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Ein junges Mädchen wird in der Nähe von Kirchzarten tot aufgefunden. Bald danach gelingt es der Kripo Freiburg, einen Verdächtigen festzunehmen, doch der Leiter des Morddezernats zweifelt an dessen Schuld. Dann überschlagen sich die Ereignisse. In einem Waldstück wird eine zweite Leiche gefunden. Es handelt sich um die vor zwei Jahren verschwundene Hanna Lorenz. Der im damaligen Vermisstenfall verantwortliche Ermittler der Kripo Mannheim hat einen Verdacht, doch der Gesuchte scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Der Ermittler bittet seinen ehemaligen Kollegen Werner Wellinger um Hilfe. Wird es dem pensionierten Hauptkommissar gelingen, den Täter zu stellen?
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Seitenzahl: 328
Rolf Schmitt ist 1958 in Mannheim geboren. Der ehemalige Bankbetriebswirt lebt mit seiner Frau Pia in Heddesheim im Rhein-Neckar-Kreis. Zu seinen Hobbies zählen Golfen, Kochen, Lesen und Schreiben.
Nach seinem im Jahr 2021 erschienenen Erstlingswerk Entsetzliche Wut lässt er auch in seinem zweiten Krimi den pensionierten Kriminalhauptkommissar Werner Wellinger auf Verbrecherjagd gehen.
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 44
EPILOG
Er beobachtete sie schon eine ganze Weile. Mit ihrem Rucksack saß sie zusammengekauert am Straßenrand. Neben ihr stand eine Flasche Wein, die bereits gut zur Hälfte ausgetrunken war. Ihr Blick ging ins Leere. Tränen liefen ihr über das Gesicht und vermischten sich mit den Regentropfen, die seit einer halben Stunde unablässig vom tiefgrauen Himmel fielen. Ihre Wimperntusche hatte sich aufgelöst und hinterließ auf ihren Wangen hässliche schwarze Streifen. Ihre dunklen Haare waren durchnässt und schienen an ihrem Gesicht festzukleben.
Als sie ihr Kinn anhob und zu ihm hinüberschaute, fühlte er sich wie vom Blitz getroffen. Seine Hände fingen zu zittern an. Er spürte eine gefährliche Erregung in sich aufkommen und war fest entschlossen, dagegen anzukämpfen. Aber war er stark genug?
Geh weiter und lass sie in Ruhe, sagte er zu sich selbst. Doch er spürte genau, dass er den Kampf gegen seinen krankhaften Trieb bereits verloren hatte.
Die Gelegenheit war gut, denn weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Langsam ging er auf die andere Straßenseite und sprach sie an. Nachdem er seinen Regenschirm aufgespannt hatte, stand sie auf, hakte sich bei ihm unter und stieg in sein Auto ein, das er nur wenige Meter entfernt am Straßenrand geparkt hatte. Seine freundliche Stimme hatte sie nicht zögern lassen. Und auch ihre Alarmglocken, die sie vor einer Gefahr hätten warnen können, blieben stumm, denn der Alkohol hatte sie leichtsinnig werden lassen. Sie konnte nicht wissen, dass es ihre letzte Fahrt werden würde. Eine Fahrt in einen grausamen Tod.
Kaum aus der Stadt heraus, bog er in einen Waldweg ein. In der Umgebung kannte er sich aus, denn es war nicht das erste Mal, dass er diesen finsteren Ort aufsuchte. Als er den Motor abstellte und das Mädchen erkannte, dass der Mann nichts Gutes mit ihr vorhatte, war es für sie zu spät. Ihre Schreie konnte niemand hören. Um sie zum Schweigen zu bringen, schlug er ihr brutal ins Gesicht. Blut lief ihr aus Mund und Nase.
»Halt’s Maul, oder es setzt noch eine«, raunzte er sie an. Die Freundlichkeit in seiner Stimme war verschwunden.
Wut und Traurigkeit, die sie an diesem Tag begleitet hatten, hatten sich von einem auf den anderen Moment in blankes Entsetzen verwandelt. Ihr Herz raste und sie konnte nicht verstehen, wie sie einem fremden Menschen so hatte vertrauen können, wie sie in so eine Situation überhaupt kommen konnte. Unfähig, auch nur noch einen Ton von sich zu geben, sah sie ihn mit angsterfüllten Augen an und konnte die Lüsternheit in seinem dunklen Blick erkennen.
Er genoss die Situation von Macht und Kontrolle, die er über sie gewonnen hatte. Auch seine Atemzüge wurden jetzt immer schneller, als wollten sie mit dem beschleunigten Herzschlag des Mädchens Schritt halten.
Als er seine fleischigen Hände um ihren Hals legte, waren die prasselnden Regentropfen auf der Windschutzscheibe seines Autos das Letzte, was sie wahrnehmen konnte. Dann wurde es dunkel.
Bereits kurz nach acht rief Veronika ihre Chefin an und meldete sich krank. Ob ihr die Marktleiterin des Freiburger Lebensmitteldiscounters Glauben schenkte oder eher vermutete, sie wolle am Brückentag blau machen, war ihr egal. Sie hatte sich diesen Tag auch anders vorgestellt.
Nach dem gestrigen Streit hatte ihre vierzehnjährige Tochter die Wohnung fluchtartig verlassen und war bis jetzt nicht wieder aufgetaucht. Es war nicht das erste Mal, dass Martina von zu Hause weggelaufen war und bei Gabi, ihrer besten und auch einzigen Freundin, in Freiburg übernachtete. Bisher war sie aber immer spätestens am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe wieder heimgekehrt. Dann verkroch sie sich in ihrem Zimmer, legte sich aufs Bett, setzte die Kopfhörer auf und hörte sich ihre Lieblingssongs auf ihrem alten Kassettenrekorder an. Doch an diesem Morgen waren ihr Bett und ihr Zimmer leer. Veronika war ganz flau im Magen. Gewissensbisse quälten sie schon seit letzter Nacht. Hätte sie gestern anders reagieren sollen, ja müssen?
Sicherlich war es für sie nie einfach gewesen, als alleinerziehende Mutter ein Kind großzuziehen, das sich jetzt auch noch mitten in der Pubertät befand. Mit knapp neunzehn war sie schwanger geworden. Kaum war Martina auf der Welt, hatte sich Veronikas damaliger Freund und Vater des Kindes auch schon auf Nimmerwiedersehen verabschiedet. Ihre Eltern waren auch keine große Hilfe und so musste sie mit ihrer Tochter mehr schlecht als recht allein klarkommen.
Aber auch für ihre Tochter war es nicht einfach. Martina musste auf vieles verzichten, weil sich ihre Mutter finanziell das eine oder andere einfach nicht leisten konnte. Kleidung wurde meist in Second-Hand-Shops oder auf Flohmärkten gekauft. Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke bestanden stets nur aus überschaubaren Kleinigkeiten. Und auch die letzte Klassenfahrt in ein Schullandheim nach Südtirol fiel für Martina ins Wasser, da ihre Mutter kurz zuvor einen Ersatz für die alte Waschmaschine benötigte und ihr dadurch das Geld für die zehntägige Klassenreise fehlte. Als Einzige der Klasse musste sie zu Hause bleiben und wurde dann auch noch von einigen Jungs und Mädchen ihrer Klasse verhöhnt.
In der Vergangenheit hatte sie sich schon oft dafür geschämt, aus ärmlichen Verhältnissen zu kommen. Und in den Klassencliquen unerwünscht zu sein, machte sie unendlich traurig, machte sie zu einer Außenseiterin. Einzig die gleichaltrige Gabi, der in der Parallelklasse ein ähnliches Schicksal widerfuhr und die, wie Martina, aus einer sozial schwachen Familie stammte, gab ihr Halt.
Die Scheibe Toastbrot mit Marmelade hatte Veronika noch nicht angerührt. Ebenso war ihr Kaffee, den sie sich vor gut zehn Minuten eingeschenkt hatte, bereits kalt geworden. Als sie jetzt doch einen Schluck aus der Tasse nehmen wollte, verzog sie das Gesicht und schüttete den restlichen Inhalt in die Spüle. Dann ging sie ins Badezimmer, das einer besseren Abstellkammer glich, putzte sich die Zähne, wusch sich notdürftig und zog sich an.
»Zum Schminken ist jetzt keine Zeit«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Dann ging sie in den Flur, holte ihre abgewetzten hellbraunen Stiefeletten aus dem Schuhschrank und machte sich auf den Weg zum Polizeiposten Kirchzarten.
Nach wenigen Gehminuten kam sie am Polizeigebäude in der Bahnhofstraße an. Einen Moment lang blieb sie stehen und schaute nach links und rechts, ob sie jemand beobachtete. Dann schüttelte sie, entsetzt über ihr eigenes Benehmen, den Kopf, holte tief Luft, stieg die Eingangsstufen hoch und öffnete die Tür.
Drinnen sah sie sich mit unsicherem Blick um. Die Büroräume des Polizeipostens waren in die Jahre gekommen. Im vorderen Bereich standen zwei Schreibtische in Buchenholzdekor, an denen zwei uniformierte Polizeibeamte saßen und zu ihr aufschauten. Die Tischplatten waren mit Kratzern übersät und in den Ablagekörbchen türmten sich stapelweise Unterlagen. Die beigefarbenen Monitore und die grauen Telefonapparate passten farblich nicht zueinander und wirkten altmodisch. An den Wänden standen drei türlose Schränke, die Veronika einen Blick auf zahlreiche Aktenordner in verschiedensten Farben und Größen gewährten. Die Raufasertapeten waren vergilbt und die Holzfenster hätten schon längst einen neuen Anstrich benötigt.
»Ja bitte«, fragte einer der Polizisten in Veronikas Richtung.
»Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben«, antwortete sie mit zittriger Stimme. Der Polizist zog die Augenbrauen hoch und blickte ins Hinterzimmer, indem er sich auf seinem quietschenden Drehstuhl nach vorne beugte.
»Gehen Sie bitte nach hinten durch. Mein Kollege wird sich um Sie kümmern.«
»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte der junge Polizeibeamte, als Veronika das hintere Zimmer betrat und wies mit seinem Arm auf einen ungepolsterten Holzstuhl, der vor seinem Schreibtisch stand. Er lächelte sie an, und obwohl es ihr schwerfiel, erwiderte sie sein Lächeln und setzte sich auf den unbequemen Stuhl. Sie schätzte den Mann mit den stahlblauen Augen und dem lockigen blonden Haar auf Mitte bis Ende Zwanzig.
»Ich bin Polizeikommissar Sebastian Ketterer«, stellte er sich ihr vor. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Veronikas Augen füllten sich mit Tränen. »Meine Tochter ist seit gestern Abend verschwunden. Ich mache mir große Sorgen. Wenn ihr etwas zugestoßen ist, dann weiß ich nicht … dann …«
»Gehen Sie nicht vom Schlimmsten aus«, unterbrach sie PK Ketterer in ruhigem Ton. »Es gibt immer wieder Ausreißer, die nach ein, zwei Tagen reumütig zurück nach Hause kommen. Aber mal der Reihe nach. Ich nehme Ihre Vermisstenanzeige auf und gebe die Daten in unser Informationssystem ein. Sollte Ihre Tochter dann irgendwo aufgegriffen oder gesehen werden, oder in einer Polizeikontrolle überprüft werden, kann sofort festgestellt werden, ob sie als vermisst gemeldet ist und welche Dienststelle die Angelegenheit bearbeitet. Je detaillierter Sie Ihre Angaben machen, desto besser können wir die Situation einschätzen und eine Vermisstenfahndung einleiten«. Der Polizist nickte ihr zu und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, aber sie konnte ihm ansehen, dass er besorgt war.
»Ich brauche von Ihnen und Ihrer Tochter zunächst einmal Name, Anschrift, Alter und eine kurze Schilderung, wie es zu dem Verschwinden Ihrer Tochter gekommen ist«.
»Also«, erwiderte sie nach einer kurzen Pause, »mein Name ist Veronika Esswein, ich bin dreiunddreißig Jahre alt, wohne in der Jakob-Saur-Straße, hier in Kirchzarten. Meine Tochter heißt Martina und ist vierzehn Jahre alt. Sie hat …«
»Nicht so schnell bitte«, fiel er ihr sanft ins Wort und tippte die Daten in seinen Computer ein. »Okay, und weiter?«
»Sie hat gestern Abend ihren Rucksack geschnappt und ist, ohne ein Wort zu sagen, aus der Wohnung gerannt. Ich wollte noch hinterher, aber da war sie schon weg.«
»Gab es einen besonderen Grund? Denn man läuft doch nicht so ohne Weiteres weg. Und war Ihr Mann auch zu Hause, oder war er gestern am Feiertag vielleicht auf Vatertagstour?«
Ketterer sah ihr direkt in die graugrünen Augen, die gut zu ihrem sommersprossigen Gesicht und ihrem schulterlangen, kastanienbraunen Haar passten. Hübsche Frau, dachte er. Noch so jung und hat schon ein vierzehnjähriges Kind. Verstohlen wagte er einen Blick auf Veronikas weiße Bluse, die vielleicht einen Knopf zu weit offen war, über dem Busen spannte und so ihre weiblichen Kurven gut zur Geltung brachte. Und obwohl sie ungeschminkt und nur notdürftig frisiert den Polizeiposten aufgesucht hatte, erkannte der junge Polizist sofort, dass ihm eine äußerst attraktive Frau gegenübersaß. Weitere Gedanken ließ er nicht zu, denn er musste sich auf seine Arbeit, auf Veronika Essweins Schilderungen konzentrieren.
»Nein«, antwortete sie etwas verlegen. »Ich lebe mit meiner Tochter allein. Ihr Vater, dieser Taugenichts, hat sich schon vor langer Zeit vom Acker gemacht. Sie hat ihn nie gekannt.«
»Tut mir leid. Aber nochmal. Ist gestern Abend irgendetwas vorgefallen? Waren Sie mit Ihrer Tochter allein zu Hause oder hatten Sie Besuch? Und um welche Uhrzeit ist denn Ihre Tochter weggelaufen?«
Veronika zögerte und wusste nicht so recht, wie viel sie preisgeben sollte. Sie sah sich kurz im Büro um, in dem sich noch ein weiterer Polizist mittleren Alters und eine junge hübsche Polizistin aufhielten und an ihren Schreibtischen mit dem Durchlesen von Akten beschäftigt waren. Sie schämte sich dafür, unschöne Dinge aus ihrem Privatleben darlegen zu müssen.
Ihr Zögern blieb Ketterer nicht verborgen. »Frau Esswein, wie ich anfangs schon sagte. Je mehr Sie mir mitteilen, je detaillierter Ihre Aussagen sind, umso besser kann ich, kann die Polizei Ihnen helfen. Also?«
Veronika schluckte, als müsse sie sich von einem Kloß im Hals befreien.
»Na gut«, sagte sie. »Es war noch jemand da. Mein Freund. Er … er war gestern Abend etwas angetrunken. Nur so viel zum Thema Vatertag. Er war mittags unterwegs. Auf Sauftour mit irgendwelchen Kumpels. Martina hat behauptet, er hätte sie … er hätte sie begrapscht, als er gegen Abend nach Hause gekommen ist. Und da ich ihr nicht geglaubt habe, da ich mir das nicht vorstellen konnte, haben wir uns fürchterlich gestritten. Dann ist sie weggelaufen. Das war so um halb sieben.«
»Und wie ging es dann zu Hause weiter? Haben Sie Ihren Freund auf die Sache angesprochen? Und, wenn ja, wie hat er reagiert?«
»Der hat vor sich hin gelallt und laut lachend alles abgestritten. Dann hat er noch gemeint, Martina könnte ihn ohnehin nicht leiden und würde deshalb so einen Quatsch erfinden.«
»Ist das so?«, hakte Ketterer nach. »Kann Ihre Tochter Ihren Freund wirklich nicht leiden? Und glauben Sie, sie hat das nur erfunden, um vielleicht eine Trennung von Ihnen und Ihrem Freund zu provozieren?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Bis heute Morgen habe ich es mir nicht vorstellen können. Ich meine, dass mein Freund sie angefasst hat. Aber jetzt, wo Martina nicht mehr aufgetaucht ist, bin ich mir nicht mehr so sicher. Wissen Sie, ich hab mich dann auch noch mit meinem Freund gezofft, weil er sagte: ›Die blöde Kuh hat mich von Anfang an nicht gemocht. Und deshalb erfindet sie jetzt so einen Schwachsinn.‹ Das mit der ›blöden Kuh‹ hab ich ihm übelgenommen und hab ihn angebrüllt, er soll das sofort zurücknehmen. Er hat aber nur abgewunken und ist mit hochrotem Kopf zur Tür rausgewackelt.«
»Wenn das stimmt, ich meine, dass Ihr Freund Ihre Tochter, sagen wir mal, unsittlich berührt hat, dann haben wir jetzt noch ein weiteres Problem. Ihr vermisstes Kind und eine sexuelle Belästigung. Sie sagten, Ihr Freund sei zu Besuch gewesen, also leben Sie nicht zusammen in Ihrer Wohnung. Wo wohnt Ihr Partner? Und wie ist denn sein Name?«
»Mein Freund heißt Dragan. Dragan Kovacevic. Aber der ist mir momentan egal. Finden Sie um Himmels willen meine Tochter.«
Nach kurzer Pause fuhr sie fort: »Er wohnt in Freiburg. Dort arbeitet er auch, genau wie ich.«
»Also sind Sie Arbeitskollegen?«
»Nein, sind wir nicht. Wir arbeiten nur beide in Freiburg. Ich an der Kasse in einem Lebensmittelmarkt und er als Polier bei einem Bauunternehmer. Die Firma heißt Gökcan Bau.« Mit besorgtem Blick gab Veronika die exakte Adresse ihres Freundes bekannt und beobachtete Ketterer dabei, wie er die Daten in seinen Computer eingab.
»Noch eine letzte Frage. Haben Sie eine Idee, wo Ihre Tochter hingelaufen sein könnte? Oder wo sie sonst untergekommen sein könnte? Vielleicht bei einer Freundin, bei der sie übernachtet hat?«
»In der Vergangenheit ist sie schon zwei, drei Mal ausgebüchst und hat dann bei ihrer Freundin Gabi in Freiburg übernachtet«, antwortete Veronika verlegen. »Aber am nächsten Morgen war sie dann jedes Mal schon wieder zu Hause in ihrem Zimmer, noch bevor mein Wecker geklingelt hat. Als sie aber heute Morgen nicht wie sonst da war, hab ich gleich Gabis Mutter angerufen. Sie sagte mir, sie wäre gestern Abend mit ihrer Tochter bei Freunden in Offenburg gewesen. Martina habe sie deshalb gar nicht antreffen können, weil niemand zu Hause war. Dann hab ich mich bei meiner Chefin krankgemeldet und bin gleich hierher.«
»Ich fühle mich hundsmiserabel und kann heute wirklich nicht zur Arbeit«, schob sie nach, nachdem ihr nicht entgangen war, dass Ketterer die Augenbrauen hochzog, als sie erwähnte, sich krankgemeldet zu haben.
»Okay, Frau Esswein, das war’s schon. Haben Sie zufällig ein Foto Ihrer Tochter dabei?«
»Tut mir leid, das habe ich nicht.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Schauen Sie zu Hause in aller Ruhe mal nach. Am besten, Sie finden ein Foto neueren Datums. Ich komme morgen im Laufe des Tages bei Ihnen vorbei und hole es mir dann ab. Und keine Angst. Wir fangen trotzdem heute noch mit unseren Ermittlungen, mit der Suche nach Ihrer Tochter an. Und wer weiß, vielleicht brauchen wir dann morgen das Foto gar nicht mehr.« Ketterer nickte ihr aufmunternd zu.
»Gut. Dann kann ich jetzt gehen?«
»Ja, Sie dürfen gehen.« Er überreichte ihr eine Visitenkarte, die Veronika in ihre Handtasche steckte.
»Falls es etwas Neues gibt, werde ich Sie anrufen. Und umgekehrt, falls Ihre Tochter wieder zu Hause auftaucht oder sich bei Ihnen meldet, dann geben Sie mir bitte gleich Bescheid.»
»Das werde ich. Und vielen Dank.«
Veronika erhob sich von ihrem Stuhl, gab ihm die Hand und lief zur Tür. Beim Hinausgehen fasste sie sich mit beiden Händen und schmerzverzerrtem Gesicht an Rücken und Hinterteil. Schuld daran war der unbequeme Holzstuhl, auf dem sie eine gefühlte Ewigkeit gesessen hatte.
»Die gefällt dir wohl«, fragte Ketterers junge Kollegin kichernd, nachdem Veronika den Raum verlassen hatte und er immer noch gedankenverloren zur Tür starrte.
»Nein«, erwiderte er grinsend. »Ich hab nur gedacht, dass wir dringend neue Besucherstühle brauchen.«
Es war ein herrlicher Morgen. Stefanie Kohlhammer war früh aufgestanden und spazierte mit ihrer Golden-Retriever-Dame Emma durch den Wald. Das morgendliche Gassigehen erledigte normalerweise Jürgen, ihr Mann. Aber da das Paar heute seinen siebten Hochzeitstag feierte, wollte Jürgen seiner Frau mit dem Zubereiten eines ausgiebigen Frühstücks mit Rührei, Speck, einem Glas Prosecco und allem, was sonst noch dazugehörte, den Tag versüßen.
Die noch tiefstehende Sonne war vor gut zwei Stunden aufgegangen. Ihr Licht durchströmte die Blätter der Bäume und hinterließ einen Vorhang aus staubigen Strahlenbündeln, der schräg zu Boden fiel. Stefanie liebte diesen atemberaubenden Anblick, der ihr die Schönheit der Natur offenbarte. Unter diesen Bedingungen würde sie den morgendlichen Waldspaziergang mit ihrer Hündin gerne öfter übernehmen. Andererseits war sie froh, dass Jürgen, bis auf wenige Ausnahmen, das Gassigehen nach dem Aufstehen erledigte und das nicht nur bei schönem Wetter. Denn bei Regen oder Schnee war es kein Vergnügen, mit Gummistiefeln über aufgeweichte Waldwege zu stapfen und hinterher auch noch Emma einer gründlichen Hundewäsche unterziehen zu müssen. Dann überließ sie den morgendlichen Spaziergang mit Hund doch lieber ihrem Mann, während sie am Küchentisch sitzen blieb und sich eine zweite Tasse Kaffee einschenkte.
Stefanie schlenderte gemächlich hinter Emma her, als die Hündin plötzlich davonlief und laut bellend im Gebüsch rechts des Weges verschwand. »Emma, kommst du wohl da raus?«
Stille.
»Emma, komm jetzt!«, wiederholte sie in strenger werdendem Ton. Doch Emma blieb verschwunden. Stefanie blieb stehen und lauschte in den Wald hinein. Sie wartete noch einige Sekunden, dann legte sie ihre Hände trichterförmig an den Mund und schrie in die Richtung, in der sie ihren Hund vermutete.
»Eeeemmmaaa!« Doch als Emma immer noch nicht zu ihr zurückkehrte, blieb ihr nichts anderes übrig, als den Waldweg zu verlassen und sich durch das dichte Buschwerk zu kämpfen. Von einem auf den anderen Moment war der Samstagmorgen doch nicht mehr so schön, wie er begonnen hatte. Das hat sie noch nie gemacht. Vielleicht ist sie einem Kaninchen hinterhergerannt, dachte sie.
Nach einigen Metern blieb sie wieder stehen. Damit ihr auch das kleinste Geräusch nicht entgehen konnte, hielt sie die Luft an. Dann endlich vernahm sie ein leises Winseln. Sie lief noch ein paar Schritte weiter und atmete erleichtert auf, als sie hinter einer Brombeerhecke ihren Hund entdeckte, der mit wedelndem Schwanz aufgeregt auf dem Boden saß und mit beiden Vorderpfoten gleichzeitig wie wild auf irgendeinem Gegenstand herumscharrte.
Stefanie wollte zunächst mit Emma schimpfen. Aber da sie froh war, ihren Hund wiedergefunden zu haben, überlegte sie es sich anders.
»Was hast du denn da, du Ausreißerin?«
Emma reagierte nicht. Sie hörte nicht auf, das Objekt am Boden mit ihren Pfoten zu bearbeiten. Als Stefanie schließlich näherkam und ihrem Hund die Leine anlegte, blieb sie plötzlich, wie zu einer Salzsäule erstarrt mit offenem Mund stehen. »Um Gottes willen«, stammelte sie. Mit Entsetzen erkannte sie, was ihr Hund gefunden hatte. Eine Frauenleiche. Bloß schnell weg hier, dachte sie. Sie zog kräftig an der Leine, kämpfte sich mit ihrem Hund durch das Dickicht zurück auf den Waldweg und rannte so schnell sie konnte nach Hause.
Veronika hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und als es gegen halb elf an der Tür ihrer Wohnung klingelte, fiel sie fast über ihre eigenen Füße, als sie zum Eingang rannte und so schnell wie möglich den Hörer der Gegensprechanlage abnahm.
»Ja bitte?«
»Polizeikommissar Sebastian Ketterer. Guten …«
»Zweiter Stock, kommen Sie hoch«, unterbrach sie ihn und betätigte den Türöffner. Dann öffnete sie die Wohnungstür und wartete, bis der Polizeibeamte die Treppe hochgelaufen war.
»Guten Morgen, Herr Ketterer. Sie kommen bestimmt wegen des Fotos. Oder haben Sie Martina schon gefunden?«
Erwartungsvoll schaute sie ihn an. Die schlaflose und tränenreiche Nacht hatte Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Die dunklen Ringe unter ihren geröteten Augen waren nicht zu übersehen. Ketterer atmete tief durch.
»Guten Morgen, Frau Esswein. Darf ich reinkommen?«
Irgendetwas in seiner Stimme irritierte sie. Sie klang kraftlos und bedrückt. Nicht so ermutigend wie tags zuvor.
Sie trat von der Tür zurück. »Einfach gerade aus. Da ist das Wohnzimmer. Verlaufen können Sie sich hier ohnehin nicht.«
Ketterer ging durch den schmalen Flur in das nicht allzu große Wohnzimmer, das trotz der alten, nicht zueinander passenden Möbel, sauber und ordentlich wirkte.
»Bitte setzen Sie sich.« Veronika wies auf den Sessel mit dem beigen Bezug, während sie selbst auf der gleichfarbigen Couch Platz nahm. Alt, aber bestimmt bequemer als unsere hölzernen Besucherstühle, schoss es ihm kurz durch den Kopf.
Ketterer sah sie an und wusste nicht so recht, wie er das Gespräch beginnen sollte. Er bemerkte, wie sich Veronikas Brustkorb, von kurzen Atemzügen getrieben, immer schneller auf und ab bewegte. Er räusperte sich und endlich, nach einer weiteren kurzen Pause, die Veronika wie eine Ewigkeit vorkommen musste, sagte er mit leiser Stimme: »Wir haben Martina gefunden. Frau Esswein, es tut mir leid …« Weiter kam er nicht.
»NEIN, NEIN, NEIN«, wimmerte sie. »Bitte sagen Sie doch, sagen Sie doch …«
Ketterer schüttelte nur den Kopf und biss sich aus Betroffenheit auf die Unterlippe. »Es tut mir leid«, wiederholte er. »Wir haben Ihre Tochter heute Morgen in einem Waldstück am Ortsrand von Kirchzarten, also hier ganz in der Nähe, tot aufgefunden. Wir müssen davon ausgehen, dass sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist.«
Veronika drehte den Kopf zur Seite und presste eine Hand auf ihren halb geöffneten Mund, als wollte sie einen Schrei unterdrücken. Tränen liefen ihr über die Wangen. Tot aufgefunden, tot aufgefunden, hallte es immer wieder in ihren Ohren, begleitet von einem fürchterlichen Rauschen. Sie hatte das Gefühl, als würde jeden Moment ihr Kopf zerplatzen. Dann schaute sie zu Ketterer hinüber.
»Ich … ich …« Ihr versagte die Stimme.
»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«, fragte er besorgt.
Mit schwachem Kopfnicken deutete sie mit dem Zeigefinger auf die Tür, die vom Wohnzimmer in die Küche führte. Sebastian ging in die Küche, fand auf Anhieb in einem der Oberschränke eine Reihe von Gläsern, nahm eines heraus und füllte es mit Leitungswasser. Als er ins Wohnzimmer zurückkam und Veronika das Glas reichte, hielt sie seine Hand fest. Er schaute sie fragend an.
»Macht es Ihnen etwas aus, sich zu mir zu setzen?«
»Nein«, erwiderte er und nahm neben ihr auf der Couch Platz. Unter anderen Umständen hätte er es genossen, neben einer so attraktiven Frau zu sitzen, sich mit ihr zu unterhalten und ihr vielleicht bei einem Gläschen Wein näherzukommen. Doch die Umstände heute waren andere. Der Anlass seines Besuchs war ein trauriger. Für Veronika wahrscheinlich der traurigste Moment in ihrem bisherigen Leben. Schnell verwarf er seine Gedanken und beobachtete sie von der Seite, wie sie mit beiden Händen das Glas zitternd an den Mund führte.
»Sind Sie auch ganz sicher, dass es meine Tochter, … dass es Martina ist? Sie haben doch noch gar kein Foto von ihr.«
»Es handelt sich leider um Ihre Tochter, Frau Esswein. Sie hatte ihren Ausweis einstecken.«
»Wurde sie … wie ist sie …?« Sie schluckte und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Wir müssen die … die Obduktion abwarten. Dann wissen wir mehr.« Auch Sebastian hatte jetzt Mühe, dass ihm die Stimme nicht versagte.
»Kann ich sie sehen?«
»Das wird leider noch nicht gehen. Ihre Tochter wurde in die Rechtsmedizin nach Freiburg gebracht. Erst wenn der Staatsanwalt die … wenn die Untersuchung abgeschlossen ist, dann dürfen Sie Ihre Tochter sehen.«
»Und wann wird das sein?«
»Das kann noch zwei bis drei Tage dauern. Ich, oder eher die Kripo Freiburg, die den Fall übernommen hat, werden Sie umgehend informieren, wenn es so weit ist. Man wird sich bei Ihnen melden und Sie auch noch mal befragen, obwohl Sie eine Vermisstenanzeige bei mir aufgegeben und bereits alles geschildert haben. Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?«
Veronika schüttelte den Kopf. »Wissen Sie … wissen Sie, was das Schlimmste für mich ist? Dass wir gestritten haben. Der letzte Augenblick, den ich mit meiner Tochter verbringen durfte, endete in einem Streit. Wenn ich ihr nur geglaubt hätte. Wenn ich nur die Zeit zurückdrehen könnte, sie noch einmal in den Arm nehmen könnte. Ich fühle mich so schuldig, so …« Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Jetzt bin ich ganz allein.«
»Es passieren manchmal Dinge, schlimme Dinge, die man leider nicht beeinflussen kann. Sie dürfen sich nicht die Schuld an dem Ganzen geben«, erwiderte Sebastian sanft. »Schuld hat ein anderer. Der, der Ihrer Tochter das angetan hat.« Er zog ein Papiertaschentuch aus seiner Hosentasche und reichte es Veronika, die sich ihre Tränen damit abwischte und die Nase putzte. Er gönnte ihr eine kleine Pause, bevor er fortfuhr.
»Soll ich Ihnen einen Psychologen, oder … oder eher eine Psychologin vorbeikommen lassen? Oder haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmert, den ich benachrichtigen kann? Oder kann ich sonst noch irgendetwas für Sie tun?«
Veronika schüttelte den Kopf. Als sie sich mühsam und mit wackeligen Beinen von ihrem Sofa erhob, schwankte ihr Oberkörper hin und her. Sebastian schaute sie an und befürchtete, sie könnte ohnmächtig werden. Wie eine Raubkatze vor dem Sprung spannte er seine Muskeln an, um hochschnellen zu können und sie aufzufangen.
Dann sagte sie mit leiser Stimme: »Doch. Sie können doch noch etwas für mich tun. Macht es Ihnen etwas aus, mich kurz in den Arm zu nehmen?«
Etwas verwundert schaute Sebastian zu ihr hoch. Aber dann stand er auf und nahm sie in den Arm. Oh mein Gott, dachte er. Sie ist wirklich ganz allein und hat niemanden, der sie tröstet. Er bemerkte, dass durch Veronikas Tränen seine Uniform an der Schulter feucht wurde. Aber das war ihm in diesem Moment egal. Schließlich löste sie sich aus seiner Umarmung und brachte nur noch ein Wort über die Lippen: »Danke.«
Dann begleitete sie Sebastian zur Tür. Er drehte sich noch einmal zu ihr um, nickte ihr zu und verließ wortlos die Wohnung.
Auf dem Nachhauseweg musste er ständig an Veronika denken. Sie tat ihm unendlich leid. Wenn er ihr doch nur helfen könnte, ihren Schmerz zu überwinden. Doch würde sie jemals über dieses schreckliche Ereignis hinwegkommen? Würde Christi Himmelfahrt, der Tattag, nun immer mit dem Tod ihrer Tochter verbunden sein?
Zwar war es für ihn unangenehm, ja grausam gewesen, die Todesnachricht überbringen zu müssen, aber er hätte nicht gedacht, dass ihm dieses schlimme Verbrechen so unter die Haut gehen würde. Er fragte sich, ob es nicht nur an dem Tod des jungen Mädchens lag, der ihn so mitnahm. Lag es auch an Veronika? Konnte es sein, dass er ihr gegenüber mehr empfand als nur Mitleid?
Die beiden Kriminalhauptkommissare der Kriminalinspektion 1, Kapital-, Sexual- und Amtsdelikte, Thomas Schreiner und Marc Köberlein, saßen an ihren Schreibtischen im vierten Obergeschoss des Polizeipräsidiums Freiburg und lasen das Protokoll der Vermisstenanzeige »Martina Esswein« auf ihren Computerbildschirmen durch. Kurz nach vierzehn Uhr waren sie vom Fundort der Mädchenleiche ins Präsidium zurückgekehrt und hatten sich sofort an die Arbeit gemacht. Unterwegs hatten sie sich noch schnell zwei Pizzas mitgenommen. Die leeren Pizzakartons, die vor ihnen auf den Schreibtischen lagen, waren noch warm.
Marc schaute vom Bildschirm auf. »Thommy, was meinst du? Diesen Dragan Kovacevic. Den Freund der Mutter des Mädchens. Den sollten wir uns als Erstes vorknöpfen.«
»Klaro. Aber lass mich erst mal in unsere Datenbank schauen. Vielleicht ist dieser Bursche aktenkundig.« KHK Thomas Schreiner hämmerte den Namen des Verdächtigen in seine Tastatur.
»So wie du da draufhaust, machst du das Ding
irgendwann mal kaputt. Mich wundert es sowieso, dass die noch nicht im Arsch ist«, merkte Köberlein grinsend an.
»Ach sieh mal einer an. Hab ich’s doch geahnt. Unser Kovacevic ist kein Unbekannter. Komm mal rum und lies mit«, wies Schreiner mit einer Handbewegung seinen Kollegen an, ohne von seinem Bildschirm aufzuschauen. Köberlein ging zur anderen Schreibtischseite, beugte sich neben Schreiner nach vorne und blickte gespannt auf den Monitor.
»Okay«, sagte er nach ein paar Minuten und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch zurück. Er stützte das Kinn in die Hände und schaute seinen Kollegen mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Also, ich fass mal zusammen. Dragan Kovacevic, siebenunddreißig Jahre alt, gebürtiger Kroate. Kam vor zehn Jahren nach Deutschland. Vor fünf Jahren ist er wegen einfacher Körperverletzung mit einer Geldstrafe davongekommen, weil es sich um eine Erstbegehung gehandelt hat. Drei Jahre später, somit heute vor zwei Jahren, stand er wegen Körperverletzung wieder vor Gericht. Dieses Mal wurde ihm eine Bewährungsstrafe aufgebrummt, die übrigens noch läuft. So, und jetzt? Meinst du, dass er in unseren Fall verwickelt ist?«
»Ich weiß nicht so recht. Marc, überleg mal. Das ist doch eine ganz andere Nummer, einem anderen im Streit aufs Maul zu hauen oder ein junges Mädchen umzubringen. Der mag zwar ein übler Bursche sein, aber ob er deshalb zu einem Mord fähig ist, das bezweifle ich. Schließlich hat er das Mädchen gekannt. Sie war die Tochter seiner Freundin.«
»Was ihn aber nicht davon abgehalten hat, ihr an den Po zu fassen«, erwiderte Köberlein.
»Das ist aber noch nicht bewiesen, Marc. Laut der Mutter, Veronika Esswein, hat ihre Tochter behauptet, er hätte sie angefasst. Kovacevic hat es abgestritten. Am besten, wir statten ihm gleich mal einen Besuch ab und finden es raus. Unser Wochenende ist sowieso im Eimer.«
Köberlein zog die oberste Schreibtischschublade auf und warf seinem Kollegen den Autoschlüssel zu. »Du fährst.«
»Eigentlich könnten wir auch zu Fuß gehen. Der wohnt doch gleich um die Ecke«, erwiderte Schreiner. Aber als Köberlein die Augen verdrehte, gab er sich geschlagen. »Na gut, wir fahren.«
Das Polizeipräsidium befand sich in der Bissierstraße, einer von Ahornbäumen gesäumten Straße im Stadtteil Stühlinger. Die Kripobeamten stiegen in ihren Dienst-BMW, fuhren vom Hof des Polizeigebäudes und kamen nach nicht einmal zwei Minuten Fahrtzeit in der Opfinger Straße an. Ihr Ziel lag im Freiburger Stadtbezirk Weingarten, einem Viertel, das durch einen hohen Anteil von Bewohnern mit Migrationshintergrund geprägt war. Als Schreiner den Dienstwagen am Straßenrand parkte, legte sein Kollege den Kopf ans Seitenfenster und blickte schräg nach oben.
»Ganz schön hoch, der Bunker«, meinte Köberlein.
»Na, einen Fahrstuhl werden die wohl haben. Dann kann es uns egal sein, ob unser Kovacevic ganz unten oder im zehnten Stock wohnt«, erwiderte Schreiner mit einem Schmunzeln.
Beim Aussteigen schaute sich Köberlein in der Umgebung um. »Es gibt schönere Ecken«, stellte er mit Blick auf die vielen Hochhäuser und Wohnblocks aus den Sechzigerjahren stirnrunzelnd fest.
»Aber auch wesentlich schlechtere«, entgegnete Schreiner, der hier aufgewachsen war und sich daran erinnerte, wie schön es doch früher gewesen war, im nahe gelegenen Dietenbachpark Fußball zu spielen oder einfach nur mit Freunden rumzuhängen.
Die beiden Kripobeamten überquerten die Straße und gingen auf das Haus zu, das sich durch seine in einem leuchtenden Grün gestrichenen Balkonbrüstungen von den umliegenden Gebäuden abhob. Sie überflogen das Tableau mit den vielen Namensschildern.
»Da haben wir ihn«, sagte Schreiner und drückte den Klingelknopf.
Erst nach zweimaligem Wiederholen ertönte, hinterlegt mit heftigem Knacken und Rauschen der Gegensprechanlage, ein forsches »Wer ist draußen?«
»Thomas Schreiner und Marc Köberlein, Kripo Freiburg. Herr Kovacevic, machen Sie bitte auf. Wir haben ein paar Fragen an Sie.«
»Na gut. Wenn’s sein muss. Kommen Sie hoch, achter Stock rechts.« Der Türöffner summte und die beiden Kommissare traten in den Hausflur. Oben angekommen verließen sie den Fahrstuhl und begaben sich nach rechts zu einer bereits geöffneten Wohnungstür, wo sie ein Bär von einem Mann erwartete.
»Dragan Kovacevic?«
Der Riese nickte, warf einen Blick auf die vorgezeigten Dienstausweise und ließ sie ein.
»Dürfen wir uns setzen?«, fragte Schreiner, als sie einen kurzen Moment später Kovacevic etwas unbeholfen im Wohnzimmer gegenüberstanden. Der nickte und wies mit dem Kinn auf die durchgesessene Couch. Im Fernseher lief gerade ein Western.
Nachdem auch Kovacevic Platz genommen hatte, drückte er auf einen Knopf der Fernbedienung. Zwar flimmerte der Film weiterhin über den Bildschirm, aber der Ton verstummte. So unauffällig es ging, musterte Köberlein sein Gegenüber. Kovacevic war ein Schrank von einem Mann, gut einsneunzig groß, mit breiten Schultern und Händen wie Baggerschaufeln. Er hatte dunkles, dichtes Haar und war an Hals und Armen großflächig tätowiert.
Der hat nicht nur ausgeteilt, sondern auch ab und zu mal einstecken müssen, dachte Köberlein, als sein Blick auf Kovacevics breite und etwas schiefe Nase fiel.
»Herr Kovacevic, wir kommen wegen der Tochter Ihrer Partnerin«, eröffnete Schreiner das Gespräch.
»Hab ich mir schon gedacht. Veronika hat mich vorhin angerufen und gesagt, dass Martina ermordet wurde. Und dann hat sie mich auch noch gefragt, ob ich was damit zu tun hab.«
»Und, haben Sie? Haben Sie was damit zu tun?«, fragte Köberlein. Kovacevic verzog das Gesicht und starrte ihn an, als wolle er den Kripobeamten mit dem durchdringenden Blick seiner dunklen Augen durchbohren.
»Natürlich nicht. Aber klar, ein vorbestrafter Schläger wie ich, der steht bei euch Bullen ganz oben auf der Liste. Ich war’s aber nicht. Ich hab Martina zwar nicht sonderlich leiden können, genauso wenig wie sie mich, aber ich hab sie nicht umgebracht! Basta!«
»Wenn wir Ihnen glauben sollen, dann erzählen Sie uns doch mal, was Sie vorgestern, nachdem Martina aus dem Haus gerannt ist, gemacht haben. Ihre Partnerin hat ausgesagt, dass Sie unmittelbar nach Martina ebenfalls das Haus verlassen haben. Sind Sie ihr gefolgt? Wollten Sie ihr nochmal an die Wäsche? Sie nochmal begrapschen?«
Kovacevic kniff die Augen zusammen. »Ich sag jetzt gar nix mehr. Sie glauben mir ja eh nicht«, erwiderte er erbost.
»Okay, wenn Sie hier nicht reden wollen, dann möchten wir Sie bitten, mit uns aufs Präsidium zu kommen.«
»Ich muss gar nix«, erwiderte Kovacevic trotzig. »Ich bleib schön hier sitzen und ihr beiden könnt mich mal.«
Die Kripobeamten schauten sich verdutzt an und erhoben sich fast gleichzeitig von der Couch. Dann versuchte Schreiner sein Gegenüber zur Vernunft zu bringen.
»Herr Kovacevic, müssen wir Sie daran erinnern, dass Sie nur auf Bewährung draußen sind? Deshalb machen Sie doch nicht so ein Theater und kommen Sie bitte mit. Wir befragen Sie, als Zeugen wohlgemerkt, nicht als Verdächtigen. Wenn sich dabei herausstellt, dass Sie wirklich nichts mit der Sache zu tun haben, unterschreiben Sie Ihre Aussage und können wieder nach Hause. Und wenn Sie sich kooperativ zeigen, dann geht es ganz schnell. Dann bekommen Sie vielleicht auch noch das Ende Ihres Westerns mit.« Er deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung des Fernsehers, wo gerade eine wilde Schießerei zu sehen war.
»Es liegt ganz an Ihnen. Also, bitte stehen Sie auf und begleiten Sie uns.« Schreiner fasste an Kovacevics Arm. Nicht, um ihn gewaltsam aus dem Sessel zu hieven, sondern eher, um ihm aufzuhelfen. Doch Kovacevic verstand das offensichtlich falsch. Er fühlte sich bedroht, denn er schnellte hoch und holte zum Faustschlag aus. Blitzschnell drehte Schreiner seinen Kopf zur Seite. Dennoch streifte ihn Kovacevics Schwinger an der Schläfe, was ausreichte, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Der Kripomann taumelte nach hinten, ruderte Halt suchend mit den Armen und stürzte rückwärts auf den Fußboden.
Dann drehte sich Kovacevic um und wollte auf Köberlein losstürmen. Der hatte aber schon seine Dienstwaffe aus dem Gürtelholster gezogen, richtete die Pistole mit ausgestreckten Armen auf Kovacevic und sagte in ruhigem, aber bestimmtem Ton: »Keine gute Idee! Auf den Boden! Und Hände auf den Rücken! Na los!«
»Ist ja schon gut«, erwiderte Kovacevic, als er in den Lauf der Walther PPK blickte und die Sinnlosigkeit seiner Gegenwehr erkannte. Als Zeichen, dass er sich ergeben wollte, streckte er seine Arme nach oben und ging in die Knie. Dann legte er sich flach auf den Bauch und führte die Hände auf den Rücken. Köberlein stellte sich direkt neben ihn.
»Thommy, bist du okay?«, fragte er in Richtung seines Kollegen, ohne den Blick und die Waffe von Kovacevic abzuwenden. Im gleichen Moment rappelte sich Schreiner wieder auf.
»Alles klar, Marc.« Er fasste sich an die linke Schläfe. »Das gibt bestimmt ne dicke Beule.«
Dann kniete sich Schreiner neben Kovacevic nieder und legte ihm Handschellen an. »So, mein Freund, Schluss mit lustig. Du kommst jetzt mit aufs Revier. Und deinen scheiß Western zu Ende zu schauen, das kannst du dir endgültig abschminken.«
Köberlein und Schreiner saßen sich an ihren Schreibtischen gegenüber.
»Du hast da aber ein ganz schönes Ei an der Schläfe hängen«, sagte Köberlein grinsend, als Schreiner mit Zeige- und Mittelfinger seine Beule sanft massierte.
»Was glaubst du denn, was passiert, wenn so ein Bär zuschlägt? Marc, der hat mir gestern kurz die Lichter ausgeknipst.«
»Zum Glück sind sie dir gleich wieder angegangen. Ich hätte dich vermisst«, erwiderte Köberlein spitzbübisch, der sichtlich Spaß daran gefunden hatte, sich über die Beule seines Kollegen lustig zu machen. Andererseits war er heilfroh, dass bei der Festnahme von Kovacevic nicht noch mehr passiert war. Nicht auszudenken, wenn er von seiner Dienstwaffe hätte Gebrauch machen müssen.
Tags zuvor hatten sie versucht, Kovacevic zu verhören. Nachdem sie ihn aufs Polizeipräsidium gebracht hatten, saßen sie ihm fast eine Stunde lang gegenüber, befragten ihn, was er nach dem Verschwinden von Martina gemacht hatte, wo er sich aufgehalten hatte. Doch Kovacevic blieb nach wie vor stur. Er ignorierte sämtliche Fragen. Die Hinzunahme eines Anwalts lehnte er ebenso ab.
»Thommy, lass uns mal bei Goldbach vorbeischauen. Der müsste mit seiner Obduktion fertig sein. Dann nehmen wir uns nochmal unseren Freund Kovacevic vor. Vielleicht hat ihn die Nacht in der Zelle zur Vernunft gebracht.«
»Gute Idee.«
Köberlein zog die oberste Schreibtischschublade auf. Als er, wie gewohnt, seinem Kollegen den Autoschlüssel zuwerfen wollte, hielt er inne und fing wieder zu grinsen an. »Heute fahr ich. Und du setzt dich mit deinem Brummschädel brav auf den Beifahrersitz, bevor du an der nächsten Ampel Rot mit Grün verwechselst.«
»Marc, jetzt reicht’s aber«, fauchte Schreiner seinen Kollegen an.
»Schon gut«, erwiderte Köberlein, der bemerkte, dass er den Bogen überspannt hatte.
Sie verließen ihr Büro und machten sich auf den Weg zu Dr. Stefan Goldbach, der in der Nacht von Samstag auf Sonntag die Obduktion von Martina Esswein vorgenommen hatte.
Nach fünf Minuten Fahrzeit kamen die beiden Kripobeamten am Freiburger Institut für Rechtsmedizin an. Das in die Jahre gekommene Haus mit seiner mit beigefarbenen Backsteinen verklinkerten Fassade und den dunkelgrünen Metallfenstern befand sich in der Albertstraße. Im unteren Bereich waren die Klinkersteine großflächig mit Graffiti besprüht. Der Eingang des dreigeschossigen Flachdachgebäudes befand sich auf der Stirnseite.
Sie betraten das Gebäude, zeigten am Kontrollpunkt im Erdgeschoss ihre Dienstausweise vor und begaben sich über den Flur zum hinteren Gebäudeteil, in dem sich die Räume des Rechtsmediziners Dr. Stefan Goldbach befanden. Vor dem Seziersaal blieben sie kurz stehen. Sie schauten sich an, und wie auf Kommando atmeten beide tief durch. Dann klopfte Köberlein an und öffnete, ohne auf das »Herein« zu warten, die Tür.