Entwicklung und Frühförderung von Kindern mit geistiger Behinderung und Autismus-Spektrum-Störung -  - E-Book

Entwicklung und Frühförderung von Kindern mit geistiger Behinderung und Autismus-Spektrum-Störung E-Book

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Beschreibung

Dieses Buch bietet einen umfassenden Überblick über Faktoren, die die Entwicklung von Kindern mit geistiger Behinderung und Autismus-Spektrum-Störung in der vorschulischen Phase fördern. Im ersten Teil werden hierzu neue Ergebnisse aus Entwicklungspsychologie, Neurobiologie, Vorschulforschung sowie Früherkennung und -diagnostik vorgestellt. Schwerpunkt des zweiten Teils bildet das Frühförderprogramm "Kleine Schritte": Der Ablauf des Programms, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation sowie Möglichkeiten der Anwendung in Schulen werden ausführlich beschrieben.

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Der Herausgeber

Prof. Dr. Meindert Haveman war Professor für Rehabilitation und Pädagogik von Menschen mit geistiger Behinderung an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Universität Dortmund.

Meindert Haveman (Hrsg.)

Entwicklung und Frühförderung von Kindern mit geistiger Behinderung und Autismus-Spektrum-Störung

Das Programm »Kleine Schritte«

3., überarbeitete und erweiterte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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3., überarbeitete und erweiterte Auflage

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039822-1

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-039823-8

epub:        ISBN 978-3-17-039824-5

Inhalt

 

 

Vorwort

1   Bausteine einer effektiven Frühförderung

Meindert Haveman

1.1   Einleitung

1.2   Sozial-demographische Entwicklungen

1.3   Entwicklungs- und lernpsychologische Faktoren

1.3.1   Entwicklungspsychologische Faktoren

1.3.2   Lernpsychologische Faktoren

1.3.3   Andere wichtige Bausteine für die Entwicklung

1.3.4   Frühes Vorlesen

1.3.5   Frühes Lesen bei Kindern mit geistiger Behinderung

1.3.6   Bindungssicherheit

1.3.7   Das Einschätzen der Zone nächster Entwicklung

1.4   Neurobiologische Entwicklungen und neuropsychologische Konsequenzen

1.5   Förderung im Kindergarten und in der Vorschule

1.6   Entwicklungen in der Früherkennung und -diagnostik

1.7   Entwicklungen und Bedingungen für effektive Förderung bei Kindern mit geistiger Behinderung

2   Wandel der Frühförderung

Meindert Haveman

2.1   Das Entstehen des Systems der Frühförderung

2.2   Die Entwicklung unterschiedlicher Modelle in der Elternarbeit

2.2.1   Das Laienmodell

2.2.2   Das Co-Therapeutenmodell

2.2.3   Das Kooperationsmodel

2.2.4   Familienzentrierte Frühförderung

2.3   Grenzen der Effektivitätsmessung

3   Die Entwicklung von Kindern mit geistiger Behinderung (insbesondere mit Down-Syndrom)

Meindert Haveman

3.1   Zum Begriff der Entwicklung und der Bedeutung von Entwicklungsverläufen

3.2   Kinder mit Down-Syndrom und Entwicklungstempo

3.3   Die grob- und feinmotorische Entwicklung bei Kindern mit Down-Syndrom

3.3.1   Merkmale, die die motorische Entwicklung bei Kindern mit Down-Syndrom beeinflussen

3.3.2   Entwicklungsstufen der Grobmotorik

3.3.3   Entwicklungsstufen der Feinmotorik

3.3.4   Verzögerte oder »andere« motorische Entwicklung bei Kindern mit Down-Syndrom?

3.4   Die Entwicklung der expressiven und rezeptiven Kommunikation bei Kindern mit Down-Syndrom

3.4.1   Verzögerte oder unterschiedliche Kommunikationsentwicklung bei Kindern mit Down-Syndrom

3.4.2   Präverbale Kommunikation

3.4.3   Sprachverständnis und Sprechvermögen

3.4.4   Artikulation

3.4.5   Sprachkompetenz

4   Die Entwicklung und Diagnostik von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)

Meindert Haveman

4.1   Diagnostik und Symptomatik

4.2   Tests zur Erfassung von ASS

4.3   Entwicklungsbereiche bei Kindern mit ASS

Sprache, soziale Kommunikation und Interaktion

Verhalten, Interessen und Aktivitäten

Kognitive Entwicklung

4.4   Prävalenz, Ursachen und Prognose

4.5   Früherfassung und -förderung von Kindern mit ASS

4.6   Frühförderung der Motorik und Mitförderung anderer Entwicklungsbereiche

5   Das Frühförderprogramm »Kleine Schritte«

Cora Halder

5.1   Einleitung

5.2   Die Autorinnen

5.3   Historie

5.4   Die Vorgehensweise des Macquarie-Instituts

5.5   Grundlegende Merkmale des Programms »Kleine Schritte«

5.6   Grundannahmen

5.7   Aufbau des Programms

5.8   Fertigkeiten der Entwicklungsbereiche (Abfolgen)

5.8.1   Anwendung der Abfolgen

5.8.2   Aufbau der Abfolgen

5.9   Die Einschätzung des Kindes

5.10 Lernziele

5.11 Zwischenschritte

5.12 Unterrichtstechniken

5.13 Protokollierung

5.14 Das Spiel

5.15 Nachwort

6   Das Forschungsprojekt »Kleine Schritte« der Universität Dortmund

Meindert Haveman, Dorothee Lappe und Rahel Wevelsiep

6.1   Ziel des Projekts »Kleine Schritte«

6.2   Teilnehmer

6.3   Aufgaben der teilnehmenden Familien

6.3.1   Einschätzung des Entwicklungsstandes des Kindes

6.3.2   Förderung mit dem Programm »Kleine Schritte«

6.3.3   Protokollierung der Förderung

6.3.4   Beantwortung des Elternfragebogens zu drei Zeitpunkten

6.4   Projektteam

6.5   Die Familienbegleiter

6.5.1   Das Seminar zur Vorbereitung der Familienbegleiter

6.5.2   Die Rolle der Familienbegleiter

6.6   Die Rolle des Deutschen Down-Syndrom InfoCenters

6.7   Die Rolle der Frühförderstellen

6.8   Die wissenschaftliche Evaluation des Projekts »Kleine Schritte«

6.8.1   Formen der Datengewinnung

6.8.2   Projektphasen der Untersuchung

6.9   Die Teilnahme

6.10 Bildung der Hypothesen

6.10.1   Hypothesen zur Effektivität des Programms

6.10.2   Hypothesen der Adäquanz und Umsetzbarkeit des Programms

6.11 Familienprofil in der Ausgangslage

7   Ergebnisse in Bezug auf die Fördereffekte bei den Kindern

Michaela Hatebur

7.1   Einleitung

7.2   Hypothesen

7.3   Vergleich der dem Programm zugrunde gelegten Regelentwicklung mit der Literatur

7.4   Datenerfassung und Auswertungsverfahren

7.5   Resultate

7.5.1   Gesamtverlauf über die Einschätzungen

7.5.2   Bereichsbezogener Verlauf über die Einschätzungen

7.5.3   Leistungssteigerung der einzelnen Kinder

7.5.4   Geschlechtsspezifische Betrachtung über die Einschätzungen

7.5.5   Altersspezifische Betrachtung über die Einschätzungen

7.5.6   Betrachtung der Einschätzung in Bezug auf die Geschwisteranzahl

7.5.7   Entwicklung aller Kinder in Abhängigkeit vom Alter

7.6   Ergebnisse für die Hypothesen

8   Effektivität und Adäquanz des Programms »Kleine Schritte« in der Frühförderung von Kindern mit Down-Syndrom

Meindert Haveman

9   Elternrolle und -zufriedenheit bei der Förderung nach dem Programm »Kleine Schritte«

Markus Elter

9.1   Einleitung

9.2   Erfahrungsberichte zufriedener Eltern

9.3   Erfahrungsberichte unzufriedener Eltern

9.4   Ausblick

10 »Kleine Schritte« bei schwerstbehinderten Kindern am Beispiel des Rett-Syndroms

Andrea Gülle

10.1 Personenkreis der Kinder mit Rett-Syndrom

10.1.1 Das Rett-Syndrom als Form der schwersten Behinderung

10.1.2 Der Förderbedarf von Kindern mit Rett-Syndrom

10.2 Frühe Förderung von Kindern mit Rett-Syndrom

10.2.1 Bedürfnisse betroffener Eltern und Kinder in Bezug auf die Frühförderung

10.2.2 Kritische Reflexion des Programms »Kleine Schritte« bezüglich dieser Bedürfnisse

10.3 Modifizierter Fördervorschlag zur frühen Förderung der Wahrnehmung von Kindern mit Rett-Syndrom

10.3.1 Die Wahrnehmung und ihre Bedeutung in der frühen Entwicklung

10.3.2 Der modifizierte Fördervorschlag in Abgrenzung zu dem Programm »Kleine Schritte«

10.3.3 Durchführung der Förderung nach dem modifizierten Fördervorschlag

10.4 Frühe Förderung zweier Kinder mit Rett-Syndrom nach dem modifizierten Fördervorschlag

10.4.1 Arbeitshypothesen

10.4.2 Förderbedarf mit dem Schwerpunkt »Wahrnehmung«

10.4.3 Umsetzung der Förderung durch die Eltern

10.4.4 Ergebnisse der Förderung für Kinder und Eltern

10.4.5 Kritische Reflexion der Ergebnisse

11 »Kleine Schritte« beim Mathematik-Unterricht in der Unterstufe der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt »Geistige Entwicklung«

Mathia Wennekamp

11.1 Einleitung

11.2 Eine Fortsetzung des Programms »Kleine Schritte«

11.3 Gemeinsame Grundlagen

11.4 Das Programm »Kleine Schritte, Zählen und Zahlen«

11.4.1 Voraussetzungen

11.4.2 Entwicklungsorientierte Abfolgen

11.5 Die Untersuchung

11.5.1 Hypothesen

11.5.2 Die Einschätzung der Schüler

11.6 Einsatz von »Kleine Schritte, Zählen und Zahlen« im Unterricht

11.6.1 Resultate

11.7 Das Üben von Unterrichtsinhalten zu Hause

11.7.1 Elternbefragung

11.7.2 Entwicklung von Übungsmöglichkeiten

11.7.3 Ergebnisse

11.8 Schlussbetrachtung

12 Strukturierte Förderung durch das Programm Kleine Schritte von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)

Zih-Shian Chang

12.1 Das Frühförderprogramm »Kleine Schritte« und die Durchführung

12.2 Fragestellungen, Hypothesen und Forschungsdesign

12.3 Stichprobe, Anwerbung der Teilnehmer und statistische Analyse

12.4 Resultate

12.4.1 Überprüfung von Hypothese 1

12.4.2 Überprüfung von Hypothese 2

12.4.3 Überprüfung von Hypothese 3

12.4.4 Überprüfung von Hypothese 4

12.5 Diskussion der Ergebnisse

Methodische Ansätze der Frühförderung

Eltern als Erzieher

Zielsetzung des Forschungsprojektes

Adäquanz und Effektivität des Programms

Hypothesen

Kulturelle Synchronizität

Methodologische Anmerkungen

13 Möglichkeiten des Kleine-Schritte Programms bei der familienzentrierten Frühförderung

Meindert Haveman

13.1 Frühförderung in Deutschland

13.2 Prinzipien der Frühförderung und das Programm »Kleine Schritte«

13.2.1   Beziehungsorientiert

13.2.2   Befähigung der Familie

13.2.3   Positiver Ansatz

13.2.4   Personenzentriert

13.2.5   Integrativ und inklusiv

13.2.6   Verankert in der Gemeinschaft

13.2.7   Professionell

13.2.8   Reflektierend

13.2.9   Evidenz- basiert

13.2.10 Lebenszyklus-/Transitionsansatz

13.2.11 Breit einsetz-, erreich- und verfügbar

13.2.12 Zugänglich, von hoher Qualität, anpassungsfähig und erschwinglich für alle Familien

13.2.13 Integration der notwendigen medizinischen/gesundheitlichen Maßnahmen.

13.2.14 Entwicklungsorientiert

13.2.15 Ganzheitliche Förderung

13.2.16 Effizient und angepasst an die technischen und medialen Möglichkeiten dieser Zeit

13.2.17 Kontinuität der Begleitung während einer längeren Periode

13.2.18 Integration und Kooperation bei Angeboten der Frühförderung

13.3 Das Prinzip des »Was kann im Allgemeinen, was muss im Speziellen«: Möglichkeiten für den Einsatz des »Kleine Schritte«-Programms bei der Frühförderung in Deutschland

Literatur

Anhang

Das Curriculum Kleinste Schritte mit Lernzielen zur somatischen Anregung (Andrea Gülle,  Kapitel 10)

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

In dem Jahrzehnt nach dem Erscheinen der 2. Auflage dieses Buches (2013) war die Forschung zur Frühförderung von Kindern mit schweren Entwicklungsverzögerungen in erster Linie auf kleinere Verfeinerungen und Weiterentwicklungen ausgerichtet. Dies steht in scharfem Kontrast zu den vielen, weitaus umfassenderen randomisierten klinischen Studien und Langzeitstudien, die davor für Kinder mit Down-Syndrom und Autismus durchgeführt wurden. Auch kontrastiert die heutige Situation mit der reichen und lebendigen konzeptionellen Arbeit der Entwicklungsforschung in früheren Jahren. Bis zu einem gewissen Grad spiegelt das Fehlen von umfassenden, größeren und längerfristigen Interventionsstudien die akzeptierte Tatsache, dass Kinder mit Entwicklungsverzögerungen und ihre Familien von den derzeitigen Frühförderprogrammen profitieren (Guralnick, 2017). Ein anderer Grund kann sein, dass umfassende Studien zur Frühförderung schwierig und teuer in der Durchführung sind. Auch das Eindringen in die Privatsphäre der Familie und die gesellschaftliche Diskussion um den Datenschutz kann der Durchführung von großen Forschungsprojekten entgegengewirkt haben. Schließlich spielt vielleicht eine Rolle, dass bessere konzeptionelle Modelle fehlen, wodurch es kaum Anreize gibt, diesen Forschungszweig weiter intensiv zu verfolgen.

Diese Umstände gelten vielleicht auch für das Frühförderprogramm »Kleine Schritte/Small Steps« der Macquarie Universität in Australien. Dieses Programm wird auch heute noch in vielen Ländern und bei unterschiedlichen Zielgruppen mit Entwicklungsverzögerungen angewandt. Neuere und weiterreichende wissenschaftliche Studien über das Programm gibt es aber kaum. Wohl gibt es in letzter Zeit Bemühungen, strukturiertere und umfassendere Curricula durchzuführen, die einen entwicklungsorientierten und verhaltensbasierten Interventionsansatz beinhalten, hauptsächlich für Kinder mit Autismus (Eldevik et al., 2010). Diese Studien legen nahe, dass Kinder mit Entwicklungsverzögerungen von einer sorgfältigen Sequenzierung von Lernaktivitäten und Umgebungsstrukturen profitieren können. Schon Shonkoff & Hauser-Cram (1987) haben darauf hingewiesen, dass eine gut definierte Struktur ein wichtiges Element in erfolgreichen Programmen ist. In seinem State-of-Science Review weist Guralnick (2017) nochmals darauf hin.

In dieser Auflage wurde der Anwendungsbereich des Buches erweitert. Vieles, was für Kinder mit Down-Syndrom und ihre Familiensituation gilt, ist auch zutreffend für Kinder mit anderen Ursachen der geistigen Behinderung und ihre Familien. Es gibt sicher Unterschiede in Entwicklungsverläufen, aber die gibt es auch unter Kindern mit Down-Syndrom. Wir haben dieses Buch ergänzt um die Frühförderung von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Viele dieser Kinder haben neben den Symptomen einer ASS auch eine geistige Behinderung (IQ<70). Im vorletzten Kapitel des Buches werden die Resultate der Dissertation von Zih-Shian Chang (2011) zusammengefasst. Diese Autorin hat das Programm »Kleine Schritte« für die Frühförderung von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen und ihren Familien in Deutschland und Taiwan angewandt.

In diesem Buch wird das Prinzip einer praktisch-pädagogischen Familienbegleitung diskutiert und vertreten ( Kap. 12). Ausgangspunkt dabei ist, dass es bei anhaltenden Entwicklungsverzögerungen in den ersten Lebensjahren wichtiger ist, diese so schnell und breit wie möglich zu erfassen, um den Eltern zu helfen, anstatt eine Diagnose der spezifischen Art der Behinderung abzuwarten. Schon vor der offiziellen ätiologischen oder Syndrom-Diagnose sollte bei einem Kind so breit und so früh wie möglich abgeklärt werden, welche Entwicklungsdimensionen betroffen sind, um so schnellstens einen Frühförderplan zusammen mit den Eltern zu entwerfen und zu implementieren.

März 2022

Meindert Haveman

1          Bausteine einer effektiven Frühförderung

Meindert Haveman

1.1       Einleitung

Geistige Behinderung wird in der ICD-11 als eine Störung der geistigen Entwicklung beschrieben (Salvador-Carulla et al., 2011), die während der »Entwicklungsperiode« vor dem 18. Lebensjahr entsteht (American Association on Intellectual and Developmental Disabilities [AAIDD], 2010). Der Zeitraum der Entstehung ist damit breit gefasst und durch niedrige kognitive Fähigkeiten (IQ < 70) und niedrige Niveaus adaptiver Funktionen (wie Kommunikation sowie soziale und adaptive Fähigkeiten) gekennzeichnet. Kinder mit ernster und schwerer geistiger Behinderung werden meistens durch ihre Entwicklungsverzögerung schon im ersten Lebensjahr erfasst. Internationale Prävalenzstudien legen nahe, dass ~1,5–2,2 % der Kinder und Jugendlichen eine geistige Behinderung haben (Maulik et al., 2011). Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sind wie die geistige Behinderung neurologische Entwicklungsstörungen und bilden ein Spektrum (Bandbreite) von Erkrankungen, das stark in der Art und Schwere variiert. Für die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung nach DSM 5 müssen Schwierigkeiten im Bereich der sozialen Kommunikation und Interaktion als auch im Bereich der eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmuster, Interessen und/oder Aktivitäten tiefgreifend vorhanden sein. ASS unterscheidet sich von einer intellektuellen Behinderung, obschon viele Personen mit ASS neben den Merkmalen von ASS auch solche einer intellektuellen Behinderung aufweisen.

Da die Entwicklung in den ersten Jahren im Allgemeinen schnell verläuft, bleiben die Funktionen von Kindern mit geistiger Behinderung und ASS in vielen Entwicklungsbereichen bald hinter denen gleichaltriger Kinder zurück, selbst wenn ihr Entwicklungstempo nur geringfügig langsamer ist als im Durchschnitt. Um diesen Kindern zu helfen, ihren Rückstand aufholen zu können, muss die Intervention und Unterstützung so früh wie möglich bei deutlichen Signalen der Entwicklungsverzögerung beginnen. Ohne Frühhilfen wird der Entwicklungsverlauf weiter zurückfallen.

Gerade die Begleitung von sehr jungen Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf kann eine komplexe und schwierige Aufgabe für deren Eltern sein. Durch das langandauernde Ausbleiben von Entwicklungsschritten, die die Eltern erwarten, werden Väter und Mütter verunsichert, wissen nicht, wie sie dem Kind helfen können, und suchen Rat bei der Erziehung ihres Kindes. Der erste Schritt in die Frühförderung verläuft meistens über den Kinderarzt. Frühintervention umfasst »die multidisziplinären Dienste, die für Kinder von der Geburt bis zu 6 Jahren angeboten werden, um die Gesundheit und das Wohlbefinden des Kindes zu verbessern, Kompetenzen zu erweitern, Entwicklungsverzögerungen zu reduzieren, bestehende oder entstehende Behinderungen zu identifizieren und zu begleiten, einem funktionellen Verfall vorzubeugen und eine adaptive Elternschaft zu unterstützen und das allgemeine Funktionieren der Familie zu helfen« (Shonkoff & Meisels, 2000). Bei der Definition der Frühförderung wird durch die Europäische Agentur für Entwicklungen in der Sonderpädagogischen Förderung als weitere Aufgabe die Förderung der sozialen Inklusion der Familie und des Kindes hinzugefügt (EAESF, 2010, S. 7).

Obwohl sehr allgemein formuliert, sind wir mit dieser (erweiterten) Definition einverstanden. Es gibt viele und gute Argumente, um das Kind, Familie und Gesellschaft bei der Frühförderung eng zu verknüpfen. In diesem Kapitel sollen einige grundlegende wissenschaftliche Entwicklungen aufgezeigt werden, die zu einer erhöhten Relevanz einer Frühförderung in den Familien beitragen. Es geht dabei um sehr verschiedene Bereiche. Um nur einige zu nennen: die Entwicklungspsychologie, die Neurobiologie und -physiologie, die Familiensoziologie und die sozial-demographische Forschung. Mit den Entwicklungen im letzteren Bereich möchten wir beginnen.

1.2       Sozial-demographische Entwicklungen

Familie und Verwandtschaft stellen zweifellos die bedeutsamste Gruppenform der Menschheit dar. Ihr Ursprung ist älter als jede andere Gruppenform auf lokaler Basis, wie zum Beispiel Gemeinde und Gemeinschaft. Der Begriff »Familie« bezeichnete ursprünglich die Gesamtheit derer, die einer Hausgemeinschaft durch Verwandtschaft und Abhängigkeit gesellschaftlich angehörten. Erst im Zuge der Industrialisierung beginnen sich die Familienbeziehungen und - funktionen zu verändern und schließlich langsam aufzulösen.

Vor etwa 40 Jahren hatte Cooper (1981) den »Tod der Familie« prophezeit. Wenn er damit das Modell einer »traditionellen Normalfamilie« meinte, dann hat er Recht behalten. Der Idealtypus einer bürgerlichen Familie war schon früher real betrachtet eher selten zu finden und ist in der reinen Form heute so gut wie ausgestorben. Sie »besteht aus einem Mann und einer Frau, die legal verbunden in einer dauerhaften und sexuell exklusiven Erstehe mit ihren Kindern in einem gemeinsamen Haushalt leben. Dabei widmet sich der Mann voll dem Berufsleben, während die Frau sich weitgehend aus der Berufstätigkeit zurückzieht, um volle Verantwortung für Haushalt und Kindererziehung zu übernehmen« (Scanzoni et al., 1989). Für jedes einzelne Kennzeichen dieses traditionellen Familienleitbildes und der bürgerlichen Familie vergangener Jahre haben sich pluriforme Alternativen herausgebildet (Macklin, 1987; Haveman, 2000). Grenzübergreifend hat sich eine experimentierfreudige Beziehungskultur zwischen Menschen geformt, die sich in heterogenen Familienformen äußert. Es wurde und wird auch heute noch viel diskutiert über Probleme »der Familie«, wie die Distanz zwischen den Generationen, zunehmende Therapiebedürftigkeit der Familienmitglieder, innerfamiliäre Gewalt, Brüche in der familiären Erziehungspraxis und wachsende Scheidungsraten.

Was den letzten Punkt betrifft: Von den großen EU-Mitgliedern ist Spanien mit einer Quote von 2,0 je 1.000 Einwohner das Land mit den meisten Scheidungen. Am längsten halten es die Italiener miteinander aus. Dort beträgt die Quote nur 1,5. Allerdings liegen dunkle Wolken über der Apenninen-Halbinsel: Die Trennungsrate ist dort seit 2009 um fast 70 Prozent gestiegen.

Spitzenreiter bei den Scheidungen je 100 Hochzeiten war im Jahr 2017 Portugal mit 64,2. Sprich: Auf drei feierliche Ja-Worte kamen zwei mehr oder minder friedliche Trennungen. In Deutschland lag dieser Anteil mit 37,7 Prozent deutlich darunter (IWD, 2021).

Durch die Ehescheidungen hat sich die Zahl der Ein-Eltern-Familien in den letzten Jahrzehnten in Deutschland erhöht. Die Pluralität der Familienformen mag nach außen hin den Schein einer großen Heterogenität als Erziehungsinstanz wecken. Gerade in dieser Hinsicht hat sich jedoch nichts Wesentliches gewandelt. So gilt auch heute, dass noch über 80 Prozent der Kinder bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen. Umgekehrt bedeutet dies übrigens auch, dass ungefähr ein Fünftel aller Kinder ohne ihre leiblichen Eltern aufwächst und dass es einen deutlichen Trend zu Ein-Eltern-Familien gibt. Laut dem Statistischen Bundesamt (2020) waren in Deutschland rund 2,2 Millionen Mütter und etwa 407.000 Väter im Jahr 2019 alleinerziehend. In Ostdeutschland ist der Anteil an Alleinerziehenden mit 24,6 Prozent wesentlich höher als in Westdeutschland, wo er 19 Prozent beträgt. Da es auf Landes- und Bundesebene keine Statistiken zu Einelternfamilien mit einem behinderten Kind gibt, kann nicht gesagt werden, wie viele Mütter ihr behindertes Kind allein erziehen. Die gesellschaftlichen Veränderungen, die direkt oder indirekt die Institution »Familie« betreffen, gelten jedoch auch für Familien mit behinderten Kindern. Alleinerziehend mit einem behinderten Kind zu sein, bedeutet eine doppelte Belastung. Zum einen fehlt der zweite Elternteil in mehreren Bereichen: der fehlende Elternteil übernimmt weniger bis keine Verantwortung und nimmt keine Arbeit ab, trägt nicht zum Familieneinkommen bei und beschäftigt sich zeitlich weniger mit den Kindern. Zum anderen kommt die Behinderung des Kindes hinzu. Dies erfordert von dem alleinerziehenden Elternteil – zumeist die Mutter – sehr viel Kraft und Zeit und führt häufig zu einer Überbelastung und materiellen Sorgen (Familienratgeber.de).

Das länderübergreifende Klischee, Ehen zerbrächen an der Behinderung des Kindes, ist als generelle Aussage nicht gültig (Van Berkum & Haveman, 1995). Wenn schon, dann sind es die sich aus der Behinderung ergebenden Belastungen, die einen Risikofaktor für die Ehe darstellen (Haveman et al., 1997; Müller-Zurek, 2002, 33). Bei einer repräsentativen Stichprobe unter Eltern mit Kindern mit geistiger Behinderung fanden Haveman et al. (1997) im südlichen Teil der Niederlande keine höhere Scheidungsrate für Eltern mit geistig behinderten Kindern. Von den Eltern mit geistig behinderten Kindern waren 86 Prozent verheiratet oder lebten mit einem Partner zusammen (für die niederländische Bevölkerung waren dies 84 Prozent; ebd., 327).

Es gibt aber sehr viele Mütter, die allein vor der Aufgabe stehen, für ein Kind mit geistiger Behinderung zu sorgen. Es gibt zwei Erklärungen für dieses Phänomen. Die wichtigste Erklärung ist die Scheidungsrate. Die zweite Erklärung ist, dass geistig behinderte Kinder länger bei ihren Eltern wohnen, oft bis ins hohe Erwachsenenalter. Durch vielerlei Faktoren veranlasst, findet der Ablösungsprozess später oder im Erwachsenenalter statt. In einigen Fällen überleben sie ihre Eltern (Haveman & Stöppler, 2021).

Die beschriebenen sozial-demographischen Trends haben verschiedene Konsequenzen:

•  Die Anzahl der alleinerziehenden Eltern nimmt zu.

•  Die Periode, in der die Familie für das behinderte Kind verantwortlich sein kann, ist länger.

•  Die Geschwister stehen in einem intensiveren Kontakt zu dem behinderten Bruder oder der behinderten Schwester.

•  Es gibt weniger Kernfamilienmitglieder (Geschwister, geschiedene Ehepartner), die die Versorgungsrolle der Mutter übernehmen wollen/können.

Die zunehmende Erwerbstätigkeit der Mütter hat zwei weitere Konsequenzen:

•  Die Mütter haben weniger Zeit für Erziehungsaufgaben. Väter sind mehr gefragt, im Haushalt und in der Erziehung Aufgaben zu übernehmen.

•  Familien sind für die Versorgung, Begleitung und Erziehung ihres Kindes mehr auf das informelle (z. B. Großeltern) oder professionelle soziale Umfeld (z. B. Familienunterstützende Dienste) angewiesen.

In vielen Familien sind es die Großeltern, die versuchen, einen Teil der Belastungen aufzufangen. Müller-Zurek (2002) nennt allerdings drei Faktoren, die eine einschränkende Rolle spielen:

1.  In der mobilen Gesellschaft leben die Großeltern oft weit entfernt.

2.  Moderne Großmütter sind häufig berufstätig.

3.  Die Kräfte der Großeltern lassen nach (ebd., 33).

Die Erwerbstätigkeit der Mütter hat in den letzten Jahrzehnten stetig zugenommen: 43 Prozent aller Mütter mit Kindern unter 15 Jahren in den alten und 70 Prozent in den neuen deutschen Bundesländern sind erwerbstätig. Verglichen mit der Generation ihrer Mütter treten die jüngeren westdeutschen Frauenjahrgänge zwar erst in einem höheren Alter ins Berufsleben ein, bleiben dann aber auch als Mütter häufiger erwerbstätig bzw. unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit nur kurz.

Der Anstieg dieser Müttererwerbsquote in den alten Bundesländern geht fast ausschließlich auf eine Zunahme der Teilzeittätigkeiten und geringfügigen Beschäftigungen zurück. In der Familienphase mit Kindern im Kindergarten- und Schulalter ist es im Westen Deutschlands dadurch zu einer quantitativen Verlagerung vom Modell der »Versorgerehe« zum Modell der »Zuverdiener-Ehe« gekommen.

Wie aber sieht die Situation für Familien aus, in denen das Kind schon ziemlich früh eine ernste Entwicklungsverzögerung zeigt? Wie passt sich die Familie an dieses oft nicht erwartete Ereignis und die neue Situation an? Eine Barriere stellt die gesellschaftliche Erwartungshaltung dar, wonach bei einem behinderten Kind die Mutter für die Pflege und Versorgung zuständig gemacht wird (Büker, 2010; 47). Hinzu kommen die Unterschiede in der Erwerbsbeteiligung von Müttern zwischen den alten und neuen Bundesländern. Nach Hirchert (2005) geben 60 Prozent der westdeutschen, aber nur 40 Prozent der ostdeutschen Frauen an, dass sie durch die Geburt ihres behinderten Kindes ihre Erwerbsarbeit einschränken müssen. Dies hängt mit dem unterschiedlichen Angebot an Betreuungseinrichtungen für Kinder, wie Kinderkrippen und Kindergärten, aber auch mit den verschiedenen Wertorientierungen zwischen Ost und West hinsichtlich der Müttererwerbsbeteiligung zusammen (Hirchert, 2005)

Auch in Familien mit behinderten Kindern ist die Mutter noch immer die wichtigste Bezugs- und Pflegeperson, weniger der Vater. Die Geburt eines geistig behinderten Kindes, eines Kindes, das auch nach der Geburt jahrzehntelang abhängig von anderen Menschen bleiben wird, bedeutet, dass relativ stabile, erworbene und sozial anerkannte Rollen der Frau, wie z. B. die Arbeitsrolle oder Rollen im Freizeitbereich, ins Wanken geraten. Die Solidarität mit dem Kind sowie die zeitlichen Ansprüche, die das Kind stellt, lassen im Leben der Eltern oft sogar nicht einmal das Arbeiten in Teilzeit oder Hobbys, Besuche und Urlaub zu. Die Familie, vor allem die Eltern, müssen sich der neuen Situation anpassen. Die neue Lage wird diskutiert und führt zur Änderung von Haltungen, Verhaltensweisen und schließlich zur Neudefinition von Rollen. Ohne gezielte emotionale, soziale und finanzielle Unterstützung der Familien führt dies in vielen Fällen dazu, dass erworbene Rechte und Positionen der Frau in einer zeitgemäßen Ehe aufgegeben oder zurückgestellt werden. Man könnte sagen, die Geburt eines behinderten Kindes trägt das Risiko in sich, dass ein traditionelles Rollengefüge wieder entsteht, in dem der Ehemann die Familie ernährt und nach außen hin repräsentiert, während die Ehefrau sich Erziehungs- und Entwicklungsfragen der Kinder sowie dem Haushalt widmet.

Wie auch immer die Institution »Familie« sich in Struktur, Bedeutung und Vielfältigkeit geändert hat, es verbleiben ihr immer noch zwei grundlegende Funktionen (Cloerkes, 1997):

•  Sie bildet erstens die soziale Lebensgrundlage für die Beziehung von Mann und Frau, und

•  sie ist zweitens Erziehungsinstanz in einer frühen Entwicklungsphase des Kindes und prägt damit entscheidend die Bildung der gesamten Persönlichkeit.

Die zweite Funktion, die Erziehungsaufgabe der Eltern, erodiert jedoch immer mehr. Die Erziehung der Kinder wird mehr und mehr an andere gesellschaftliche Institutionen abgetreten: Kindergarten, Vorschule und Schule. Diese übernehmen zunehmend die ursprünglichen Bildungs- und Sozialisationsleistungen der Familie. Die Zahl der unter Dreijährigen, die in einer öffentlich geförderten Kita oder bei Tageseltern betreut werden, stieg seit 2015 von 693.000 auf 829.000. 2019 meldeten 81 Prozent der Eltern für ihre Zweijährigen und 64 Prozent der Eltern für ihre Einjährigen einen Betreuungsbedarf an – deutlich mehr als noch vor fünf Jahren. 

1.3       Entwicklungs- und lernpsychologische Faktoren

Kinder werden also in sehr verschiedene Familienstrukturen und -bedingungen hineingeboren, die Entwicklungschancen der Kinder sind daher nicht immer gleich. Trotzdem beeinflussen diese strukturellen Familienfaktoren die Entwicklungschancen nur indirekt und in extremen Fällen; nämlich nur dann, wenn das Kind bei Armut zur finanziellen Belastung wird, es keine geeignete Nahrung, Kleidung und entwicklungsgerechtes Spielzeug bekommt oder die Eltern zu wenig Zeit für das Kind haben. Noch wichtiger als die Familienstruktur ist für die Entwicklung des Kindes die Kultur der Familie, nämlich die Gesamtheit der Werte, der Erwartungen, des Erziehungswissens, der Gefühle und der Interaktions- und Kommunikationsprozesse rundum und mit dem Kind.

Wenn ein Kind geboren wird, sind viele Grundsteine seiner Entwicklung bereits gelegt. Doch erst durch Erfahrungen, durch Reize und Informationen kann ein Kind lernen. Die ganzheitliche Entwicklung geht davon aus, dass Kinder durch Bewegung, Übung und Spiel Erfahrungen sammeln, die in der Konsequenz dazu führen, dass sie sich in verschiedenen Bereichen weiterentwickeln. Dabei ist es besonders wichtig, diese Fähigkeiten bereits im frühen Kindesalter zu erlernen.

Die frühe Kindheit ist eine Zeit großer Chancen für die Entwicklung des Gehirns, aber auch eine Zeit der Verletzlichkeit. Die Entwicklung der Sprache, der Kognition, der Motorik und der sozio-emotionalen Bereiche vollzieht sich in diesen ersten Jahren schnell. Diese Entwicklungsbereiche arbeiten oder entwickeln sich nicht isoliert, sondern ermöglichen sich gegenseitig und interagieren miteinander, während das Kind lernt, unabhängiger zu werden. Wenn ein Kind zum Beispiel sehen lernt, wird es zunehmend nach Gegenständen greifen und mit ihnen spielen und dadurch motorische Fähigkeiten und Koordination entwickeln. Biologische, psychosoziale und Umweltfaktoren haben ebenfalls einen entscheidenden Einfluss auf die Struktur und Funktion des sich entwickelnden Gehirns. Wenn ein Kind zum Beispiel Möglichkeiten zum Spielen erhält, kann es nach und nach seine Umgebung erkunden und mit seiner Bezugsperson interagieren und dadurch seine psychosoziale Entwicklung vorantreiben. Darüber hinaus ist der Zeitraum, in dem diese Faktoren die Entwicklung des Gehirns beeinflussen, von entscheidender Bedeutung, da es bestimmte frühe Zeitfenster gibt, die, wenn sie nicht genutzt werden, eine optimale Gehirnentwicklung und lebenslanges Wohlbefinden verhindern können. Umgekehrt wirkt sich die Exposition gegenüber biologischen und psychosozialen Risiken negativ auf das sich entwickelnde Gehirn aus und beeinträchtigt die Entwicklung von Kindern (Walker et al., 2011).

1.3.1     Entwicklungspsychologische Faktoren

Die Entwicklungspsychologie trägt dazu bei, die Entwicklung des Kindes in den verschiedensten Bereichen zu verstehen und Fördermaßnahmen weiterzuentwickeln. Es gibt von der Geburt an gewisse Fähigkeiten, anhand derer beurteilt werden kann, ob ein Kind in den passenden Abschnitten der »Regel«- Entwicklung ist. Diese Lebensabschnitte werden als »Meilensteine der Entwicklung« bezeichnet (Pechstein, 1975; Hellbrügge, 1976; Rieckmann,1996). Die Fähigkeiten des Kindes in jeder Phase helfen Ärzten, Pädagogen, Psychologen und Eltern, die kindliche Entwicklung in verschiedenen Bereichen zu beobachten und festzustellen, ob es ernsthafte Entwicklungsverzögerungen gibt.

»Meilensteine der Entwicklung« als Kriterien der Früherkennung sind allerdings nur mit Einschränkungen aussagekräftig. Da die Entwicklung des Säuglings zum Kleinkind sehr große individuelle Unterschiede aufweisen kann, kann man nur schwer die Entwicklung eines bestimmten Kindes mit der von anderen Kindern vergleichen. Bereits in den 1970er Jahren hat Touwen (In: Leyendecker & Horstmann, 2000, 27) mit seinen Untersuchungen an Säuglingen und Kleinkindern nachgewiesen, »dass die kindliche Entwicklung außerordentlich variabel verläuft und nicht in ein System hierarchisch ablaufender Entwicklungsschritte gezwängt werden kann, wie dies in den allermeisten der heute verwendeten Entwicklungstests noch geschieht«. Als Prinzipien der menschlichen Entwicklung nennt er:

a)  Kinder entwickeln sich mit einer hohen interindividuellen Variabilität,

b)  Kinder entwickeln sich selbst in ihren verschiedenen Entwicklungsbereichen unterschiedlich (intraindividuelle Variabilität),

c)  Kinder zeigen in ihrer Entwicklung Inkonsistenzen, d. h. sie können Entwicklungsphasen überspringen oder noch einmal in vorausgegangene Phasen zurückfallen.

d)  Es gibt eine interkulturelle Variabilität. Für Kinder ist es nicht gleichgültig, in welchen Kulturen sie aufwachsen, oder – anders ausgedrückt – in verschiedenen Kulturen wachsen Kinder unterschiedlich auf.« (ebd.).

Diese Prinzipien gelten auch für Kinder mit geistiger Behinderung und ASS. Es gibt aber auch systematische Unterschiede. Während die Fähigkeiten sich in der Regel eher synchron in den verschiedenen Entwicklungsbereichen verbessern, verlaufen die Prozesse bei Kindern mit Behinderungen in diesen Bereichen verlangsamt und de-synchron ab mit großen Unterschieden. So kann die motorische und die kognitive Entwicklung bei Kindern mit ASS unauffällig verlaufen, während die kommunikative und sozial-emotionale Entwicklung stark von der Norm abweicht. Es kann auch vorkommen, wie bei vielen anderen regelentwickelten Kindern, dass das Kind eine Zeit lang immense Entwicklungssprünge zeigt und dann wieder in seiner Entwicklung scheinbar stehenbleibt. Bei Kindern mit Behinderungen sind dabei vor allem auch Perioden von Krankheit und Krankenhausaufenthalten zu beachten.

Auch wenn die Entwicklungsbereiche getrennt voneinander betrachtet werden, ist in der Praxis eine solche Trennung eher künstlich und forciert. Besondere Merkmale etwa in der Sprachentwicklung sollten nicht den Gesamteindruck überstrahlen. Ebenso ist zu bedenken, dass die Entwicklungsbereiche miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig beeinflussen. Es kommt recht häufig zu mehr oder weniger großen individuellen Unterschieden in der Entwicklung der einzelnen Bereiche bei einem Kind, etwa dass die Sprachentwicklung deutlich hinter der kognitiven Entwicklung zurückliegt. Mit anderen Worten: Die verschiedenen Kompetenzen bilden sich nicht aufeinander abgestimmt heraus. Diese mangelnde Integration kann zu allgemeinen Entwicklungsverzögerungen führen, da die verlangsamte oder andersartige Entwicklung in einem Bereich die Entwicklungen in anderen Bereichen ausbremsen und das Erreichen höherer Entwicklungsstufen verhindern kann.

Entwicklungsverläufe sind nicht immer progressiv. Es werden auch Momente der Regression festgestellt. »Beispielsweise kommt es bei der Entwicklung des gezielten Greifens beim Übergang vom Scherengriff zum Pinzettengriff oftmals dazu, dass das Kind vorübergehend nicht mehr zum willentlichen Greifen in der Lage zu sein scheint« (Kienbaum & Schuhrke, 2010, 85). Bei Mädchen mit Rett-Syndrom tritt sogar nach Monaten guter Entwicklung eine völlige Umkehrung und Regression aller Entwicklungsbereiche auf.

Das Frühförderprogramm »Kleine Schritte« ist nicht syndromspezifisch, z. B. nur für Kinder mit Down-Syndrom. Es ist ein entwicklungsorientiertes Curriculum für Eltern, wobei Abfolgen von Entwicklungsprozessen gefolgt, diese erfasst und gefördert werden. Es kann für alle Kinder mit langandauernden Entwicklungsverzögerungen eingesetzt werden. Förderung findet anhand von systematischer und valider Einschätzung des Entwicklungsstandes statt, es werden Ziele für die Förderung in verschiedenen Entwicklungsbereichen, Methoden der Förderung durch die Eltern abgesprochen, welche in klein(st)en Schritten abläuft und auf Erfolg evaluiert wird. Sogenannte »Meilensteine« haben nicht das Ziel der diagnostischen Bewertung (z. B. Feststellen einer Behinderung), sondern über sie sollen Informationen hervorgebracht werden, um den Entwicklungsprozess weiterzuführen. In dieser Hinsicht ist es hilfreich zu wissen, dass das Programm »Kleine Schritte« bei unterschiedlichen Gruppen in verschiedenen Ländern erfolgreich angewandt wird ( Kap. 5).

Leider treffen Eltern eines Kindes mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (und unter diesem Begriff fassen wir nicht nur die Autismus-Spektrum-Störungen, sondern auch das Spektrum der Syndrome, die unter dem Begriff der »geistigen Behinderung« fallen) beim Versuch, eine Beziehung mit diesem Kind aufzubauen – so wie sie es mit anderen Kindern zu tun gewohnt sind – auf Hindernisse. Vor allem die Feststellung und Wahrnehmung der »Behinderung« ist entscheidend für den Umgang der Eltern mit dem Kind. Sie hat großen Einfluss auf den gelingenden Aufbau einer emotional positiven Beziehung zum Kind. Die Wahrnehmung wird entscheidend durch die Vermittlung der Information/Diagnose durch den Arzt geprägt. Es ist für Eltern wichtig, dass dabei nicht defizitäre Aspekte in den Vordergrund gestellt werden. Eltern müssen Zukunftsperspektiven gemeinsam mit ihrem Kind entwickeln können und in der Auseinandersetzung mit der Beeinträchtigung Entwicklungspotentiale erkennen. Einseitige negative Darstellungen können zum Wahrnehmungsfilter werden und den Blick auf Möglichkeiten verstellen. Gerade ungewisse Zukunftsperspektiven mit nicht überschaubaren Folgen rufen bei Eltern Ängste hervor.

1.3.2     Lernpsychologische Faktoren

In der Diskussion um die kindliche Entwicklung gibt es eine Auseinandersetzung darüber, welches von beiden – Umwelt oder Anlage – wichtiger ist (Hellbrügge, 1976; Berk, 2005). Diese Diskussion ist für den Bereich der ASS, aber auch der geistigen Bwhinderung wichtig, da die Annahme der genetischen Determination und eines Gehirnschadens zu einem Förderungs-Nihilismus führen könnte. Piaget ist der Auffassung, dass die biologische Reifung und Umweltanreize zwei Determinanten der menschlichen Entwicklung darstellen. Für Kinder mit ernsten biologischen und neurologischen Schäden ist aber ihre soziale Umwelt besonders signifikant (Pretis, 2001). Diese wichtige Bedeutung der Umwelt haben Lerntheoretiker wie Watson (1913), Skinner (1938) und Bandura (1959) vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von Reizen und Reaktionen herausgestellt (vgl. Vernooij, 2005, 60). Dieser Zusammenhang von Reizen und Reaktionen gilt als wesentlicher Teil der operanten Konditionierung und spielt bei der Frühförderung eine wichtige Rolle, da diese auch nicht-sprachliche Kinder motivieren, gewünschtes Verhalten hervorrufen und Erfolgserlebnisse vermitteln kann. Der zentrale Gedanke der operanten Konditionierung ist die Anwendung der Verstärkung. Nach Skinner können sich verschiedene Reize, z. B. Belohnung als positiver Verstärker, auf das Verhalten des Kindes auswirken. Als positive Verstärker gelten u. a. Nahrung, Spielzeug, Lob, Lächeln, auf die ein Kind ein entsprechendes Verhalten zeigen wird. Nach Vernooij (2005) lernt das Kind nach dem Prinzip der operanten Konditionierung bereits im Säuglingsalter. Eine der am häufigsten angewandeten Methode, die bei Kindern mit ASS eingesetzt wird, nämlich die ABA (Applied Behavior Analysis) von Lovaas aus den 1960er Jahren, hat die Grundlagen und Prinzipien Skinners übergenommen. Die Wirksamkeit ist wissenschaftlich belegt und wird in der Frühförderung, z. B. bei Kindern mit ASS, häufig eingesetzt ( Kap. 4).

Bandura (1978) ist der Auffassung, dass menschliches Verhalten nicht allein durch den Reiz-Reaktion-Zusammenhang zu erklären sei (Woolfolk, 2008, 403). Er weist darauf hin, dass die Kinder durch Beobachten oder Zuhören anderer Menschen erwünschte sowie unerwünschte Reaktionsmuster erwerben (Modelllernen) und das menschliche Verhalten sich aus der kontinuierlichen reziproken Interaktion zwischen persönlichen (Einflüsse des Selbst von Kognition, Attributionen u. a.), verhaltensmäßigen (Leistungsergebnisse wie Motivation u. a.) und umweltbezogenen (soziale Einflüsse wie Vorbilder u. a.) Determinanten ergibt (vgl. Woolfolk, 2008, 404; vgl. Berk, 2005, 23). Die Theorie von Bandura wird als soziale Lerntheorie bzw. sozial-kognitive Theorie bezeichnet.

Nun sind strukturelle Rahmenbedingungen einerseits und kulturelle Prozesse innerhalb der Familie andererseits nicht unabhängig voneinander zu betrachten. Ergebnisse der Familiensoziologie und der Soziolinguistik, aber auch indirekt der PISA-Studie (Prenzel et al., 2004) und der IGLU-Studie (Bos et al., 2003) zeigen, wie stark soziale Schicht, Armut und Migranten-Status mit elementaren kulturellen Aspekten wie z. B. Sprache (Sprechen, Lesen und Schreiben) korreliert sind.

Die Familie bildet also auch heute noch den unentbehrlichen institutionellen Rahmen, in dem das geborene Kind in Beziehung mit der Mutter und bedeutsamen anderen Personen (zum Beispiel Vater, Geschwister) sich selbst als soziales Wesen erfährt und in die Sprache und bedeutsame gesellschaftliche Spielregeln eingeweiht wird. Entscheidend für die positive Entwicklung von Kindern mit Behinderung ist, dass Eltern und Kinder eine gute Beziehungsqualität miteinander entwickeln. Insbesondere vorbehaltlose Zuwendung, Erkennen und Aufgreifen der kindlichen Signale, Herstellung einer sicheren Bindung und das Erschließen von nonverbaler Kommunikation sind wichtige Aspekte in der Förderung des Kindes (Seifert, 2011). Für die Entwicklung des Kindes in den ersten drei Lebensjahren ist die Qualität der familiären Beziehung mit dem Kind in diesem Sinne eine intime, formende Lebenswelt, die durch keine andere Institution zu ersetzen ist.

1.3.3     Andere wichtige Bausteine für die Entwicklung

»Beziehungen« ist der zentrale Begriff in der Frühförderung. Diese können viele Formen annehmen. Drei Arten, nämlich die in Form eines Diskurs-Rahmens, einer Unterrichtspartnerschaft und als sozio-emotionale Verbundenheit, erscheinen einen besonders wertvollen Einfluss auf die Entwicklung und Frühförderung der Kinder zu haben. Eine Reihe von randomisierten Untersuchungen (RCTs) von Mahoney und seinen Kollegen (Kim & Mahoney 2005; Mahoney et al. 2006; Karaaslan et al. 2013) zur Verbesserung der sensitiven Ansprechbarkeit von Müttern einer heterogenen Gruppe von Kindern mit Entwicklungsverzögerungen war erfolgreich in verschiedenen Settings.

Über die wichtigsten Elemente innerhalb des Konzeptes »Beziehungen«, die zu einer günstigen Frühentwicklung des Kindes im familiären Kontext führen, herrscht innerhalb der entwicklungspsychologischen Fachliteratur Konsens. Da diese Prinzipien auch die Basis der sonderpädagogischen Früherziehung und -förderung bilden, wird in diesem Abschnitt etwas ausführlicher darauf eingegangen.

Akzeptanzund unbedingteWärme in den Beziehungen bieten Sicherheit und Intimität zwischen Eltern und Kind, auch wenn die Interaktionen manchmal mühsam verlaufen sollten. Diese Basishaltung der Eltern direkt ab der Geburt bis zum Kindes- und Jugendalter wird von vielen Autoren als eine natürliche Haltung und eine starke Seite bei der familiären Erziehung und Förderung des Kindes angesehen. Belsky et al. (1984) nennen noch fünf weitere Aspekte, die sich entwicklungsfördernd auf das Kind auswirken.

AufmerksameZuwendung (attentiveness). Allein die Zeit, die die Mutter damit verbringt, das Kind anzuschauen, ist bereits ein Prädiktor für dessen intellektuelle Leistungen ein Jahr später. Die Zeit der Beschäftigung mit dem Kind im Alter von fünf Monaten sagt dessen späteres Erkundungsverhalten voraus. Aufmerksamkeit und Zuwendung im ersten Lebensjahr sind generell positiv verbunden mit der späteren Sprachentwicklung und der intellektuellen Entwicklung. Hinter dieser aufmerksamen Zuwendung steckt eben mehr – vor allen Dingen das Verständnis für und das Eingehen auf die kindlichen Äußerungen.

Körperkontakt hat eine positive Auswirkung auf die kognitive Entwicklung des Kindes, da er Aktivität und Bewegung beim Kind auslöst und das Kind durch die Bewegungen oft in einen optimalen Erregungsstand versetzt wird, der die notwendigen Voraussetzung für eine Auseinandersetzung mit der Umwelt bildet.

VerbaleStimulierung. Lange bevor das Kind sprechen kann, redet die Mutter (Pflegeperson) mit dem Kind, achtet auf dessen Vokalisation und antwortet darauf. Diese inzwischen recht genau untersuchte Zwiesprache zwischen Erwachsenem und Kind bedeutet eine weitere Anreicherung der Interaktion (u. a. Clarke-Stewart, 1977). Ein Beispiel: Die mütterliche Fähigkeit, im Zwiegespräch mit dem Baby in dessen erstem Lebensjahr ihr emotionales Verhalten angemessen auf dessen emotionale Befindlichkeit abzustimmen, erlaubt es, die kindliche Fähigkeit zum Symbolspiel im Alter von 20 Monaten vorauszusagen (Feldman & Greenbaum, 1997; Bornstein, 2003).

Materialanregung. Kinder verbringen den größten Teil ihrer Wachzeit mit Spielen. Sie lernen, indem sie spielen. Ihr Spiel spiegelt zu einem gewissen Grad ihre kognitive Entwicklung wider (Largo & Benz, 2003, 56). Wenn das Kind Gelegenheit erhält, sich frühzeitig in Exploration und Spiel mit Materialien, vor allem mit Spielzeug, auseinanderzusetzen, so wirkt sich dies auf den späteren Schulerfolg aus. Dieser positive Zusammenhang kann darauf zurückzuführen sein, dass die Kinder die in den Gegenständen steckenden Informationen (Fahren, Läuten, Klappern, Bauen) selbst erforschen können und so auch in Abwesenheit bzw. ohne aktives Eingreifen der Eltern (Bezugspersonen) Neues von der Welt kennen lernen. Materialien sind gewissermaßen ebenfalls Lehrmeister des Kindes.

Responsivität. Eltern antworten dem Säugling in unterschiedlich ausgeprägter Form auf sein Verhalten – sie lächeln, vokalisieren, nehmen das Kind auf oder reichen ihm einen Gegenstand. Die Responsivität ist das Gegenstück zur Aufmerksamkeitszuwendung, denn diese ist die Voraussetzung für das Gewahrwerden kindlicher Signale, Wünsche und Handlungen. Sensible Bezugspersonen modifizieren ihr Antwortverhalten mit fortschreitender Entwicklung, so dass immer differenziertere und höhere Ansprüche an die Kommunikation und die Reaktionen des Kindes gestellt werden (Belsky et al. 1984). Wenn Mütter zum Beispiel auf das Objektspiel ihrer 18 Monate alten Kleinkinder auf eine Optionen eröffnende Weise antworten (indem sie ermutigen, bestätigen und/oder die kindlichen Aktivitäten weiterentwickeln), führt dies im Alter von 40 Monaten zu signifikant höheren Ebenen des Symbolspiels, als wenn Mütter die Optionen einschränken, indem sie z. B. das kindliche Spiel missbilligen oder behindern (Stilson & Harding, 1997; Bornstein, 2003).

Aus ganz unterschiedlichen Gründen entfalten sich das Spiel in der frühen Kindheit wie auch die intuitive elterliche Früherziehung trotz ihrer psychobiologischen Verankerung (Papousek & Papousek, 1992) nicht immer so problemlos, wie in diesem Abschnitt dargestellt. Verschiedenartige biologisch-genetische, psychosoziale oder soziokulturelle Risikofaktoren können sowohl die Fähigkeiten und Motivationen des Säuglings zum Spiel beeinträchtigen als auch die intuitiven Kompetenzen der Eltern hemmen und den spielerischen Austausch mit dem Baby einschränken oder stören (Papousek, 2003, 52).

Ein wichtiger Faktor für die Wirksamkeit ist nicht nur die Art, sondern auch die Dauer und Intensität der elterlichen Beziehung zu dem Kind. Auch wenn die elterlichen Förderaktivitäten im häuslichen Setting stattfinden, bedeutet dies nicht automatisch, dass der Förderkontakt, strukturell, lang und intensiv ist. Um das Problem der Struktur und Intensität der Förderung in der eigenen Wohnumgebung anzusprechen, werden vermehrt Fernlerntechnologien eingesetzt, z. B. um Eltern zu coachen, ihre sensiblen Strategien zu verbessern (z. B. der Führung des Kindes folgen, angemessene Verwendung von Prompts, Konzentration auf das Objekt des Interesses des Kindes). Erste Ergebnisse für Kinder mit Fragilem X-Syndrom deuten auf die Machbarkeit und potenzielle Wirksamkeit dieses Ansatzes (McDuffie et al., 2015). Weitere Fortschritte in Coaching-Technologien, die die Einbettung von Eltern-Kind-Interaktionen in natürliche Familienroutinen unterstützen, werden die Bildung von Beziehungen fördern und die familienzentrierte Praxis stärken (Wilcox & Woods, 2011; Friedman et al., 2012).

Viele Familien brauchen eine solche Coaching-Begleitung nicht, nur kurz oder in Krisen-Situationen. Sie sind und bleiben Experten in eigener Sache und finden eine extern strukturierte Intervention nur störend und hemmend für ihren spontanen Umgang mit dem Kind.

1.3.4     Frühes Vorlesen

Die im vorigen Abschnitt genannten Aspekte sind eigentlich alle im natürlichen Spielverhalten der Eltern mit dem Kind enthalten (Papousek & Papousek, 1986). Auch die Vorlesesituationen, vor allem das gemeinsame Lesen, bergen alle diese Aspekte der Stimulation in sich. Es ist wichtig, dies zu betonen, gerade in einer Zeit, in der auch Babys und Kleinkinder überflutet werden mit ungezielten visuellen Eindrücken durch den Fernseher, Nintendo, X-Box, I-Pad und Smartphone. Alles, was sie auf diese Weise wahrnehmen, enthält nicht die Qualität der Förderung in einer intimen Beziehung.

In einer US-Studie (Deckner et al., 2006) zeigte sich, dass vor ca. 15–20 Jahren mehr als die Hälfte der Mütter einer Stichprobe der sozial-ökonomischen Schicht der Mittelklasse ihrem Kind vor dessen sechstem Lebensmonat vorlasen. In zwei früheren Studien wurde das Alter, in dem mit Vorlesen begonnen wurde, mit 7,6 Monaten (DeBaryske, 1993) und neun Monaten (Senechal et al., 1998) angegeben. Auch nach etwa 20 Monaten – die Stichprobe in der Studie von Deckner et al. (2006) bezog sich auf 27 Monate alte Kinder – wurde dieses Leseverhalten beibehalten, und die Mutter las durchschnittlich zweimal am Tag mit einer mittleren Dauer von ungefähr 20 Minuten pro Leseeinheit vor. Die durchschnittliche Anzahl von Kinderbüchern in den Haushalten war 126, mit einer Varianzbreite von 13 bis 1 750 Büchern. In der Woche vor der letzten Messung betrug die wöchentliche Vorlesezeit beinahe vier Stunden. Bleibt die Frage, ob diese Ergebnisse heute und in Deutschland noch zutreffen. Lesen noch immer über die Hälfte der Eltern ihrem Kind während der frühen Kindheit vor (Senechal et al., 1998)?

Jedes Jahr gibt es den bundesweiten Vorlesetag, der auf die Bedeutung des Vorlesens aufmerksam machen möchte – so auch 2019 und 2020. Als Vorbereitung wurde eine Vorlesestudie durchgeführt, bei der 700 Eltern von Kindern im Alter von 2–8 Jahren (490 Mütter, 210 Väter) telefonisch befragt wurden (Vorlesestudie, 2020). Was waren die Ergebnisse dieser Studie? Es scheint, dass die Kinderbücher inzwischen durch Kinderfilme und -spiele auf den elektronischen Medien verdrängt sind. 68 Prozent der befragten Haushalte geben an, dass ihre Kinder maximal zehn Bücher haben. Sie sehen diese Tatsache häufig nicht als Manko, allerdings fänden es 57 Prozent der befragten Eltern gut, wenn ihre Kinder regelmäßig Bücher geschenkt bekämen. Rund 32 Prozent aller Eltern in Deutschland lesen ihren Kindern im Alter von zwei bis acht Jahren nur selten oder nie vor. Dieser Wert hat sich seit 2013 nicht verändert. Vor allem Eltern mit formal niedriger Bildung lesen selten oder nie vor (51 %) und haben darüber hinaus einen besonders konservativen Vorlesebegriff. Die Studie hat zudem herausgefunden, dass berufstätige Mütter weniger vorlesen als nicht berufstätige. Im Vergleich lesen 27 Prozent der berufstätigen Mütter selten vor, bei den nicht berufstätigen sind es 39 Prozent. Väter sind weiterhin Vorlesemuffel, 58 Prozent von ihnen lesen selten oder nie vor.

Viele Eltern fassen den Begriff des Vorlesens zu eng und denken, dass dazu immer ein gedrucktes Buch mit viel Text gehört. Schauen Eltern gemeinsam mit ihren Kindern Wimmelbücher an oder lesen Texte vom E-Reader vor, verstehen dies 23 Prozent nicht als Vorlesen. Mit Babys einfache Bilderbücher zu betrachten, rechnet jeder Fünfte der Befragten nicht zum Vorlesen – obwohl gerade diese Impulse von Anfang an für die Entwicklung von Kindern wichtig sind.

2020 wurde nach den Problemen mit dem Vorlesen gefragt. Häufig fehlt es an Zeit und Bereitschaft zum Vorlesen. Die Hälfte der Eltern gibt an, dass es im Haushalt anderes zu tun gibt und sie zu erschöpft zum Vorlesen sind. Außerdem denken 48 Prozent der befragten Eltern, dass ihren Kindern woanders schon genug vorgelesen wird, vor allem in der Kita. Beinahe der Hälfte der Eltern (49 %) scheint Vorlesen keinen Spaß zu machen. Damit gehen sehr kritische Vorstellungen vom Vorlesen einher: Die Eltern glauben, schauspielern und ihre Kinder zum geduldigen Zuhören zwingen zu müssen. 44 Prozent der befragten Eltern sagen, dass ihr Kind zu unruhig sei, 31 Prozent geben an, dass ihr Kind selbst gar nicht vorgelesen bekommen möchte.

In Langzeit-Studien hat sich herausgestellt, dass das Alter, in dem die Eltern mit ihren Kindern anfingen zu lesen, ein stabiler und robuster Prädiktor für deren spätere Sprachentwicklung ist. Je jünger die Kinder zu Beginn des gemeinsamen Lesens waren, desto besser waren später ihre Sprach- und Sprechfähigkeiten (DeBaryshe, 1993; Payne et al., 1994). Bus et al. (1995) erklären dieses Ergebnis damit, dass das Kind mit zunehmendem Alter verstärkt selber anfängt zu lesen und das gemeinsame Lesen mit den Eltern weniger braucht oder sogar weniger wünscht.

Das gemeinsame Lesen ist bereits in der frühen Kindheit und im Kleinkindalter entscheidend für zentrale Sprach-, Lese- und Schreibkompetenzen und wirkt – wie Cates et al. (2017) in ihrer Langzeituntersuchung feststellten – sogar noch vier Jahre später. Wenn man in der frühesten Kindheit anfängt vorzulesen, hat dies vier Jahre später immer noch eine Wirkung, wenn sie kurz davorstehen, in die Schule zu kommen. Cates und ihre Kollegen (2017; 2018) haben die Vorlesegewohnheiten von mehr als 250 Müttern erfasst, als deren Kinder 6, 14 beziehungsweise 24 Monate alt waren. Sowohl die Quantität als auch, ob der Lesestoff altersgerecht war, wurde erfragt. Als die Kleinen viereinhalb Jahre alt waren, wurde schließlich untersucht. wie deren Wortschatz, Textverständnis, sprachliche Abstraktionsfähigkeit und Lese- und Schreibfähigkeiten waren. Dabei ergaben sich eindeutige Zusammenhänge zwischen der Vorlesekultur im Säuglings- und Kleinkindalter und der frühen sprachlichen Entwicklung: Anhand dessen, was und wie viel die Mütter ihren Babys im Alter von sechs Monaten vorlasen, ließ sich abschätzen, welchen aktiven und passiven Wortschatz die Kinder im Vorschulalter erworben hatten und wie gut sie lesen konnten. Insbesondere die Altersangemessenheit der Lektüre beeinflusste dabei die Lesekompetenz. Die Vorlesegewohnheiten im Alter von 14 und 24 Monaten wirkten sich darüber hinaus unter anderem positiv auf die ersten Schreibversuche aus – etwa darauf, dass die Kinder mit viereinhalb ihren Namen schreiben konnten. Studien innerhalb derselben Forschungsgruppe (Weisleder et al., 2019; Canfield et al., 2020) scheinen die Gültigkeit dieser Resultate zu unterstreichen.

Obwohl schon im ersten Jahr des »gemeinsamen« Lesens wichtige Impulse für die kindliche Entwicklung enthalten sind (aufmerksame Zuwendung, Körperkontakt und erste Ansätze der verbalen Stimulierung), ist das Kind in anderen Entwicklungsaspekten noch nicht so weit (Responsivität) oder durch Bild und Wort überfordert. Zum Beispiel kann das Kind in der Regel mit vier Monaten die Mutter erkennen und nach Gegenständen wie Büchern und Seiten greifen. Es kann den Kopf gerade halten, sich aber nicht selbst in eine stützende Haltung bringen. Mit acht Monaten kann ein Kind in der Regel oft schon selbstständig sitzen, jedoch nicht laufen; auch nicht mit Unterstützung. Außerdem kann ein Kind mit acht Monaten oft schon verschiedene Silben äußern, aber es antwortet noch nicht auf verbale Aufforderungen der Eltern. Dies bedeutet, dass das gemeinsame Lesen eine Aktivität ist, die von den Eltern initiiert wird. Das Kind ist in dieser Phase noch eher ein passiver Partner. Trotzdem darf man den möglichen Einfluss dieser Leseaktivität auf die Entwicklung des Kindes auch in dieser ersten Phase nicht unterschätzen. Ein Mechanismus beim gemeinsamen Lesen, der die intellektuelle Entwicklung des Kleinkindes fördert, ist das Üben der gemeinsamen Aufmerksamkeit (joint attention). Es wird angenommen, dass die gemeinsame Aufmerksamkeit (die Mutter richtet den Blick auf ein Bild im Buch und das Kind folgt ihrem Blick) für das Kind vorhersagbare Lernmöglichkeiten schafft, was u. a. die Sprachentwicklung fördert (Tomasello & Farror, 1986). Während des gemeinsamen Lesens wird die kognitiv anspruchsvolle Aufgabe, Gegenstände mit Wörtern zu benennen, viel einfacher, da der Gegenstand sich auf der Seite befindet, auf die sowohl die Mutter/der Vater als auch das Kind blicken. Wenn der Gegenstand realistisch abgebildet ist und einen direkten Repräsentanten der Lebenswelt des Kindes darstellt, können die Eltern auf ihn zeigen, auch wenn er im Bild weniger ins Auge springt. So bekommt das Kind während des Lesens viele Gelegenheiten geboten, Worte mit Gegenständen zu verbinden (Bruner, 1985).

Wenn die Kinder älter sind, wird ihre Sprachentwicklung beim gemeinsamen Lesen auch durch die komplexere Sprache gefördert, die die Eltern dabei gebrauchen. So ist das Vokabular der geschriebenen Sprache differenzierter und grammatisch vollständiger als das der gesprochenen Sprache, die von den Eltern bei der Versorgung und dem freien Spiel mit dem Kind gebraucht wird (Hoff-Ginsberg, 1991). Des Weiteren werden Kinder in Büchern mit einer großen Vielfalt an Gegenständen und Umgebungen bekannt gemacht, die sie vielleicht nicht in ihrem direkten täglichen Leben antreffen. So kann zum Beispiel ein Kind, das in der Stadt lebt, durch das Buch etwas über das ländliche Leben und die Tiere auf dem Bauernhof lernen.

Eltern der Mittelschicht beginnen also mit ihrem Kind zusammen zu lesen, wenn es zwischen fünf und neun Monate alt ist (DeBaryshe, 1993; Deckner et al., 2006; Payne et al., 1994). Dies ist auch ungefähr das Alter, in dem sich das gemeinsame Lesen positiv auf die weitere Entwicklung des Kindes auswirkt (Karrass & Braungart-Rieker, 2005). Letztere Autoren fanden in ihrer longitudinalen Untersuchung statistisch signifikant bessere Sprachfähigkeiten bei zwölf und 16 Monate alten Kindern, die seit ihrem achten Lebensmonat regelmäßig gemeinsam mit ihren Eltern lasen, im Vergleich zu Kindern ohne die Erfahrung des gemeinsamen Lesens. Als mögliche Erklärung dieser Unterschiede führen die Forscher einerseits »joint attention« (gemeinsame Aufmerksamkeit) an, andererseits auch eine lang andauernde Leseroutine. Das gemeinsame frühe Lesen ab acht Monaten könne, auch wenn das Sprachverständnis noch nicht besteht, indirekt die Sprachentwicklung fördern, indem es dazu führt, dass die Leseroutine zu dem Zeitpunkt, ab dem das Kind davon auch aktiv profitieren kann, bereits fest verankert ist. Das Lesen ab acht Monaten korrelierte in dieser Untersuchung übrigens positiv mit der expressiven Sprachentwicklung bei den Folgeuntersuchungen im zwölften und 16. Monat, jedoch nur bei Mädchen signifikant mit dem Sprachverständnis in diesen Zeitabschnitten.

Die Eltern, die in dieser Studie schon viel früher, nämlich schon mit ihren vier Monate alten Kindern lasen, erzielten für ihre Kinder keine günstigeren Resultate in der späteren Sprachentwicklung als Eltern, die ab acht Monaten gemeinsam lasen (Karrass & Braungart-Rieker, 2005). Andere Autoren berichten jedoch schon von besseren Resultaten in der Spracherfassung und -verarbeitung zwischen dem vierten und achten Lebensmonat des Kindes (Jusczyk, 1997) und einer Steigerung seiner Aufmerksamkeit aufgrund des gemeinsamen Lesens in dieser Periode (Bornstein & Tamis-LeMonda, 1997). Für das gemeinsame Lesen ab einem Alter von zwölf Monaten sind die Resultate ziemlich konsistent. Wenn zu Hause regelmäßig gelesen wurde, wirkte sich dies positiv auf die rezeptive und expressive Sprachentwicklung des Kindes aus (Deckner et al., 2006, 39).

Einige Autoren warnen jedoch davor, das gemeinsame Lesen als eine intensive didaktische Intervention zu gestalten (Zigler & Bishop-Josef, 2004; Deckner et al., 2006). Wie Piaget (1962) schon bemerkte: Die Arbeit des Kindes in diesem Alter ist das Spiel. Die Aktivitäten des gemeinsamen Lesens sollten also auch die Spielfreude des Kindes beachten oder steigern und nicht zur separaten didaktischen Übung werden. Dies gilt auch und vor allem für das gemeinsame Lesen mit Kindern mit ernsten Entwicklungsverzögerungen. Die Einbindung des Lesens in das Spiel macht nicht nur den Eltern und dem Kind am meisten Spaß, sondern ist wahrscheinlich auch die effektivere Methode im Vergleich mit dem absichtlichen Üben.

Zusammenfassend können mindestens zehn Vorteile für das gemeinsame (Vor-) Lesen genannt werden, nämlich es fördert:

1.  den Wortschatz, wodurch Kleinkinder später deutlich mehr Worte und anspruchsvollere Satzmuster gebrauchen;

2.  das Lesenlernen, wodurch dem Kind das Lesen und Lernen in der Schule leichter fällt – auch macht das Lesen mehr Spaß;

3.  die Konzentration, da das Kind gelernt hat, sich auf Bild und Wort zu fokussieren;

4.  das Wissen, z. B. über Bauernhoftiere, über Jahreszeiten bis hin zu Fahrzeugen – auch regt es die Neugier an;

5.  das logische Denken und das Erinnerungsvermögen. Durch Verknüpfung von Bild und Text lernen die Kinder, unterschiedliche Elemente in eine Beziehung zueinander zu setzen und beim wiederholten oder längeren Vorlesen ihr Gedächtnis zu trainieren;

6.  die Geborgenheit und familiäre Bindung;

7.  die geteilte Aufmerksamkeit, was hilfreich sein kann bei der Bewältigung von Sorgen und Ängsten des Kindes. Darüber hinaus können aktuelle Themen behandelt werden (z. B. ein neues Geschwisterchen, Einschulung, Kindergarten);

8.  die Fantasie. Beim Zuhören erzeugt das Kind aktiv eine innere Vorstellung der Geschichte, was die Kreativität mehr fördert als z. B. passives Fernsehen;

9.  das Einfühlungsvermögen. Das Kind lernt sich hineinzuversetzen in verschiedene Perspektiven und entwickelt mehr Verständnis für andere Menschen;

10.  Momente der Ruhe, Besinnung und Entspannung. Im Unterschied zu anderen Medien überlässt das Buch die Geschwindigkeit der Informationsaufnahme ganz dem Leser. Auch können Vater und Mutter ihre Entspannung z. B. nach der Arbeit mit dem Kind teilen.

Um das frühe Vorlesen in Familien zu anzuregen, gibt es in vielen Ländern sog. Buchverschenkprogramme. Diese Programme zielen darauf ab, die häusliche Lese- und Schreibumgebung besser auszustatten und die Familie (im weitesten Sinne) bei der Lese- und Schreibentwicklung der Kleinkinder zu unterstützen (De Bondt et al., 2020). Natürlich ist das gemeinsame Lesen mit dem Kind kein alleiniges Recht der biologischen Eltern. Auch andere feste Bezugspersonen, wie Geschwister, Großeltern, Freunde oder Adoptiveltern, können über ihr Lese- und Spielverhalten gleiche Ergebnisse zusammen mit dem Kind erreichen. Durch Buchverschenkprogramme sollen Familien ermutigt werden, ihren Kindern so früh wie möglich nach der Geburt vorzulesen (High et al., 2014). Dabei wird angenommen, dass eine förderliche häusliche Leseumgebung mit frühem Austausch von Büchern die Entwicklung des Gehirns stimuliert und die Sprach- und Lesefähigkeiten fördert (Hutton et al., 2019; Niklas et al., 2016). Buchverschenkprogramme sind relativ kostengünstig und effektiv (High et al., 2000; O'Hare & Connolly, 2014).

Bookstart ist ein bekanntes Buchverschenkprogramm, das 1992 in Großbritannien ins Leben gerufen wurde. Mit diesem Programm werden Baby-Pakete verteilt, die ein oder mehrere Babybücher und einen Informationsflyer über das gemeinsame Lesen mit Kleinkindern enthalten. In den Jahren 2017–2018 wurden beispielsweise mehr als 3,6 Millionen Buchpakete in England verteilt (BookTrust, 2021), und in 2018–2019 mehr als 980.000 Bücher in Schottland (Scottish Book Trust, 2021). Das Bookstart-Interventionsmodell wird mittlerweile in der Europäischen Union, Asien, Australien und Neuseeland eingesetzt, zusätzlich zu Bookstart gibt es zwei weitere Buchverschenkprogramme mit großer Reichweite in der Anwendung und mit Forschungsevidenz.

Reach Out and Read wurde erstmals 1989 in den Vereinigten Staaten eingeführt und verteilt Bücher an Familien bei Besuchen in pädiatrischen Praxen. Es richtet sich hauptsächlich, aber nicht ausschließlich an Familien mit niedrigem Einkommen. Bis heute gibt es mehr als 6.200 Standorte, die 4,7 Millionen Kinder betreuen, und das Programm verteilt mehr als 7 Millionen Bücher pro Jahr (Reach Out and Read, 2021). Ziel ist das Fördern des gemeinsamen Lesens von Eltern und Kindern. Ehrenamtliche Mitarbeiter lesen den Kindern im Wartezimmer vor. Die ROR-Methode (und Variationen davon) wurden durch zwölf veröffentlichte Studien, darunter drei randomisierte, kontrollierte Studien, auf Wirksamkeit evaluiert. In der Studie von Needleman und Silverstein (2004) zeigt sich, dass ROR das Lesen in den Familien fördert.

Das Programm Imagination Library wird seit 1995 in den Vereinigten Staaten, aber auch in Kanada, Großbritannien und Australien durchgeführt. Dieses Programm stellt Kindern von Geburt an bis zum Schuleintritt ein kostenloses Buch pro Monat zur Verfügung, unabhängig vom sozioökonomischen Status der Familie. Derzeit sind etwa 1,4 Millionen Kinder für das Programm registriert, und es wurden seit Einführung des Programms mehr als 122 Millionen Bücher verteilt (Imagination Library, 2021).

In einer Meta-Analyse von 44 Studien werden durch De Bondt, Willenberg und Bus (2020) die Effekte dieser drei großen Buchverschenkprogrammen untersucht.

Der Effekt der Programme war am stärksten für das Vorlesen von Kindern; wohingegen der Effekt auf die Anzahl der Bücher in der Familie gering und nicht statistisch signifikant war. Alle drei Programme hatten einen Effekt auf die häusliche Leseumgebung, besonders Imagination Library, die den Familien die meisten Büchern besorgte. Der Unterschied in der Wirkung zwischen den drei Programmen war jedoch statistisch nicht signifikant.

Die Teilnahme einer Familie an einem Buchverschenkprogramm zeigte Effekte auf das Leseverhalten und die Lesefähigkeiten der Kinder. Dabei waren die Effekte von Buchgeschenken für das Leseinteresse der Kinder stärker als für die Lesekompetenz. Alle drei Programme hatten einen Effekt auf das Leseinteresse und die Lesefähigkeiten, wobei Reach Out and Read signifikant stärkere Effekte als Bookstart und Imagination Library hatte. Buchvermittlungsprogramme waren besonders effektiv, wenn sie verknüpft mit wiederholten persönlichen Kontakten (durch Begleiter, Informationsveranstaltungen und die Demonstration des Buchlesens) waren.

Wichtig für die deutsche Situation der generellen Frühdiagnostik der U6- und U7-Untersuchungen ist, dass das Modell »Reach Out and Read«, bei dem Buchgeschenke durch einen Kinderarzt oder eine Krankenschwester in einem Gesundheitskontext überreicht werden, bei weitem die effektivste Form der Buchverschenkprogramme darstellt (Dowdall et al., 2020). Der Gesundheitskontext scheint letztendlich doch einflussreicher zu sein als der pädagogisch-konsultative.

In Deutschland gibt es auch ein Buchverschenkprogramm für Frühes Vorlesen (»Lesestart – Drei Meilensteine für das Lesen«, November 2011–Oktober 2019). In diesem Zeitraum wurden rund 4,5 Mio. Lesestart-Sets an Kinder aus drei aufeinanderfolgenden Jahrgängen verschenkt. Auch während der zweiten Phase (»Lesestart 1-2-3«, November 2019–Oktober 2027) sollen über 4,5 Mio. Sets über die gesamte Programmlaufzeit an drei Geburtskohorten von Familien mit Kindern im Alter von einem bis drei Jahren ausgegeben werden.

»Lesestart« ist eine bundesweite Förderung der familiären Leseerziehung, um Kinder frühzeitig mit Büchern vertraut zu machen, ihre Sprachfähigkeit zu stärken und die Grundlagen für ein Leseverständnis zu legen, das in der modernen Wissensgesellschaft als Schlüsselkompetenz und Voraussetzung für gelingende Bildung gilt. Die aktuellen Lesestart-Sets enthalten je ein altersgerechtes Buch sowie eine Info-Broschüre mit Tipps für die Eltern, die in Deutsch, aber auch in Türkisch, Rumänisch, Englisch und Arabisch verfasst ist. Die Broschüre orientiert sich an den Bedürfnissen von Eltern mit kleinen Kindern und ist darüber hinaus in leicht verständlicher Sprache aufbereitet, um ein möglichst großes Publikum anzusprechen. Online steht sie in vielen weiteren Sprachen zum Download zur Verfügung (www.lesestart.de). Die Inhalte der Bilderbücher greifen erste Alltagssituationen im Leben der kleinen Kinder auf.

Das erste Lesestart-Set erhalten die Eltern einjähriger Kinder bei der U6-Untersuchung in ihrer teilnehmenden Kinder- und Jugendpraxis. Das zweite Set gibt es ab Winter 2020 für zweijährige Kinder bei der U7-Untersuchung ebenfalls in den teilnehmenden Arztpraxen. Das dritte Set bekommen sie für ihre dreijährigen Kinder bei einem Besuch in der Bibliothek ab Winter 2021. Damit können über 60 Prozent der Eltern eines Jahrgangs erste Vorleseimpulse erhalten und Bibliotheken entdecken. Dies ist vor allem wichtig für Familien, in denen wenig oder gar nicht vorgelesen wird.

1.3.5     Frühes Lesen bei Kindern mit geistiger Behinderung

Nicht alle Kinder mit kognitiven Einschränkungen können Lesen lernen. Trotzdem kann der Gebrauch der Bild- und Schriftsprache die kommunikativen Fähigkeiten erheblich unterstützen. Jedes Kind, das kommuniziert, kann auch von gewissen schriftsprachlichen oder bildhaften Techniken profitieren. Konzepte, die dies in Deutschland aufgreifen, sind z. B. die Unterstützte Kommunikation (u. a. Boenisch, 2009), das Konzept von Wilken (Wilken, 2010a; 2010b) sowie die Ansätze von Doman und Doman (1994), Bird und Buckley (2000) und Oelwein (2002). All diese Konzepte stellen die Lesefähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und ernsten Entwicklungsstörungen in den Vordergrund.

In den USA wurde das »Frühe Lesen« bei Kindern mit Down-Syndrom erstmalig von Oelwein in den 1970er Jahren im Rahmen eines großangelegten Projekts angewendet. Sie entwickelte ein Leselernprogramm, welches die Möglichkeit bietet, bereits jüngeren Kindern über die Vermittlung von Ganzwörtern das Lesen beizubringen. Deutlich wurde während ihrer langjährigen Arbeit mit Kindern mit Down-Syndrom immer wieder, dass einige Kinder die geschriebene Sprache eher erlernen können als die gesprochene Sprache. Außerdem nehmen die Kinder vermehrt die Wörter in ihren aktiven Wortschatz auf, welche sie bereits lesen können (Oelwein, 2002, 8). Ihre langjährigen Erfahrungen bezüglich des Lesenlernens bei Kindern mit Down-Syndrom und die von ihr entwickelte Methodik veröffentlichte Oelwein 1995 in den USA in Buchform. Im Jahr 1997 erschien die deutsche Übersetzung.

In Großbritannien setzten Bird und Buckley zu Beginn der 1980er Jahre am Sarah-Duffen-Zentrum das Lesenlernen als Hilfe zur Förderung der Sprachentwicklung von Kindern mit Down-Syndrom ein. Auch sie entwickelten ein entsprechendes Leselernprogramm, welches bereits für Kinder unter fünf Jahren geeignet ist. Seit dieser Zeit betreiben sie intensive Forschungsarbeiten in Bezug auf die Auswirkungen des Lesenlernens auf die Sprachentwicklung bei Kindern mit Down-Syndrom. Ihre entwickelte Methode hinsichtlich des Lesenlernens veröffentlichten sie 1994 in einem umfangreichen Buch zur allgemeinen Entwicklungsförderung von Kindern mit Down-Syndrom. Dessen deutschsprachige Ausgabe erschien im Jahr 2000 (Bird & Buckley, 2000).

Die Idee des »Frühen Lesens« setzt bei den Stärken der Kinder mit Down-Syndrom an und deren relativ gutem visuellen Gedächtnis. Dabei wird versucht, die oftmals anzutreffenden Schwächen im Bereich der auditiven Wahrnehmung durch die »Visualisierung der Sprache« zu kompensieren (ebd.). Gedrucktes kann daher so lange betrachtet werden wie nötig, um die transportierte Information zu verarbeiten. Damit einher geht auch die Ausblendung der für Kinder mit Down-Syndrom erschwerten Verarbeitung sukzessiver Informationen. Beim »Frühen Lesen« wird vielmehr auf simultan dargebotene Informationen zurückgegriffen (vgl. Wilken, 2000, 105). All die Schwierigkeiten, die Kinder mit Down-Syndrom beim Erlernen der gesprochenen Sprache haben ( Kap. 3.4), sollen daher mit Hilfe des visuellen Erfassens der Sprache, das heißt des Lesens, kompensiert werden. Im Vorwort von Heft 9, das im Kleine-Schritte-Programm als Leselernanleitung herausgegeben wurde (Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2002, 5), wird dieses Prinzip benannt als das »Lesen ist wie hören mit den Augen«.