang in der Küche. Proteo Laurenti entkorkte gerade eine Magnumflasche Rosso Celtico von Moschioni.

»Marco, wo hast du eigentlich diesen köstlichen weißen Trüffel her?«, versuchte er das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, als sein Sohn den nächsten Gang servierte. Patrizia schob ihrer Tochter eine Nudel in den Mund, die von der Kleinen skeptisch aufgenommen wurde.

Die Tagliatelle hatte Marco ganz frisch gemacht und, während das Wasser kochte, die kleinsten Knollen gehobelt und in einem Strich Olivenöl und etwas Butter ziehen lassen, dann mischte er die Pasta und einen Hauch geriebenen Parmigiano in die Pfanne und servierte das Ganze schließlich direkt auf den Tellern. Zwei weitere Trüffel hobelte er beim Servieren großzügig über die Nudeln.

»Ich habe da so meine Quellen«, behauptete er wichtigtuerisch. »Die Saison ist ja eigentlich schon fast vorbei. Das hier sind zweihundert Gramm, normalerweise kostet der ein Vermögen. Im Piemont liegt der Preis momentan bei über viertausend Euro pro Kilo und vor Weihnachten war er sogar noch höher. Was tu ich nicht alles für euch!«

Seit einem halben Jahr arbeitete der begabte, doch unstete Jungkoch in der Großküche des städtischen Altersheims. Aber nur vorübergehend, wie er immer wieder betonte. Sein niedriges Gehalt besserte er nebenher gelegentlich bei einem renommierten Catering-Service auf. Die harte Taktung einer gehobenen Restaurantküche schreckten ihn angeblich noch immer vor einer Festanstellung ab. Während seiner Ausbildung hatte er erlebt, wie es dort zuging. Dafür brachte er immer wieder rare Köstlichkeiten mit nach Hause, für die sein Verdienst eigentlich nicht ausreichte. Und in seiner freien Zeit baute er im Garten über dem Meer Gemüse und Kräuter an.

Je länger der Abend dauerte und je mehr Wein floss, desto wilder und konfuser wurde die Diskussion um Livias Hochzeit. Nie hätte Laurenti sich träumen lassen, dass seine Älteste einmal einen deutschen Rechtsanwalt ehelichen wollte, dessen Nachnamen er nicht einmal aussprechen konnte und für den sie als vielsprachige Sekretärin tätig war, weil sie in Italien keinen adäquaten Job gefunden hatte. Immerhin hatte sie damals zur Erleichterung ihres eifersüchtigen Vaters die Angebote der Mailänder Modelagenturen ausgeschlagen.

Klugerweise hatte Livia für die Mitteilung an die Familie ihren Ex-Ehemann in spe in Frankfurt gelassen. Auch die Frage ihres Vaters, wie lange sie sich schon mit dem Gedanken trage, ließ Livia unbeantwortet. Zwar hatte sich Proteo Laurenti über die Jahre an den Kerl gewöhnt, der sich inzwischen immerhin weniger naseweis gab als zu Anfang, doch nach wie vor unverrückbar an seiner Meinung über die Italiener festhielt, als handle es sich dabei um einen irreparablen genetischen Defekt der Deutschen. Proteo fand, dass dieser Dirk Livias Schönheit schlichtweg nicht verdient hatte. Doch die Wahl seiner Tochter beklagte er nur engen Freunden gegenüber.

Proteo und Laura, Livia und Patrizia waren sich einig, dass Marco die Verantwortung für das Hochzeitsessen übernehmen sollte, sofern er dabei die Kosten im Auge behielt.

»Also bisher habe ich geglaubt, dass es bei einer Hochzeit an nichts fehlen darf. Da sollte man es krachen lassen. Allein schon, um einmal so richtig anzugeben. Aber ihr? Ihr redet vom Sparen? Klar, das dürfte kein Problem werden, solange nur deutsche Gäste kommen. Die kann ich sogar mit einer einfachen Pastasciutta überraschen«, trumpfte der Jungkoch auf. »Aber Italiener erwarten mehr. Und fangt mir ja nicht mit glutenfrei und vegan und dem ganzen Käse an«, fügte er angeekelt hinzu. »Am besten sucht ihr euch gleich einen anderen Koch.«

An ein ernsthaftes Gespräch war nicht mehr zu denken. Gegen zwei Uhr, als sich die Argumente wiederholten und an dem langen Tisch niemand mehr Wasser, Wein oder Grappa nachschenkte, versprach Proteo Laurenti, am kommenden Morgen als Erster aufzustehen, die Trümmer des Abendessens zu beseitigen und für alle einen Brunch zuzubereiten. Livias Rückflug nach Frankfurt würde erst gegen Abend gehen, wenn sie nicht kurzfristig noch auf Montag umbuchte. Es gab schließlich noch viel mit der Familie zu klären.

Chambéry. Savoyen, Frankreich

Eleonora, ich werde tot sein, wenn du diesen Brief liest. Wirf alles andere aus dem Nachlass weg. Es wird niemandem mehr von Nutzen sein. Ich habe nie etwas Wertvolles besessen. Nur mein Gedächtnis.

Die abgegriffenen Blätter mit der unsicheren Handschrift hatten unter der Wäsche auf alten Zeugnissen und der Geburtsurkunde gelegen. Nora hätte schwören können, dass Vilma Lorenzin zeit ihres Lebens kaum mehr als Einkaufszettel verfasste oder die Besucherlisten im Rathaus, wo sie eine Halbtagsstelle gefunden hatte, als Nora in die Schule kam. An diesen Seiten musste sie lange und im Verborgenen gearbeitet haben, wie die Streichungen und die verschiedenen Tönungen der Kugelschreiber erkennen ließen. Erst Monate nach der Beisetzung auf dem Friedhof von Chambéry in Hochsavoyen hatte sich Nora überwunden, die spärlichen Hinterlassenschaften ihrer Tante auszuräumen.

Als ich alt war, hast du dich um mich gekümmert, so wie ich mich um dich, als du klein warst und deine Eltern sich eine Zukunft aufbauen mussten, die andere euch gestohlen hatten. Wie auch mir. Während deine Mutter von morgens bis abends in der Textilfabrik arbeitete und Papà im Stahlwerk, kümmerte ich mich um dich und schuf euch ein schönes Zuhause. Wegen meiner Behinderung gab es anfangs keine andere Arbeit für mich. Niemand kann eine Einbeinige gebrauchen. Deshalb fand ich auch keinen Mann, der für mich hätte sorgen können. Doch deine Eltern haben mich aufgenommen, als das Unglück geschah. Noch ein Unglück, nachdem die Nazis bereits meinen Vater ermordet hatten, oben in Opicina. Kaum ein Jahr später verlor ich mein Bein. Und auch meine Mutter – was meine Schuld war.

Federica und Mario waren älter als ich und kannten mich, seit ich zehn war. Sie wohnten drei Etagen tiefer. Als die Wunde verheilt war, sorgten sie trotz aller anderen Probleme dafür, dass ich wieder zur Schule ging. Und Probleme gab es genug. Zuerst die Faschisten, dann die Nazis und dann die lange Phase nach dem Krieg, die alles andere als friedlich war. Zu viele Wunden, die nicht verheilen konnten, und Arbeit gab es weder bei uns in San Giacomo noch unten in der Stadt. Immer mehr Flüchtlinge aus Istrien und Dalmatien kamen nach Triest. Und während sie vom Staat bevorzugt wurden, blieben wir Einheimischen oft ohne Arbeit und die Miete schuldig. Nur durch unseren Zusammenhalt schafften wir es irgendwie.

Auch Federica und Mario hatten nach dem Krieg keine engen Verwandten mehr, nur die entfernten Cousins in Frankreich, denen es besser ging als uns. 1964 haben sie mich mitgenommen nach Chambéry. Ein Onkel von Mario war schon in den Zwanzigern wegen Mussolini und den Schwarzhemden emigriert. Hierher. Du kamst gleich nach der Ankunft zur Welt. Da ich keine eigenen Kinder hatte, warst du für mich wie eine eigene Tochter.

Verzeih, Nora, ich kann dir nur meine Erinnerungen hinterlassen. Aber sie sind auch die Geschichte deiner Eltern. Dein Vater wollte nie darüber reden. Er wollte auch nicht, dass Federica es tat. Nur ein einziges Mal erzählte er mir, was ihm widerfahren war.

Mario zog es nie in seine Heimat zurück. Als du später in Triest studiert hast, hat er dich nicht davon abgehalten, was mich wunderte. Nora, heute, da du längst mit beiden Beinen im Leben stehst, sollst auch du erfahren, wie es uns damals erging. Es war nicht einfach, mich über den Willen deines Vaters hinwegzusetzen. Er wollte nur, dass du unbeschwert und ohne Groll groß wirst. Ohne böse Gefühle gegenüber Menschen, die du nicht kennst. Auch wenn sie Schreckliches getan haben in einer schrecklichen Zeit. Belangt wurden sie nie, und heute ist es dafür fast zu spät. Nora, ich habe in den folgenden Erinnerungen nichts ausgelassen. Lies diese Geschichten, sie sind für dich. Denk an mich, da ich nicht mehr bin, und bete für mich.

In Liebe, Tante Vilma

Draußen fiel der Schnee in dicken Flocken. Eleonora Rotas Hand zitterte. Sie kam über die ersten Zeilen nicht hinaus. Warum erfuhr sie das alles erst jetzt? Sie war den Tränen nahe. Selbst in ihrem Geschichtsstudium war es meist um die slawische Gefahr, die kommunistische Bedrohung und den Kalten Krieg gegangen. Sie ließ das Konvolut auf dem Tisch zurück, warf den Mantel über, zog die Tür hinter sich zu und eilte nach Hause, ohne einen Blick für die Passanten zu haben, die sie grüßten.

Vilma Lorenzin war 85 Jahre alt geworden und hatte noch jeden Tag zweimal zu den gleichen Uhrzeiten ihre Runde um den Häuserblock gedreht und ein Schwätzchen mit den Nachbarn gehalten. Eine Beinprothese hatte sie nie gewollt und auch einen Rollstuhl lehnte sie empört ab, ihr reichten einfache Krücken. Ihr Tod kam unangekündigt und war friedlich. Nach dem Café au Lait war sie an einem Wintermorgen einfach dahingegangen. Sie saß noch am Tisch, über den Dauphiné Libéré gebeugt, in dem Nora beizeiten über das Geschehen in der überschaubaren Herzogstadt schrieb. Ein Feinkosthändler aus der Nachbarschaft hatte Nora angerufen, nachdem Vilma zwei Tage lang nicht bei ihm aufgetaucht war.

Erst Monate nach ihrem Tod hatte sich Eleonora darangemacht, die kleine Wohnung ihrer letzten verbliebenen Angehörigen zu räumen. Sie brauchte länger dafür als gedacht. Die wenigen Kleidungsstücke waren schnell in Plastiksäcke gestopft, die sie in einen Altkleidercontainer warf. Alles andere landete auf dem Müll. Außer den Dokumenten und drei Fotos: Eines von Nora selbst als Heranwachsende auf einem Alpengipfel, ein anderes zeigte die weiße Stadt Triest vom Molo Audace aus, mit dem in der Sonne glitzernden blauen Meer und den kleinen weißen Schaumkronen, die auf den Wellen tanzten. Das dritte Foto stammte von einem Familienausflug zum Amphitheater von Arles, da war Nora gerade vierzehn Jahre alt – Mario und Federica standen vor Vilma, die einen Arm um Noras Schulter gelegt hatte, man sah nicht, dass sie nur ein Bein hatte. Nicht einmal ihre Krücken waren im Bild. Eleonora erinnerte sich nicht, wer das Foto gemacht hatte. Nur den Stierkampf, den sie danach angeschaut hatten, hatte sie noch lebhaft vor Augen.

Und dann diese entsetzlichen Erinnerungen, die sie in Vilmas ungeheiztem kleinem Appartement auf einem Hocker sitzend am letzten verbliebenen Möbelstück las, einem einfachen Küchentisch mit Wachstischdecke. Ging sie zur Toilette, hallten ihre Schritte im Flur wider. Einen Tag später kam sie mit einem Notizblock zurück und begann von vorne. Es dauerte, bis sie Vilmas unstrukturierte Schilderungen sortiert bekam. Einmal hatte sie darüber sogar das Gefühl für die Zeit verloren und beinahe den Anfängerkurs Italienisch vergessen, den sie Jahr für Jahr an der Volkshochschule von Chambéry unterrichtete.

Das alles lag mittlerweile ein Jahr zurück. Ihre noch junge Beziehung zum achtzehn Jahre jüngeren Nicola Dapisin war darüber in die Brüche gegangen. Sie hatte in der Trauerphase nur wenig Zeit für den gutmütigen Kerl übriggehabt, und Nicola hatte währenddessen eine andere kennengelernt. Als sie es wenig später noch einmal miteinander versuchten, war nichts mehr wie zuvor. Blieb er ein paar Tage bei ihr, verwies sie ihn ins Gästezimmer. Doch sie erzählte Nicola ausführlich von der Entdeckung, die sie in Vilmas Unterlagen gemacht hatte. Wenig später unternahmen sie eine Reise nach Triest und in die Städtchen und Dörfer Istriens, aus denen die Familien ihrer Eltern stammten. Systematisch suchten sie vor Ort nach Spuren der Menschen, die Tante Vilma in ihren Erinnerungen geschildert hatte. Nicolas verbliebene Verbindungen zur französischen Polizei waren ihnen dabei sehr hilfreich gewesen.

Bereits zweimal hatten sie sich anschließend von Triest aus, der bedeutendsten Hafenstadt an der Adria, auf eine Kreuzfahrt ins östliche Mittelmeer begeben. Die Innenkabine teilten sie sich zwar, doch Nora hatte auf Einzelbetten bestanden und seinem Drängen erst nach einer ganzen Weile nachgegeben. Und je länger sie Tante Vilmas Aufzeichnungen nachrecherchierten, umso näher kamen sie sich wieder. Diesmal hatten sie die lange Autofahrt nach Triest auf die Nacht gelegt.

»Hat dir Vilma nie erzählt, wie das mit ihrem Bein passiert ist? Oder hast du sie nie danach gefragt?«

»Natürlich habe ich sie gefragt. Und was sie mir nicht selbst erzählt hat, weiß ich aus den Erzählungen meiner Eltern und einer ihrer Freundinnen, die noch älter war als sie. Sie und ihre Mutter waren oben in Servola ausgebombt worden. Als ich in Triest gewohnt habe, war ich an all diesen Orten. Ihr Vater war einer der vielen Arbeiter im Stahlwerk gewesen. Er wurde drei Monate zuvor als kommunistischer Partisan verpfiffen und von den Nazis exekutiert. Ohne Urteil natürlich. Auf jeden Fall fanden Vilma und ihre Mutter in San Giacomo ein paar Stockwerke über der Wohnung von den Eltern meines Papàs Platz. Sie war knapp zwölf, als der Krieg endete und die Alliierten die Stadt übernahmen. Beim Spielen hat sie in den Magazzini generali eine Schachtel Rotstifte gefunden. Dachte sie. Vilma hat sie mit nach Hause genommen und ihrer Mutter gezeigt, die allerdings müde von der Arbeit war und nur einen kurzen Blick darauf warf. Vilma suchte nach Papier, sie wollte ihrer Mutter ein Bild malen. Der Stift explodierte, die Wohnung fing Feuer. Die Feuerwehr kam zwar schnell, doch Vilmas Mutter war bereits tot und sie selbst hatte eine klaffende Wunde am Oberschenkel. Im Krankenhaus wurde das Bein dann amputiert. Von da an hat sich die Familie meines Vaters um sie gekümmert und sie bei sich aufgenommen. Sie ist bei uns geblieben fast bis zu ihrem Tod. Schade, hättest du damals nicht die Geschichte mit dieser Elsässerin angefangen, hättest du sie besser kennengelernt. Vilma war eine starke Frau. Eigentlich hat sie mich großgezogen, weil meine Eltern, als sie nach Chambéry kamen, Tag und Nacht arbeiteten. Als ich älter war, fand Vilma eine Anstellung bei der Stadtverwaltung. Und gestorben ist sie schließlich ganz allein.«

»Eine Bleistiftbombe also«, stellte Nicola nachdenklich fest. »Als ich in die Spezialeinheit aufgenommen wurde, musste ich eine Prüfung über Sprengstoffe ablegen. Dort habe ich einiges darüber gelernt. Diese Dinger sind eigentlich Zünder. Eine deutsche Erfindung aus dem Ersten Weltkrieg, später von den Polen weiterentwickelt, von den Engländern vollendet und schließlich von den Nazis eingesetzt – da schließt sich der Kreis wieder. Selbst heute verwendet man sie noch, wenn nichts Besseres zur Hand ist. Du brauchst ein Stück Plastiksprengstoff, steckst das Teil hinein und betätigst den Zeitzünder. Und dann verduftest du, so schnell es geht.«

»Und was hat das mit Vilma zu tun?«, protestierte Nora, die sich seine Geschichten oft genug anhören musste.

»Ich will dir doch nur erklären, warum Vilma darauf reingefallen ist. Für Kinder sehen sie tatsächlich aus wie dicke Buntstifte. Ein bisschen schwer vielleicht. Der Farbstreifen gibt die Zeit von der Auslösung bis zur Detonation an. Es reicht, fest draufzudrücken. Angeblich haben die Nazis sie immer wieder absichtlich irgendwo liegen gelassen, damit Kinder sie finden. Ein perfider Trick. Das weiß nur heute kaum noch jemand. Höchstens Waffenfanatiker und unbelehrbare Kriegsnostalgiker, für die das bessere Zeiten waren.«

»Solche Idioten werden nie aussterben. Die gibt es immer und überall. Stell dir vor, manche der Täter sind sogar zurückgekommen. Italiener genauso wie Deutsche. Die Kirche und die Amerikaner haben ihnen Schutz gegeben. Und der deutsche Staat auch. Zwei ehemalige SS-Offiziere haben später sogar das deutsche Generalkonsulat in Mailand geleitet, ein anderer hat dort als Fahrer gearbeitet. Alle unter ihren alten Namen, verstehst du, Niki, sie mussten sich nicht einmal die Mühe machen sich zu tarnen.«

»Das kannst du mir alles auf der Fahrt erzählen, Norina. Wir müssen jetzt los, wenn wir unseren Plan durchziehen wollen. Wir brauchen für die Strecke sowieso schon lang genug. Und vor Ort müssen wir uns schließlich auch noch vorbereiten. Ich muss das mit ruhiger Hand angehen.«

»Danach kannst du dich ein paar Tage ausruhen, Niki. Freust du dich denn nicht auf die Kreuzfahrt?«

»Ach, die haben wir doch schon zweimal gemacht.« Nicolas Stimme klang gleichgültig.

»Aber da haben wir ganz andere Städte gesehen.«

»Das Meer ist das gleiche. Egal, du weißt, dass ich alles für dich tue.«

»Jaja, das habe ich schon mal gehört. Hast du auch nichts vergessen, Niki? Deine Reisetasche scheint kleiner zu sein als das letzte Mal.«

Am Mahnmal von Prosecco

Proteo Laurenti staunte, als er morgens den großen Salon betrat, um wie versprochen den Tisch abzuräumen und sich um das Frühstück zu kümmern. Das Geschirr stand bereits in der Küche. Nur die mit Brotkrumen und Weinflecken übersäte Tischdecke lag noch auf dem Tisch. Und dahinter, vor einem der Sofas, hatte sich Ada Cavallin auf dem riesigen orientalischen Teppich ausgestreckt und machte Dehnübungen. Er sprach die drahtige Fünfundneunzigjährige nicht an, sie war in der vergangenen Nacht doch nicht mehr nach Hause gefahren. Nur mit Mühe hatte Laurenti sie davon abbringen können, sich betrunken ans Steuer zu setzen. Als Ada nun das Geräusch der Espressomaschine hörte, stand sie neben ihm in der Küche und fragte, ob sie irgendwie behilflich sein könne. Beim Kaffee zündete sie sich eine Zigarette an.

»Aber nur hier in der Küche«, mahnte Laurenti und öffnete die Tür zum Garten, durch die kühle Luft hereindrang.