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House of Night nähert sich seinem dramatischen Finale: der elfte und vorletzte Band der erfolgreichsten Vampyr-Serie aller Zeiten. DAS BÖSE LEBT! UND ES IST SO GEFÄHRLICH WIE NIE ZUVOR! Seit ihrem tiefen Fall ist Neferet vollkommen verändert. Getrieben von einem nie gekannten Durst nach Rache, setzt sie alles auf eine Karte: Sie will die Macht über das House of Night, sie will die Macht über die Menschen, sie will die Macht über das Böse! Jetzt wird nicht mehr verhandelt – jetzt herrscht Krieg! Können Zoey und ihre Freunde noch etwas gegen sie ausrichten?
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Seitenzahl: 421
P.C. Cast | Kristin Cast
Entfesselt
House of Night 11
Aus dem Amerikanischen von Christine Blum
FISCHER E-Books
Für all unsere Leser, die uns spannende Fragen zu Neferets Vergangenheit gestellt haben. Wir hoffen, ihr freut euch über die Antworten!
Dank und großes Lob an unsere Familie bei St. Martin’s Press. Unser Verlag ist Spitze!
Wieder einmal vielen lieben Dank an unsere Freunde zu Hause für ihren Enthusiasmus, ihre gute Laune und Unterstützung – insbesondere an Chera Kimiko, Karen Keith und Kevin Marx. Tulsa ist unschlagbar. Mit euch gibt’s immer was zu lachen!
Dir, Dusty, tausend Dank für die Hilfe beim Brainstormen und fürs Lotsen in die richtige Richtung, wenn ich mal feststeckte. Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte!
Und wo wir schon bei Brainstorming-Hilfen sind: CZ, du bist ein unschätzbares Juwel!
Wie immer danken wir in tiefer Verbundenheit unserer unglaublichen Agentin Meredith Bernstein, ohne die House of Night nicht existieren würde.
»Wow, Z, ist das ’n Wahnsinnsrummel. Es wimmelt ja von Menschen – mehr als von Flöhen auf ’nem Hund!« Die Augen mit der Hand beschirmt, spähte Stevie Rae über den Campus, auf dem gerade die Lichter angeschaltet worden waren. Dallas war vielleicht ein mieser Dreckskerl, aber wir mussten alle zugeben, dass die Lichterketten, die er um die Stämme und Zweige der alten Eichen gewunden hatte, das ganze Gelände in magischem, feenhaftem Licht erstrahlen ließen.
»Deine Landei-Vergleiche werden auch immer ekliger«, bemerkte Aphrodite. »Aber im Kern hast du recht. Insbesondere da ein paar Stadtpolitiker gekommen sind. Alles Parasiten.«
»Versuch, nett zu sein«, bat ich. »Oder wenigstens still.«
Stevie Raes staunend runde Augen wurden noch weiter. »Heißt das, dein Daddy, der Bürgermeister, ist auch da?«
»Ich nehme es an. Erst vorhin habe ich einen Blick auf Cruella De Vil alias meine Erzeugerin erhascht.« Aphrodite unterbrach sich, und ihre Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Wir sollten ein Auge auf die Street-Cats-Katzen haben. Da waren ein paar süße schwarz-weiße Kätzchen mit besonders kuschligem Fell dabei.«
Stevie Rae sog scharf die Luft ein. »Du liebe Güte, deine Mama würde sich doch nich wirklich ’n Mantel aus Katzenfell machen lassen, oder?«
»Oh, schneller als du ›Bubba sitzt wieda besoffen hinnerm Steuer‹ sagen kannst«, ahmte Aphrodite übertrieben Stevie Raes Okie-Singsang nach.
Ich gab ihr einen Rippenstoß. »Sie veräppelt dich, Stevie Rae. Stell’s richtig, Aphrodite.«
»Na gut. Nein, sie zieht Katzen nicht das Fell über die Ohren. Oder Hundewelpen. Nur Robbenbabys und Demokraten.«
Stevie Rae runzelte die Stirn.
»Du siehst, alles ist gut«, versicherte ich meiner ABF – oh nein, ich würde nicht zulassen, dass Aphrodite uns die gute Laune verdarb. »Außerdem ist Damien bei Street Cats, der passt schon auf, dass keinem Kätzchen ein Schnurrbarthaar gekrümmt wird – und erst recht nicht das ganze Fell. Hey, alles ist mehr als gut! Seht doch mal, was wir in knapp über einer Woche auf die Beine gestellt haben.« Erleichtert über den Erfolg unserer Veranstaltung, seufzte ich tief und ließ den Blick über das gerammelt volle Schulgelände wandern. Stevie Rae, Shaylin, Shaunee, Aphrodite und ich waren für den Keksstand eingeteilt (während Stevie Raes Mom und ein paar ihrer Freundinnen aus der Elternvertretung durch die Menge gingen und Kostproben der Schokokekse anboten, die wir milliardenfach verkauften). Von unserem Standort vor der Nyxstatue hatten wir einen guten Blick auf den gesamten Campus. Vor Grandmas Lavendelstand hatte sich eine lange Schlange gebildet, was mich total freute. Nicht weit davon stand Thanatos’ Jobbörsenpavillon. Nicht wenige Menschen hatten sich dort Formulare genommen und füllten sie aus.
In der Mitte des Schulgeländes standen zwei große weiß-silberne Zelte, die ebenfalls mit Dallas’ funkelnden Lichtern behängt waren. In dem einen führten Stark, Darius und die Söhne des Erebos ihre Waffen vor. Ich beobachtete, wie Stark einem kleinen Jungen zeigte, wie man einen Bogen hält. Starks Blick hob sich und begegnete meinem, und wir lächelten uns still zu, bevor er sich wieder dem Kind zuwandte.
Nicht bei den Kriegern waren Kalona und Aurox. Aus offensichtlichen Gründen hatte Thanatos entschieden, dass die menschliche Bevölkerung von Tulsa noch nicht bereit für sie war.
Ich war ganz mit ihr einverstanden.
Ich war auch noch nicht bereit …
Ich gab mir einen Ruck. Nein, ich würde jetzt nicht anfangen, über die Aurox/Heath-Sache nachzudenken.
Stattdessen wandte ich mein Augenmerk dem zweiten der großen Zelte zu. Dort hatte Lenobia ein scharfes Auge auf die Leute, die sich wie ein summender Bienenschwarm um Mujaji und die riesige Percheronstute Bonnie scharten. Auch Travis war dort. Travis war immer dort, wo Lenobia war, und das machte mich richtig glücklich. Es war so wunderschön, Lenobia verliebt zu sehen. Die Pferdeherrin schien zu leuchten wie ein klarer, silberheller Freudenstrahl, und nach all der Finsternis, die ich in letzter Zeit zu Gesicht bekommen hatte, war das eine unvergleichliche Wohltat.
»Oh, verflucht nochmal, wo hab ich meinen Wein hingestellt? Hat jemand meinen Queenies-Becher gesehen? Wie das Landei mir gerade in Erinnerung rief, schleichen irgendwo da draußen meine Eltern herum, und wenn die mich finden, muss ich gewappnet sein«, schimpfte Aphrodite vor sich hin und wühlte zwischen den noch unverkauften Kekspackungen herum.
Stevie Rae schüttelte den Kopf. »Du hast Wein in diesem riesigen lila Queenies-to-go-Becher, aus dem du vorhin getrunken hast?«
»Und trinkst ihn mit ’nem Strohhalm?« Shaunee fiel in ihr Kopfschütteln ein. »Ist das nicht eklig?«
»Verzweifelte Situationen erfordern verzweifelte Maßnahmen«, bemerkte Aphrodite trocken. »Hier laufen zu viele Nonnen rum, als dass man offen trinken könnte, ohne eine nervtötende Predigt zu riskieren.« Sie warf einen Blick nach rechts, wo am Street-Cats-Stand ein halbmondförmiges Rund aus Käfigen mit zur Adoption stehenden Katzen aufgestellt war; außerdem wurden dort katzenminzeversetzte Spielzeuge verkauft. Auch Street Cats hatte ein silber-weiß verziertes Zelt bekommen, in dem Damien geschäftig an der Kasse saß, aber außer ihm bestand das Personal ausnahmslos aus den schwarzgewandeten Benediktinerinnen, die Street Cats verwalteten.
Eine der Nonnen begegnete meinem Blick, und ich winkte und lächelte. Priorin Schwester Mary Angela winkte zurück und vertiefte sich wieder in das Gespräch mit einer Familie, die sich anscheinend in eine süße weiße Katze verliebt hatte, die aussah wie ein riesiger Wattebausch.
»Aphrodite, die Nonnen sind in Ordnung«, erinnerte ich sie.
»Und so beschäftigt, die schauen bestimmt nich zu dir rüber«, fügte Stevie Rae hinzu.
»Was? Oh Gott, du bist nicht der Mittelpunkt von jedermanns Aufmerksamkeit!«, rief Shaylin mit gespieltem Entsetzen.
Stevie Rae tarnte ihr Kichern als Hustenanfall. Bevor Aphrodite eine gehässige Antwort geben konnte, kam Grandma zu uns gehumpelt. Abgesehen von dem Humpeln und dass sie ein bisschen blass war, sah sie gesund und munter aus. Es war erst knapp über eine Woche her, dass Neferet sie gefangen gehalten und versucht hatte, sie zu töten, aber sie hatte sich erstaunlich schnell erholt. Thanatos hatte gemeint, das liege daran, dass sie für eine Frau ihres Alters ungewöhnlich gut in Form sei. Ich aber ahnte, dass es an etwas anderem lag – etwas, was Grandma und ich teilten: eine ganz besondere Verbindung zu einer Göttin, die ihren Kindern stets die freie Wahl ließ und ihnen übernatürliche Gaben verlieh. Grandma war eines der liebsten Kinder der Großen Erdmutter und schöpfte ihre Kraft direkt aus der heiligen Erde Oklahomas.
»U-we-tsi a-ge-hu-tsa, ich bräuchte Hilfe am Lavendelstand. Ich kann gar nicht glauben, wie viel bei uns los ist.« Kaum hatte Grandma das gesagt, da tauchte eine Nonne neben ihr auf. »Zoey, Schwester Mary Angela könnte jemanden gebrauchen, der die Katzenadoptionsformulare ausfüllt.«
»Ich helfe Ihnen, Grandma Redbird«, sagte Shaylin. »Ich mag Lavendelduft wahnsinnig gern.«
»Oh, das freut mich sehr, Liebes. Könntest du als Erstes zu meinem Auto laufen und in den Kofferraum schauen? Dort müsste noch eine Kiste mit Lavendelsäckchen und -seife stehen. Sieht aus, als würde ich heute alles los, was ich dabeihabe«, sagte Grandma fröhlich.
»Klar doch.« Shaylin fing die Schlüssel auf, die Grandma ihr zuwarf, und rannte in Richtung des großen Eingangstors davon, das zu den Parkplätzen und der von Bäumen gesäumten Straße führte, die in die Utica Street mündete.
»Und ich ruf meine Mama an. Sie meinte, wir sollen ihr Bescheid sagen, wenn wir hier zu viel Andrang haben, dann kommen sie und der Rest von den Müttern sofort zurück.«
»Ist es in Ordnung, wenn ich zu Street Cats rübergehe, Grandma?«, fragte ich. »Ich will mir schon die ganze Zeit unbedingt diesen Wurf kleiner Kätzchen näher anschauen.«
»Geh nur, u-we-tsi a-ge-hu-tsa. Schwester Mary Angela wird sich sehr freuen, wenn du sie besuchst.«
Ich lächelte. »Danke, Grandma.« Dann wandte ich mich Stevie Rae zu. »Okay, sobald deine Mom und ihre Leute kommen, gehe ich den Nonnen helfen.«
Stevie Rae beschirmte ihre Augen und spähte durch die Menge. »Kein Problem. Da ist sie schon, und Mrs. Rowland und Mrs. Wilson hat sie auch gleich dabei.«
»Wir kriegen das hin, keine Sorge«, sagte Shaunee.
Ich grinste den beiden zu. »’kay. Ich komme so bald wie möglich zurück.« Ich verließ den Keksstand und bemerkte erstaunt, dass Aphrodite mir folgte, den lila Queenies-Becher fest in der Hand.
»Ich dachte, du wolltest dir keine Predigt von den Nonnen einfangen.«
»Besser als ’ne Predigt von den Elternvertreterinnen.« Sie schüttelte sich. »Außerdem mag ich Katzen lieber als Leute.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Von mir aus.«
Wir waren erst ein kleines Stück weit gekommen, da wurde Aphrodite langsamer und kniff angeekelt die Augen zusammen. »Ach du Scheiße, ist das primitiv«, murmelte sie über ihren Strohhalm hinweg.
Ich folgte ihrem Blick, und auch meine Miene verfinsterte sich. »Ja. Egal wie oft ich sie sehe, ich kapier’s nicht.«
Wir hatten angehalten, um Shaunees Ex-Zwillings-ABF Erin zuzusehen, die hemmungslos und wild mit Dallas herumknutschte. »Ich hätte echt gedacht, sie hätte mehr Selbstachtung.«
»Anscheinend nicht«, sagte Aphrodite.
»Brrr.« Ich wandte die Augen von dem viel zu öffentlichen Schauspiel ab.
»Also ehrlich. Um das zu ertragen, würde sämtlicher Alkohol in Tulsa nicht ausreichen.« Sie gab einen Würgelaut von sich, der zu einem Schnauben und dann einem Lachen wurde. »Schau mal, die Kutte da auf zwölf Uhr.«
Tatsächlich marschierte eine Nonne, die ich vage als Schwester Emily (eine der Spießigeren der Gemeinschaft) erkannte, auf die beiden zu, die viel zu sehr auf ihre Lippen und Zungen konzentriert waren, um sie zu bemerken. »Sieht nach Donnerwetter aus.«
»Hm, ich frage mich, ob ›Nonne‹ das genaue Gegenteil von ›Aphrodisiakum‹ sein könnte. Lass uns zuschauen, das könnte lustig werden.«
»Zoey! Hierher!«
Ich wandte den Blick von der nahenden Katastrophe ab. Schwester Mary Angela winkte mir zu.
»Nee, komm.« Ich hängte mich bei Aphrodite ein und zog sie zum Street-Cats-Pavillon. »Zum Lustige-Sachen-Gucken hättest du heute braver sein müssen.«
Ehe sie widersprechen konnte, waren wir angekommen. Schwester Mary Angela strahlte uns an. »Oh wie gut, Zoey und Aphrodite. Ich kann euch beide gebrauchen.« Die Nonne deutete freundlich auf die junge Familie vor einem der Katzenkäfige. »Das sind die Cronleys. Sie möchten die beiden dreifarbigen Kätzchen adoptieren. Es ist so schön, dass die zwei zusammenbleiben können – selbst für Geschwister hängen sie ungewöhnlich stark aneinander.«
»Oh, toll«, sagte ich. »Ich kann das Formular ausfüllen.«
»Ich helfe dir. Zwei Katzen – zwei Formulare«, erklärte Aphrodite.
»Unser Tierarzt hat uns den Tipp gegeben, heute hierherzukommen«, sagte die Mutter. »Ich habe gleich geahnt, dass wir hier unsere Katze finden würden.«
»Nur hatten wir nicht geplant, dass es gleich zwei sein würden«, fügte ihr Mann hinzu, drückte seiner Frau die Schulter und lächelte sie voller Zuneigung an.
»Na, unser Doppelpack war auch nicht geplant.« Die Frau lächelte zu den Zwillingsmädchen hinüber, die am Katzenkäfig standen und kichernd mit den flauschigen Dreifarbigen spielten, die bald Teil ihrer Familie sein würden.
»Aber die Überraschung war rundum gelungen. Dann wird’s mit den Kätzchen sicher genauso gut funktionieren«, gab der Vater zurück.
Es war wie beim Anblick von Lenobia und Travis – bei dieser Familie ging mir das Herz auf.
Aphrodite und ich waren auf dem Weg zu dem provisorischen Schreibtisch, als eines der kleinen Mädchen fragte: »Hey, Mommy, was sind denn das für schwarze Dinger?«
Etwas in der Stimme des Kindes ließ mich innehalten, umdrehen und zum Käfig gehen.
Als ich davorstand, wusste ich sofort, warum. Die beiden Kätzchen schlugen fauchend mit den Pfoten nach mehreren großen schwarzen Spinnen.
»Igitt!«, rief die Mutter. »Hier scheint’s ein Spinnenproblem zu geben.«
»Falls ihr einen Kammerjäger braucht, ich wüsste einen guten«, meinte der Vater.
Aphrodite, die neben mir in den Käfig spähte, flüsterte: »Kammerjäger? Ich fürchte, da brauchen wir schwerere Geschütze.«
»Also, äh, eigentlich haben wir hier normalerweise keine Ungezieferprobleme«, stotterte ich sinnlos, während mich eine Gänsehaut überlief.
»Iiieh, Daddy, da sind noch viel mehr davon!« Das kleine blonde Mädchen zeigte auf die Rückseite des Käfigs. Sie war so komplett von Spinnen bedeckt, dass sie fast zu leben schien.
»Du meine Güte!« Schwester Mary Angela wurde bleich, als sie die Spinnen sah, die mit jedem Augenblick mehr zu werden schienen. »Gerade eben waren die noch nicht da.«
»Nehmen Sie doch die Cronleys mit ins Zelt, und fangen Sie mit den Formularen an«, sagte ich schnell und sah der erschrockenen Nonne fest in die Augen. »Und schicken Sie Damien her. Der kann uns helfen, diese blöden Spinnen loszuwerden.«
Die Schwester zögerte nicht. »Ja, ja, natürlich.«
Leise sagte ich zu Aphrodite: »Hol Shaunee, Shaylin und Stevie Rae.«
»Du willst mitten in diesen Menschenmassen einen Kreis beschwören?«, flüsterte sie zurück.
»Was ist dir lieber – das, oder dass Neferet all diese Menschen auffrisst?« Plötzlich stand Stark neben mir, entschlossen und alarmiert. »Das ist Neferet, oder?«
»Es sind Spinnen. Unmengen von Spinnen.« Ich zeigte auf die Käfige.
»Klingt sehr nach Neferet, wenn ihr mich fragt«, bemerkte Damien leise, der zu uns getreten war.
Aphrodite ließ ihren Queenies-Becher fallen. »Ich hole den Rest des Kreises.« Und sie joggte in Richtung Kekspavillon davon.
Stark wandte den Blick nicht von dem stetig wachsenden Spinnennest ab. »Wie sieht der Plan aus?«
»Wir beschützen, was beschützt werden muss.« Ich zog mein Handy heraus und tippte THANATOS an.
Sie nahm nach dem ersten Klingeln ab. »Etwas verändert sich hier. Der Schatten des Todes zieht herauf«, sagte sie in nüchternem Ton, aber ich spürte die Anspannung darunter.
»Am Street-Cats-Stand materialisieren sich massenhaft Spinnen. Ich bin dabei, meinen Kreis zu sammeln.«
»Neferet.« Das Wort bestätigte mein Bauchgefühl. »Rufe den Schutz der Elemente herbei«, sagte sie ernst. »Was auch immer die Tsi Sgili da heraufbeschwört, es ist unnatürlich, das wissen wir. Also vertreibe es mit Hilfe der Natur.«
»Mach ich.«
»Ich werde die Menschen zum Kriegerzelt locken, indem ich mit der Verlosung beginne. Dort sind sie am sichersten. Verhaltet euch so unauffällig wie möglich, Zoey. Wenn der heutige Abend in Chaos und Panik endet, spielt das Neferet nur in die Hände.«
»Verstanden.« Ich legte auf.
»Beschwören wir einen Kreis?«, fragte Damien.
»Jep. Wir versuchen mit Hilfe unserer Elemente mit dem Ungeziefer da fertigzuwerden.« Ich nahm mir nicht die Zeit, zu überlegen oder auf den Rest des Kreises zu warten. Unter Starks wachsamen Blicken nahm ich Damiens Hand. Er und ich wandten uns dem Kätzchenkäfig zu.
»Luft, bitte komm zu mir«, sagte Damien.
Sofort spürte ich, wie sein Element sich regte. »Richte es darauf.«
Er nickte. »Luft, blas diese Finsternis davon.«
Der Wind, der fast zärtlich mit Damiens Haar gespielt hatte, schoss auf das Nest wimmelnder Spinnen zu, die sofort aufgeregt durcheinanderzukrabbeln begannen.
»Meine Damen und Herren, liebe Jungvampyre und Vampyre, hier spricht Thanatos, Hohepriesterin des House of Night und Gastgeberin des heutigen Abends. Ich möchte alle Anwesenden bitten, sich zu dem silbern und weißen Kriegerzelt im Zentrum des Campus zu begeben. In Kürze startet die Verlosung, und nur wer vor Ort ist, kann gewinnen.«
Thanatos’ Stimme aus den Lautsprechern klang so normal, so schulrektorinnenhaft, dass das Spinnengekrabbel daneben nur noch widernatürlicher wirkte.
»Nein, nein, um die Einzelheiten brauchen Sie sich nicht zu kümmern«, hörte ich Schwester Mary Angela sagen, die mit den jungen Eltern und ihren Zwillingen aus dem Pavillon kam. »Meine Assistenten werden die Katzen für Sie bereitstellen, und nach der Verlosung können Sie sie dann abholen.«
»Warum halten die zwei sich so an der Hand?«, fragte eines der kleinen Mädchen.
»Oh, gewiss beten sie gerade«, gab Schwester Mary Angela ohne jedes Zögern zurück. Sie drehte sich halb um und bat die Handvoll Nonnen, die mit ihr den Stand betreuten: »Würdet ihr dafür sorgen, dass die beiden jungen Leute in ihrem Gebet nicht gestört werden, Schwestern?«
»Natürlich, Schwester«, murmelten die Frauen, und schnell und widerspruchslos bildeten sie eine Reihe zwischen uns am Katzenstand und dem restlichen Campus – also im Prinzip ein Vorhang aus Nonnen, der uns gegen eventuelle Gaffer abschirmte.
Da kam Aphrodite mit Shaunee und Stevie Rae angerannt. Sie durchbrachen die Nonnenbarriere und hielten mit großen Augen an, als sie die brodelnde Masse an Spinnen sahen.
»Shit!«, sagte Shaunee.
Stevie Rae schlug die Hand vor den Mund. »Achdu liebegüte!«
Aphrodite zog eine Grimasse. »Neferet ist echt das Letzte.«
»Wir brauchen all unsere Elemente. Die müssen die Spinnen vom Campus pusten«, erklärte ich. »Aber ohne Aufsehen zu erregen.«
»Klar, weil Neferet sich nur ins Fäustchen lachen würde, wenn hier eine Massenpanik ausbräche und die Menschen ’nen Schreck fürs Leben kriegen würden«, sagte Shaunee. »Keine Sorge, Z. Ich werd auf kleiner Flamme kochen.« Zielstrebig trat sie neben Damien, der ihr seine Hand hinhielt. Sie packte sie und nahm das Gewimmel finsterer Körper und zappelnder Beine aufs Korn. »Feuer, komm zu mir.« Um uns herum wurde es wärmer. Mit einem Lächeln, das ihr eine funkelnde Schönheit verlieh, fuhr sie fort: »Heiz ihnen ein, aber brat sie nicht.«
Das Feuer tat genau wie gewünscht. Ohne dass Rauch, Flammen oder Funken entstanden, wurde es um uns noch heißer. Die Spinnenmasse wogte in sichtlichem Unbehagen.
Ich sah mich um und bemerkte erst jetzt, dass Shaylin nicht mitgekommen war. »Wo ist das Wasser? Wir brauchen Shaylin.«
»Noch auf’m Parkplatz«, sagte Stevie Rae. »Ich hab sie auf dem Handy angerufen, aber sie hat nich abgenommen.«
»Vielleicht hat sie es nicht klingeln hören«, sagte Damien. »Da draußen ist eine Menge los.«
»Okay, kein Problem«, sagte Aphrodite. »Ich kann ersatzweise Wasser sein. Der Kreis wird nicht so stark werden, aber wenigstens komplett.«
Sie wollte gerade Shaunees Hand nehmen, da schob sich Erin durch die Nonnenbarriere. »Hab ich’s doch gespürt, dass da ein Kreis beschworen wird!« Als sie Aphrodite sah, rümpfte sie die Nase. »Was, du Sumpfhuhn willst das Wasser rufen? Das ist ja ’ne Beleidigung. Ich bin das einzig Wahre!«
»Ja, ein wahres Irgendwas bist du definitiv«, gab Aphrodite zurück. »Aber das hat mit anderen Flüssigkeiten zu tun als mit Wasser.«
»Ich hab dir doch gesagt, gib dich nicht mehr mit diesen Weicheiern ab«, bemerkte Dallas von außerhalb der Barriere und bedachte die Nonne, die ihn nicht durchließ, mit einem ätzenden Blick.
Erin warf ihm ein kokettes Lächeln zu. »Ich weiß, was du gesagt hast, Baby. Aber du weißt, dass ich ’n paar Sachen nicht abkann. Und wenn das Wasser bei ’nem Kreis draußen bleiben soll, muss ich was dagegen tun.«
Dallas zuckte mit den Schultern. »Von mir aus. Klingt für mich wie pure Zeitverschwendung.« Plötzlich kniff er die Augen zusammen, als würde ihm gerade klar, was die Nonnenbarriere bedeutete. »Aber hey, warum zum Henker beschwört deine debile Exclique mitten am Tag der offenen Tür einen Kreis? Was geht hier eigentlich ab, hä?«
»Wir haben keine Zeit zum Rumdiskutieren«, zischte ich. »Stark, schaffst du uns bitte Dallas vom Hals und sorgst dafür, dass er sich den Rest des Abends nicht mehr muckst?«
»Aber gern.« Lächelnd packte Stark Dallas am Kragen und zerrte ihn von uns und dem Hauptplatz des Campus weg. Dallas wehrte sich fluchend, aber gegen meinen Krieger kam er so wenig an wie eine sirrende Mücke. Ich drehte mich zu Erin um. »Egal was passiert ist, du bist Wasser, und dein Element ist in unserem Kreis willkommen. Aber negative Energie können wir hier nicht gebrauchen – wir haben größere Probleme.« Ich nickte zu den Spinnen hin.
Erins Blick folgte meinem, und sie keuchte auf. »Himmel, was ist denn das?«
Ich öffnete den Mund und wollte schon eine Ausrede erfinden, aber mein Bauchgefühl ließ mich innehalten. Ich sah Erin in die blauen Augen. »Ich glaube, es ist das, was von Neferet übrig ist. Jedenfalls ist es böse und gehört nicht aufs Schulgelände. Wirst du uns helfen, es rauszuschmeißen?«
»Spinnen sind eklig«, sagte sie, aber dann erfasste ihr Blick Shaunee, und ihre Stimme erstarb. Sie hob das Kinn und räusperte sich. »Eklige Sachen haben hier nichts zu suchen.« Noch einmal hielt sie inne. »Das ist auch meine Schule«, sagte sie dann und trat entschlossen auf Shaunee zu.
Ihre Stimme klang komisch, irgendwie heiser. Ich hoffte, das bedeutete, dass ihre Gefühle endlich wieder auftauten und sie vielleicht wieder zu der werden würde, die wir einmal gekannt hatten.
Shaunee hielt ihr die Hand hin. Erin nahm sie.
»Schön, dass du da bist«, hörte ich Shaunee flüstern.
Erin gab keine Antwort.
»Sei diskret«, bat ich sie.
Knapp nickte sie. »Wasser, komm zu mir.« Die Luft begann nach Meer und Frühlingsregen zu riechen. »Mach sie nass.«
An den Käfigen bildeten sich Wassertropfen und flossen am Boden zu Pfützen zusammen. Ein faustgroßer Klumpen Spinnen verlor an dem nassen Metall den Halt und platschte in den Teich darunter.
»Stevie Rae«, sagte ich und streckte die Hand aus. Sie packte sowohl meine als auch Erins Hand. Der Kreis war geschlossen.
»Erde, komm zu mir«, sagte sie, und wir waren von dem Duft und den Geräuschen einer Sommerwiese umgeben. »Lass nich zu, dass die unseren Campus verseuchen.«
Kaum merklich begann die Erde unter uns zu beben. Weitere Spinnen fielen von den Käfigen in das Wasser, das von ihrem Gezappel zu brodeln begann.
Jetzt war ich dran. »Geist, komm zu mir. Unterstütze die anderen Elemente darin, diese Finsternis zu vertreiben, die nicht an unsere Schule gehört.«
Ein langgezogenes Zischen ertönte, und alle Spinnen fielen von den Käfigen ab. Die Wasserpfütze erzitterte und begann sich zu verformen, dehnte sich aus, wurde länger.
Ich konzentrierte mich, spürte, wie der Geist mich erfüllte, das Element, zu dem ich die stärkste Affinität hatte, und stellte mir vor, wie die Pfütze voller Spinnen vom Campus geschwemmt wurde, so wie jemand mit einem Schlauch einen Haufen ekligen Faulschlamm wegspült. Mit diesem Bild vor Augen befahl ich: »Und jetzt verschwindet!«
»Raus!«, echote Damien.
»Geht!«, rief Shaunee.
»Haut ab!«, sagte Erin.
»Hasta la vista!«, knurrte Stevie Rae.
Und genau wie in meiner Vorstellung hob sich die Spinnenpfütze vom Boden, als würde sie gleich weggeblasen. Aber schon im nächsten Atemzug nahm die dunkle Masse eine vertraute Form an – sinnlich, wunderschön, tödlich. Neferet! Noch waren ihre Gesichtszüge unscharf, aber ich erkannte sie und die üble Energie, die von ihr ausging.
»Nein!«, schrie ich. »Geist! Stärk die Elemente mit der Energie unserer Liebe und Gemeinschaft! Luft! Feuer! Wasser! Erde! Hört auf mich und jagt sie fort!«
Ein schreckliches Kreischen ertönte, und die Neferet-Erscheinung stürmte los. Sie stieg hoch über unseren Kreis und brach wie eine grausige schwarze Woge über Erin herein. Dann floh das Gespenst, raschelnd und wispernd wie tausend Spinnen, durch das Eingangstor der Schule und löste sich in Luft auf.
»Heilige Scheiße. Das war mal echt eklig«, sagte Aphrodite.
Ich wollte ihr gerade zustimmen, da hörte ich das erste rasselnde Husten. Und spürte, wie der Kreis auseinanderbrach, noch ehe sie auf die Knie fiel. Sie sah zu mir auf und hustete zum zweiten Mal. Blut benetzte ihre Lippen. »Hätte nicht gedacht, dass es so endet«, keuchte sie.
Aphrodite wirbelte herum. »Ich hole Thanatos!« Und sie jagte davon.
Shaunee kniete sich neben ihren bereits blutbefleckten Zwilling. »Nein! Das darf nicht sein. Zwilling! Bitte! Du wirst wieder gesund.«
Erin sank ihr in die Arme. Damien, Stevie Rae und ich wechselten einen Blick, dann knieten wir uns wie auf Kommando neben sie und halfen ihr, ihre Freundin festzuhalten.
»Es tut mir so leid«, schluchzte Shaunee. »All das Miese, was ich zu dir gesagt habe, hab ich doch gar nicht so gemeint!«
»Ist – schon okay, Zwilling«, stieß Erin mühsam zwischen entsetzlichen Hustenanfällen hervor. Blut stieg ihr blasig aus der Kehle, strömte ihr aus Augen, Ohren und Nase. »War meine Schuld. Ich – ich konnte nicht mehr fühlen.«
Ich strich Erin übers Haar. »Wir sind bei dir. Geist, lass sie ruhig werden.«
»Erde, schenk ihr Geborgenheit«, sagte Stevie Rae.
»Luft, hüll sie ein«, sagte Damien.
»Feuer, wärme sie«, sagte Shaunee unter Tränen.
Erin lächelte und berührte Shaunees Wange. »Es wärmt mich schon. Ich – ich fühl mich nicht mehr kalt und einsam. Ich fühl mich gar nichts mehr, nur noch müde …«
»Ruh dich aus«, sagte Shaunee. »Ich bleibe bei dir, während du schläfst.«
»Wir alle bleiben bei dir«, sagte ich und wischte mir mit dem Ärmel Tränen und Rotz vom Gesicht.
Noch einmal lächelte Erin Shaunee an, dann schloss sie die Augen und starb.
Und Shaunee hielt sie ganz fest in den Armen.
Unverhofft und erbarmungslos hatte das Bild in Zoey Redbirds mystischem Spiegel Neferet den Tod ihrer Unschuld vor Augen gehalten. Der Schock, sich wieder jenem gebrochenen, geschändeten Mädchen aus längst vergangenen Zeiten gegenüber zu sehen, hatte sie bis in die Grundfesten erschüttert, sie verwundbar für den Ansturm der abtrünnigen Kreatur gemacht, die ihr Gefäß gewesen war. Aurox hatte sie überrumpelt, mit den Hörnern durchbohrt und von der Dachterrasse ihrer Penthousesuite geschleudert. Als sie dort unten auf dem Asphalt zerschellte, war Neferet, einstige Hohepriesterin der Nyx, in der Tat gestorben. Doch während ihr sterbliches Herz aufhörte zu schlagen, hatte der Geist in ihr, jene unsterbliche Macht, durch die sie zur Königin der Tsi Sgili geworden war, die Herrschaft übernommen, hatte ihre zertrümmerte sterbliche Hülle aufgelöst, um zu leben … zu leben.
Tief unten zog sich die Masse aus Geist und Finsternis zusammen, verbarg sich, wartete … wartete … überlebte, während das Bewusstsein der Tsi Sgili einen bitteren Kampf darum ausfocht, bestehen zu bleiben.
Denn das misshandelte Mädchen im Spiegel hatte eine Erinnerung geweckt, die Neferet längst totgeglaubt hatte – verschüttet – vergessen. Mit einer Gewalt, gegen die sie nicht im mindesten gewappnet war, war die Vergangenheit auf sie eingestürmt.
Und das Aufleben der Vergangenheit war Neferets Verderben.
Sie erinnerte sich. Sie war einst eine Tochter gewesen. Ein Kind namens Emily Wheiler. Sie war verletzlich gewesen, verzweifelt, und der Mensch, der Mann, dem es angestanden hätte, ihr treuester Beschützer zu sein, hatte sie belästigt, misshandelt und sich an ihr vergangen.
All die Jahrzehnte der Macht und Stärke, die Neferet wie einen Wall zwischen sich und jenem Missbrauch, jener geraubten Unschuld gezogen hatte, verflüchtigten sich in dem kurzen Moment, da Emilys Bild in dem Zauberspiegel aufflackerte. Verschwunden war die mächtige Hohepriesterin. Da war nur noch Emily, die den Trümmern ihres jungen Lebens gegenüberstand. Es war Emily, die von Aurox durchbohrt und auf den leeren Asphalt zu Füßen des Mayo-Hotel geschleudert wurde. Es war Emily, die Neferet mit in den Tod nahm.
Doch der Geist der Königin der Tsi Sgili überlebte.
Gewiss, ihr Körper war zerschmettert, ihr Bewusstsein in Stücken, doch während es sich nur mit Mühe ans Dasein klammerte, blieb die Energie, die Neferet Unsterblichkeit verlieh, bestehen. Die tröstlichen Fühler der Finsternis hießen sie willkommen und kräftigten sie, gewährten ihr zunächst, die Gestalt von Insekten anzunehmen, dann die von Schatten, dann von Nebel. Der Geist der Tsi Sgili trank Nacht und spie Tag aus, sank hinab in die Kanalisation von Tulsa und bewegte sich langsam, aber stetig in eine bestimmte Richtung. Was von Neferet blieb, verspürte den beharrlichen Drang, das Vertraute aufzusuchen – zu finden, was sie wieder zu einem Ganzen machen könnte.
Die Tsi Sgili spürte, wie sie die Grenze zwischen der Stadt und dem Ort überschritt, den sie besser kannte als alles andere. Dem Ort, der selbst ihrem körperlosen Geist vertraut war, ja diesen schon so viele Jahre unerbittlich anzog. In der Gestalt dicken, grauen Nebels betrat sie das House of Night. Von Schatten zu Schatten treibend, sog sie das Vertraute in sich ein.
Vor dem Tempel im Herzen der Schule scheute die Nebelgestalt zurück. Zwar waren Rauch und Schatten, Macht und Finsternis ebenso wenig in der Lage, Schmerz wahrzunehmen wie Freude, doch ein Reflex ließ die unheilvolle Energie der Tsi Sgili zurückschrecken, so wie ein abgehacktes Froschbein zuckt, wenn es die heiße Bratpfanne berührt.
Es war dieses unwillkürliche Zurückschrecken, das sie ihren Kurs ändern ließ und sie nahe an jenen Ort der Macht brachte, den sie sehr wohl wahrnahm. Mochte die Tsi Sgili weder Glück noch Schmerz kennen – was von Neferet übrig blieb, wusste, was Macht war. Sie würde immer wissen, was Macht war.
In klebrigen, öligen Tropfen sank sie in das Loch in der Erde ein. Sie absorbierte die Energie, die um sie herum begraben lag, und zog mit ihrer Hilfe das schemenhafte Echo dessen, was über ihr geschah, zu sich herab. So wäre die Tsi Sgili vielleicht noch lange geblieben – formlos, fühllos, reine Existenz –, hätte sich nicht der Tod genähert.
Unsichtbar zog er heran, wie ein Windstoß, der Wolken vor die Sonne treiben wird, doch die Tsi Sgili spürte seinen Hauch, noch ehe die Jungvampyrin zu husten begann.
Tod war der Tsi Sgili noch vertrauter als die Schule oder der Ort der Macht. Tod lockte sie aus ihrer unterirdischen Grube heraus. Im Taumel der Erregung nahm ihr Geist die erste Gestalt an, die ihr zu Beginn ihrer neuen Existenz möglich gewesen war – jene der unermüdlichen, unverfrorenen, unverwüstlichen achtbeinigen Krabbeltiere.
Von einem einzigen Willen getrieben, begannen alle schwarzen Spinnen auszuschwärmen, machten sich auf die Suche nach dem Tod, um sich von ihm zu nähren.
Ironischerweise war es der von den Jungvampyren beschworene Kreis, dessen Energiefluss es Neferet ermöglichte, genug von ihrem Bewusstsein wiederzugewinnen, um sich zu sammeln, sich der uralten Macht des Todes zu bedienen und sich schließlich selbst zu finden.
Ich bin jene, die Emily Wheiler war, dann Neferet und dann Tsi Sgili – Königin, Göttin, Unsterbliche!
Bis zu jenem Augenblick war es ihr einziges Bestreben gewesen, das Vertraute zu finden. Als der Tod über die Jungvampyrin herfiel, trank der Geist der Tsi Sgili ihn in tiefen Zügen, schöpfte daraus Kraft, bis sich die Fragmente von Vergangenheit und Gegenwart endlich wieder zu Erinnerungen vervollständigten und zu einem einzigen großen Wissen wurden.
Der Schock dieses Wissens sandte einen Strom ungeformter Energie durch ihren Geist, der die Fäden der Finsternis in ihre Komponenten zerlegte und die nötige Kraft lieferte, um diese zu einem neuen Körper zusammenzusetzen. Neferet war fast wieder vollständig, als die Elemente sie verstießen. Sie wurde aus dem Kreis geschleudert und floh.
Sie kam nur bis zu dem eisernen Tor, das den Schulcampus der Vampyre von der Straße der Menschen trennte. Hier nahm ihr Körper endgültig feste Gestalt an, und die Macht, die sie in sich gesogen hatte, war restlos aufgebraucht. Keuchend und schwach wie ein neugeborenes Kind sank sie gegen die Mauer, die sich um das House of Night zog, und kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben.
Sie brauchte Nahrung!
Hunger beherrschte all ihre Sinne, bis seine erhobene Stimme zu ihr drang, verächtlich und sarkastisch. »Natürlich, meine Liebe«, höhnte er übertrieben. »Du hast ja recht. Du hast immer recht. Ich habe auch kein Interesse an dieser lächerlichen Verlosung – nein, was gehen mich die fünfhundert Dollar an, die ich in Lose investiert habe, nur um vielleicht diesen Thunderbird Baujahr ’66 zu gewinnen, den die Vampyre als Hauptpreis ausgesetzt haben. Nein, gar kein Problem! Und wie du schon so oft gesagt hast, wir hätten wirklich einen Wagen mit Chauffeur nehmen sollen. Tut mir ganz furchtbar leid, dass ich dir zumuten muss zu warten, bis ich den ganzen Weg zum Parkplatz gegangen bin, das Auto geholt habe und dich abhole, während du dir die Zeit damit vertreiben musst, dich auf einer Bank auszuruhen. Oh, und wie begeistert ich darüber bin, welch tiefen Einblick in dein Dekolleté du diesen zwei Blödmännern aus dem Stadtrat gewähren konntest, während du ihnen deine verstiegenen Spekulationen über Neferet zugezischelt hast. Ha, ha!«, trieb sein sarkastisches Lachen durch die Nacht zu ihr herüber. »Hättest du dir mal nur kurz um andere Dinge Gedanken gemacht als um dich selbst, dann wäre dir klargeworden, dass Neferet hervorragend auf sich selbst aufpassen kann. Vandalen in einer Penthousesuite, von denen weit und breit niemand was gesehen hat? Wer’s glaubt, wird selig. Dieses Chaos sah eindeutig nach weiblichem Tobsuchtsanfall aus. Ich bedaure denjenigen zutiefst, dem er galt, aber für Neferet hege ich keinen Funken Mitleid.«
Neferet setzte sich mühsam auf und lauschte mit allen Sinnen. Der Mensch hatte ihren Namen ausgesprochen. Das musste bedeuten, dass die Götter ihn ihr schickten.
Sein Druck auf den Funkschlüssel ließ die Lichter eines Lexus keine drei Meter von ihrem Versteck aufblitzen, während er brummte: »Verfluchtes Weib. Leute schlechtmachen und intrigieren, das ist alles, was sie interessiert. Hätte ich nur auf Vater gehört und die Finger von ihr gelassen. Was hab ich denn von den fünfundzwanzig Jahren mit ihr gehabt? Bluthochdruck, Sodbrennen und eine undankbare Tochter. Ich hätte der erste ledige Bürgermeister Tulsas seit fünfzig Jahren sein können, und die Töchter sämtlicher Ölbarone hätten mir zu Füßen gelegen. Aber nein, ich musste mir ja diesen Klotz ans Bein ketten …«
Sein Gemurmel verschwamm zu einem diffusen Hintergrundrauschen, als ihr hypersensibles Gehör sich auf seinen Herzschlag einstellte. Sie seufzte dankbar. Oh ja, er roch nach Abendessen. Sie hatte nicht vor, den Schicksalsmächten zu danken, die ihn ihr gesandt hatten. Es war nur angemessen, dass diese ihr halfen – als Zeichen ihrer Freude, sie wieder in ihren unsterblichen Reihen begrüßen zu dürfen.
Als sie sich auf die Füße gekämpft hatte, öffnete er gerade die Tür der Limousine. Sie legte all ihren Hunger, all ihr Verlangen in seinen Namen.
»Charles!«
Er hielt inne, richtete sich auf und spähte in ihre Richtung, versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. »Hallo? Ist da jemand?«
Neferet brauchte kein Licht, um zu sehen. Mühelos, ja genussvoll durchdrang ihr Blick die Finsternis. Sie musterte sein ordentlich gekämmtes Haar, die gut sitzenden Konturen seines maßgeschneiderten Anzugs, den Schweiß auf seiner Oberlippe und den regelmäßigen Pulsschlag an seinem Hals, in dem sein Lebensblut strömte.
Sie trat vor und warf ihr langes kastanienbraunes Haar zurück, gewährte ihm freien Blick auf ihren sinnlichen nackten Leib. Dann – als fiele es ihr jetzt erst ein – hob sie die Hände im wenig effektiven Versuch, ihre intimsten Regionen vor seinen sich weitenden Augen zu schützen. »Charles!«, wiederholte sie seinen Namen und fügte schluchzend hinzu: »Sie haben mir weh getan!«
»Neferet?« Sichtlich verwirrt machte Charles einen Schritt auf sie zu – aber nur einen. »Sind das wirklich Sie?«
»Ja! Ja! Oh Göttin, dass ausgerechnet Sie mich hier finden müssen, nackt, verwundet und ganz allein. Oh, es ist so schrecklich! Ich kann nicht mehr!« Herzzerreißend schluchzte Neferet auf und schlug die Hände vors Gesicht, damit er ihren Körper auch ja ausgiebig bewundern konnte.
»Ich verstehe nicht. Was ist Ihnen zugestoßen?«
»Charles!«, ertönte es in diesem Augenblick schrill von fern, irgendwo auf dem Schulgelände, und beide hielten inne. »Was brauchst du denn so lange?«
»Liebes, ich habe hier –«, setzte Charles zur Antwort an, aber Neferet eilte auf ihn zu, ergriff seine Hand und schnitt ihm das Wort ab. »Nein! Sagen Sie ihr nichts von mir. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie wüsste, was mir angetan wurde«, flüsterte sie verzweifelt.
Sein Blick lag wie gebannt auf Neferets nackten Brüsten. Er räusperte sich und rief: »Frances, Liebes, es tut mir leid. Ich habe den Autoschlüssel fallen lassen und muss ihn erst suchen. Ich bin gleich bei dir.«
»Typisch! Ständig passiert dir so was, mit deinen zwei linken Händen!«, kam die spitze Antwort.
»Gehen Sie zu ihr! Vergessen Sie, dass Sie mich je so gesehen haben!«, wimmerte Neferet und stolperte zurück in die Schatten an der Schulmauer. »Ich komme zurecht.«
Charles eilte ihr nach und zog sich sein Anzugjackett aus. »Was reden Sie da? Ich werde auf keinen Fall gehen und Sie hier nackt und verletzt zurücklassen. Hier, nehmen Sie meine Jacke. Erzählen Sie mir, was passiert ist. Ich weiß, dass Ihr Penthouse verwüstet wurde. Wurden Sie entführt?«
Neferets Blick fiel auf seine Hände, die ihr das Jackett anboten. Mit einem Mal stürmten Erinnerungen auf sie ein, ihre Lippen wurden so kalt und taub, dass sie kaum sprechen konnte. »Ihre Hände sind so groß. Ihre Finger. So – so dick.«
Verwirrt blinzelte Charles. »Ja, mag sein … Neferet, geht es Ihnen gut? Sie wirken tief verstört. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Helfen?« Der Hunger ließ Neferet aus Emilys Vergangenheit zurückschnellen. »Ich zeige Ihnen die einzige Möglichkeit, wie Sie mir helfen können.«
Sie verschwendete keine weitere Zeit und Energie. In einer einzigen raubtierhaften Bewegung schlug sie das angebotene Jackett beiseite und stieß Charles gegen die Mauer. Er gab ein entsetztes uhh von sich, als ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Nach Atem ringend fiel er ins Gras. Sie gab ihm keine Zeit, sich zu erholen. Mit den Knien fesselte sie ihn an den Boden, krümmte ihre Hände zu Klauen und riss ihm die Kehle auf. Dickes, heißes Blut sprudelte aus seinem Hals, und sie schloss die Lippen um die klaffende Wunde und trank in tiefen Zügen. Nicht einmal im Sterben wehrte er sich. Er war ihrem Zauber völlig verfallen und versuchte stöhnend, die Arme um sie zu schließen. Sein Stöhnen wurde zu einem gurgelnden Pfeifen, und seine Beine zuckten krampfhaft. Und je näher er dem Tod rückte, desto stärker wurde Neferet. Sie trank und trank, saugte ihm Leib und Seele bis zur Neige leer, bis von Charles LaFont, Bürgermeister von Tulsa, nicht mehr blieb als eine leblose, ausgeblutete Hülle.
Neferet leckte sich die Lippen, stand auf und sah, von Energie durchpulst, auf die Überreste des Mannes hinunter. Wie herrlich der Tod schmeckte!
»Verflucht, Charles! Muss ich denn alles selber machen?« Die Stimme der Frau klang diesmal viel näher, als bewegte sie sich auf den Parkplatz zu.
Neferet hob die blutige Hand. »Nebel und Finsternis, seid mir zu Willen. Kommt hier und jetzt, um mich zu verhüllen!«
Doch die tiefsten, finstersten Schatten machten keine Anstalten, sie vor suchenden Augen zu verbergen – sie zitterten lediglich unruhig. In der Dunkelheit war ihre Antwort mehr zu spüren als zu hören: Dir jetzt gehorchen, Tsi Sgili, aufs Neu’? Deine Macht welkt … Sind wir treu? Sind wir treu? …
Zorn war ein emotionaler Luxus, den sich Neferet nicht leisten konnte. Fest zog sie ihn um sich, statt sich Charles LaFonts zerknittertes Jackett überzuwerfen. Und so, gekleidet nur in Zorn, Blut und schwindende Macht, floh Neferet. Sie hatte den Straßengraben jenseits der Utica Street erreicht, als LaFonts Frau zu schreien begann.
Bei ihrem Gekreische musste Neferet lächeln, und auch ohne die Dienste der verhüllenden Finsternis huschte die Tsi Sgili mit der überweltlichen Leichtigkeit der Unsterblichen davon. Während ihrer Flucht durch das wohlhabende Viertel im Zentrum Tulsas stellte sie sich vor, wie sie auf einen Sterblichen wirken musste, der das Glück hatte, zufällig aus dem Fenster zu spähen. Wie eine scharlachfarbene Banshee, ein böser Geist aus uralter Zeit. Neferet wünschte, sie verfügte auch über den aus der alten Magie stammenden Fluch der Banshee – dass jeder Sterbliche, der die Dreistigkeit besaß, ihr einen Blick zu schenken, zu Stein erstarrte.
Stein … Ich wünschte … ich wünschte so sehr …
Der Tod des Bürgermeisters hielt nicht lange vor. Viel zu bald musste Neferet verlangsamen. Schwäche überkam sie in solcher Intensität, dass sie über die nächste Bordsteinkante stolperte und anhalten musste, um Atem zu schöpfen.
Keine Häuser hier. Wo bin ich?
Verwirrt sah sie sich um, die Augen zusammengekniffen, weil die im Stil der zwanziger Jahre gestalteten Laternen über den Parkwegen sie blendeten. Instinktiv zog sie sich aus dem Lichtschein zurück in das von schmalen Pfaden durchzogene Buschwerk in den Tiefen des Parks.
Auf einem kleinen Hügel, umgeben von träumenden Azaleen, kam Neferet endlich wieder zu Atem, und ihre Gedanken klärten sich so weit, dass sie erkannte, wo sie sich befand.
Woodward Park, nicht weit vom House of Night. Sie hob den Blick und suchte nach der Skyline der Innenstadt. Das Mayo ist zu weit entfernt. Vor Tagesanbruch schaffe ich das nicht. Und selbst wenn sie ihr Penthouse erreichen sollte, ehe die Sonne aufstieg und sie ihrer verbliebenen Kraft beraubte, wie käme sie an den Menschen an der Rezeption vorbei? Die Finsternis gehorchte ihr nicht. Sie war, für alle weithin sichtbar, eine unbekleidete, blutbeschmierte Vampyrin – etwas, was die Menschen hassten und unbarmherzig jagen würden, insbesondere nachdem ihr Bürgermeister soeben durch einen Vampyr zu Tode gekommen war.
Vielleicht hätte sie etwas sorgfältiger nachdenken sollen, ehe sie LaFonts miserablem Leben ein Ende bereitete.
In Neferet regte sich ein erster Hauch von Panik. Seit der Nacht, da ihr Vater sie ihrer Unschuld beraubt hatte, war sie nicht mehr so allein und angreifbar gewesen.
Beim Gedanken an seine großen heißen Hände, seine dicken Finger und den üblen Gestank seines Atems erschauerte die Tsi Sgili. Sie musste an die Schatten denken, die sie als Kind getröstet hatten, an die Dunkelheit, die den Schmerz ihrer zerschmetterten Unschuld gelindert hatte, und ein Schluchzen brach sich aus ihrer Brust Bahn. »Habt ihr mich alle verlassen? Ist denn keines meiner dunklen Kinder mir treu geblieben?«
Wie zur Antwort raschelte es in den Büschen vor ihr, und ein Fuchs trat hervor. Ohne ein Anzeichen der Angst sah das Tier sie an. Ehrfürchtig bestaunte Neferet sein rötlich-bernsteinfarbenes Fell und die Klugheit in seinen leuchtend grünen Augen.
Der Fuchs ist meine Antwort – mein Geschenk – mein Opfer.
Neferet scharte all ihre verbliebene Macht um sich. Flink und lautlos schlug sie zu, brach dem Fuchs mit einem einzigen Hieb den Hals. Während das Licht aus dessen Augen wich, nahm sie den Körper auf den Schoß und riss mit den Klauen die Kehle des sterbenden Tiers auf. Sie hob den Fuchs in die Höhe, und sein Blut strömte träge über ihre Arme und Brüste und tropfte rund um sie zu Boden wie ein warmer Frühlingsregen.
»Willst ein Opfer du von mir, so labe dich an diesem Tier! Dies Blut soll nur der Anfang sein. Komm zurück, und ganz Tulsa wartet dein!«
Die schwarzen Schatten unter den Azaleen regten sich. Bedächtig, fast zögernd, glitten wenige Fäden der Finsternis auf Neferet zu.
Die Tsi Sgili blinzelte Tränen aus den Augen. Sie hatten sie nicht verlassen! Sie biss sich auf die Lippe, um nicht vor Dankbarkeit aufzuschluchzen, als das erste eiskalte Tentakel sie streifte, sein Ende ins warme Blut des Fuchses tauchte und sich zu nähren begann. Bald gesellten sich weitere dazu, zwar nicht die Hunderte, ja Tausende Tentakel, über die sie einst geboten hatte, aber zu Neferets Freude lockte ihr Ruf so viele von ihnen an, dass sich der Boden ringsum in ein wimmelndes Nest aus Finsternis verwandelt zu haben schien. Tief atmete sie die Nacht ein und spürte der pulsierenden Macht darin nach. Wenn sie die vertrauten Fäden nur bei sich halten könnte, könnte sie ihnen mehr Nahrung geben, und im Gegenzug würden diese sie verhüllen und pflegen, bis sie ihre Kraft und Zielstrebigkeit zur Gänze wiedergewonnen hatte.
Zielstrebigkeit? Was ist mein Ziel?
Erinnerungen überfluteten ihren geschwächten Geist mit einer Kakophonie von Stimmen und Visionen. Sie war ein junges Mädchen – dein Ziel ist es, die Dame des Hauses Wheiler zu werden! Eine junge Hohepriesterin – dein Ziel ist es, dem Weg der Göttin zu folgen! Eine reifere Vampyrin, die begonnen hatte, dem Flüstern der Finsternis zu lauschen, das, vom Winde getragen, an ihre Ohren trieb – dein Ziel ist es, mir zu helfen, aus meinem irdischen Gefängnis zu entkommen, und an meiner Seite zu herrschen! Schließlich machtvoll, Gebieterin über ein Geflecht aus Nacht und Magie – dein Ziel ist es, mich zu unterhalten und meine Gefährtin zu sein!
»Genug!«, schrie Neferet und vergrub das Gesicht im weichen, moschusduftenden Fell des geopferten Fuchses. »Ich habe mir die längste Zeit von anderen sagen lassen, welches meine Ziele sind!« Entschlossen stand sie auf und umgab sich mit den Resten ihres Stolzes und ihrer Macht. »Ihr nährtet euch von meinem Mord. Nun führt mich an einen sicheren Ort!«
Die Fühler der Finsternis umwogten sie, schlängelten sich um ihre nackten Beine, lockten, drängten sie sanft vorwärts. Neferet folgte der Finsternis einen Pfad entlang, der als breite Steintreppe einen Felshang hinabführte, bis sie wieder auf Straßenniveau vor einer unscheinbaren, zwischen den Büschen verborgenen grottenartigen Aushöhlung stand. Die größtenteils von Pflanzen und Fels verdeckte Öffnung sah auf eine weite Grasfläche hinaus, die bis zur Einundzwanzigsten Straße reichte. Die Fühler ließen Neferet los und verschwanden im Fels. Wieder folgte sie ihnen, kletterte zu der Öffnung hinauf, machte sich mit einem tiefen Atemzug Mut und kroch in die vollkommene Schwärze hinein. Erstaunt hielt sie inne, als ein wilder, moschusartiger Geruch über ihr zusammenschlug.
Die Fühler hatten sie in den Fuchsbau geführt.
Neferet sank zu Boden und sog erleichtert den Geruch ihrer Beute ein. Fast schien noch etwas von der Wärme des Tiers, das hier noch vor so kurzer Zeit gelegen hatte, das Nest zu erfüllen. Hier rollte Neferet sich zusammen, bedeckt nur von Blut und Finsternis, schloss die Augen und ergab sich endlich dem Schlaf.
»Da bist du ja, Z! Ich hab dich überall gesucht. Das ist nicht gerade der beste Moment, um dich hier draußen zu verstecken.«
Starks Stimme erschreckte mich so, dass ich zusammenfuhr. Ich rubbelte mir die Gänsehaut von den Armen und sah ihn finster an. »Ich verstecke mich nicht. Ich bin nur …« Ich verstummte und sah mich um. Ja, was mache ich hier, wenn ich mich nicht verstecke?
Unter den Augen der entgeisterten menschlichen Besucher hatte Thanatos Erins leblosen Körper in die Krankenstation bringen lassen. Automatisch war mein Kreis ihr gefolgt. Den Lehrern und Söhnen des Erebos hatte sie befohlen, unsere Gäste höflich hinauszukomplimentieren und den Festbetrieb einzustellen. Wahrscheinlich nahmen alle an, dass ich mithalf, die Menschen zu verabschieden. Ich hatte es auch vorgehabt. Kurz hatte ich sogar mitgemacht, aber dann hatte ich zufällig belauscht, worüber sich einige Besucher unterhielten, und da war ich unfähig gewesen, länger zu bleiben. Es war nicht zu glauben. Da starb eine Jungvampyrin, erstickte an ihrem eigenen Blut, und wie reagierten diese Elternvertretungsmütter und Politiker? Sie zerrissen sich den Mund und stellten wilde Spekulationen an – aber redeten sie wenigstens über das tote Mädchen, erschüttert darüber, dass sie gerade mal achtzehn gewesen war? Oh nein! Sie redeten über Neferet! Wie sie aus dem House of Night gefeuert worden und sofort mit ihren, wie sie es nannten, ›antivampyrischen Ansichten‹ an die Öffentlichkeit gegangen war, und dann war sie auf einmal spurlos verschwunden, und ihre Penthouse-Suite war verwüstet.
Einer der Stadträte hatte sogar gesagt, es würde ihn nicht wundern, wenn die Vampyre Neferet gedroht hätten, nur ja aus Tulsa zu verschwinden, und die ›arme Neferet‹ schlussendlich Opfer einer gewaltsamen Racheaktion des House of Night geworden wäre.
Ich war fuchsteufelswild, aber was hätte ich dem Kerl sagen können? Nein, wir haben nicht ihr Penthouse verwüstet und ihr gedroht, wir haben meine Grandma aus ihren bösen Klauen gerettet, und dann haben wir sie von der Dachterrasse geschmissen. Ja, das wäre richtig gut gekommen.
Zu hören, wie sie sie als ›arme Neferet‹ bezeichneten, war mehr, als ich ertragen konnte. Himmel, mein Kreis und ich hatten die ›arme Neferet‹ gerade noch daran hindern können, mitten auf unserem Tag der offenen Tür feste Gestalt anzunehmen und sich ein paar Städter zu genehmigen! Vielleicht war die ›arme Neferet‹ sogar schuld daran, dass Erins Körper sich der Wandlung verweigert hatte. Es war ja schon ein merkwürdiger Zufall, dass Erin sterben musste, kurz nachdem die eklige halbmaterielle Ex-Hohepriesterin durch sie hindurchgerauscht war.
Ich beherrschte mich also, und statt meiner Wut vor aller Augen Luft zu machen, nutzte ich das Durcheinander, das durch den Tod einer Jungvampyrin in aller Öffentlichkeit entstanden war, um mich auf eine Bank jenseits der Stallungen zurückzuziehen, tief Luft zu holen und nachzudenken.
Ich ließ den Atem wieder ausströmen und dachte weiter nach. »Ich verstecke mich nicht, Stark«, sprach ich aus, was ich fühlte. »Ich brauchte nur ’nen Moment für mich, um zu verdauen, was für Diskussionen das Desaster da«, ich schwenkte die Hand in Richtung Campusmitte, »wieder auslösen wird.«
Er setzte sich neben mich auf die Bank und nahm meine Hand. »Ich versteh schon. Mir fällt’s auch nicht leicht, mit dem Tod umzugehen«, sagte er leise.
»Ja.« Mit dem Wort entschlüpfte mir ein kleiner Schluchzer. Göttin, was war ich für eine Heuchlerin! »Weißt du was? Ich bin auch nicht besser als diese klatschenden und tratschenden Menschen. Du hast recht. Ich verstecke mich hier wirklich und bin sauer und tue mir selbst leid, statt einfach nur traurig zu sein, dass gerade eine aus unserem Kreis gestorben ist.«
»Du musst doch nicht perfekt sein, Z. Das erwartet niemand.« Stark drückte meine Hand. »Aber hör mal, es wird nicht für immer so weitergehen.«
Mein Magen verkrampfte sich. »Vielleicht ist das das Problem. Ich weiß nicht, ob es nicht doch für immer so weitergehen wird.«
»Hey, wir haben jetzt schon zum zweiten Mal Neferet besiegt – und heute Abend hat sie nicht die beste Figur gemacht. Überleg mal – Spinnen? Ist das alles, was ihr noch einfällt? Sie kann nicht bis in alle Ewigkeit weiter gegen uns kämpfen.«
»Sie ist unsterblich, Stark. Man kann sie nicht töten. Und das heißt, sie kann bis in alle Ewigkeit gegen uns kämpfen«, entgegnete ich düster. »Und aus den Spinnen hatte sie sich in ekliges schwarzes Klebzeug verwandelt, das schon wieder anfing, sich zu ihrem Körper zu formen. Brrr. Sie ist wieder da.«
»Na, wenigstens wissen jetzt alle, dass sie böse ist«, wandte er ein.
»Nein, das wissen nicht alle. Die Vampyre ja – wobei der Hohe Rat beschlossen hat, nicht mal den kleinen Finger gegen sie zu rühren. Aber die Menschen hier in Tulsa – Himmel, der Bürgermeister samt Stadtrat – halten sie praktisch für Glinda, die Gute Hexe des Nordens. Dass ich gerade so sauer bin, liegt daran, dass ich vorhin gehört hab, wie so ein paar Krawattenheinis und Elternvertreterinnen über sie redeten und sich fragten, ob wir was damit zu tun hätten, dass ihre Suite verwüstet wurde und die ›arme Neferet‹«, ich setzte es mit den Fingern in Anführungszeichen, »seither nicht mehr gesehen wurde.«
»Wirklich? Das kann doch nicht wahr sein.«
»Doch. Mit ihrer Pressekonferenz hat Neferet dafür gesorgt, dass sie bei allem, was seither passiert ist, wie das unschuldige Opfer wirkt.«
»Egal. Die Sache ist, wir konnten nicht anders als deine Grandma retten und Neferet dabei gründlich zusammenfalten. Wir waren verhüllt. Niemand hat uns gesehen. Das Geschwätz hat also weder Hand noch Fuß. Kümmere dich nicht darum.«