Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters und der Lebensspanne - Jutta Kray - E-Book

Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters und der Lebensspanne E-Book

Jutta Kray

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Beschreibung

Wie entwickeln sich Menschen über die Erwachsenenlebensspanne hinweg betrachtet? Die menschliche Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess, der nicht nach dem Jugendalter beendet ist. Gerade die Entwicklungspsychologie des Erwachsenen- und Seniorenalters hat in den letzten Jahrzehnten einen rasanten Aufschwung genommen. In diesem Lehrbuch werden Theorien und empirische Befunde zur kognitiven, emotionalen und motivationalen Entwicklung bis ins hohe Alter, deren Beeinflussung durch neuronale und kulturelle Faktoren sowie deren Veränderbarkeit durch kognitive Interventionen dargestellt. Neben den historischen, theoretischen und methodischen Grundlagen wird der Fokus auf die Entwicklung ab dem frühen Erwachsenenalter gelegt.

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Kohlhammer Standards Psychologie

 

Begründet von

Weitergeführt von

Herausgegeben von

Theo W. Herrmann (†)

Marcus Hasselhorn

Marcus Hasselhorn

Werner H. Tack

Herbert Heuer

Wilfried Kunde

Franz E. Weinert (†)

Frank Rösler

Silvia Schneider

 

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

     https://shop.kohlhammer.de/standards-psychologie

Die Autorinnen

Prof. Dr. Jutta Kray ist Professorin für Entwicklung von Sprache, Lernen und Handlung an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken.

Prof. Dr. Julia Karbach ist Professorin für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU).

Prof. Dr. Nicola K. Ferdinand ist Professorin für Psychologie mit dem Schwerpunkt Neurokognitive Entwicklung und Verhaltensregulation an der Bergischen Universität Wuppertal.

 

Begründet von Manfred Amelang und Dieter Bartussek.

Weitergeführt und mitverfasst von Gerhard Stemmler.

Jutta Kray Julia Karbach Nicola K. Ferdinand

Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters und der Lebensspanne

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-038424-8

 

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN   978-3-17-038425-5

epub:   ISBN   978-3-17-038426-2

Inhalt

1         Historische und theoretische Grundlagen

1.1       Historische Perspektive

1.1.1      Vorläufer und Wegbereiter der Psychologie der Lebensspanne

1.1.2      Die weitere Entwicklung bis in der Gegenwart

1.2       Theoretische Grundlagen

1.2.1      Definition von Entwicklung

1.2.2      Plastizität von Entwicklungsverläufen

1.2.3      Kontextuelle Einflussfaktoren

2         Methodische Grundlagen

2.1       Alter als Untersuchungsvariable

2.2       Methodische Verfahren und ihre Herausforderungen für die Lebensspannenforschung

2.2.1      Korrelative Verfahren

2.2.2      Experimentelle Verfahren

2.2.3      Testing-the-Limits-Ansatz

2.2.4      Experimentelle Simulation

2.2.5      Formale Simulation

2.3       Forschungsdesigns in der Lebensspannenforschung

2.3.1      Querschnittliche Designs

2.3.2      Längsschnittliche Designs

2.3.3      Sequenzdesigns

2.4       Messung intraindividueller Veränderung

3         Neurobiologische Einflüsse

3.1       Neurophysiologische Veränderungen mit zunehmendem Alter

3.1.1      Strukturelle Veränderungen

3.1.2      Metabolische Veränderungen

3.1.3      Funktionelle Veränderungen

3.2       Neurobiologische Modelle des Alterns

3.2.1      Frontalhirnhypothese

3.2.2      Qualität des sensorischen Inputs

3.2.3      Common-Cause-Hypothese

3.2.4      Aktivierungsveränderungen in neuronalen Netzwerken

3.3       Heterogenität im Alterungsprozess

3.3.1      Theorie der Brain Reserve

3.3.2      Theorie der kognitiven Reserve

3.3.3      Scaffolding Theory of Aging and Cognition

3.4       Möglichkeiten der Intervention

3.4.1      Kognitive Beanspruchung

3.4.2      Körperliches Training

3.4.3      Ernährung

3.4.4      Reduktion von chronischem Stress

3.4.5      Weitere mögliche Ansatzpunkte für Interventionen

4         Entwicklungseinflüsse kultureller Kontexte

4.1       Definitionen und Begriffe

4.2       Kulturelle Einflüsse auf Wahrnehmung und Kognition

4.2.1      Wahrnehmung und Aufmerksamkeit

4.2.2      Kategorisierung

4.2.3      Sozialisierungsprozesse als Ursache

4.3       Einflüsse von Alter und Kultur auf Wahrnehmung und Kognition

4.4       Einflüsse von Alter und Kultur auf neurobiologische Veränderungen

4.4.1      Methodische Herausforderungen

4.4.2      Strukturelle Veränderungen

4.4.3      Funktionelle Veränderung

4.5       Einflüsse von Alter und Kultur auf das Gedächtnis

4.5.1      Quellengedächtnis

4.5.2      Kategorisierung beim Gedächtnisabruf

4.5.3      Emotionales Gedächtnis

4.6       Kultur und Altersstereotypen

5         Kognitive Entwicklung

5.1       Entwicklung kognitiver Fähigkeiten über die Lebensspanne

5.2       Theoretische Ansätze zur Erklärung der Abnahme mechanischer/fluider Fähigkeiten

5.2.1      Ressourcenorientierte Ansätze

5.2.2      Prozessorientierte Ansätze

5.2.3      Ressourcen- vs. Prozessorientierung

5.3       Entwicklung in ausgewählten Funktionsbereichen

5.3.1      Gedächtnis

5.3.2      Kognitive Kontrolle und exekutive Funktionen

5.3.3      Selbstkontrolle und Selbstregulation

5.3.4      Wissen und Expertise

6         Veränderbarkeit kognitiver Entwicklung durch kognitives Training

6.1       Kognitive Interventionen

6.1.1      Veränderbarkeit der kognitiven Leistungsfähigkeit durch kognitive Interventionen im höheren Lebensalter

6.1.2      Theorien zu Training und Transfer

6.1.3      Debatte um Transfereffekte

6.1.4      Aktuelle Rahmenmodelle

6.1.5      Methodische Aspekte zur Evaluation kognitiver Trainings

6.2       Strategiebasierte Trainings

6.2.1      Vermittlung von Gedächtnistechniken

6.2.2      Instruktion verbaler Strategien

6.3       Prozessbasierte Trainings

6.3.1      Arbeitsgedächtnis

6.3.2      Kognitive Flexibilität

6.4       Spielbasierte Trainings

6.5       Individuelle Unterschiede in kognitiver Plastizität

6.5.1      Interindividuelle Unterschiede in der kognitiven Leistung

6.5.2      Interindividuelle Unterschiede in nicht-kognitiven Variablen

6.5.3      Intraindividuelle Leistungsunterschiede im Trainingsverlauf

6.6       Anwendungsfelder kognitiver Trainings

6.6.1      Neuropsychologische Rehabilitation

6.6.2      Gerontopsychologie

7         Emotionale und motivationale Entwicklung

7.1       Emotionale Entwicklung

7.1.1      Veränderungen in der Emotionserkennung

7.1.2      Veränderungen in der selektiven Aufmerksamkeitszuwendung auf emotionale Inhalte

7.1.3      Veränderungen in der Ablenkbarkeit durch emotionale Reize

7.1.4      Veränderungen in der Emotionsbewertung

7.1.5      Veränderungen in der Emotionsregulation

7.2       Motivationale Entwicklung

7.2.1      Veränderungen in der Zielsetzung und Zielverfolgung

7.2.2      Selektive Anstrengung

7.3       Theorien der emotionalen und motivationalen Entwicklung

7.3.1      Die Sozio-emotionale Selektivitätstheorie

7.3.2      Die Strength and Vulnerability Integration-Theorie

7.3.3      Das Modell der Selektion, Optimierung und Kompensation

7.3.4      Die Lebenslauftheorie der Kontrolle

8         Entwicklung im hohen Alter

8.1       Definition und Abgrenzung zum mittleren und höheren Erwachsenenalter

8.1.1      Demografische Veränderungen

8.1.2      Lebenssituation im hohen Alter

8.2       Kognitive Entwicklung

8.2.1      Entwicklung mechanischer und pragmatischer Fähigkeiten

8.2.2      Veränderungen der Zusammenhänge innerhalb des Bereichs der Kognition

8.2.3      Veränderungen der Zusammenhänge zwischen Funktionsbereichen

8.3       Emotionale Entwicklung

8.3.1      Wohlbefindensparadox

8.3.2      Positives und negatives Affekterleben

8.3.3      Lebenszufriedenheit

8.3.4      Zusammenhang zwischen Wohlbefinden und kognitivem Funktionsniveau

8.4       Theoretische Modelle erfolgreichen Alterns

8.4.1      Aktivitätstheorie

8.4.2      SOK-Modell

8.5       Pathologisches Altern

8.5.1      Demenzen

8.5.2      Depressionen

8.6       Altern in der Zukunft

8.6.1      Gerontopsychologie

8.6.2      Nutzung von Internet und Apps

8.6.3      Digitale Hilfsmittel und Assistenzsysteme

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

1          Historische und theoretische Grundlagen

Orientierungsfragen

•  Welche Ideen und Vorstellungen hatten wichtige Wegbereiter des Lebensspannenansatzes über die Entwicklung des Menschen?

•  Was ist der zentrale Gegenstand der Psychologie der Lebensspanne?

•  Wie unterscheidet sich die heutige Definition von Entwicklung vom traditionellen Entwicklungsbegriff?

•  Was sind die zentralen theoretischen Konzepte des Lebensspannenansatzes?

1.1          Historische Perspektive

Die Psychologie der Lebensspanne betrachtet den ontogenetischen Entwicklungsverlauf, d. h. die Veränderung im Verhalten und Erleben von der Konzeption bis zum Tod. Betrachtet man die Psychologie als sehr junge wissenschaftliche Disziplin, die sich in den letzten 150 Jahren als eigenständiges Fach etabliert hat, so zeigt sich ein gewisser Fokus auf die Erforschung des Kindes- und Jugendalters, vor allem bei nordamerikanischen Vertretern des Faches. Erweitert man jedoch die historische Perspektive, in der einzelne Fachdisziplinen weniger stark separiert und differenziert betrachtet wurden, so ergibt sich ein anderes Bild. In dem vorliegenden Kapitel werden zunächst einige wichtige Wegbereiter des Lebensspannenansatzes mit ihren Vorläuferideen vorgestellt. Anschließend wird dargestellt, welche Rolle der Lebensspannenansatz in der heutigen Entwicklungspsychologie spielt und mit welchen theoretischen Leitlinien er verbunden ist.

1.1.1         Vorläufer und Wegbereiter der Psychologie der Lebensspanne

Als wichtigster Wegbereiter und Gründer des Lebensspannenansatzes in der Entwicklungspsychologie gilt Johann Nicolaus Tetens (Abb. 1.1), der mitunter als Begründer der Entwicklungspsychologie überhaupt angesehen wird (Lindenberger & Baltes, 1999; siehe Fokus: Zur Person). Sein zentrales Werk Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung wurde 1777 veröffentlicht, aber leider nicht in die englische Sprache übersetzt und fand somit lange Zeit keine größere Beachtung. Sein Hauptwerk gliedert sich in zwei Bände, wobei entwicklungspsychologische Überlegungen vor allem im letzten Kapitel Über die Perfektibilität und Entwickelung des Menschen dargelegt werden. Die Bedeutung dieses Kapitels spiegelt sich u. a. darin wider, dass dieses Kapitel ein Drittel seines Gesamtwerkes umfasst.

Fokus: Zur Person

Nicolaus Johann Tetens wurde 1736 in Tetenbüll im damaligen Herzogtum Schleswig (heute Eiderstedt in Nordfriesland) geboren. Er studierte 1754 in Kopenhagen und von 1755 bis 1759 in Rostock Mathematik, Physik und Philosophie. In Rostock promovierte er im Jahr 1760 und lehrte an der Universität Rostock zunächst als Privatdozent. Als Professor für Physik und Philosophie lehrte er dann ab 1763 an der Akademie Bützow und wurde 1776 auf eine Professur für Mathematik und Philosophie an die Universität Kiel berufen. Hier entstand auch sein Hauptwerk. Im Jahr der Französischen Revolution 1789 beendete er seine akademische Laufbahn und wechselte nach Kopenhagen, wo er als Staatssekretär der Finanzdirektion in der dänischen Regierung tätig war. Als dänischer Konferenzrat verstarb er 1807 in Kopenhagen. Er galt als führender Denker und Begründer einer empirisch fundierten Psychologie in Deutschland, der mit seinen philosophischen Versuchen das Denken bekannter Zeitgenossen wie Emmanuel Kant nachhaltig beeinflusste.

Wieso sehen Vertreter der Entwicklungspsychologie Tetens als Begründer der Psychologie der Lebensspanne? In seinen philosophischen Abhandlungen werden Kernthemen heutiger theoretischer Konzeptionen des Lebensspannenansatzes vorweggenommen, die im nächsten Kapitel (Kap. 1.2) ausführlicher beschrieben werden. Zu zentralen Aufgaben der Entwicklungspsychologie, die Tetens wissenschaftlich betrachtet hat, gehören u. a.:

•  die Erforschung der Optimierung und somit der Veränderbarkeit menschlicher Entwicklungsverläufe sowie deren Beschreibung und Erklärung

•  die Bestimmung interindividueller Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der menschlichen Entwicklung

•  die Berücksichtigung der Interaktion von Anlage- und Umwelteinflüssen als Ursache von interindividuellen Entwicklungsveränderungen

•  die Betrachtung der Ontogenese unterschiedlicher psychischer Funktionsbereiche über die gesamte Lebensspanne von der Kindheit bis ins hohe Alter

•  die Berücksichtigung historischer und kultureller Faktoren in die Entwicklung psychischer Funktionen über die Lebensspanne

•  die Beschreibung von Gewinnen und Verlusten und deren wechselseitige Beziehung, beispielsweise die Kompensation sensorischer Defizite im Alter mittels erhöhter Anstrengung im kognitiven Bereich

•  die Unterscheidung zwischen absolutem und relativem Vermögen, die mit alterssensitiven und altersresistenten intellektuellen Fähigkeiten einhergeht (Kap. 5.1)

•  die Erforschung der Grenzen kognitiver Plastizität mit zunehmendem Alter

Friedrich August Carus (1770–1808) war deutscher Philosoph und Psychologe, der sehr jung verstarb und dessen Werke erst posthum veröffentlich wurden. Seine Schriften und Ideen fanden keine weitere Verbreitung, obwohl er als Erster ein Buch zur Geschichte der Psychologie anfertigte. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive ist sein zweibändiges Buch Psychologie von Interesse, in dem er wie Tetens als einer der Ersten die Entwicklung über die gesamte Lebensspanne betrachtet, die er in vier Phasen unterteilte: Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Greisenalter. Auch Carus betonte die Gleichzeitigkeit von Verlusten und Gewinnen, die mit dem Greisenalter verbunden sind. Altern ist demnach nicht nur durch sensorische Defizite und kognitive Beeinträchtigungen gekennzeichnet, sondern auch mit zunehmender Reife der Persönlichkeit und perfektem Menschsein. Seine Forderung, die Möglichkeit der Veränderbarkeit in Abhängigkeit der Lebensumstände zu untersuchen, gleicht den Ideen von Tetens zur kognitiven Plastizität. Carus betrachtete zudem Altern als einen Prozess, der aufgrund nachlassender Fähigkeiten zunehmend durch Spezialisierung und Fokussierung gekennzeichnet ist.

Der belgische Mathematiker und Statistiker Adolphe Quetelet (1796–1874) (Abb. 1.1) wurde bekannt durch seine Arbeiten auf dem Gebiet der Sozialstatistik, als deren Begründer er gilt. Quetelet (2013) erforschte die Verteilung menschlicher Charakteristika, wie körperliche Merkmale (z. B. Brustumfang) sowie soziale und moralische Eigenschaften (z. B. die Neigung zur Kriminalität), die schließlich zur Entdeckung der Normalverteilung führte. Sein 1842 veröffentlichtes Werk A treatise on Man and the Development of his Faculties beinhaltete eine Vielzahl an gesammelten Daten zu demographischen, psychologischen und körperlichen Merkmalen, die die gesamte Lebensspanne umfassen. Neben seiner Betrachtung von Lebensspannenveränderungen kommt Quetelet der Verdienst zu, methodische Herausforderungen bei der Bestimmung von altersbedingten Veränderungen erkannt und benannt zu haben. Dazu gehören die Probleme bei der Betrachtung querschnittlicher Analysedesigns und die Forderung, mehrere Altersstichproben zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu untersuchen (Kap. 2.3). So können Einflüsse historischer Ereignisse und des gesellschaftlichen Wandels auf Entwicklungsverläufe besser kontrolliert werden.

Zusammengenommen haben vor allem Tetens, aber auch Carus und Quetelet bereits vor über 150 Jahren grundlegende, theoretische und methodische Beiträge zur Psychologie der Lebensspanne geliefert, auch wenn ihre wissenschaftlichen Arbeiten zunächst nur wenig Beachtung fanden.

1.1.2         Die weitere Entwicklung bis in der Gegenwart

Als sich die Entwicklungspsychologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts als eigene Fachdisziplin etablierte, war sie stark von dem Zeitgeist wissenschaftlicher Forschung in Nordamerika und anderen europäischen Ländern, allen voran England, geprägt. Beeinflusst von der Genetik und der Evolutionstheorie Charles Darwins war die Konzeption des Entwicklungsbegriffs auf Zugewinne aufgrund biologisch determinierter Reifungs- und Wachstumsprozesse ausgerichtet und so wurde in Nordamerika die neue Fachdisziplin überwiegend als Kinderpsychologie definiert (vgl. Lindenberger, 2007).

Als Ausnahme kann der amerikanische Psychologe G. Stanley Hall (1844–1924) (Abb. 1.1) benannt werden, der aufgrund seiner Arbeiten zum Jugendalter bekannt wurde, sich aber gegen Ende seines Lebens in seinem 1922 publiziertem Werk Senescence, the Last Half of Life der Entwicklung im höheren Erwachsenenalter zuwandte. Dieses Werk hatte vermutlich auch Einfluss auf die Gründung einer weiteren eigenen Fachdisziplin, die Gerontologie, die auf die Entwicklung im hohen Lebensalter spezialisiert ist und somit der Entstehung und Konzeption einer Psychologie der Lebensspanne im Wege stand.

Somit entstanden in den USA mit der Gründung der American Psychological Association (APA) auch zwei getrennte Abteilungen: die Kindheitsentwicklungspsychologie (Developmental Psychology) und die Erwachsenenentwicklungspsychologie (Adult Development and Aging). Diese Zweiteilung wirkt bis heute nach und kommt in der Trennung vieler Fachzeitschriften und internationaler Konferenzen mit unterschiedlichen Forschergemeinschaften zum Ausdruck. Auch wenn die Gründung der ersten Fachzeitschrift der Entwicklungspsychologie im Jahre 1969 seitens der APA, Developmental Psychology, und die Gründung der International Society for the Study of Behavioral Development Forschungsarbeiten zur Entwicklung in allen Lebensphasen den gleichen Stellenwert einräumte und die Lebensspannenpsychologie als integrativen Ansatz in der Entwicklungspsychologie propagierte, begann mit der Einführung spezialisierter Fachzeitschriften für verschiedene Lebensphasen eine erneute Abkehr von den Grundsätzen und Leitlinien der Lebensspannenpsychologie. So erschien im Jahr 1930 die Fachzeitschrift Child Development für das Kindesalter, im Jahre 1978 die Fachzeitschrift Journal of Adolescence für das Jugendalter und im Jahre 1986 die Fachzeitschrift Psychology and Aging für das höhere Lebensalter (Abb. 1.1).

Abb. 1.1:    Wegbereiter der Psychologie der Lebensspanne und Zeitpunkt der Gründung wichtiger Forschungsorganisationen und Zeitschriften.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Notwendigkeit einer Lebensspannenkonzeption für die Entwicklungspsychologie nur in wenigen Buchveröffentlichungen zum Thema gemacht (Bühler, 1933; Hollingworth, 1927). Menschliche Entwicklung wurde multidimensional und multidirektional betrachtet, die abhängig von kontextuellen Faktoren vor allem empirisch untersucht werden sollte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese grundlegenden Konzepte, die zum modernen Lebenspannenansatz geführt haben, theoretisch und methodisch weiterentwickelt und modifiziert (Baltes, Cornelius & Nesselroade, 1979; Baltes & Schaie, 1976). Diese werden im nächsten Kapitel näher erläutert (Kap. 1.2).

1.2          Theoretische Grundlagen

1.2.1         Definition von Entwicklung

Vertreter des Lebensspannenansatzes haben schon früh ein Umdenken hinsichtlich der Konzeption des Entwicklungsbegriffes gefordert, der ausschließlich auf biologische Wachstums- und Reifungsmodelle der Kindheit ausgerichtet war. So werden der Gegenstand und die Aufgaben der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne definiert als Beschreibung, Erklärung und Optimierung von Entwicklungsprozessen über die gesamte Lebensspanne von der Konzeption bis zum Tod (Baltes, Reese & Lipsitt, 1980). Dies stand einem traditionellenEntwicklungsbegriff, wie er in Stufenkonzeptionen formuliert wurde, fundamental entgegen. Vertreter einer Stufenkonzeption charakterisieren die kindliche Entwicklung als eine Abfolge von Stufen, die sequenziell, universell, eindimensional und irreversibel verläuft, bis ein bestimmter Endzustand erreicht ist. Betrachtet man die Veränderungen in einem bestimmten Fähigkeitsbereich (wie die motorische oder sprachliche Entwicklung), so wurde eine feste Abfolge von Entwicklungsstufen angenommen, die alle Kinder universell, also unabhängig von ihrem kulturellen Kontext, durchlaufen, wobei jede Stufe an ein bestimmtes Alter gebunden ist. Bezüglich der Abfolge der Stufen wurde zudem postuliert, dass die Entwicklung auf einer Stufe abgeschlossen sein muss, bevor die nächste Stufe erreicht werden kann, keine Stufe übersprungen werden kann und die Abfolge der Stufen nicht umgekehrt verlaufen kann. Die Stufen grenzen sich durch qualitative Veränderungen ab. Dies steht im Gegensatz zu der Annahme quantitativer Veränderungen, die eine Zu- bzw. Abnahme einer Fähigkeit in den Vordergrund stellen. Das wohl bekannteste Stufenmodell wurde von Jean Piaget vorgelegt, der die Entwicklung der Intelligenz als eine Abfolge von vier Stadien beschrieben hat, die alle Kinder universell durchlaufen (Schwarzer & Jovanovic, 2015). Obwohl für bestimmte Fähigkeitsbereiche, wie die pränatale Entwicklung, frühe sensorische und motorische Entwicklung sowie die vorsprachliche Entwicklung die Abfolge von Entwicklungsstufen empirisch sehr gut belegt ist, sind die strengen Annahmen der Kopplung einer Stufe an ein bestimmtes Lebensalter oder bezüglich der Abfolge der Stufen unter der Perspektive der Entwicklung über die Lebensspanne nur sehr eingeschränkt gültig.

Nicht nur die Fokussierung auf die kindliche Entwicklung, auch die einseitige Erklärung dieser Entwicklung als biologisch determiniert wurde von den Vertretern eines Lebensspannenansatz kritisiert. Daher wurden zentrale Leitsätze für eine Lebensspannenkonzeption formuliert, die in  Tab. 1.1 kurz zusammengefasst sind und im Folgenden näher erläutert werden.

Im Gegensatz zu der eindimensionalen Betrachtungsweise wurde Entwicklung nicht nur als lebenslanger Prozess gesehen, sondern als multidimensional undmultidirektional charakterisiert (Tab. 1.1). Menschliches Erleben und Verhalten beinhaltet unterschiedliche Funktionsbereiche (Multidimensionalität). Betrachtet man unterschiedliche Funktionsbereiche wie die sensorische, emotionale und kognitive Entwicklung, so unterscheiden sich Entwicklungsverläufe über die Lebensspanne (Multidirektionalität). Auch innerhalb eines Funktionsbereiches, wie der Intelligenz, zeigen sich für unterschiedliche Komponenten wie die fluide und kristalline Intelligenzunterschiedliche Entwicklungsverläufe, die in Kap. 5.1 näher beschrieben werden. Theoretisch bedeutet dies, dass Veränderungen über die Lebensspanne durch kontinuierliche oder diskontinuierliche Prozesse wie Zugewinn, Abnahme oder auch durch einen Wechsel an Zunahme und Abnahme an Funktionsfähigkeit beschrieben werden können.

Auch wenn sich die Dynamik von Gewinnen und Verlusten in Funktionsfähigkeit über die Lebensspanne verändern kann und in der Kindheit Gewinne und im Alter Verluste überwiegen (Abb. 1.2), können in jedem Altersbereich Gewinne und Verluste auftreten, was theoretischen Annahmen der traditionellen Reifungs- und Wachstumsmodelle entgegensteht (Tab. 1.1). Beispielsweise verbessern sich zwar viele sensorische und motorische Fähigkeiten in den ersten Lebensmonaten, aber gleichzeitig verschwinden auch viele Neugeborenenreflexe wie der Saug- oder Greifreflex.

Abb. 1.2:    Veränderung des prozentualen Anteils der Gewinne und Verluste der Funktionsfähigkeit über die Lebensspanne (modifiziert nach Baltes, 1990).

1.2.2         Plastizität von Entwicklungsverläufen

Entwicklungsverläufe können in Abhängigkeit von Erfahrungskontexten und Lebensbedingungen individuell stark variieren. Die Untersuchung von interindividuellen Unterschieden (Unterschiede zwischen Individuen) in intraindividuellen Entwicklungsverläufen (Veränderungen innerhalb eines Individuums) ist eine zentrale Aufgabe von Lebensspannenforschern. Dabei gilt es nach optimalen Bedingungen zu suchen, die das Potenzial eines Individuums zur Verhaltensänderung und Leistungsverbesserung ausschöpfen, welches man als Plastizität bezeichnet (Tab. 1.1). Die Plastizität der Leistungsfähigkeit kann durch unterschiedliche Erfahrungskontexte bestimmt sein (Kap. 1.2.3) oder durch gezielte Interventionen induziert werden (Kap. 6).

Das Interesse an Interventionsstudien auch im höheren Lebensalter begann bereits in den 60er–70er Jahren des letzten Jahrhunderts, als die Folgen des demographischen Wandels mehr und mehr in den Mittelpunkt rückten. Mit dem Wissen, dass nicht nur der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung in den nächsten Jahrzehnten deutlich zunehmen wird, sondern auch die Lebenserwartung steigt (Kap. 8.1.1), kam die Frage auf, ob negative Altersveränderungen wie eine deutliche Abnahme kognitiver Leistung (z. B. Denk- oder Gedächtnisfähigkeit) unumgänglich sind, oder durch gezielte Trainingsprogramme abgemildert werden können. Diese Trainingsstudien konnten bereits zeigen, dass ältere Erwachsene im Alter zwischen 60 und 80 Jahren deutliche Leistungssteigerungen im Abruf von Gedächtnisinhalten erzielen können (Kliegl, Smith & Baltes, 1989). Um Altersunterschiede im Ausmaß der Plastizität und deren Grenzen bestimmen zu können, hat man das sog. Grenztesten (Testing-the-Limits) verwendet. Bei dieser Methode werden Individuen so lange trainiert, bis sie ihre individuelle Leistungsobergrenze erreicht haben, also keine weitere Leistungssteigerung mehr erkennbar ist (Abb. 1.3). Durch intensives Üben bis an die Leistungsobergrenzen werden somit optimalere Erfahrungskontexte simuliert, um Altersunterschiede in kognitiven Fähigkeiten unabhängiger von individuellen Unterschieden in Vorerfahrungen bestimmen zu können, die beispielsweise durch den kulturellen Kontext stark beeinflusst sein können (Kap. 4). Somit kommen an Leistungsobergrenzen biologisch-bedingte Altersunterschiede stärker zum Vorschein, während soziokulturell-bedingte Einflussfaktoren eine geringere Rolle spielen.

Dabei sind aus der Lebenspannenperspektive folgende Forschungsfragen von theoretischer wie praktischer Bedeutung:

•  Sind Leistungssteigerungen im Rahmen einer kognitiven Intervention für alle Altersbereiche möglich?

•  Wo liegen die Grenzen der kognitiven Plastizität in unterschiedlichen Altersbereichen?

•  Können die in einem Training erzielten Leistungssteigerungen auch auf nicht trainierte Fähigkeiten und Fertigkeiten übertragen werden (Transfereffekte)?

•  Wie nachhaltig sind die erzielten Leistungssteigerungen in den unterschiedlichen Altersbereichen? Welche Rolle spielt die Art des Trainings? Eignen sich bestimmte Trainings besser oder schlechter in einem bestimmten Altersbereich?

•  Spiegeln sich die trainingsbedingten Veränderungen auch in strukturellen und funktionalen Veränderungen des Gehirns wider?

Die Antworten auf diese Fragestellungen werden detailliert in  Kap. 6 dargelegt.

Abb. 1.3:    Schematische Darstellung von Ergebnissen einer Trainingsstudie mittels der Testing-the-Limits-Methode, in der Individuen durch intensive Übung an ihre Leistungsobergrenzen geführt werden (vgl. Kliegl, Smith & Baltes, 1989).

1.2.3         Kontextuelle Einflussfaktoren

Die Plastizität von Entwicklungsverläufen zeigt sich nicht nur als Folge direkter Trainingsinterventionen, sondern auch als Folge von Umweltbedingungen und individuellen Erfahrungen, die in Abhängigkeit kultureller, sozialer und historischer Wirksysteme stark variieren können (Tab. 1.1). Dabei können Entwicklungsangebote oder -beschränkungen die individuelle Entwicklung je nach Altersbereich entweder stark begünstigen oder auch behindern und somit zu Entwicklungsverzögerungen beitragen. Man unterscheidet drei Arten kontextueller Einflussfaktoren, die Einflüsse auf die individuelle Entwicklung nehmen können: normativ-altersbedingte, normativ-geschichtsbedingte und non-normative (Abb. 1.4).

Normativ-altersbedingteVeränderungen umfassen zahlreiche Veränderungen, die unmittelbar an das Alter gekoppelt sind. Diese Änderungen betreffen Individuen einer Geburtskohorte zu einem ähnlichen Zeitpunkt der Lebensspanne. Einerseits können diese Veränderungen biologisch-genetisch determiniert sein, wie hormonelle Änderungen in der Pubertät oder im mittleren Erwachsenenalter (Menopause). Andererseits entsprechen diese Veränderung auch sozial vermittelten Entwicklungsaufgaben und Rollenübergängen, die an einzelne Lebensabschnitte gebunden sind und sich je nach Kultur deutlich unterscheiden können. So unterscheidet sich beispielsweise das durchschnittliche erste Heiratsalter zwischen unterschiedlichen Kulturen (Udry & Cliquet, 1982). Altersgebundene Veränderungen basieren vermutlich auf Interaktionen zwischen Anlage- und Umweltfaktoren. Dabei können gleiche genotypische Bedingungen, wenn sie auf unterschiedliche Umwelten treffen, zu verschiedenen phänotypischen Ausdrucksformen führen. Auch hier gilt, dass Entwicklungsprozesse durch Gene über die gesamte Lebensspanne gesteuert werden und nicht auf die Kindheit und das Jugendalter beschränkt sind. Genetische Programme steuern demnach auch biologische Alternsprozesse und bestimmen so beispielsweise deutliche Unterschiede in der Lebenserwartung.

Normativ-geschichtsbedingteVeränderungen betreffen Veränderungen, die mit historischen Zeitabschnitten verbunden sind und somit Einfluss auf die Entwicklung von Individuen unterschiedlicher Geburtskohorten nehmen (z. B. Kriege und Epidemien). Dazu gehören wirtschaftliche, ökonomische sowie politische Veränderungen, die auch als Folge einzelner Ereignisse auftreten können, beispielsweise nach Wahlen, Terroranschlägen und Naturkatastrophen. Zudem können solche Veränderungen auch durch den technischen Fortschritt oder den demographischen Wandel ausgelöst werden und global wirken, aber dennoch mit kulturellen und individuellen Lebensbedingungen in Wechselwirkung stehen.

Non-normativeVeränderungen werden durch zufällige Ereignisse ausgelöst, die nicht auf Gruppen von Individuen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt wirken, sondern Einfluss auf individuelle Entwicklungs- und Lebensverläufe nehmen. Solche Ereignisse (z. B. Geburt eines Kindes, Tod eines Freundes, Konkurs des Geschäftes, Lottogewinn) können sich mehr oder weniger positiv oder auch negativ auswirken, je nach Abhängigkeit der individuellen Persönlichkeit und jeweiligen Lebensbedingungen. Negative Ereignisse werden auch unter dem Begriff kritische Lebensereignisse zusammengefasst. KritischeLebensereignisse, wie der Verlust des Arbeitsplatzes oder der Tod der Mutter, können je nachdem, in welchem Lebensalter diese eintreten, in unterschiedlichem Maße belastend wirken. So ist der Verlust des Arbeitsplatzes in jungen Lebensjahren als weniger kritisch anzusehen als im mittleren Erwachsenenalter zwischen 50–60 Jahren. Umgekehrt ist der Tod der Mutter in der Kindheit häufig mit länger anhaltenden Beeinträchtigungen verbunden, wie der Entwicklung einer Depression, als wenn dieses Ereignis im mittleren Erwachsenenalter bewältigt werden muss. Generell werden jedoch kritische Lebensereignisse, die früh im Lebenslauf eintreten, als ungünstiger für die weitere Entwicklung angesehen, da sie kumulative negative Entwicklungsprozesse anstoßen können und weniger Erfahrungen im Bewältigungsverhalten vorliegen als im höheren Lebensalter (Filipp & Aymanns, 2018).

Wechselwirkung zwischen kontextuellen Einflussfaktoren

Die Bestimmung der Wirkungsweise verschiedener kontextueller Einflussfaktoren sowie ihrer relativen Wichtigkeit für die Entwicklungsverläufe einzelner Individuen wird durch zahlreiche Wechselwirkungen zwischen diesen Wirksystemen erschwert. Beispielsweise kann sich die zeitliche Regulierung von Entwicklungsprozessen, wie biologisch-genetisch determinierten körperlichen und hormonellen Veränderungen in der Pubertät, über einen geschichtlich länger betrachteten Zeitraum ändern. So liegt der Eintritt in die Menarche bei Mädchen heute um 1–2 Jahre früher als zu Beginn des letzten Jahrhunderts.

Wechselwirkungen zwischen den beschriebenen kontextuellen Faktoren hat man bislang in groß angelegten Längsschnittstudien (Kap. 2.3.2) untersucht, die sich beispielsweise damit beschäftigt haben, welche Auswirkungen die deutsche Wiedervereinigung auf die Entwicklung des Sozialverhaltens von Kindern und Jugendlichen (Silbereisen & Zinnecker, 1999) oder auf die Lebenszufriedenheit älterer Menschen am Ende ihres Lebens (Vogel, Ram, Conroy, Pincus & Gerstorf, 2017) hatte. So zeigen sich deutliche Unterschiede in der subjektiven Lebenszufriedenheit zwischen der westdeutschen und ostdeutschen älteren Bevölkerung, die über 40 Jahre in unterschiedlichen politischen Systemen sozialisiert wurden. Die Lebenszufriedenheit war bei der ostdeutschen Bevölkerung deutlich niedriger als bei der westdeutschen Bevölkerung, und zwar auch dann, wenn man Bildungs- und Geschlechtsunterschiede berücksichtigt. Interessanterweise werden diese Unterschiede mit zunehmendem Alter und zunehmender Zeit seit der Wiedervereinigung kleiner.

Abb. 1.4:    Wechselwirkung zwischen verschiedenen Kontextfaktoren, die Einfluss auf den Entwicklungsverlauf über die Lebensspanne nehmen können.

Als Beispiel für Wechselwirkungen zwischen altersgebundenen und historisch-gebundenen Veränderungen können erste Ergebnisse aus Daten der Berliner Altersstudien (BASE I/II) dienen, die in einem Abstand von etwa 20 Jahren erhoben wurden (Kap. 8.2). Erste Ergebnisse eines Vergleichs zwischen beiden Alterskohorten verweisen auf eine Zunahme in kognitiven Leistungen wie der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit. Bezüglich psychosozialer Variablen zeigte sich eine Abnahme der subjektiven Einsamkeit und der externen Kontrollüberzeugungen (Hülür et al., 2016). Zudem ist bei der früheren Kohorte im Vergleich zu der älteren Kohorte eine stärkere altersbedingte Abnahme in internen Kontrollüberzeugungen zu beobachten. Eine mögliche Interpretation dieses Befundes ist, dass die heutigen älteren Erwachsenen mehr Gestaltungsmöglichkeiten und Kompetenzen erworben haben (beispielsweise durch verbesserte Bildung), ihr eigenes Leben zu kontrollieren und mehr Lösungsmöglichkeiten zur Verfügung haben, wenn Probleme beim Erreichen eigener Ziele auftreten (Gerstorf et al., 2019).

Tab. 1.1:    Leitsätze der Psychologie der Lebensspanne (modifiziert nach Baltes, 1990)

KonzeptTheoretische Annahmen

Zusammenfassung

Obwohl sich theoretische Überlegungen des Lebensspannenansatzes erst relativ spät in der Entwicklungspsychologie etabliert haben, finden sich zentrale Konzeptionen bereits in frühen Werken, die jedoch wenig Beachtung fanden. Als wichtigster Wegbereiter gilt Tetens, der nicht nur die Entwicklung von der Geburt bis zum Tod in unterschiedlichen Funktionsbereichen in seinem Werk beschrieben hat, sondern auch die Bedeutung von Anlage- und Umwelteinflüssen sowie kontextueller Faktoren, wie historische und kulturelle Einflüsse, auf die individuelle Entwicklung eines Menschen erkannt hat. Im Gegensatz zum traditionellen Entwicklungsbegriff und Stufenmodellen wird Entwicklung mittels qualitativer und quantitativer Veränderungen beschrieben, wobei Gewinne und Verluste an Funktionsfähigkeit in jeder Lebensphase auftreten können. Der Lebensspannenansatz umfasst ein Bündel an theoretischen Überlegungen, die als Leitlinien für Lebensspannenforscher dienen können. Diese machen Aussagen über die Entwicklung als lebenslangen Prozess, die Multidimensionalität und Multidirektionalität von Entwicklungsverläufen, die Betrachtung intraindividueller Entwicklungsverläufe, die Optimierung und Plastizität von Entwicklungsprozessen, die Einbettung von Entwicklungsprozessen in den historischen und kulturellen Kontext sowie die interdisziplinäre Erforschung von Entwicklungsprozessen.

Weiterführende Literatur

Lindenberger, U. & Baltes, P. B. (1999). Die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne (Lifespan-Psychologie): Johann Nicolaus Tetens (1736–1807) zu Ehren. Zeitschrift für Psychologie, 207, 299–323.

Baltes, P. B. (1987). Theoretical prepositions of life-span development psychology: On the dynamic between growth and decline. Developmental Psychology, 23, 611–626.

Fragen zur Reflektion

•  Welche historischen Entwicklungen haben die Etablierung der Lebensspannenforschung bis heute erschwert?

•  Worin liegen die Probleme der Definition von Entwicklung in traditionellen Stufenkonzeptionen?

•  Welches sind die zentralen theoretischen Leitlinien der Lebensspannenforschung?

2           Methodische Grundlagen

Orientierungsfragen

•  Warum bietet das Alter einer Person keine Erklärung für beobachtbare Veränderungen psychischer Merkmale von Individuen?

•  Welche unterschiedlichen methodischen Ansätze zur Messung der Veränderung von Verhalten und Erleben über die Lebensspanne kommen in der Forschung zum Einsatz?

•  Welche methodischen Herausforderungen bringen diese unterschiedlichen Ansätze mit sich?

•  Welche Vorteile und Nachteile sind mit den verschiedenen Untersuchungsdesigns zur Messung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Verhalten und Erleben über die Lebensspanne verbunden?

•  Welche grundsätzlichen Unterschiede gibt es zwischen individuumszentrierten und populationszentrierten Ansätzen zur Messung intraindividueller Veränderungen über die Lebenspanne?

Eine Vielzahl von biologischen und kontextuellen Faktoren, wie kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse, wirken bei der Veränderung im Verhalten und Erleben von Individuen in komplexer Art und Weise zusammen. Daher bringt die Messung von Entwicklungsprozessen über die Lebensspanne besondere methodische Herausforderungen mit sich, die sowohl das Alter als Untersuchungsvariable (Kap. 2.1), als auch die Auswahl geeigneter Messverfahren, Methoden (Kap. 2.2) und Forschungsdesigns (Kap. 2.3) betreffen. Während die meisten Forschungsdesigns populationszentrierte Ansätze darstellen und dabei sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in individuellen Entwicklungsverläufen betrachten, stellen individuumszentrierte Ansätze die Variabilität intraindividueller Veränderungen in den Vordergrund (Kap. 2.4). Die verschiedenen methodischen Herausforderungen und Forschungsdesigns werden in diesem Kapitel genauer beleuchtet und anhand von Studien und Beispielen illustriert.

2.1          Alter als Untersuchungsvariable

In Lebensspannenstudien werden Veränderungen psychischer Merkmale und Fähigkeiten in erster Linie als eine Funktion des Alters betrachtet. Allerdings ist das Alter keine Erklärungsvariable für die Änderungen in psychischen Merkmalen und Fähigkeiten, sondern nur eine Annäherung an zeitlich gekoppelte Ursachen für die beobachteten Veränderungen. Beispielsweise lernt ein Kind nicht laufen, weil es 15 Monate alt ist, sondern weil es im Mittel etwa 15 Monate dauert, bis die Gehirnentwicklung und der körperliche Bewegungsapparat so weit gereift sind, dass das Laufen möglich wird. Dabei wird oftmals zur Bestimmung der Altersveränderung die Geburt von Individuen als Bezugspunkt gewählt. Allerdings könnten hier auch andere Zeitachsen zugrunde gelegt werden, wie der zeitliche Abstand zu einem kritischen Lebensereignis oder die Zeit bis zum Tod.

Fokus: Terminal Decline – Altersveränderungen als Funktion der Zeit bis zum Tod

Die sog. Terminal-Decline-Hypothese nimmt an, dass das Funktionsniveau älterer Menschen vor ihrem Tod stärker nachlässt als in den Zeiten davor. Um dies zu überprüfen, kann man längsschnittliche Daten nicht nur als eine Funktion des Alters auswerten, sondern als Funktion der Zeit bis zum Tod (Abb. 2.1).

Abb. 2.1:    Schematische Darstellung der Veränderungen im kognitiven Funktionsniveau eines Individuums betrachtet im Abstand zum Todeszeitpunkt. Die Abnahme des kognitiven Funktionsniveaus nimmt etwa 7–8 Jahre vor dem Tod deutlich zu.

Beispielweise zeigen längsschnittliche Veränderungen in einer britischen Kohorte von über 75-Jährigen eine deutlichere Abnahme genereller kognitiver Fähigkeiten in einem Abstand von 7–8 Jahren vor dem Tod als in der Zeit davor (Muniz-Terrera, van den Hout, Piccinin, Matthews, & Hofer, 2013). Wie in Abb. 2.2 prototypisch verdeutlicht, sind der Beginn und die Rate des Abbaus kognitiver Fähigkeiten individuell sehr unterschiedlich.

Abb. 2.2:    Schematische Darstellung längsschnittlicher Entwicklungsverläufe als Funktion des Alters. Im Mittel (schwarze Linie) zeigt sich eine kontinuierliche Abnahme des kognitiven Funktionsniveaus mit zunehmendem Alter. Bei der Betrachtung individueller Entwicklungsverläufe zeigt sich allerdings häufig ein relativ stabiles kognitives Funktionsniveau, das erst mit dem zeitlichen Abstand vom Tod stark abnimmt (modifiziert nach Baltes & Labouvie, 1973).

2.2          Methodische Verfahren und ihre Herausforderungen für die Lebensspannenforschung

Die Messung von Veränderungsprozessen über die Lebensspanne stellt Forscher vor die Herausforderung, vergleichbare bzw. identische Verfahren für die untersuchten Altersbereiche konstruieren und anwenden zu müssen. Nutzt man beispielsweise unterschiedliche Tests oder experimentelle Aufgaben für verschiedene Altersgruppen und stellt dann Altersunterschiede fest, bleibt unklar, ob diese auf das Alter oder auf Unterschiede im Messinstrument zurückzuführen sind. Die zum Einsatz kommenden methodischen Verfahren, wie korrelative und experimentelle Verfahren sowie experimentelle und formale Simulationen, bieten dabei unterschiedliche Ansätze, um Rückschlüsse über Veränderungsprozesse über die Lebensspanne zu ziehen. Die im Folgenden beschriebenen methodischen Verfahren gehören zum Standardrepertoire in der psychologischen Forschung und werden daher hier unter besonderer Berücksichtigung der Herausforderungen für die Lebensspannenforschung betrachtet.

2.2.1         Korrelative Verfahren

Korrelative Verfahren bestimmen die Zusammenhänge zwischen zwei oder mehreren Variablen wie beispielsweise Merkmale oder Leistungen von Personen, die man zuvor gemessen hat. Die Höhe und die Richtung des Zusammenhangs werden dabei durch den Korrelationskoeffizienten berechnet: Kann man von der Ausprägung eines Merkmals A eindeutig auf die Ausprägung eines Merkmals B von Personen schließen, entspricht dies einem Korrelationskoeffizienten von 1. Hat man beispielsweise bei Personen die Leistungen in einem Gedächtnistest und einem Wortschatztest gemessen, bedeutet ein positiver Koeffizient von 1, dass die Person mit der besten Gedächtnisleistung auch den umfangreichsten Wortschatz hat. Eine perfekte negative Korrelation von -1 bedeutet, dass die Person mit der besten Gedächtnisleistung den geringsten Wortschatz hat, während eine Korrelation von 0 besagt, dass es keinerlei Zusammenhang zwischen den beiden gemessenen Variablen gibt. Ein korrelativer Zusammenhang ist nicht gleichzusetzen mit einem kausalen Zusammenhang, der Aussagen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge machen kann. Angewendet auf das obige Beispiel würde dies bedeuten, dass eine schlechte Gedächtnisleistung die Ursache für einen geringen Wortschatz ist. Dennoch lassen sich Informationen darüber gewinnen, wie verschiedene gemessene Variablen miteinander in Beziehung stehen.

Aus der Perspektive der Psychologie der Lebensspanne interessiert hierbei vor allem, ob sich die korrelativen Muster von Zusammenhängen in verschiedenen Phasen des Lebens ändern oder nicht, also ob sie von der Kindheit bis ins hohe Alter vergleichbar sind. Im Bereich der Kognition ist die Befundlage dazu, ob sich die korrelativen Zusammenhänge zwischen verschiedenen intellektuellen Fähigkeiten über die Lebensspanne verändern, uneindeutig (Hartung, Doebler, Schroeders & Wilhelm, 2018). Einige Forschergruppen fanden empirische Belege für die sog. Differenzierung-Dedifferenzierungs-Hypothese (Lienert & Crott, 1964). Diese Hypothese nimmt an, dass sich die korrelativen Zusammenhänge über die Lebensspanne verändern, und zwar nimmt von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter die Stärke des Zusammenhangs zwischen intellektuellen Fähigkeiten ab und die Struktur intellektueller Fähigkeiten differenziert sich, während sich im hohen Alter ein umgekehrter Trend zeigen sollte.

2.2.2         Experimentelle Verfahren

Anders als in korrelativen Studien erlauben experimentelle Verfahren Rückschlüsse über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Dabei untersucht man, welchen Einfluss eine Variable, die systematisch unter kontrollierten Bedingungen variiert wird, auf eine zu beobachtende Variable hat. Nimmt man beispielsweise an, dass wiederholte Übung einer Gedächtnisstrategie die Erinnerungsleistung in einer Gedächtnisaufgabe deutlich verbessert, kann man die Erinnerungsleistungen mittels einer Gedächtnisaufgabe messen und deren Änderungen als Funktion der Anzahl der Übungssitzungen (als Ursache für die Veränderung) analysieren. In der Lebensspannenforschung stehen Altersveränderungen dabei im Vordergrund, d. h., man untersucht, ob jüngere und ältere Erwachsene gleichermaßen von der Übung profitieren können. Um dabei die Altersunterschiede in den Erinnerungsleistungen auch wirklich auf die wiederholte Anwendung der Gedächtnisstrategie zurückführen zu können, müssen zahlreiche andere Faktoren kontrolliert werden, wie beispielsweise die Nutzung der Strategie beider Altersgruppen außerhalb der Labors sowie die Anwendung der Strategie während des Trainings (Kap. 6.2).

Die experimentelle Untersuchung von Altersunterschieden ist mit einer Reihe von methodischen Herausforderungen verbunden, die bei der experimentellen Planung oder späteren Analysen der Daten berücksichtigt werden müssen, die im Folgenden nur kurz beschrieben und ausführlicher in Kapitel 5 beleuchtet werden.

Altersunterschiede in Ausgangsleistungen

In den meisten experimentellen Studien zeigen sich bereits Altersunterschiede (beispielsweise zwischen Kindern, jungen und älteren Erwachsenen) in der Ausgangsleistung bzw. in der Kontrollbedingung eines Experiments. In dem obigen Beispiel würde dies bedeuten, dass bereits in der ersten Übungssitzung Altersunterschiede in Erinnerungsleistungen bestehen. Will man nun bestimmen, ob es Altersunterschiede im Übungseffekt gibt, muss man die Verbesserung vom Beginn zum Ende des Trainings vergleichen. Dieser Wert wird häufig als Differenzmaß definiert, d. h., man betrachtet die Interaktion zwischen Alter und dem Treatment (hier der Übungseffekt). Problematisch dabei ist eine mögliche positive Korrelation zwischen der Ausgangsleistung und der Größe des Übungseffekts. Demnach ist der Übungseffekt umso größer, je besser die Ausgangsleistung in einer experimentellen Aufgabe ist. Wenn sich in der Studie nun größere Übungseffekte für jüngere Erwachsene als für ältere Erwachsene und Kinder zeigen, könnte dies nur mit der besseren Ausgangsleistung der jüngeren Erwachsenen zusammenhängen und somit fälschlicherweise zu der Schlussfolgerung führen, dass es Altersunterschiede in dem Übungseffekt gibt. Daher ist es von zentraler theoretischer Bedeutung für die Interpretation der Ergebnisse experimenteller Daten, potentielle Altersunterschiede in den Ausgangsleistungen mit zu berücksichtigen (Kray & Lindenberger, 2000) und  Kap. 6.5.1.

Altersunterschiede in Schnelligkeit-Genauigkeit-Tradeoffs

Ein weiteres häufiges Problem vor allem bei der Interpretation von experimentellen Daten, die mit Reaktionszeiten erfasst wurden, sind Altersunterschiede in der Gewichtung von Schnelligkeit und Genauigkeit beim Antworten, auch wenn jüngere und ältere Erwachsene zu Beginn der experimentellen Studie gleichermaßen instruiert wurden. In einigen Studien zeigt sich bei der Analyse der experimentellen Daten eine unterschiedliche Gewichtung von Schnelligkeit und Genauigkeit dahingehend, dass sich ältere im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen zugunsten einer geringeren Fehlerrate beim Antworten mehr Zeit lassen und somit die beobachteten Variablen Reaktionszeit und Genauigkeit nicht getrennt voneinander analysiert werden sollten (Kap. 5.2.3)

2.2.3         Testing-the-Limits-Ansatz

Wie bereits in  Kap. 1 ausgeführt, ist eine wesentliche Leitlinie der Psychologie der Lebensspanne die Bestimmung der Möglichkeiten und Grenzen zur Verbesserung des Leistungspotenzials eines Individuums. Demnach interessiert nicht nur die Frage, was ein bestimmtes Individuum nach einmaliger Testung zu leisten vermag, sondern die Frage nach dem latenten Entwicklungspotential unter optimaleren Lernbedingungen. Die Optimierung von Bedingungen zur Steigerung der ursprünglichen Ausgangsleistung kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Gestaltet man die Lernbedingungen so, dass eine Person zu einem gegebenen Zeitpunkt bessere Leistungen als die Ausgangsleistung erzielen kann, beispielsweise durch eine Instruktion oder bestimmte Strategie, die bei der Aufgabenbearbeitung hilfreich ist oder einfach durch eine verlängerte Aufgabenbearbeitungszeit, dann lässt sich die sog. Ausgangsreservekapazität eines Individuums (Baltes, 1987) oder die sog. kognitive Flexibilität (Lövdén et al., 2010) bestimmen. Darüber hinaus lässt sich die Ausgangsleistung eines Individuums auch durch intensives Üben oder ein spezielles Training optimieren. Um den potentiellen Bereich einer solchen Leistungssteigerung zu ermitteln, kann die Testing-the-Limits-Methode dazu dienen, die individuellen Leistungsgrenzen zu bestimmen. Demnach erhalten Individuen so lange Übung in einer Aufgabe, bis sie sich nicht mehr weiter in ihrer Leistung steigern können und ein individuelles, asymptotisches Leistungslevel erreicht haben. Somit lässt sich die sog. Entwicklungsreservekapazität (Baltes, 1987) oder kognitive Plastizität erfassen. Der Vorteil dieser Methode ist, dass altersbedingte Unterschiede an den Leistungsobergrenzen eher individuelle Unterschiede in biologisch-bedingten Faktoren widerspiegeln, da jedes Individuum so viel Erfahrungsgelegenheiten (hier: Übung) bekommen hat, um seine Ausgangsleistung zu optimieren, dass individuelle Unterschiede in Strategienutzung oder aufgabenrelevante Vorerfahrungen eine sehr viel geringere Rolle spielen (siehe Beispielstudie: Bestimmung des Leistungspotentials im Gedächtnis).

Beispielstudie: Bestimmung des Leistungspotentials im Gedächtnis mittels der Methode der Orte

Ist unter optimaleren Bedingungen auch eine substanzielle Verbesserung der Gedächtnisleistungen im höheren Lebensalter möglich? Wo liegen die Grenzen der Plastizität? Wie verändern sich die Altersunterschiede in Gedächtnisleistungen an den Leistungsobergrenzen? Diese empirischen Fragestellungen hat das Forscherteam um Paul B. Baltes am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin bewegt. Dazu haben sie in mehreren Studien untersucht, wie die Gedächtnisfähigkeit durch eine bestimmte Gedächtnistechnik, der sog. Methode der Orte, die auch von Gedächtniskünstlern genutzt wird, enorm verbessert werden kann (Baltes & Kliegl, 1992; Kliegl, Smith & Baltes, 1989, 1990). Bei dieser Methode lernen die Versuchsteilnehmern der Studien zunächst eine hoch vertraute und geordnete Sequenz von Orten, wie beispielsweise 40 bekannte Sehenswürdigkeiten oder Landmarken in Berlin (z. B. Bahnhof Zoo, Funkturm, Gedächtniskirche, usw.). Diese Orte werden in einer festgelegten Abfolge gelernt, ähnlich einer Stadtbesichtigung dieser Sehenswürdigkeiten. Diese Orte werden genutzt, um sich neue zu lernende Wörter einzuprägen und abzurufen. In der Einprägephase werden zwischen dem Ort (z. B. Funkturm) und dem neu zu lernenden Wort (z. B. Gorilla) eine möglichst bildhafte und ungewöhnliche Assoziation hergestellt (z. B. steht auf dem Funkturm ein brüllender Gorilla). Wenn in der anschließenden Abrufphase die Wörter erinnert werden sollen, besucht man die Orte der mentalen Landkarte und versucht so, das dazugehörige Wort zu erinnern. In einer der ersten Studien untersuchten Kliegl, Smith und Baltes (1989), welchen Einfluss die Einprägezeit und die Übung auf Altersunterschiede in Gedächtnisleistungen hat. Abb. 2.4 zeigt Altersunterschiede zwischen jungen und älteren Erwachsenen in der Anzahl erinnerter Wörter als Funktion der Einprägezeit (1s, 10s und 15s) und Übung (Prätest und Posttest). Sowohl jüngere als auch ältere Erwachsene verbesserten unter optimaleren Bedingungen, d. h. bei längerer Einprägezeit und mit Übung, ihre Gedächtnisleistungen. Dennoch profitierten die jüngeren im Verhältnis zu den älteren Probanden mehr von den optimaleren Bedingungen, so dass Altersunterschiede in den Gedächtnisleistungen am oberen Ende des Leistungspotenzials deutlicher zu Tage traten.

Abb. 2.4:    Die Anzahl erinnerter Wörter junger Erwachsener (dunkelgraue Balken) und älterer Erwachsener (hellgraue Balken) erhöht sich mit längerer Einprägezeit von 15 s im Vergleich zur 1 s und nach Übung im Posttest (rechts) im Vergleich zum Prätest (links; vgl. Kliegl, Smith & Baltes, 1990).

2.2.4         Experimentelle Simulation

Ziel der experimentellen Simulation ist vor allem die Untersuchung kausaler Einflüsse von Entwicklungsprozessen in einem bestimmen Phänomenbereich. Dazu werden zunächst theoretische Annahmen zu möglichen Ursachen von Entwicklungsverläufen formuliert und spezifiziert. Auf Basis dieser theoretischen Überlegungen werden dann die hypothetischen Faktoren systematisch experimentell manipuliert, ihre Auswirkungen unter Laborbedingungen untersucht und bei erfolgreicher Manipulation auch später in natürlichen Umgebungen repliziert, um die externe Validität zu erhöhen.

Zum Beispiel zeigen eine ganze Reihe von empirischen Studien Beziehungen zwischen sensorischen und kognitiven Fähigkeiten (Baltes & Lindenberger, 1997; Humes & Young, 2016; Lindenberger & Baltes, 1994; Li & Lindenberger, 2002; Salthouse, Hanock, Meinz & Hambrick, 1996). Somit könnte die Abnahme kognitiver Leistungen im höheren Lebensalter auch mit nachlassenden sensorischen Leistungen wie Sehen, Hören oder Gleichgewicht in Zusammenhang stehen. Um nachlassende sensorische Fähigkeiten experimentell zu simulieren, haben beispielsweise Murphy und Kollegen (2000) eine Serie von Experimenten durchgeführt, in denen sie die Gedächtnisleistungen von gesprochenen Wörtern als kognitive Fähigkeit bei jüngeren und älteren Probanden erfasst haben. Durch systematische Manipulation der Qualität des sensorischen Sprachsignals (Veränderung des Signal-Rausch-Verhältnisses) wurden nachlassende Hörfähigkeiten im höheren Lebensalter simuliert. Die schlechtere Qualität im Sprachsignal ging mit schlechteren Gedächtnisleistungen einher. Interessanterweise zeigten jüngere Erwachsene bei schlechter Signalqualität ähnliche Gedächtnisleistungen wie ältere Erwachsene unter normalen Bedingungen, also ohne Rauschen im Sprachsignal. Demnach können nachlassende sensorische Fähigkeiten die Abnahme der Gedächtnisleistungen im höheren Lebensalter erklären (Murphy, Craik, Li & Schneider, 2000).

2.2.5         Formale Simulation

Mit formalen Simulationen lassen sich theoretische Annahmen über Entwicklungsprozesse mittels Verwendung von Computermodellen testen. Dazu wird ein bestimmtes Phänomen der Lebensspannenpsychologie herangezogen und versucht, zentrale Komponenten und die Veränderungen von Zuständen in einem vereinfachten Modell nachzubilden. Auf der Basis dieser theoretischen Annahmen können zentrale Parameter systematisch manipuliert werden und deren Auswirkungen auf das Verhalten des modellierten Systems geprüft werden. Letztlich können die von der Simulation erzeugten Veränderungen des Systems mit empirisch erhobenen Daten verglichen werden, um so die theoretischen Annahmen zu validieren. So können Annahmen über fundamentale Lernmechanismen unseres zentralen Nervensystems mit Hilfe von neuronalen Netzwerkmodellen oder über zentrale Ursachen bei der begrenzten Kapazität des Arbeitsgedächtnisses überprüft werden. In der entwicklungspsychologischen Forschung kann man beispielsweise die Veränderung der Informationsübertragung in den neuronalen Netzwerken variieren und deren Auswirkungen auf Altersunterschiede in verschiedenen kognitiven Paradigmen simulieren (Li, Lindenberger & Sikström, 2001). So konnten Li und Kollegen mittels Manipulation einer Variablen in einem formalen Netzwerkmodell, das die Effizienz der neuronalen dopaminergen Übertragung reflektiert, Altersunterschiede in einer Reihe experimenteller Paradigmen zum Lernen, zur Interferenzkontrolle und zur Aufgabenkoordination simulieren (Li, Lindenberger & Frensch, 2000). Formale Simulationen sind sehr hilfreich, damit Forscher ihre theoretischen Annahmen etwa über die Ursachen von Altersunterschieden genau spezifizieren müssen, um daraus Vorhersagen über Entwicklungsprozesse ableiten zu können.

2.3          Forschungsdesigns in der Lebensspannenforschung

Um Veränderungen im Verhalten und Erleben über die Lebensspanne feststellen zu können, ist nicht nur die Auswahl eines geeigneten Tests oder experimentellen Verfahrens wohlüberlegt zu treffen, sondern auch die des zugrundeliegenden Forschungsdesigns, da verschiedene Designs sowohl Vorteile als auch Nachteile mit sich bringen. Gemeinsam ist allen Forschungsdesigns das Anliegen, das Ausmaß der Veränderung in bestimmten Erlebens- und Verhaltensmerkmalen mit zunehmendem Alter zu bestimmen. Zum Einsatz kommen querschnittliche, längsschnittliche und kombinierte Forschungsdesigns, die in dem folgenden Abschnitt näher beschrieben werden.

2.3.1         Querschnittliche Designs

Sehr häufig wird in der Lebensspannenforschung ein querschnittliches Untersuchungsdesign (siehe Definition: Querschnittdesign) genutzt, um altersbedingte Veränderungen in einem bestimmten Merkmal zu untersuchen. Werden Altersgruppen (z. B. jüngere versus ältere Erwachsene) miteinander verglichen, wird das Alter oft als unabhängige Variable definiert und der Einfluss auf eine zu messende abhängige Variable (z. B. Intelligenz oder Gedächtnis) bestimmt. Zeigen sich in den Ergebnissen bedeutsame Unterschiede zwischen diesen Altersgruppen in dem untersuchten Merkmal, werden diese Unterschiede auf das Alter zwischen den Personengruppen zurückgeführt.

Definition: Querschnittdesign

Bei einem Querschnittdesign werden zwei oder mehrere Gruppen unterschiedlichen Alters zu nur einem Zeitpunkt in einem oder mehreren Merkmalen untersucht.

Die Verwendung querschnittlicher Designs hat vor allem ökonomische Gründe. Da die Daten unterschiedlicher Personen nur zu einem Messzeitpunkt und nicht über mehrere Messzeitpunkte ermittelt werden (Abb. 2.5), ist die Erhebung der Daten mit einem deutlich geringeren Zeitaufwand verbunden als dies in der Regel für längsschnittliche Designs der Fall ist (Kap. 2.3.2). Weitere Vorteile sind der geringere Kostenaufwand für die Durchführung der Altersstudie sowie die höhere Motivation der Versuchsteilnehmer. Allerdings bringen querschnittliche Designs auch deutliche Nachteile mit sich. Da Personen nur zu einem Messzeitpunkt untersucht werden, können keine intraindividuellen Veränderungen, also Veränderungen in Merkmalen innerhalb einer Person, bestimmt werden, so dass eine zentrale Aufgabe der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne nicht erfüllt ist (Kap. 1.1.1). Zudem sind in dieser Art von Forschungsdesign Alters- und Kohorteneffekte