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Clemens Hofstädter ist gerade dabei, seine Zelte in Deutschland abzubrechen und zu seiner Tochter Susanne nach Spanien auszuwandern, als sein wohl geplantes Leben völlig aus den Fugen gerät. Seine Geliebte Rosi erpresst ihn mit brisantem Wissen aus seiner Vergangenheit, von dem seine Tochter bisher nichts ahnt und auch nichts erfahren darf. In blinder Wut erschlägt er Rosi in ihrer Wohnung und verwischt seine Spuren. Während er noch zweifelt, ob das ausreichen wird, um ihn vor dem Gefängnis zu bewahren, spielt ihm der Zufall eine unerwartete Lösung für sein Problem in die Hände. Doch wird sich die Mannheimer Polizei davon täuschen lassen?
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Seitenzahl: 272
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Epilog
Mittwoch, 5. November 1991
Wie jeden zweiten Mittwoch im Monat saß Clemens Hofstädter in seiner Luxuslimousine und fuhr von Heidelberg nach Mannheim zu seiner langjährigen Geliebten. Der Himmel war an diesem Nachmittag grau und wolkenverhangen. Der leichte Nieselregen mit heftigen böigen Windstößen vervollständigte die düstere Herbstwetterstimmung und spiegelte Clemens’ Gemütslage wieder. Er war ein sehr vermögender Mann, nachdem vor vier Jahren die Scheidung von seiner zweiten Frau, Monika Hofstädter, vollzogen worden war und er noch im gleichen Jahr seine Metallbaufirma für sechseinhalb Millionen D-Mark an einen europaweit agierenden Konzern veräußert hatte. Bereits ein Jahr zuvor hatte er nach dem tragischen Unfalltod seiner Eltern, Adolf und Elisabeth Hofstädter, ein millionenschweres Erbe angetreten, das neben einem beachtlichen Geldbetrag auch eine Villa in Heidelberg, eine Finca an der Costa Blanca in Spanien sowie weitere Immobilien in Heidelberg und Umgebung beinhaltete. Nicht einmal zwei Monate nachdem seine Eltern die in dritter Generation gut gehende Firma ihrem einzigen Sohn übertragen hatten, wurden sie bei einem Absturz ihres Privatjets auf dem Flug von Mannheim nach Nizza von einem Moment auf den anderen aus dem Leben gerissen. Den geplanten Kurzurlaub an der Côte d’Azur mit dreitägigem Aufenthalt im Fünf-Sterne-Hotel Carlton in Cannes und Besuch des legendären Spielcasinos von Monte Carlo konnten sie leider nicht mehr genießen.
Obwohl die Kosten für den Scheidungsanwalt und die im Ehevertrag geregelte Abfindungszahlung an seine Frau einen nicht unerheblichen Teil des Geldes verschlungen hatten, konnte Clemens ein finanziell unabhängiges und sorgenfreies Leben führen. Er war mit seinen einundfünfzig Jahren sportlich sehr aktiv, hielt sich durch Waldläufe fit und genoss regelmäßig mit Freunden und Geschäftspartnern Golfrunden in seinem Heimatclub Heidelberg-Lobenfeld. Mit einer Körpergröße von einem Meter achtzig, dunklen, fast schwarz wirkenden Augen, seinem schokobraunen, lockigen Haar, der durchtrainierten Figur und seinem gepflegten Äußeren war er ein für die Damenwelt höchst attraktiver Mann. Sein selbstbewusstes Auftreten, seine stets elegante Kleidung und nicht zuletzt sein üppiges Bankkonto, welches ihm einen luxuriösen Lebensstil ermöglichte, vervollständigten das Bild eines typischen Frauenschwarms. Trotz der Aufmerksamkeit, die er bei Frauen aller Altersstufen genoss, wollte Clemens nach seiner zweiten Scheidung keine feste Beziehung mehr eingehen. Er zog es vor, sich regelmäßig mit verschiedenen Edel-Callgirls beziehungsweise Frauen einschlägig bekannter Escort-Services zu treffen. Dies war für ihn einfacher und unproblematischer als eine neue Beziehung, deren Ausgang er nicht kannte, aber auch nicht kennen wollte. Ansonsten kam er ganz gut alleine zurecht.
Ein Jahr nach dem Tod seiner Eltern hatte er deren herrschaftlich wirkende Jugendstilvilla oberhalb des Neckars bezogen.
Auf dem sonnigen bewaldeten Berghang gegenüber dem weltbekannten Heidelberger Schloss beschäftigte er neben einer Haushälterin auch einen Gärtner, die für ihn häusliche Tätigkeiten wie Kochen, Putzen, Waschen und Bügeln sowie sämtliche Arbeiten rund ums Haus erledigten.
Wie üblich, war er gegen vierzehn Uhr von dort losgefahren, um mit Roswitha Knopfloch ein Schäferstündchen zu verbringen, das sich alle zwei Wochen wiederholte.
Rosi, wie Clemens sie nannte, hatte schulterlanges kastanienbraunes Haar und war einen Meter siebenundsiebzig groß. Sie hatte in jungen Jahren, dank ihres durch niedliche Sommersprossen auf Wangen und Stupsnase interessanten und nicht alltäglichen Aussehens, ihrer makellosen Figur und ihrer für diesen Job idealen Körpergröße, als erfolgversprechendes Model gearbeitet. Mit Anfang zwanzig stand sie vor einer internationalen Karriere. Namhafte Modedesigner sahen in ihr einen neuen leuchtenden Stern am Himmel über den internationalen Laufstegen rund um den Globus aufgehen.
Allerdings fand sich Rosi in der schnelllebigen Modelwelt nicht zurecht. Der Stress, das ständige Reisen, der strikt einzuhaltende Ernährungsplan und zu guter Letzt der Konkurrenzkampf mit intriganten Model-Kolleginnen gingen an der sensiblen Frau nicht spurlos vorbei. Ihr mangelndes Selbstbewusstsein ließ sie daran zweifeln, den Anforderungen des Model-Business standhalten zu können. Deshalb versuchte sie relativ früh, sich mit verschiedenen Rauschmitteln gegenüber dem Rest der Welt abzuschirmen, mit fatalen Folgen. Innerhalb kürzester Zeit nahm ihr Drogenkonsum derart zu, dass sie unfähig wurde, ihre Model-Tätigkeit weiter auszuüben. Ihre aussichtsreiche Karriere fand ein abruptes Ende. Der Traum von der großen Welt, von heißen Schickimicki-Partys mit prominenten Popstars, Modegurus und Schauspielern und einer eigenen Designer-Penthouse-Wohnung über den Dächern von London, Paris oder New York war geplatzt.
Es dauerte Jahre, bis Rosi ihre Drogenabhängigkeit endgültig besiegen und ihr Leben wieder einigermaßen ordnen konnte. Mittlerweile lebte sie in einer kleinen Zweizimmerwohnung in der Mannheimer Innenstadt und verdiente sich ihren Lebensunterhalt mit einem Halbtagsjob als Bürogehilfin in einer renommierten Heidelberger Rechtsanwaltskanzlei und mit gewissen »Dienstleistungen«, die sie der zahlenden Männerwelt gelegentlich anbot. Trotz ihres früheren Drogenkonsums, der zweifelsohne Spuren an Rosis Körper und Seele hinterlassen hatte, war sie mit ihren vierzig Jahren immer noch eine attraktive Frau. Von ihrem Gehalt kam sie kaum über die Runden, obwohl sie ein einfaches und sparsames Leben ohne Highlights führte. Eine Vollzeitstelle wurde ihr von ihrem Arbeitgeber jedoch nicht angeboten. Da sie ihren seriösen Arbeitsplatz aber auf keinen Fall aufgeben wollte, zumal ein Ganztagsjob bei einem anderen Arbeitgeber mangels Berufsausbildung für sie außer Reichweite lag, wurden finanzielle Löcher regelmäßig durch das Geld, das sie mit ihrem fragwürdigen Nebenjob verdiente, gestopft. Den am Monatsende verbleibenden Rest, immerhin ein recht beachtlicher Betrag, der für das Finanzamt unsichtbar blieb, legte sie beiseite, um sich im Rentenalter doch noch eine schöne Wohnung in einer angesagten Großstadt leisten und ihren Lebensabend so gut wie möglich verbringen zu können.
Um schneller an dieses Ziel zu kommen, hatte sie einen Plan. Und die Hauptrolle in diesem Plan spielte einer ihrer Lover, der gerade auf dem Weg zu ihr war, wie jeden zweiten Mittwoch im Monat.
Susanne saß in einem gemütlichen kleinen Restaurant in der Altstadt von Valencia und wartete auf ihren Verlobten. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Kurz vor zwei. Allmählich füllte sich das Lokal, wie um diese Uhrzeit in Spanien üblich. Es waren größtenteils Einheimische, die ihre Mittagspause nutzten, um sich ein preiswertes, aber äußerst leckeres Drei-Gänge-Menü zu gönnen.
Das Restaurant war mit kleinen viereckigen Holztischen ausgestattet, deren Tischplatten mit allerlei Ritzereien verziert waren, die auf ihr hohes Alter und auf den Besuch unzähliger Gäste in den zurückliegenden Jahren schließen ließen. Typisch spanisch waren auch die fehlenden Tischdecken, die klapprigen Holzstühle und die massive dunkle Theke gleich neben dem Eingang, über der ein Fernsehapparat unterhalb der Decke montiert war. An den Wochenenden flimmerten hier abwechselnd Fußballspiele der Primera Division oder Übertragungen von Stierkämpfen, den Corridas, über den Bildschirm.
Auch in Valencia, nach Madrid und Barcelona Spaniens drittgrößte Stadt, gab es mit der La Plaza de Toros eine historische Stierkampfarena. In diesem architektonisch imposanten Bauwerk fanden seit Jahrzehnten die wichtigsten Stierkämpfe während der Fallas, dem valencianischen Frühlingsfest, und im Juli bei der Feria, einer Art Kirmes, statt. Jetzt aber, Anfang November, galt das Interesse der sportbegeisterten Einwohner Valencias eher dem FC Valencia, dem traditionsreichen Fußballclub der Stadt, der in der Primera Division, der ersten Spanischen Liga, verheißungsvoll in die Saison gestartet war und somit von der nationalen Meisterschaft träumen durfte.
Susanne drehte sich um und schaute zur Tür. Die Rückenlehne ihres Stuhls knarzte bei der Bewegung. Wo blieb Carlos nur?
»Buenos dias Señora, was darf ich Ihnen bringen?«, fragte der Kellner die junge Deutsche.
»Im Moment nur ein Glas Vino Rosado del la Casa, gracias«, antwortete Susanne in perfektem, akzentfreiem Spanisch. »Ich warte noch auf meinen Freund. Das Essen bestellen wir dann gemeinsam.«
»Alles klar.« Der Kellner nahm am Nachbartisch noch eine Bestellung auf und begab sich dann zur Theke, um dem Barkeeper den Zettel mit den Getränkewünschen der Gäste zu überreichen.
Susanne schaute auf ihre Schweizer Markenuhr. Inzwischen war es fünf nach zwei, fünf Minuten über der verabredeten Zeit. Sie war es gewohnt, dass sich ihr Verlobter gelegentlich etwas verspätete. Dies lag allerdings nicht daran, dass Carlos von Natur aus zur Unpünktlichkeit neigte, sondern allein an seinem anspruchsvollen Job. Denn er konnte eine Sitzung, die länger dauerte als angesetzt, nicht mit dem Hinweis, er habe eine Verabredung mit seiner Verlobten, vorzeitig verlassen.
Während Susanne wartete, nippte sie an ihrem Vino Rosado, den ihr der freundliche Kellner zwischenzeitlich serviert hatte, und sah gedankenverloren nach oben zu den zahlreichen Hinterbeinen von Schweinen, die von der Decke des Restaurants baumelten. Bei diesen Fleischstücken handelte es sich um Jamon Iberico, den schmackhaften iberischen Schinken, der vor seiner Verkostung bis zu zwanzig Monate zur Lufttrocknung aufgehängt wird. Da das Ibericoschwein oftmals schwarze Klauen hat, wird der Schinken auch Pata Negra genannt – »schwarze Pfote«. La Pata Negra war auch der Name des Lokals, in dem Susanne mittlerweile schon seit fast zwanzig Minuten auf ihren Verlobten wartete. Obwohl sie gemeinsam mit Carlos schon einige Male das köstliche Essen hier genossen hatte, war sie immer wieder vom Anblick der herabhängenden Schweinekeulen und von der einfachen, aber urgemütlichen Ausstattung fasziniert.
Als sich die Eingangstür öffnete und ihr Verlobter das Restaurant betrat, zauberte sein Erscheinen ein verliebtes Lächeln auf Susannes Gesicht. Dieses Lächeln wurde nur von der ins Lokal hereinscheinenden spätherbstlichen Sonne übertroffen. Das milde Novemberwetter an Spaniens Mittelmeerküste war keineswegs mit dem trüben Regenwetter zu vergleichen, das zur selben Zeit in Deutschland vorherrschte.
Als Clemens mit seinem Mercedes 500 SL die Stadtgrenze von Mannheim erreichte, gingen ihm viele Gedanken durch den Kopf. Während er in die prachtvolle Augusta-Anlage einbog, eine vierspurige, als Allee ausgebaute Straße, deren Mittelstreifen zweireihig mit Platanen bepflanzt war, hatte es zu regnen aufgehört und das rhythmische Quietschen der Scheibenwischer nahm ein Ende. Der starke Wind sorgte jedoch dafür, dass die majestätisch wirkenden Bäume massenhaft ihre bunten Blätter verloren. Ein Schauspiel, dem Clemens keine Aufmerksamkeit schenkte. Er war angespannt und grübelte pausenlos darüber nach, wie er auf Roswithas ungeheuerliche Forderung reagieren sollte. Würde sie seinem Kompromissvorschlag zustimmen? Gedankenverloren erreichte er kurze Zeit später die Innenstadt und erspähte in einer Nebenstraße eine Parklücke.
»Hey, du Idiot, kannst du nicht aufpassen?«, pöbelte ihn ein Fußgänger an, der just in dem Moment, als Clemens den Rückwärtsgang eingelegt hatte, um in die Parklücke zu fahren, hinter seinem Fahrzeug die Straße überqueren wollte. Wortlos sah ihn Clemens an und erhob zur Entschuldigung nur kurz seine linke Hand. Laut vor sich hin fluchend trottete der Passant davon und Clemens stellte seinen Wagen ab. Beim Aussteigen bemerkte er, dass es zwar nicht mehr regnete, der böige Wind aber immer noch sein Unwesen trieb. Rasch setzte er seinen weichen Filzhut auf. Er nahm seinen Mantel aus dunkelbrauner Schurwolle vom Beifahrersitz, schlüpfte hinein, hängte sich den braun-beige karierten Schal, der farblich bestens mit Hut und Mantel harmonierte, um den Hals und zog ihn zum Schutz vor dem nasskalten und stürmischen Wind über Mund und Nase.
Nach etwa zweihundert Metern Fußweg erreichte er das fünfgeschossige, etwas in die Jahre gekommene Mehrfamilienhaus, in dem sich im obersten Stock Roswithas Wohnung befand. Kurz nachdem er den Klingelknopf gedrückt hatte, erklang das schrille Summen des elektrischen Türöffners und er betrat das an Boden und Wänden geflieste Treppenhaus. Gleich rechts im Hausflur befand sich der Personenaufzug und wenige Sekunden nach Betätigen der Fahrstuhl-Ruftaste öffnete sich die Tür.
Immer noch in Gedanken versunken, mit welchem Ergebnis das bevorstehende Gespräch mit Rosi wohl enden würde, betrat Clemens die Aufzugskabine und übersah dabei eine ältere Dame, die gerade aussteigen wollte. Er versetzte ihr einen kurzen, aber heftigen Rempler. Vor lauter Schreck konnte er nicht mal ein Wort der Entschuldigung über seine Lippen bringen, sondern starrte die Frau nur mit weit aufgerissenen Augen an.
»Nicht so stürmisch, junger Mann«, sagte die Dame zu ihm, stieg aus dem Fahrstuhl und ging ohne weiteren Aufhebens in Richtung Hausausgang weiter.
Während der Fahrt nach oben knöpfte Clemens seinen Mantel auf und zog den Schal von Mund und Nase. Im vierten Obergeschoss erwartete ihn Rosi bereits an der geöffneten Eingangstür zu ihrer Wohnung.
»Wir haben etwas zu besprechen«, sagte Clemens, ohne vorher seine Langzeit-Bekannte mit einem einfachen Hallo zu begrüßen.
»Ich weiß«, entgegnete Rosi.
Es war unverkennbar, dass etwas Gravierendes zwischen ihnen vorgefallen sein musste, denn normalerweise fiel die Begrüßung zwischen Clemens und Roswitha wesentlich herzlicher aus.
Bis auf wenige Ausnahmen besuchte er Rosi alle vierzehn Tage in ihrer Mannheimer Wohnung. Er wusste, dass sie außer mit ihm noch mit drei oder vier weiteren Männern Bekanntschaften in ähnlicher Weise pflegte, aber es machte ihm nichts aus. Schließlich war sie für ihn auch nicht die einzige Frau, die er aufsuchte, aber sie war die einzige, der er hin und wieder sein Herz ausschüttete und der er das eine oder andere private Detail aus seinem Leben anvertraute. Manchmal bediente er sich auch irgendwelcher Escort-Ladies, die dazu bereit waren, ihn über einen Restaurant- oder Konzertbesuch hinaus für eine heiße Nacht und gegen entsprechende Zusatzentlohnung auf ein Hotelzimmer zu begleiten.
Rosis knapp sechzig Quadratmeter große Bleibe war schlicht, aber gemütlich eingerichtet. Gleich hinter dem Eingang befand sich ein kleiner Flur mit Garderobe, einem kleinen Schuhschränkchen und der Gästetoilette. Durch einen Türvorhang, der im Winter aus dem Treppenhaus einströmende Zugluft abhalten sollte, gelangte man ins Wohnzimmer, das mit einem kleinen Esstisch, einer Zweiercouch, einem Sessel und einem Schrank mit Fächern für Fernsehapparat und Stereoanlage ausgestattet war. An der Wand hinter dem Esstisch hing ein großes gerahmtes Foto, auf dem die Skyline von Manhattan zu erkennen war. Das zweiflügelige Wohnzimmerfenster war zur Straße orientiert. Eine Schiebetür aus Glas erlaubte den Blick in die kleine Küche. Eine weitere Tür führte in das Schlafzimmer mit rot gestrichenen Wänden, flauschigem Teppichboden, einem dunkelgrauen Kleiderschrank mit Spiegeltüren und einem dunklen einen Meter achtzig breiten Boxspringbett, auf dem gewöhnlich vier rote herzförmige Kissen lagen. Das schmale Schlafzimmerfenster zeigte zum rückwärtigen Hinterhof mit einem kleinen von Unkraut übersäten Rasenstück, über das drei Wäscheleinen gespannt waren. Auf einer mit Waschbetonplatten gepflasterten Fläche waren Mülltonnen und Fahrräder abgestellt.
Normalerweise gab es bei seinen Besuchen bei Rosi zunächst Kaffee und Kuchen, anschließend begaben sie sich ins Schlafzimmer. Nachdem sie miteinander geschlafen hatten, legte Clemens für gewöhnlich einige Geldscheine auf Rosis Nachttisch und verließ nach einem kurzen Abschiedskuss und mit den Worten »Tschüss, bis zum nächsten Mal« die Wohnung. Anschließend machte er sich wieder auf den Heimweg in seine Villa nach Heidelberg.
Es gab aber auch Tage, an denen sie sich einfach nur über Gott und die Welt unterhielten oder Clemens ihr mal wieder sein Herz ausschüttete. Rosi war eine Frau, der gegenüber er sich öffnen konnte. Schon oft hatte er ihr von seinen früheren Gewaltausbrüchen erzählt und dass er ahnte, warum er zum Schläger geworden war.
»Er hat mich als Kind immer gepiesackt und ich weiß bis heute nicht, warum. Aber damals war ich noch zu klein und konnte mich deshalb nicht wehren«, sagte er einmal zu ihr. »Seither flippe ich immer aus, wenn mich jemand zu sehr ärgert.«
In diesen Momenten strich ihm Rosi über sein lockiges Haar und beruhigte ihn mit den Worten: »Du hast dich aber geändert. Die Antiaggressionstherapie hat sich gelohnt, denn du bist nicht mehr der Schläger von damals.«
Doch an diesem Nachmittag sollte sich noch zeigen, dass sie sich getäuscht hatte.
Nachdem Susannes Verlobter das La Pata Negra betreten und seine Auserwählte erblickt hatte, ging er schnellen Schrittes auf sie zu.
»Hola, mein Liebling, entschuldige bitte, dass ich nicht früher kommen konnte, aber die heutige Sitzung wollte einfach nicht enden.« Er beugte sich zu Susanne herunter, gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange und setzte sich neben sie.
»Schon gut, Carlos. Hab mir schon gedacht, dass du es mal wieder nicht schaffst, pünktlich zu sein. Ich hab mir deshalb schon mal ein Glas Rosado gegönnt.« Sie deutete dabei mit einer leichten Kopfbewegung auf das inzwischen fast leer getrunkene Weinglas. Carlos konnte zwar ganz gut Deutsch verstehen, sich aber nur unzureichend verständigen. Daher unterhielten sie sich üblicherweise auf Spanisch.
Der aufmerksame Kellner stand bereits an ihrem Tisch und wartete höflich, bis Carlos seinen Blick auf ihn richtete.
»Señor, möchten Sie auch ein Glas Rosado?«
»Ja gerne, aber wir bestellen auch gleich etwas zu essen. Schatz, was möchtest du denn?«, fragte er Susanne.
»Ich nehme die Nummer zwei vom Mittagstisch-Menü.« Carlos warf einen kurzen Blick auf die vor ihm liegende Speisekarte und gab dem Keller mit zwei ausgestreckten Fingern seiner rechten Hand zu verstehen, dass er sich der Bestellung seiner Verlobten anschließen wollte.
»Gute Wahl«, sagte der Kellner und machte sich auf den Weg zur Theke.
Carlos Negredo Garcia hatte Susanne vor etwa drei Jahren in einer kleinen Tapas-Bar gegenüber dem Beach-Club an der belebten Strandpromenade von Valencia kennengelernt. Die hübsche junge Deutsche mit den weiblichen Kurven, dem langen brünetten Haar und den funkelnden graugrünen Augen fiel ihm sofort auf und er konnte seinen Blick nicht mehr von ihr lassen, was von Susanne nicht unbemerkt blieb. Als sie seinen Blick erwiderte und ihn freundlich anlächelte, war es endgültig um ihn geschehen.
Er sprach sie an, fragte, ob er sich zu ihr setzen dürfe, was Susanne bejahte, und dies war der Beginn einer wunderschönen Liebesgeschichte, die harmonischer nicht sein könnte. Susanne Neumann absolvierte damals im Rahmen ihres Master-Studiums in Hispanistik an der Universität Bonn ein sechsmonatiges Auslandspraktikum im Deutschen Konsulat in Valencia.
Nach Ende der Praktikumszeit pendelte sie eine Zeit lang zwischen Deutschland und Spanien hin und her. Mittlerweile war sie nicht nur in Carlos, sondern auch in das südwesteuropäische Land verliebt, das zu ihrer neuen Heimat geworden war. Aufgrund des positiven Eindrucks, den sie während ihres Praktikums im Konsulat hinterlassen hatte, wurde ihr dort eine Stelle angeboten. Seither kümmerte sie sich in behördlichen Fragen um deutsche Firmen und Residenten, die sich in der Region Valencia niedergelassen hatten. Darüber hinaus fungierte sie hin und wieder als Dolmetscherin, falls es sprachliche Barrieren zwischen spanischen Ämtern und deutschen Auswanderern zu überwinden galt. Vor rund einem halben Jahr hatte sie mit ihrem Verlobten eine schicke Wohnung in El Cabanyal bezogen, einem maritimen und angesagten Stadtviertel in Valencia, das besonders wegen seines Lifestyles, seiner im volkstümlichen Jugendstil erbauten Wohnhäuser und seiner vielen Restaurants, Kaffeehäuser, Musikbars und Diskotheken bei Einheimischen und Touristen sehr beliebt war.
»Lass es dir schmecken«, sagte Carlos, als ihnen der Kellner die Vorspeise, Patatas bravas, knusprige Kartoffelwürfel mit einer scharfen Soße, servierte. Dazu wurde das obligatorische Weißbrot mit Aioli gereicht.
»Wie war denn dein Tag im Büro?«
»Wenig interessant«, erwiderte Susanne. »Ich hatte nur zwei Passverlängerungen, eine Nachlassangelegenheit und ein Rechtshilfegesuch zu bearbeiten, ansonsten nur Kleinkram. Und wie lief’s bei dir? Die Sitzung muss ja sehr wichtig gewesen sein, wenn die so lange gedauert hat.«
»Wichtig war sie schon, aber nicht so spannend, dass man hätte eine dreiviertel Stunde überziehen müssen. Wir hatten über einige Gesetzesvorlagen zu entscheiden, und die Diskussionen nahmen einfach kein Ende. Manche Abgeordnete wollen immer nur Vorteile für sich und die Provinzen, aus denen sie stammen, herausziehen und denken weniger an das Gemeinwohl der gesamten Region. Aber zum Schluss haben wir es dann doch ganz gut hinbekommen.«
»Darf ich schon das Hauptgericht bringen?«, fragte der Kellner, als er die beiden leeren Vorspeiseschälchen abräumte.
»Gerne«, antwortete Carlos, »und bringen Sie uns bitte noch zwei kleine Gläser Rosado und eine Flasche Wasser.«
Schon auf dem Weg zurück zur Theke rief der Keller dem Barkeeper den Getränkewunsch zu und verschwand gleich darauf durch die Schwingtür, die hinter dem Tresen in die Küche führte.
Nachdem Clemens Rosis Wohnung betreten hatte, hängte er Mantel, Hut und Schal an der Garderobe auf. Dann ging er zum Esstisch und setzte sich unaufgefordert und wortlos auf einen der Stühle. Wie üblich, war der Tisch bereits gedeckt. Auf der Tischdecke aus schneeweißer Baumwolle standen eine bunt geblümte Kaffeekanne, die den Duft des frisch aufgebrühten Kaffees verströmte, zwei dazu passende Kuchenteller und Kaffeetassen, eine Zuckerdose und ein Milchkännchen im gleichen Design. Eine drehbare Tortenplatte mit einem Apfelkuchen mit Mohn und Streuseln darauf, die Kuchengabeln, die Papierservietten und eine kleine Glasschüssel mit Schlagsahne vervollständigten das Kaffeeplausch-Ensemble. Doch das gewohnte Bild konnte nicht über die Spannung hinwegtäuschen, die sich seit dem letzten Besuch zwischen Clemens und Rosi aufgebaut hatte.
Rosi war sich wohl bewusst, dass bei diesem Besuch etwas vorgefallen war, das die eigentlich gute Beziehung zwischen ihnen beenden würde, was sie bedauerte. Aber ihr war auch klar, dass ihr Freund bald für immer nach Spanien verschwinden und für sie eine Geldquelle versiegen würde. Deshalb musste sie versuchen, das Beste für sich herauszuschlagen, ob es Clemens passte oder nicht. Darauf wollte und konnte sie keine Rücksicht nehmen. Sie dachte nur noch daran, sich für später ein zusätzliches finanzielles Polster zu schaffen.
»Hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?«, fragte sie, als sie an den Tisch trat und ihm eine Tasse Kaffee einschenkte.
»Vorschlag nennst du das? Ich würde dazu eher Erpressungsversuch sagen«, erwiderte Clemens barsch.
Rosi schenkte sich auch ein, schnitt mit dem Kuchenmesser zwei Stückchen des selbst gebackenen Kuchens ab und legte sie auf die Teller.
»Eigentlich habe ich gar keine Lust, mit dir am Tisch zu sitzen und Kaffee zu trinken, aber es muss wohl sein. Wir müssen die Sache besprechen und abschließen«, sagte Clemens. »Ich weiß, dass du später mal jeden Pfennig gebrauchen kannst, aber die Art und Weise, wie du mir das Geld abknöpfen willst, gefällt mir ganz und gar nicht. Wir hatten eine schöne Zeit, und ich hab dir nie verschwiegen, dass ich eines Tages an die Costa Blanca auswandern werde. Jetzt ist es bald so weit, und du willst mich noch schnell abzocken.«
Rosi nickte nur verlegen und beide fingen eher lustlos zu essen an.
Clemens hatte Rosi 1987 während der Scheidung von seiner zweiten Frau kennengelernt. Der in Süddeutschland zu den besten Anwälten im Bereich Familienrecht zählende Heidelberger Rechtsanwalt, Dr. Klaus von Kesselbring, hatte Clemens in der Scheidungssache »Hofstädter gegen Hofstädter« vertreten. Roswitha war damals schon als Empfangsdame in der Kanzlei Klaus von Kesselbring & Partner beschäftigt gewesen. Ihre Anstellung erfolgte keineswegs aufgrund ihrer fachlichen Qualifikation, die schlichtweg nicht vorhanden war, sondern wegen des Zeitdrucks, in dem sich die Kanzlei nach der fristlosen Kündigung der bisherigen Empfangsdame befunden hatte. Der Arbeitsplatz musste schnellstmöglich neu besetzt werden.
Rosi hatte sich nach ihrer gescheiterten Modelkarriere und ihren erfolgreich durchgeführten Suchttherapien mit Kellnern in eher drittklassigen Restaurants und mit diversen Aushilfsjobs als Lagerarbeiterin in Billigmärkten, Einrichtungshäusern und Speditionen über Wasser gehalten. Ohne Festanstellung war sie deshalb für die Halbtagsstelle sofort verfügbar. Und von Kesselbring dachte sich, dass ein attraktives Gesicht am Empfangsplatz der Rechtsanwaltskanzlei nicht schaden könne. Dass Rosi das aufgrund ihrer fehlenden Fachkenntnisse unterdurchschnittliche Gehaltsangebot der Kanzlei ohne Umschweife akzeptierte, tat sein Übriges. Sie war froh, neben ihrer dubiosen Nebentätigkeit als gelegentliches Callgirl endlich einen seriösen Arbeitsplatz gefunden zu haben. Ihr Doppelleben war niemandem bekannt, mit Ausnahme der drei bis vier zahlungskräftigen Herren, die Rosis speziellen Dienste regelmäßig in Anspruch nahmen.
Bei jedem seiner Besuche in der Anwaltskanzlei unterhielten sich Clemens und Rosi einige Minuten über eher belanglose Themen. Ein intimerer Kontakt kam damals nicht zustande, was Clemens zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht beabsichtigte. Er wollte einfach nur höflich sein und die zwanglosen Unterhaltungen mit der attraktiven Frau heiterten ihn jedes Mal auf, zumal ihn die bevorstehende Scheidung psychisch belastete, mehr als ihm damals lieb war.
Erst ein Jahr später, nachdem das Gerichtsurteil längst gefällt war und er daher die Kanzlei zu Unterredungen mit seinem Anwalt nicht mehr aufsuchen musste, traf er Rosi bei Einkäufen in der Mannheimer Fußgängerzone zufällig wieder. Spontan lud er sie zu einer Tasse Kaffee in ein kleines Bistro in der Innenstadt ein. In der Zeit danach gab es noch einige Verabredungen und als Clemens ihr körperlich näherkommen wollte, machte Rosi erste Andeutungen über ihren Nebenjob und gab ihm unmissverständlich zu verstehen, dass gewisse Dinge, die über Kaffeetrinken und Essengehen hinausgingen, nicht unentgeltlich für ihn sein würden. Sie bot ihm an, sich künftig bei ihr zu Hause zu treffen. Dann würde sie ihm für ein bis zwei Stunden alles erfüllen, was er sich von ihr wünschte. Clemens war zunächst etwas irritiert, aber er verstand sofort und war dieser Art von Beziehung keinesfalls abgeneigt. Seither trafen sie sich alle vierzehn Tage in Rosis Wohnung und er lernte dadurch die Vorzüge eines losen Verhältnisses ohne weitere Verpflichtungen zu schätzen. Schließlich fasste er den Entschluss, in seinem künftigen Leben keine feste Beziehung mehr eingehen zu wollen.
Rosi hatte bereits ihr Stückchen Apfelkuchen vollständig verzehrt und wischte sich mit der Serviette über den Mund, während Clemens nur die Hälfte seines Kuchenstücks aufgegessen hatte und, etwas lethargisch wirkend, im restlichen Teil auf dem Teller herumstocherte.
»Als ich das letzte Mal hier weg bin, hast du mir gesagt, du willst zwanzigtausend Mark von mir, damit du stillhältst«, sagte er mit zittriger Stimme.
»Ich denke, das ist ein angemessener Betrag, wenn du nicht willst, dass dein geliebtes Töchterlein erfährt, was ihr Papa so treibt.«
»Das kannst du mir nicht antun. Wir hatten doch eine schöne Zeit, die für dich auch noch äußerst lukrativ war«, antwortete Clemens immer gereizter.
»Ich tu dir das ja auch nicht an. Du musst nur zahlen, und deine Tochter wird nie erfahren, dass sich ihr Vater mit Nutten herumtreibt. Deinem Schwiegersohn in spe wird das bestimmt auch nicht in den Kram passen, wenn das rauskommt. Außerdem hast du genug Geld und wirst wahrscheinlich gar nicht merken, wenn dir zwanzigtausend Mark im Geldbeutel fehlen. Und in ein paar Wochen gehst du sowieso für immer nach Spanien, dann siehst du mich nie wieder.«
»Das stimmt schon, aber selbst wenn ich jetzt zahle, wer sagt mir denn, dass du in einem halben Jahr nicht plötzlich in Spanien auftauchst und noch mehr verlangst?«
»Gute Idee, da bin ich selbst noch gar nicht draufgekommen«, entgegnete Rosi süffisant. »Wenn ich’s mir recht überlege, weiß ich noch viel mehr über dich. Schließlich hast du dich oft genug bei mir ausgeheult und mir deine früheren Gewaltausbrüche gegenüber deinen Verflossenen gebeichtet. Wenn ich deiner Tochter erzähle, dass du ihre Mutter geschlagen hast, dann kannst du gleich zu Hause bleiben und brauchst gar nicht erst zu ihr nach Spanien zu gehen. Sie wird dich dafür hassen. Das müsste dir eine Extrazahlung wert sein, wenn ich dieses brisante Geheimnis für mich behalte.«
Clemens war fassungslos. Wahrscheinlich hätte seine Tochter noch verkraften können, wenn sie erfahren hätte, dass er sexuelle Dienstleistungen gegen Bezahlung in Anspruch nahm, also mit »Nutten rummachte«, wie es Rosi treffend nannte. Aber sie hätte ihm nie verziehen, wenn sie dahintergekommen wäre, dass er ihrer Mutter, seiner ersten Frau, Gewalt angetan hatte. Er hatte seine Tochter schon einmal verloren und für lange Zeit nicht sehen dürfen. Ein zweites Mal wollte er diese Erfahrung nicht machen. Langsam stieg Wut in ihm auf. Nicht um alles in der Welt wollte er seine Tochter erneut verlieren.
»Das kannst du nicht machen. Du bist der einzige Mensch, dem ich die schrecklichen Dinge aus meiner Vergangenheit anvertraut habe. Die liegen schon so lange zurück. Und du weißt, dass ich nicht stolz darauf bin. Ich hätte nicht gedacht, dass du eines Tages mein Vertrauen derart missbrauchen wirst.«
»Du hättest sie mir ja nicht verraten müssen«, sagte Rosi mit einer Kälte, die er so von ihr nicht kannte. »Du hast immer rumgeheult, dass es dir leidtut, aber es wäre besser gewesen, du hättest dich früher besser im Griff gehabt und gar nicht erst zugeschlagen. Frauen schlägt man nicht.«
»Sei endlich still«, raunzte Clemens sie an. Allmählich wurde er immer wütender. Er fühlte sich wie ein brodelnder Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Doch Rosi erkannte nicht, in welche Situation sie sich mittlerweile manövriert hatte. Welcher Gefahr sie plötzlich ausgesetzt war. Schließlich hatte ihr Clemens noch nie etwas angetan. Deshalb setzte sie noch einen drauf, da sie die einmalige Chance witterte, noch mehr Geld rausschlagen zu können. Sie hatte Clemens’ wunden Punkt erwischt: seine heißgeliebte Tochter.
»Hat der feine Herr jetzt Schiss, dass seine Tochter, wenn sie alles erfährt, nichts mehr von ihm wissen will?«
Das war zu viel für Clemens, der wusste, wie recht Rosi damit hatte. Seine Tochter würde ihm nie verzeihen, was er ihrer Mutter angetan hatte. Er würde sie für immer verlieren. Seine Schlagader am Hals begann zu pochen, in seinem Gesicht bildeten sich kleine rote Flecken und das Lid über seinem linken Auge zuckte bedrohlich.
Rosi schaute ihn an. Jetzt erst bemerkte sie, was sie angerichtet hatte. Sie hatte Clemens’ dunkle Seite provoziert und wollte nun mit versöhnungswilligen Worten einlenken, um ihn zu besänftigen. Es war höchste Zeit, die Situation nicht eskalieren zu lassen, denn sie wusste ja, zu was er fähig war.
»Okay Clemens, lass uns vernünftig …« Weiter kam sie nicht.
Mit zusammengekniffenen Augen schnellte er hoch und versetzte ihr einen Faustschlag mitten ins Gesicht. Mit weit aufgerissenen Augen fiel sie seitlich vom Stuhl. Blut schoss ihr aus Mund und Nase. Sie rappelte sich wieder hoch und taumelte in Richtung Eingangstür. Als ihre Beine nachgaben, umklammerte sie Halt suchend mit beiden Händen den schweren Türvorhang, der als Raumteiler zwischen Wohnzimmer und Garderobe aufgehängt war. Aber es nutzte nichts. Wie in Zeitlupe sackte sie zusammen und riss den Vorhang mit sich nach unten. Im Fallen schlug sie mit dem Hinterkopf auf der spitzen Kante des Schuhschränkchens auf. Als sie rücklings auf dem Boden zum Liegen kam, war sie bereits tot. Die hellen Fliesen unter ihrem Kopf färbten sich dunkelrot.
Clemens baute sich über ihr auf und erkannte erst jetzt, was er angerichtet hatte. »Das habe ich nicht gewollt«, sagte er, als er in Rosis offene, erloschene Augen blickte.
»Muchas gracias«, sagte Carlos, als ihnen der Kellner im La Pata Negra das Hauptgericht servierte, Buñelos de Bacalao, frittierte Kabeljaubällchen mit Knoblauch und Petersilie. Er hatte Susanne über Einzelheiten aus der am Vormittag abgehaltenen Sitzung berichtet, ohne Informationen preiszugeben, die für Außenstehende nicht bestimmt waren und das Sitzungszimmer nicht verlassen durften.
Carlos Negredo Garcia war Vizepräsident des valencianischen Parlaments, das vom Palast de Borgias aus, dem mittelalterlichen Stadtpalast Valencias, über die autonome Region Valenciana regierte. Weiterhin war er Mitglied im spanischen Abgeordnetenhaus und verweilte daher gelegentlich in der Hauptstadt Madrid, wo er eine kleine Zweitwohnung unterhielt. Carlos hatte dunkelblondes lockiges Haar, hellbraune Augen und war ein Meter sechsundsiebzig groß. Durch sein dauerhaft dezentes Lächeln, das seine Mundwinkel und Augen umspielte, wirkte er stets entgegenkommend und sympathisch. Mit seinen siebenunddreißig Jahren konnte er schon auf eine bemerkenswerte berufliche Laufbahn zurückblicken. Bevor er in das valencianische Parlament einzog und auf Anhieb zu dessen Vizepräsidenten gewählt wurde, hatte er sich seine ersten Sporen als Bürgermeister von Villajoyosa verdient, einer Kleinstadt an der Costa Blanca, die zwischen Benidorm und Alicante lag.
In der Gemeinde mit ihrem historischen Ortskern und den bunt bemalten Häusern, die sich als Fotomotiv auf fast allen Postkarten wiederfinden, konnte er durch sein umsichtiges und weitblickendes Handeln die oft gegensätzlichen Interessen der Touristikbranche, der Landwirtschaft und des Fischereigewerbes vereinen. Auch sein unermüdlicher Einsatz für den Erhalt von Kulturdenkmälern und sein vorbildliches politisches und soziales Engagement hatten ihn über die Stadtgrenze Villajoyosas hinaus bekannt gemacht und ihm den Weg in den Stadtpalast geebnet. Doch der Posten als Vizepräsident des valencianischen Parlaments sollte noch lange nicht das Ende seines politischen Aufstiegs sein. Denn er stand für höhere Aufgaben bereit.
Carlos stammte aus einer der einflussreichsten und angesehensten Familien der Region Valencia, die mehrere Ländereien im hügeligen Hinterland besaß. Als Großgrundbesitzer hatten es seine Eltern mit dem Anbau und dem Verkauf von Orangen und Wein zu Wohlstand gebracht. Mit einer Jahresproduktion von rund zweitausendachthundert Tonnen der Südfrüchte gehörte seine Familie zu den ganz Großen unter den Tausenden von Apfelsinenbauern entlang der spanischen Mittelmeerküste. Ihre Orangen wurden überwiegend gepresst, abgepackt und als Fruchtsäfte im In- und Ausland verkauft. Ihre Weine der Rebsorten Sauvignon Blanc und Moscatel wurden aus dem Hafen von Valencia in die ganze Welt verschifft.
Carlos war der älteste Sohn der Familie. Seine Eltern, Antonio Negredo Alvarez und Maria Garcia Sanchez, wollten eigentlich irgendwann einmal ihrem Erstgeborenen den Betrieb übergeben. Da es Carlos aber vorzog, sich nach seinem Jurastudium an der Miguel-Hernandez-Universität in Elche voll und ganz seiner politischen Laufbahn zu widmen, sollten später seine zwei jüngeren Brüder, Enrique und Alejandro, die Landgüter übernehmen. Doch bis dahin war noch Zeit.
»Eigentlich bin ich jetzt schon satt«, sagte Susanne, als das Dessert serviert wurde, kunstvoll mit Puderzucker bestäubte Natillas, ein spanisches Puddinggericht aus Milch, Zucker, Vanille, Eiern und Zimt. Zur Bekräftigung ihrer Aussage fasste sie sich mit beiden Händen an den Bauch.
»Das wirst du dir doch nicht entgehen lassen«, erwiderte Carlos, der bereits den ersten Bissen genüsslich in seinem Mund hatte zergehen lassen. »Wie geht’s denn eigentlich deinem Vater? Befindet er sich schon im Umzugsstress?«