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Das letzte Abenteuer für Akyl Borubaew Akyl Borubaew, Inspektor bei der kirgisischen Mordkommission, hat einen untrüglichen Riecher für Gewaltverbrechen. Als er den Tod einer jungen Drogensüchtigen untersucht, ist ihm schnell klar, dass einiges nicht stimmt. Bevor er jedoch weiter ermitteln kann, wird er aber vom Dienst suspendiert. Sein Erzfeind, der Minister für Staatssicherheit, hat ganz eigene Pläne und droht, ihn zu zerstören. Borubaews Kampf um die Karriere wird schnell zum Überlebenskampf, der ihn in die tiefsten Abgründe der kirgisischen Drogenkartelle und bis nach Bangkok führt. Als er nichts mehr zu verlieren hat, riskiert er alles und nimmt es mit dem gesamten korrumpierten System auf.
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Seitenzahl: 402
Tom Callaghan
Erbarmungsloser Herbst
Thriller
Aus dem Englischen von Kristian Lutze und Sepp Leeb
Atlantik
Für Mam und Dad
Am schwersten ist es für jeden,
Tag für Tag Mensch zu sein.
Tschingis Aitmatow
Sie hatte es nicht mehr geschafft, die Spritze aus der Innenseite ihres Oberschenkels zu ziehen, bevor das Heroin ihr Nervensystem mit der rücksichtslosen Grausamkeit eines Schneesturms traf, der vom Tienschan-Gebirge ins Tal fegt. Ihre Leiche lag ausgebreitet auf einem Chaos aus ungewaschenen Kleidern, leeren fettigen Pizzaschachteln und zerdrückten Baltika-Bierdosen; der Müll, den ein Junkie ansammelt, wenn nichts anderes im Leben zählt, als sich den nächsten Schuss aufzukochen. Ihre billigen weiten Jeans ohne Markenetikett bauschten sich um ihre Knie, sodass ich den Fortschritt ihrer Sucht an den Einstichmalen ablesen konnte, die wie Brandflecken von Zigaretten an ihrem linken Bein hinaufwanderten.
Vielleicht war sie einmal ein hübsches Mädchen gewesen, das von wahrer Liebe und der nächsten Party geträumt hatte, aber das war jetzt Geschichte. Kein erster Kuss mehr, keine Sommerabende mit Freunden am Yssykköl-See, nicht der satte Geruch von geschnittenen Lilien oder das Knirschen von Neuschnee unter den Schuhen. Sie war unter einer anderen Art Schnee begraben worden, den der Tod nach Zentralasien und Russland wehte.
An dem rohen Gestank von Jod erkannte ich, dass zumindest eine Person in dem verlassenen Gebäude Krokodil gekocht hatte. Man kann es problemlos zu Hause herstellen; man braucht nur Kodein, gemischt mit Jod, roten Phosphor von Streichholzköpfen, einen feinen Hauch Benzin sowie alle anderen Gifte, die man in die Hände kriegt.
Wenn man sich Krokodil spritzt, wird die Haut grün und schuppig, wo Wundbrand und Entzündungen zuschlagen. Daher der Name der Droge. Das Fleisch stirbt ab und verfault, hinterlässt nicht verheilende Wunden, die sich durch Gewebe und Muskeln bis zu den Knochen fressen.
Die Spuren am Bein des Mädchens waren zu klar und ausgeprägt, um von einem Krokodilbiss zu stammen. Wahrscheinlich eher Heroin. Vielleicht war sie ein altmodisches Mädchen, das seine Knie stets zusammengehalten hatte, außer für den Druck der Spritze. Ich wusste, dass Kenesch Jussupow die Antwort finden würde. Der leitende Pathologe von Bischkek hatte schon alles gesehen und auch aufgeschnitten.
Während meiner Laufbahn als Inspektor bei der Mordkommission habe ich genug Überdosis-Leichen gefunden, um zu wissen, dass »Opfer« das falsche Wort ist. Meines Erachtens ist es mindestens Torheit, sich Gift zu spritzen, in den verwinkelten und verborgenen Nischen des Bewusstseins vielleicht sogar Todessehnsucht, der Wunsch nach einem finalen Ende. Das Wort »Opfer« spare ich mir lieber für Menschen auf, die ihren Tod nicht selbst herbeigeführt haben, Menschen, deren unglücklicher Weg mit der Gier, Grausamkeit oder Lust eines anderen kollidiert und geendet war. Harsch? Kann sein, aber so sieht man das, wenn man derjenige ist, der hinterher aufräumen muss. Ich habe mein Mitgefühl für die Toten nicht verloren, aber es schließt nicht mehr alles mit ein.
»Inspektor.«
Ich wandte mich um, als Kenesch Jussupow neben mich trat, um auf das Wrack dessen zu starren, was einmal ein menschliches Leben gewesen war. Ich würde Jussupow nicht als Freund bezeichnen – er ist zu humorlos und mürrisch, um mit ihm einen trinken zu gehen –, aber wir arbeiten schon lange zusammen und achten unsere jeweiligen Fähigkeiten. Ich könnte meine Tage niemals damit verbringen, Schädel zu öffnen und Fleischpakete zu wiegen. Andererseits versuchen die Menschen, die er bei der Arbeit trifft, nicht, ihn umzubringen. Jedem das, was zu ihm passt.
»Die Wohnung ist leer, nehme ich an?«
Ich nickte. Es ist Standard, dass ein uniformierter ment mit gezückter Waffe den Einsatzort überprüft, um sicherzugehen, dass nicht irgendwo ein Irrer lauert, der seine HIV-verseuchte Spritze teilen will. Hygiene und Ordnung sind nicht das Einzige, was Süchtige aufgeben, sie warten auch nicht, bis sie sich unbequemen Fragen von missbilligenden Polizeibeamten stellen müssen. Alles Mitgefühl für die Leiche im Raum verschwindet durch die Tür und rennt die Treppe runter.
Wir waren in einer Chruschtschowka in Alamedin unweit der Eisenbahngleise, einem jener Plattenbauten, wie sie nach dem Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitler in der gesamten Sowjetunion aus dem Boden geschossen sind.
Im Sommer kann man jeden Morgen einen Zug hören, der sich auf seiner fünfstündigen Fahrt nach Balyktschy am Ufer des Yssykköl mutlos durch Alamedin und die Boom-Schlucht wälzt, nur um am selben Abend die Rückfahrt anzutreten. Weiter östlich ist der See wunderschön mit ruhigem, klarem Wasser und umringt von schneebedeckten Gipfeln, aber Balyktschy ist ein fauliges Drecksloch, das man nicht zweimal besuchen möchte. Manchmal denke ich, als Kirgise kann man reisen, so viel man will – schließlich waren wir traditionell Nomaden –, und landet am Ende trotzdem immer dort, wo man aufgebrochen ist. Ich war mir nie sicher, ob das gut oder schlecht ist.
Kenesch und ich knieten neben der Leiche – unter lautem Protest meiner Gelenke. Noch ein Zeichen dafür, dass ich diesen Job schon zu lange machte. Aus der Nähe konnte ich den beißenden Uringestank riechen; ihre Blase hatte sie im Stich gelassen. Als ich mir vorstellte, wie beschämt und gedemütigt sie sich vermutlich gefühlt hätte, in diesem Zustand den unbarmherzigen, unpersönlichen Blicken von Fremden ausgeliefert zu sein, tat sie mir plötzlich leid.
Die unverputzten Wände waren von feuchten Streifen gezeichnet, der Linoleumboden war abgetreten, verschrammt und so gründlich verschmutzt, dass das ursprüngliche Muster zum Gespenst einer Erinnerung verblasst war, wie die verblichene Fotografie eines lange vergessenen Menschen. Ein billiger Holzstuhl war umgekippt; ich nahm an, dass das Mädchen darauf gesessen hatte, als es sich den Goldenen Schuss gesetzt hatte und kopfüber in den Tod getaucht war.
Jussupow tippte an meinen Arm und wies auf den Unterleib des Mädchens. Ein paar mittlerweile getrocknete dunkle Blutflecke waren auf ihren weißen Slip gespritzt.
»Ist das von Belang?«, fragte ich.
Jussupow zuckte mit den Schultern.
»Schwer zu sagen. Könnte auch ihre Periode sein. Jedenfalls nicht von der Spritze, die steckt noch. Sicher weiß ich das erst, wenn sie auf meinem Tisch liegt.«
»Hältst du es für einen verdächtigen Todesfall?«
Jussupow wandte sich mir zu und zuckte erneut die Schultern. Die blasse Sonne spiegelte sich in seinen Brillengläsern und verbarg seine Augen.
»Ich würde ihn als ungewöhnlich bezeichnen. Irgendwas passt nicht.«
Ich blickte wieder auf die Leiche und konnte nichts Außergewöhnliches erkennen. Der fahle dunkelblaue Fleck, wo die Schwerkraft das Blut zur Erde gezogen hatte, geschwollene aufgedunsene Haut, auf der alte Narben und Makel die Landkarte ihres Lebens hinterlassen hatten. Ich hatte das alles schon zu oft gesehen.
»Schau dir die Einstichmale an ihrem Bein an«, sagte Jussupow. »Alle relativ frisch. Vermutlich war sie Rechtshänderin, denn alle Einstiche sind an ihrem linken Bein. Leichter, sich eine Spritze zu setzen.«
Er packte einen Arm der Toten.
»Das ist ungewöhnlich. Keine Spuren an den Armen, nicht mal subkutan. Die meisten Fixer suchen erst nach frischen Venen in ihren Beinen, wenn es in den Armen nicht mehr geht.«
Nun war es an mir, mit den Schultern zu zucken. »Also wollte sie nicht, dass die Leute von ihrem Konsum wussten. Vermutlich wären Mama und Papa nicht einverstanden gewesen. Vielleicht war sie eitel, stolz auf ihre weiche Haut und ihre glatten Unterarme. Das scheint mir alles ein bisschen dünn.«
»Nach der Obduktion weiß ich mehr«, sagte Jussupow. »Du kannst gern zusehen. Wenn du dich bemühen willst, meine ich.«
Ich trat zur Seite, damit die Männer mit der Bahre ihrer Arbeit nachgehen konnten. Das war unter der Gürtellinie, leitender Pathologe, dachte ich, aber vielleicht steckte auch ein bisschen Wahrheit darin.
Die furchtbare Gebrochenheit durch den Tod offenbarte sich in den baumelnden Gliedmaßen und dem nach hinten gesackten Kopf. Als die junge Frau hochgehoben wurde, sah ich auf der linken Seite ihrer Stirn einen dunklen Bluterguss.
»Was hältst du davon?«, fragte ich Jussupow.
»Ist vielleicht beim Aufprall auf den Boden entstanden. Ihr Herz muss nicht sofort aufgehört haben zu schlagen, was den Bluterguss erklären würde. Aber wie gesagt, mehr weiß ich, wenn ich sie unter dem Messer habe.«
Während die Leiche abtransportiert wurde, konnte ich noch etwas in dem Raum riechen: Angst und Verzweiflung, so bitter und roh auf der Zunge, dass einem davon die Augen tränten. Ich war klug genug, es Jussupow gegenüber nicht zu erwähnen. Er hätte mich angesehen, als ob ich verrückt geworden wäre und begonnen hätte, meine Loyalität zum Genossen Stalin zu bekunden. Stattdessen legte ich den Gedanken in jener dunklen Nische ab, in der ich Impressionen, Ahnungen und Träume speichere.
»Ich mache die Obduktion morgen Vormittag«, sagte Jussupow auf dem Weg zur Tür. »Um zehn Uhr.«
Ich nickte und wartete, bis ich seine Schritte auf dem Treppenabsatz hörte, bevor ich nach Indizien zu suchen begann. Mordgeständnisse, zerknüllte Notizzettel mit der Adresse des Dealers, mysteriöse, mit billigem Lippenstift geschriebene Telefonnummern. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich würde mich an jeden Strohhalm klammern, also stöberte ich durch die erbärmlichen Überreste eines Lebens, als mein Telefon piepte.
Eine SMS: »Treffen so bald wie möglich.« Geschickt von Michail Tynalijew. Minister für Staatssicherheit. Jedes Treffen mit ihm, das ich bisher erduldet hatte, war der Beginn von Kummer und der durchaus realen Aussicht gewesen, zu Tode zu kommen.
Deshalb ahnte ich schon, dass ich wieder bis zur Halskrause in Scheiße landen würde.
Eine Stunde später saß ich in Tynalijews Haus, in dem eleganten Salon, den er als privates Arbeitszimmer benutzt, wenn er nicht will, dass der Flurfunk des Ministeriums die neuesten Nachrichten verbreitet. Ich war nicht zum ersten Mal hier, und es war mit der Zeit nicht erfreulicher geworden. Das Ritual war immer das Gleiche.
Zunächst wurde man von mürrischen Wachleuten durch einen High-Tech-Scanner gewunken, deren Finger beunruhigend nah am Abzug ihrer Kalaschnikow zuckten und deren Blicke nach einer Gelegenheit flehten, sie benutzen zu dürfen.
Dann saß man in einem überheizten Vorzimmer eine Stunde lang auf einem kunstvollen, golden lackierten Stuhl, der es schaffte, hässlich und unbequem zugleich zu sein, bevor man in die Präsenz des Ministers gebeten wurde.
Von Angesicht zu Angesicht mit dem gefährlichsten Mann Kirgisistans.
Michail Tynalijew und ich haben eine gemeinsame Geschichte, und es ist keine behagliche Lektüre.
Ich hatte herausgefunden, wer für die Ermordung seiner Tochter Jekaterina Tynalijewa verantwortlich war, und dann schweigend geduldet, dass Tynalijew den Mann schlachten ließ wie ein Schwein.
Ich hatte einen bösartigen pädophilen Mörder mit besten Beziehungen aufgespürt und dann Tynalijews Befehl ignoriert, die Sache »im Interesse des Staates« fallen zu lassen. Stattdessen hatte ich eine Sprengladung am Wagen des Mannes angebracht und ihn in die Hölle gebombt.
Und zuletzt hatte ich Tynalijews Geliebte in Dubai gefunden, nachdem sie zehn Millionen Dollar von seinen geheimen Konten »befreit« hatte. Ich hatte den Großteil seines Geldes zurückbesorgt, aber nicht ohne viel Blutvergießen und Tote entlang des Weges.
All das bedeutete, dass Tynalijew mich zwar für seine Drecksarbeit benutzte, mir jedoch nicht vertraute. Ich kannte zu viele seiner Geheimnisse. Keine besonders beruhigende Position.
Tynalijew starrte mich eindringlich an, ohne zu blinzeln. Er war ein Bär von einem Mann, kleiner als offizielle Fotos nahelegten, das Jackett eng über die massigen Schultern gezogen, wobei der Stoff von den Muskeln aus der Form gezerrt wurde. Seine Hand lag auf dem Schreibtisch, die Fingerknöchel waren brutal und vernarbt. Man konnte sich gut vorstellen, wie er irgendeine arme Seele in dem schalldichten Keller der Polizeistation von Sverdlowsk verhörte: eine Ohrfeige, ein Schlag, ein Tritt, Blut, das an die gekachelten Wände spritzte, ein abgebrochener Zahn auf dem schmutzigen Boden.
Die Sekunden zogen sich, das lange Schweigen wurde unbehaglich. Als ich gerade bereit war, alles zu gestehen, was ich Tynalijews Meinung nach verbrochen hatte, wies er mit dem Daumen in meine Richtung.
»Setzen Sie sich.«
Ich gehorchte. Der Minister nahm ein Blatt Papier und las schweigend. Als Preis für die Wiederbeschaffung seines Geldes hatte ich verlangt, wieder als Inspektor der Mordkommission eingesetzt zu werden. Ich fragte mich, ob dies die offizielle Bestätigung war. Aber weil Tynalijew war, wer er war, konnte es ebenso gut die Verurteilung zu einer Haftstrafe im Gefängnis Nr. 1 sein, verbunden mit der Hoffnung, dass ich mich bei einem Mitinsassen mit Tuberkulose oder HIV ansteckte. Wenn ich nicht vorher von einer selbstgebastelten Klinge erwischt wurde.
»Sie waren vorhin am Schauplatz eines verdächtigen Todesfalls«, sagte er, ohne aufzublicken.
»Eine junge Frau. Überdosis. Wahrscheinlich Heroin«, sagte ich und fügte sicherheitshalber ein »Herr Minister« hinzu.
»Verdächtig?«
Ich zuckte mit den Schultern. Sein Interesse erstaunte mich, doch es gab keine Hinweise, dass mehr dahintersteckte, und bei Tynalijew ist es immer besser, so wenig wie möglich zu sagen.
Tynalijew tat ihren Tod mit einem Kopfschütteln als unwichtig ab, bloß eine Zahl in einer Statistik und bestenfalls ein Absatz auf den hinteren Seiten der Achyk Sayasat. Das ist einer der Unterschiede zwischen uns beiden und erklärt vielleicht auch, warum ich kein Politiker geworden bin. Soweit es die Toten betrifft, glaube ich, dass entweder alle zählen oder keiner.
»Sie werden von dem Fall abgezogen«, verkündete Tynalijew, legte das Blatt auf den Tisch und starrte mich an.
»Das heißt, ich bin wieder bei der Mordkommission?«, fragte ich. »Als Inspektor?«
Tynalijew schürzte die Lippen und stieß mit seinem fleischigen Zeigefinger auf das Papier vor sich. Im Zimmer war es sehr warm, kein Hauch frische Luft. Ich spürte, wie in meinem Bauch Panik aufstieg, trotzdem gab ich mir alle Mühe, den Minister ausdruckslos anzusehen.
»Nicht direkt«, sagte er.
Er schob mir das Blatt rüber und bedeutete mir, es zu lesen.
Die Überschrift lautete PRESSEMELDUNG. Und und von da an ging es rapide bergab.
Gegen ein prominentes Mitglied der Mordkommission von Bischkek wird zurzeit wegen Verbrechen gegen den Staat ermittelt, darunter Mord, Korruption, Wucher und Erpressung. Wegen der Schwere der Tatvorwürfe ist der betreffende Beamte von allen Pflichten entbunden und mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert worden. Sollten die Beschuldigungen sich als zutreffend erweisen, wird er öffentlich benannt, vor Gericht angeklagt und zu einer harten Strafe verurteilt werden.
Unterzeichnet von Michail Tynalijew, Minister für Staatssicherheit.
Ich las die Erklärung; meine Miene war eine Maske, um den Schock und die Wut zu verbergen, die in mir hochkochte. Ich musste nicht fragen, wer der unbenannte Beamte war. Ich zerknüllte das Blatt und warf es zurück auf Tynalijews Tisch.
»Das ist Bullshit. Herr Minister«, sagte ich und konnte meine Verärgerung nicht unterdrücken. Nun war es an Tynalijew, mit den Schultern zu zucken. Er strich das Blatt wieder glatt, las es noch einmal durch und verschloss es zusammen mit meiner Karriere in einer Schublade seines Schreibtischs.
»Seien Sie einfach froh, dass ich Sie nicht namentlich genannt habe«, sagte er. »Noch nicht.«
Tynalijews Schutztruppe war so klug gewesen, mir an der Sicherheitsschleuse meine Makarow abzunehmen, sonst wäre ich vielleicht versucht gewesen, den Lauf an seine Stirn zu pressen und abzudrücken. Aber ich fragte mich auch, warum Tynalijew einem kleinen Inspektor diese Neuigkeit persönlich mitteilte, statt die Angelegenheit dem Chef einer Polizeistation zu überlassen. Wie immer waren bei dem Minister die Karten, die man in seiner Hand sah, nie Teil des eigentlichen Spiels.
»Persönlich weiß ich, dass Sie zu ehrlich – oder zu dumm – sind, um sich auf solchen Unsinn einzulassen«, fuhr er mit einer abschätzigen Geste fort. »Und glauben Sie mir, ich bin nicht Ihr Feind. Was nicht bedeutet, dass Sie keine haben.«
Die Logik hinter seinen Worten war durchaus einleuchtend; nur ein sehr selbstbewusster oder überaus törichter Mensch würde es mit dem gesamten Staatsapparat aufnehmen, der hinter Tynalijew stand.
»Ich fürchte, es wird noch schlimmer für Sie kommen, Borubaew«, fügte er hinzu, goss sich, ohne mir etwas anzubieten, einen Schluck Wodka ein und kippte ihn mit einem einzigen routinierten Schluck runter.
»In ein paar Tagen werden wir im Laufe unserer Ermittlungen konkrete und unwiderlegbare Beweise dafür finden, dass Sie Heroin geschmuggelt und die Ermittlungen im tragischen Todesfall einer jungen Frau durch eine Überdosis nur übernommen haben, um Ihre Spuren zu verwischen. Und die des Mädchens natürlich.«
Tynalijew lächelte über seine Ironie und goss sich noch einen Wodka ein.
»Vielleicht haben Sie ihr die tödliche Dosis sogar selbst verabreicht, um sie zum Schweigen zu bringen«, fügte er hinzu.
»Dann stellen Sie mich an die Wand und erschießen Sie mich«, sagte ich, »obwohl ich nicht verstehe, was das alles soll. Hat es etwas mit Natascha Sulonbekowa zu tun?«
Bei der Erwähnung seiner Ex-Geliebten und der Erinnerung an sein verschwundenes Vermögen verzog Tynalijew kurz das Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Das haben Sie einigermaßen gut geregelt und hinterher die Klappe gehalten«, sagte er. »Nein, hier geht es um etwas vollkommen anderes.«
Sein Lächeln trug nicht zu meiner Beruhigung bei. Genauso wenig wie seine nächsten Worte.
»Natürlich könnte es sein, dass Sie am Ende an eine Wand gestellt und erschossen werden, aber erst nachdem Sie ein wenig Folter und Verstümmelung genossen haben.«
»Ich nehme an, dass Sie Heroinschmuggel nicht billigen, Inspektor? Oder sollte ich im Licht der bevorstehenden Ereignisse besser sagen, Herr Borubaew?«
Tynalijew setzte eine Miene aufrichtigen Interesses und ernster Sorge auf. Ich fragte mich, wie lange er sie vor dem Spiegel geübt hatte. Da es sich vermutlich um eine Trickfrage handelte, beschloss ich, auf Nummer sicher zu gehen.
»Zunächst einmal ist es illegal, Herr Minister, und die Verheerung und das Elend, die dadurch verursacht werden, sind eine ernste Bedrohung für die Stabilität der Gesellschaft. Außerdem ist der Handel eine Finanzierungsquelle für kriminelle Elemente«, wählte ich meine Worte mit forensischer Vorsicht, als ob ich aus einem Regelbuch für den Dienstgebrauch vorlesen würde.
»Ich dachte mir, dass Sie etwas Pompöses in der Richtung sagen würden«, erwiderte Tynalijew. »Vielleicht sollten Sie an der Amerikanischen Universität lehren und der Welt erklären, wie rückständig Zentralasien ist, dass wir nur ein Haufen ignorante kleine Scheißer sind, die nichts anderes können, als reichen Ausländern Heroin zu verkaufen.«
Ich sagte nichts, fragte mich allerdings, wie viele der neun Millionen Dollar, die ich von Natascha Sulonbekowa wiederbeschafft hatte, auf Mohnfeldern in Afghanistan gewachsen waren. Auch unwissentlich Mittäter zu sein, belastet die Seele.
»Das war nie ein Geschäftsinteresse von mir«, sagte Tynalijew, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Zu viel Aufmerksamkeit, zu viel Druck aus dem Kreml, dem Weißen Haus und von allen möglichen anderen. Und zu viele geöffnete Schnäbel, die alle konstant mit saftigen Happen gefüttert werden wollen.«
Er schüttelte den Kopf, als würde er ein unlukratives Geschäftsangebot ablehnen.
»Vorsicht und Tarnung funktionieren auf lange Sicht besser, meinen Sie nicht auch?«, sagte er.
»Ohne überlebt man in meinem Beruf nicht lange«, stimmte ich ihm zu und fragte mich, ob Tynalijews Vorsicht so weit ging, dass er mir zu einem anonymen Grab irgendwo zwischen Bischkek und dem Yssykköl verhelfen wollte.
»Ich bin überrascht, dass Sie überhaupt überlebt haben«, sagte Tynalijew. »Vor allem, weil der Kreis der Brüder nach wie vor glaubt, Sie hätten Maksat Aidaralijew zwei Kugeln verpasst.«
Eine Schockwelle der Übelkeit schoss mir im Hals hoch; kurz hatte ich Angst, mich übergeben zu müssen.
Aidaralijew war der pachan gewesen, der lokale Boss der Gangster, die sich von Russland und Zentralasien nähren wie hungrige Wölfe im tiefen Winter. Als ich den Mord an Jekaterina Tynalijewa untersucht hatte, hatte sich die Zusammenarbeit mit einer usbekischen Agentin namens Saltanat Umarowa ergeben. Es war Saltanat gewesen, die die Kugeln für den pachan arrangiert hatte: eine in den Hinterkopf als Zeichen dafür, dass er hingerichtet worden war, und eine in den Mund, um bekannt zu machen, dass er geredet hatte. Mein Problem? Er wurde unmittelbar nach einem Treffen mit mir erschossen, deshalb wusste ich, auf wen der Finger des Verdachts zeigte. Und es half auch nicht, dass dieser Finger sich fast sicher am Abzug einer Waffe spannte.
Ich wusste nicht, ob Tynalijew glaubte, dass ich den alten Mann exekutiert hatte, oder ob er wusste, dass Saltanat und ich so etwas wie ein Paar geworden waren, aber Schweigen schien immer noch meine beste Option.
»Die Welt wird erfahren, dass Sie in Schande aus der Truppe entlassen wurden. Wahrscheinlich werden Sie außer Landes fliehen müssen, bevor sich die Gefängnistore hinter Ihnen schließen, und die Leute, die Sie dorthin gebracht haben, Sie mit offenen Armen willkommen heißen«, sagte Tynalijew. »Sie werden zwar nicht mehr den Schutz Ihres Dienstrangs genießen, aber das heißt nicht, dass Sie für manche Leute nicht nach wie vor nützlich sind«, fügte er hinzu.
»Welche Leute speziell?«, fragte ich, zunehmend besorgt, dass das Ganze auf ein tiefes Loch auf einem Friedhof hinauslief, mit einem Grabstein aus Marmor samt eingraviertem Porträt von mir.
»Haben Sie sich nie gefragt, warum der Kreis der Brüder den Tod des pachan nicht gerächt hat?«, fragte Tynalijew. »Warum Sie mit relativ intakten Fingern, Zehen und Gehirn überlebt haben?«
»Wahrscheinlich ist der neue Anführer froh, dass ihm jemand den Weg geebnet und ihm geholfen hat, den Thron zu besteigen.«
Tynalijew nickte. »Nach wie vor der Ermittler, wie ich sehe, wenn auch nicht mehr offiziell.«
Ich ignorierte seinen Sarkasmus. Glaubte Tynalijew wirklich, ich würde denken, dass er sich all diese Mühe nur für das Wohl des Landes und seiner Mitbürger machte?
»Verbringen Sie Zeit in der Kulturny-Bar und knüpfen Sie Kontakte, die Ihnen in Ihrer neuen Karriere nützlich sein könnten«, sagte Tynalijew, und mein Herz sackte wie ein Stein. Das Kulturny ist wahrscheinlich die raueste Bar in Bischkek. Einlass erhält nur, wer ein Portfolio an Gefängnistattoos oder mindestens eine versteckte Waffe vorzuweisen hat. Selbst der Name ist ein Witz, das Lokal ist so anti-kulturny, wie man nur sein kann. Keine Willkommen-Schilder, keine Neonlichter, nur eine ramponierte Stahltür, verkratzt und verbeult von Stiefeln, Äxten und, an einem denkwürdigen Abend, von einem Molotowcocktail. Die Tür hat keine Klinke, und hinter dem Spion, der über den Einlass entscheidet, steht ein wahrscheinlich betrunkener oder bekiffter und garantiert bewaffneter Türsteher.
Bei meinem letzten Besuch im Kulturny war ich mit Saltanat dort gewesen. Es war zum Einsatz von Schusswaffen gekommen, mit ein paar Leichen, die nach der Schießerei entsorgt werden mussten, sodass ich beschlossen hatte, meinen Orangensaft fürs Erste woanders zu trinken. Wenn Tynalijew wollte, dass ich dort verkehrte, hatte er wahrscheinlich einen guten Grund. Gut für ihn; vermutlich eher schlecht für mich.
»Neue Karriere?«, fragte ich, ohne mich auf die Antwort zu freuen.
Tynalijew wies mit dem Kopf Richtung Ausgang und wandte sich wieder seinem Papierkram zu. Ich war entlassen. Als ich an der Tür war, blickte er noch einmal auf und fixierte mich mit seinem härtesten Blick.
»Sie werden Drogenbaron«, sagte er und schenkte mir ein Lächeln, das gar nicht erst versuchte, seine Augen zu erreichen.
Ich war nie besonders gut darin gewesen, Befehle zu befolgen, selbst wenn sie von einem so hochgestellten und gefährlichen Mann wie dem Minister stammten. Also spazierte ich am nächsten Morgen kurz nach Tagesanbruch in das Leichenschauhaus des Bezirks Sverdlowsk, um zuzusehen, wie Jussupow seine Skalpelle und Fertigkeiten an einer weiteren Leiche schärfte. Natürlich ermittelte ich nicht in dem Fall, von dem ich gerade abgezogen worden war, ich schaute nur bei meinem alten Freund, dem leitenden Pathologen, vorbei, um mit ihm vielleicht ein Glas Tschai zum Frühstück zu trinken. Wie könnte der Minister daran Anstoß nehmen?
Die vorübergehenden Bewohner der Leichenhalle stören sich offenbar nicht an den schmutzigen Betonwänden, dem flackernden Licht und dem allgegenwärtigen Geruch von frisch geschlachtetem Fleisch. In Bischkek können nicht mal die Lebenden besonders wählerisch sein, was ihr Zuhause betrifft; und die Toten beschweren sich ohnehin nie. Sie müssen auch keine Miete und Nebenkosten zahlen.
Bis man das verwitterte Schild entdeckt, könnte man auch meinen, im Eingang der Tiefgarage irgendeines trostlosen Einkaufszentrums zu stehen. Das Leichenschauhaus macht keine Reklame für sich. Nicht viele Menschen kommen zu Besuch, und die wenigen, die es tun, treffen in der Regel liegend ein.
Ich ging die Treppe mit den zerbrochenen Fliesen hinunter und folgte dem Flur, in dem ein smaragdgrüner Schimmelfleck jeden Winter größer wurde, wenn der Schnee schutzsuchend durch die Mauer drückte. Wie gehabt fehlte in jeder zweiten Fassung eine Birne, trotzdem konnte ich die Metalltüren am Ende des Korridors ausmachen, durch die der Gestank von rohem Fleisch drang.
Jussupow war bereits fleißig bei der Arbeit und verwandelte die junge Frau, die ich am Vortag gesehen hatte, in einen Haufen Metzgerabfälle. Der Stahltisch war von Blutspritzern und anderen Säften verschmutzt, über deren Ursprung ich lieber nicht spekulieren wollte. Es ist eine Wahrheit meines Berufs, dass Schönheit häufig innere Hässlichkeit verbirgt, und eine Wahrheit von Jussupows Beruf, dass er Schönheit und Ordnung im Gewirr der Innereien einer Leiche erkennt.
Ich bat nicht um einen Overall; ich hatte nicht vor, in die Nähe der Leiche zu kommen, und meine Kleidung würde ohnehin kein anständiger Second-Hand-Shop im Schaufenster ausstellen wollen.
»An der Todesart selbst ist nichts ungewöhnlich. Eine Überdosis«, sagte Jussupow, bevor ich die Frage überhaupt gestellt hatte. »Ihr Blutdruck ist abgestürzt, und sie hat einen Herzinfarkt erlitten, an dem sie gestorben ist.«
Er hielt eine Hand des Mädchens hoch, damit ich sie inspizieren konnte.
»Nägel bläulich angelaufen, alles ziemlich standardmäßig, Inspektor, genau das, was ich erwarten würde.«
Jussupow untersucht Körper auf Wirkungen, deren Ursache er zu erschließen versucht; ich betrachte sie im Hinblick auf Indizien, Geheimnisse. Die Nägel des Mädchens waren mit einem teuren durchsichtigen Nagellack lackiert; die Ränder waren angestoßen und eingerissen. Aber sie hatte noch genügend Stolz gehabt, gut aussehen zu wollen, womit sie mindestens eine Stufe über den Straßen-prostis stand, die abends am Panfilow-Park herumlungern.
»Keine Tätowierungen?«
Jussupow schüttelte den Kopf. »Das Einzige, was je in sie reingesteckt worden ist, sind die Spritzen, die sie umgebracht haben.«
Als ich die Augenbrauen hochzog, nickte er.
»Ja, sie war noch Jungfrau. Das hatte ich schon lange nicht mehr auf dem Tisch.« Jussupow lächelte still.
Mit dieser Neuigkeit landeten alle meine Spekulationen auf derselben Schale, auf der sich bereits Klumpen und Brocken von weggeworfenem Fleisch häuften. Keine Professionelle also, weder auf der Straße noch in einem Massagesalon. Unverheiratet, wahrscheinlich hatte sie nicht mal einen Freund. Ich war überrascht; so hübsch, wie sie war, hätte sie gut eine gestohlene Braut sein können, die von irgendeinem aufgegeilten, jungen, pickeligen Dreckskerl entdeckt, von der Straße geraubt und ins Haus seiner Mutter geschleppt worden war, wo sie einer Zwangsheirat zustimmen musste. All das legte einen gewissen sozialen Status nahe. Nicht jeder Vater kann vierundzwanzig Stunden am Tag bei seinem Augapfel sein oder sich einen Leibwächter für sie leisten. Der Fall wurde immer ominöser. Er könnte zu allen möglichen Konsequenzen und Schlagzeilen führen, und keine davon war gut. Außerdem würde ich mich bei Tynalijew nicht beliebter machen, wenn ich mich weiter dafür interessierte.
Ich ließ den Gedanken in meinem Hinterkopf gären und probierte einen neuen Ansatz.
»Irgendwelche Hinweise auf ihre Identität?«, fragte ich wie die Typen aus den Cop-Serien im Fernsehen.
»Bis auf die einzigartigen Zehn-Karat-Diamant-Ohrringe und den Zungenstecker mit einer schwarzen Perle, nein«, sagte Jussupow, und ich blickte sogar kurz auf die Leiche, bevor ich ihn wieder ansah. Humor war nie seine Sache gewesen, und ich fragte mich, ob er irgendwo einen witzelnden Doppelgänger aufgetrieben und an seiner Stelle zum Dienst geschickt hatte.
»Ein paar Dinge könnten dich allerdings interessieren«, sagte er. »Zum Ersten die Blutflecken auf ihren Kleidern.«
Gut möglich, dass Jussupow auf seine alten Tage einen Sinn für Humor entwickelte, aber er war immer noch zu prüde, um das Wort »Slip« auszusprechen.
»Die Flecken entsprechen nicht ihrer Blutgruppe«, sagte er. »Sie hatte Blutgruppe null, und die Tropfen sind A Rhesus positiv. Sie können auf keinen Fall von derselben Person stammen.«
Immerhin wusste ich jetzt, dass das Mädchen zum Zeitpunkt ihres Todes nicht allein gewesen war. Aber A Rhesus positiv ist keine seltene Blutgruppe, und ich hatte keine Ahnung, wie ihr Slip besudelt worden war.
»Das hilft mir auch nicht viel weiter«, grunzte ich.
»Noch ein paar andere Dinge«, sagte Jussupow. »Eine Sache habe ich so noch nie gesehen.«
»Was denn?«
»Sie ist nicht an normalem Heroin gestorben, mit Babypuder und Ziegelsteinstaub verschnitten von hier bis zur Hölle und zurück.«
»Rein?«
»Absolut rein, aber es war kein Heroin oder Krokodil.«
Ich sah Jussupow an. Ich hatte keine Zeit für Katz-und-Maus-Spielchen; an meiner Miene erkannte er, dass er seine Spezialinformation nicht länger zurückhalten sollte.
»Schon mal von Carfentanyl gehört, Inspektor?«
Ich schüttelte den Kopf. Offensichtlich irgendein Pharmazeutikum, und zwar keins gegen Kopf- oder Zahnschmerzen.
»Es ist ein synthetisches Opiat, etwa zehn Mal stärker als kommerzielles Morphium. Ursprünglich wurde es als Anästhetikum für Elefanten entwickelt.«
»Und die Leute konsumieren etwas derart Starkes?«
»Wie du siehst.«
Ich schüttelte den Kopf, wie immer verblüfft darüber, was die Menschen sich selbst antun.
»Ich nehme an, man braucht nicht viel von diesem Carfentanyl, um einen Platz auf deinem Tisch zu gewinnen.«
»Eine Dosis von der Menge einer Prise Salz, mehr nicht. So etwas habe ich noch nie gesehen; unsere Süchtigen sind sonst eher Traditionalisten.«
Jussupow machte eine Pause, griff in die Tasche seines weißen Kittels und zog ein zerknülltes Stück Papier heraus, das er mir gab.
»Versteckt im Polster ihres BHs«, sagte er. »Im linken Körbchen, falls das einen Unterschied macht. Ich wüsste nicht wie, aber du bist der Ermittler.«
Ich strich das Papier glatt und begann zu lesen.
Ich habe in meinem Leben etliche Abschiedsbriefe gelesen, die meisten waren von Männern, um ihren finalen und unwiderruflichen Abgang zu rechtfertigen. Vermutlich führen viele Frauen eine so karge und trostlose Existenz, dass sie die für jedermann offensichtlichen Gründe, ihr Leben zu beenden, nicht ausbuchstabieren müssen. Wie bei den meisten Dingen im Leben ziehen Frauen es einfach durch.
So wie Selbstmord die persönlichste Tat ist, die man begehen kann, ist auch jeder Abschiedsbrief anders, in Ton, Stil und Länge. Düstere, verzweifelte Berichte von einem Leben, dem schließlich die Hoffnung ausgegangen ist. Seite über Seite voller hastig hingekritzelter Vorwürfe. Erklärungen zur bewussten Entscheidung, den Schmerz einer tödlichen Krankheit zu beenden. Akte der Trauer, der Rache, begangen in einem Moment von Wut, Trunkenheit oder wegen eines gebrochenen Herzens. Aber ein Gedicht hatte ich noch nie als Abschiedsbrief gelesen. Die Handschrift war elegant und gemessen, nicht das verzweifelte Ende-des-Lebens-Geschmiere, das ich so oft gesehen hatte. Alle Verzweiflung lag in den Worten.
Ich will dir sagen, wie das geht; das Herz
Berauscht von rücksichtslos vertanen Chancen schleicht
Auf Zeh’n vorbei an Küssen, süß noch, doch verblassend.
Das Morgengrauen kriecht durchs Fenster
Und sucht nach einem Ort,
Der Heimat ist.
»Was meinst du? Ein Abschiedsbrief?«, fragte Jussupow, trotz seiner unergründlichen Miene offenbar ebenso erstaunt wie ich.
»Nun, ich bin kein Literaturkritiker, aber die nächste Anna Achmatowa ist sie nicht«, sagte ich und versuchte, meine Gedanken zu sammeln. Ich fragte mich, was sie mit »rücksichtslos vertanen Chancen« meinte. »Vielleicht hat sie eine Absage zu viel erhalten.«
Ich las das Gedicht noch einmal, aber bei der zweiten Lektüre ergab es auch nicht mehr Sinn. Als meine Frau Tschinara noch lebte, hatte sie einen Gedichtband nach dem anderen verschlungen: Blok, Jessenin, Pasternak, sogar Jewtuschenko. Sie hätte das Gedicht der toten Frau entschlüsseln und seine verborgene Bedeutung binnen Sekunden bloßlegen können, so wie ich meine Jarygin im Dunkeln zerlegen konnte. Aber Tschinara ruhte in einem Grab auf einem Hügel mit Blick auf ein Tal und die Berge auf der anderen Seite, die uns vor China schützen, und ich war allein mit meinen Erinnerungen an Küsse, süß noch, doch verblassend, verblassend.
»Vielleicht hat unser Opfer es gar nicht selbst geschrieben. Wenn es sich als berühmtes Gedicht herausstellt, das in allen Anthologien steht, sehen wir ziemlich blöd aus«, sagte ich.
»Hältst du das für wahrscheinlich?«
Ich überlegte und schüttelte den Kopf. Vielleicht lag es daran, dass das Gedicht von Hand geschrieben war, aber ich spürte, dass es eine Bedeutung für die Frau gehabt hatte, die tot und zerstückelt vor mir lag, dass es ein Schlüssel zu ihrem Leben und ihrem Tod war. Und wenn man keine konkreten Indizien hat, lässt man sich schon mal von seinem Instinkt leiten.
Ich wollte das Blatt falten und einstecken, machte jedoch vorher ein Handyfoto. Vielleicht war das Gedicht der Grund dafür, dass diese Frau jetzt von Jussupows Skalpell geküsst wurde. Und wenn dem so war, gab es vielleicht Leute, für die es kein Erinnerungsstück, sondern eine Bedrohung darstellte. In meiner Brieftasche würde ein Schläger mit Pranken wie Rauchschinken als Erstes nachsehen; aber wie wahrscheinlich war es, dass er auch mein Handy überprüfen würde?
»Ich schick dir meinen Bericht«, sagte Jussupow.
»Hast du es noch nicht gehört? Der Flurfunk wird wohl lahm auf seine alten Tage. Ich bin von dem Fall abgezogen und suspendiert. Wahrscheinlich werde ich auch noch angeklagt.«
Jussupow starrte mich an. Wir hatten im Laufe der Jahre oft zusammengearbeitet. Er wusste, dass ich relativ ehrlich war, obwohl ich es, wenn es mir oder dem Fall passte, mit den Vorschriften bisweilen nicht ganz so genau nahm. Ich nickte ihm wehmütig zu und ging Richtung Tür, der frischen Luft entgegen. Ich hatte vor, sie mit ein paar Zigaretten zu verpesten, während ich überlegen wollte, was ich als Nächstes tun sollte.
»Jemand aus der Abteilung für ungeklärte Todesfälle wird sich bei dir melden. Die Mordkommission wird die Sache nicht anrühren, nicht ohne weitere Beweise.«
Als ich die Tür aufstieß, spürte ich das kalte Metall auf der Handfläche.
»Noch was, Kenesch. Die von Herzen kommenden Verse müssen nicht in deinen Bericht, ja? Wir wollen doch keine Welle von Suizidlyrik auslösen, oder?«
Damit ließ ich den Gestank von Blut, Eingeweiden und Hirnmasse hinter mir, zusammen mit den zerfetzten Resten eines Mädchens, das einmal hübsch gewesen war und das sich sechzig Jahre zu früh aus dem Leben gestohlen hatte.
Vom Leichenschauhaus bis zu meiner Wohnung in der Ibraimowa-Straße im Osten der Stadt ist es ein langer Fußmarsch, und auf der Route, die ich wählte, dauerte er sogar noch länger. Aber der Tag war noch kühl, bevor die letzte Sommerhitze über uns herfallen würde, und ich brauchte die Bewegung. Meine am wenigsten unsinnigen Gedanken habe ich oft, wenn ich über brüchige Bürgersteige stapfe, Schlaglöchern ausweiche und mich frage, warum meine Füße so wehtun.
Die Sowjetskaja war schon belebt, Autos, O-Busse und Marschrutki, Minibusse, drängelten um den Platz auf den Straßen. Der Bürgersteig begann sich mit jungen Frauen zu füllen, die die Abschiedsvorstellung des Sommers nutzten, um ihre Figur noch einmal in kurzen Kleidern und kniehohen Stiefeln zu präsentieren. Aber die hellen Tage wichen langsam den blasseren Schattierungen des Herbstes, bald würde die Luft so kalt und herzlos sein wie die Leichen in Jussupows Keller.
Irgendwas war faul an dem Tod des Mädchens, irgendwas passte nicht zu einer gewöhnlichen Überdosis. Der Gedanke hing mir nach wie ein Bild, das ich nur für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Augenwinkel gesehen hatte. Aber der Fall lag nicht mehr in meiner Zuständigkeit. Ich hatte andere Probleme, zuvorderst meinen Berufswechsel vom Inspektor zum Drogendealer, Mafia-Gangster und gewöhnlichen Kriminellen. Vielleicht war das Tynalijews Art, sich des lästigen Problems Akyl Borubaew zu entledigen. Niemand würde Ermittlungen anstellen, wenn ein korrupter Polizeiinspektor eine Haftstrafe in einem Gefängnis nicht überlebte, wo er zusammen mit Leuten eingeschlossen war, die er selbst dorthin gebracht hatte.
Ich machte mir keine Illusionen darüber, wie lange ich im Gefängnis Nr. 1 durchhalten würde. Wenn ich es bis zu der Haferschleimsuppe und dem mürben Brot schaffte, die dort als Abendessen gelten, wäre ich sehr überrascht. Selbst wenn hinter Gittern ein allmächtiger pachan auf mich aufpassen und für meinen Schutz sorgen sollte, würde sich ein torpedo finden, ein Mörder, der sich einen Namen machen wollte und genug Geld dafür kassierte, dass er einen Zahnbürstengriff schmelzen und eine Rasierklinge in das Plastik einlassen würde. Ein einzelner Schnitt durch meine Kehle, und ich würde verbluten, bevor Hilfe eintraf.
Ich ging die gesamte Länge der Sowjetskaja hinunter und bog dann rechts in die Toktogul-Straße ein. Hier in der Nähe des Stadtzentrums waren die Geschäfte eleganter und sehr viel teurer. Viele hatten englische Namen, um kultiviert und stilvoll zu wirken. Ich guckte gar nicht erst in die Schaufenster; es gab nichts, was ich kaufen wollte, selbst wenn ich es mir hätte leisten können.
Schließlich erreichte ich die Ibraimowa-Straße, die in sowjetischen Zeiten Prawda-Straße geheißen hatte. Tschinara hatte es immer amüsiert, dass ein Inspektor der Mordkommission in einer Straße lebte, die nach der Wahrheit benannt war. Sie meinte, es wäre Wunschdenken zu glauben, dass ich sie finden könnte. Ich hatte insgeheim immer gehofft, dass das zumindest ein bisschen der Fall war.
Ein Stück die Straße hinunter sah ich die beiden runden Kuppeln des städtischen banja, dem Badehaus, in dem man alles bekam, von einer brühend heißen Dusche über eine Auswahl verschiedener Dampfbäder und einer brutalen Massage bis hin zu Prügel mit einem Birkenzweig zur Förderung der Durchblutung.
Ich hatte das banja gemieden, seit ich darin einen Mörder ertränkt hatte, der geschickt worden war, um mich zu töten. Wegen einer eingegipsten Hand, die er einer vorherigen Begegnung mit mir verdankte, war es nicht gerade ein gerechter Kampf gewesen. Das hatte die Chancen ein wenig ausgeglichen. Ich hatte zugesehen, wie sein Körper auf den Grund des eiskalten Beckens gesunken war, dankbar für seinen Tod und schuldbewusst, weil ich nichts getan hatte, als das Wasser seine Lungen flutete und seine Wut in Angst umschlug.
Vielleicht bin ich paranoid, doch ich fand es vernünftig, mich vom Tatort fernzuhalten, damit meine Anwesenheit nicht irgendeine Erinnerung wachrief und man sich die Aufnahmen der Überwachungskameras am Eingang noch einmal ansah.
Für sehr wahrscheinlich hielt ich das nicht. Deshalb war ich überrascht, als sie mich an der Tür meines Hauses aufgriffen, als ich gerade den elektronischen Türchip aktivierte.
Sie waren gut; bevor ich Zeit hatte, zu protestieren oder um mich zu schlagen, hatten sie mich in einen unbeschrifteten fensterlosen Transporter verfrachtet. Keine Uniformen, aber dieses hohle, teilnahmslose Starren war unverkennbar. Ich fuhr nicht zum ersten Mal in einem Polizeitransporter, doch ich trug zum ersten Mal Handschellen; die eine war an meinem Handgelenk, die andere an einem D-Ring befestigt, der in den nackten Metallsitz eingelassen war. Ich kannte keinen der beiden Beamten, die links und rechts von mir saßen; der ranghöhere ment saß mir gegenüber und übte seinen bedrohlichsten Blick. Ich sollte mich eingeschüchtert fühlen.
Der Geruch von Parfüm, Pisse und Schweiß hing schwer in der Luft, mit einem Hauch von Kotze, die am Ende der Schicht nicht gründlich genug abgespritzt worden war. Vielleicht sollte es die Passagiere auf den Gestank der Zelle vorbereiten.
Ich tastete nach meinen Zigaretten und griff wegen der Handschellen unbeholfen mit der anderen Hand in meine Tasche. Der ment mir gegenüber schüttelte den Kopf. »Ne kurit«, sagte er und unterstrich den Punkt, indem er sich selbst eine Zigarette anzündete und mir den Rauch ins Gesicht blies. Ich wusste nicht genau, was schlimmer roch – das billige Nikotin oder sein saurer Atem. Manchmal sind die Klischees so übertrieben, dass man grinsen muss. Jedoch verkneift man sich das lieber, denn dann ist in der Regel Schluss mit Grinsen.
»Zur Sverdlowsk-Station, nehme ich an?«, sagte ich, ohne eine Antwort zu erwarten. Die Polizeistation Sverdlowsk hat schalldichte Keller, die bei der Lösung von Fällen Wunder wirken, wobei der Schuldige meistens gesteht, was auch immer anliegt. Manchmal kann man ihn wegen abgebrochener Zähne, aufgeplatzter Lippen oder eines ausgerenkten Kiefers nur schwer verstehen. Und mit gebrochenen Fingern ist es auch mühsam, ein Geständnis zu unterschreiben. Aber alle sind sich einig, dass es eine sehr effektive Methode ist, die Kriminalitätsrate zu senken.
Ich blickte auf meine Uhr, die passenderweise stehen geblieben war. Ich war seit drei oder vier Stunden in dem Transporter, doch die Uhr behauptete, es seien weniger als zehn Minuten gewesen. Aber selbst zehn Minuten hätten mehr als gereicht, um zur Polizeistation Sverdlowsk zu gelangen; wir hatten ein anderes Ziel. Ich verbat mir den Gedanken an die Möglichkeit, dass wir an einer Nebenstraße zwischen Bischkek und Tokmok halten könnten, wo in einem ungepflügten Acker ein Akyl-großes Loch darauf wartete, gefüllt zu werden. Lieber ging ich davon aus, dass ich aktuell noch zu nützlich war, um entsorgt zu werden.
Entweder wir hatten die Hauptstraße verlassen, oder die Schlaglöcher waren sehr viel tiefer geworden, denn der Transporter begann hin und her zu schaukeln. Weil ich die Erschütterungen mit einem gefesselten Handgelenk nicht abfedern konnte, würde mein Rücken hinterher wahrscheinlich aussehen, als wäre er von Experten bearbeitet worden. Vorausgesetzt, dass das nicht ohnehin passieren würde.
Schließlich blieb der Transporter stehen, die Fahrertür wurde geöffnet, eine Faust pochte ans Heck. Die Sonne blendete mich kurz, während die Handschelle an dem D-Ring geöffnet und um mein anderes Handgelenk wieder geschlossen wurde. Immerhin hatte ich jetzt beide Hände vor dem Körper, sodass ich das Gleichgewicht wahren konnte, als ich an die frische Luft geschubst wurde.
Ich erkannte sofort, wo wir uns befanden: Wir waren im Ala-Artscha-Nationalpark in den Ausläufern des Tienschan-Gebirges, gut vierzig Kilometer südlich von Bischkek. Wir parkten an dem Punkt, wo die Straßen enden und die Wanderwege beginnen, vor dem einzigen Hotel in der Gegend, einem seltsamen Gebäude in Form eines umgedrehten V. Der Architekt hatte offenbar einen Faible für Schweizer Alpenhotels und hatte versucht, eine Kopie zu errichten, ohne Geld auszugeben. Von außen wirkte das Gebäude abgenutzt und schäbig, als hätte es sich erst angestrengt und dann aufgegeben. Ungefähr so fühlte ich mich auch.
In dieser Höhe war die Luft dünn und frisch, auch wenn die Sonne nach wie vor brannte, sodass das Blech des Transporters Wärme ausstrahlte. Zwei Monate später wäre die Fahrt wegen der ersten Schneefälle länger und beschwerlicher gewesen, das Hotel bis zum Frühling geschlossen und die Belegschaft daheim in ihren Dörfern.
Ich war erleichtert, dass wir nicht vor dem Hintereingang der Polizeistation Sverdlowsk standen, obwohl das nicht bedeutete, dass meine Unannehmlichkeiten vorüber waren. Es braucht nicht viel Ausrüstung, um einen Menschen zu foltern. Eine Zange, einen Holzsplitter, einen Plastikeimer halb voll mit Wasser, alles ausreichend für die gewünschten Antworten. Es hängt nur davon ab, was man damit anzustellen bereit ist. Die endgültige Lösung eines Problems ist sogar noch leichter. Die Schwierigkeit besteht darin, die Leiche zu entsorgen.
Der leitende ment wies mit dem Kopf auf das Hotel, seine beiden Kumpanen packten meine Arme und führten mich zur Eingangstür. Ich überlegte, mich loszureißen und zur Baumgrenze zu sprinten, aber vor einer Kugel kann man nicht wegrennen. Mir kam der Gedanke, dass diese Männer vielleicht gar keine Polizisten waren und ich meiner Hinrichtung entgegenstolperte. Panik rumorte in meinen Eingeweiden – und niemand will mit vor Angst vollgeschissener Hose erschossen werden. Ich musste wohl gezögert haben, denn die beiden Männer packten meine Arme fester und schleiften mich vorwärts. Früher hätte ich die Aussicht auf den Tod vielleicht willkommen geheißen, damit er die Trauer beendete, die mich nach Tschinaras Sterben nicht mehr losgelassen hatte. Aber man macht weiter, man lebt mit dem Verlust, so wie man mit einer fehlenden Gliedmaße oder nur einem Auge lebt. Und nie hatte etwas so frisch, süß und lebendig geduftet wie die kühle Luft, die jetzt vom Berg herunterwehte.
»Mach keinen Scheiß«, knurrte der ment. Erst jetzt fiel mir auf, dass einer seiner Eckzähne fehlte, was ihn aussehen ließ wie einen unberechenbaren Hund, der überlegte, ob er zubeißen sollte. »Wenn wir dich hätten erledigen wollen, würdest du schon seit Stunden wie ein totgefahrenes Tier auf der Straße liegen.« Sein Lächeln wirkte wenig beruhigend. »Niemand wird dir wehtun«, fügte er hinzu. »Wenn es nicht sein muss.«
Er stieß die Hoteltür auf, und ich wurde in das Gebäude gestoßen wie ein Sack Kohle in den Keller.
Die Lobby war dunkel, das Licht war aus, das Hotel offensichtlich für den Tag beschlagnahmt. Selbst die Uhr hinter dem Empfangstresen hatte die Arbeit eingestellt und war stehengeblieben. Tynalijew saß an einem langen Tisch, flankiert von zwei weiteren Wachen, deren Hände dicht bei ihren Waffen blieben. Er nippte an einer Tasse Kaffee, verzog das Gesicht und gab drei weitere Würfel Zucker hinein. Ich stand da und wartete, dass er sprach, brüllte oder den Befehl gab, mir wehzutun.
»Sie sind ein Arschloch, Inspektor. Aber das wissen Sie ja schon.«
Tynalijews Tonfall ließ nie Wut oder Enttäuschung erkennen; er flößte einem auch so genug Angst ein. Diese Lektion hatte das kirgisische Volk während der Stalinzeit gelernt, als Menschen »verschwanden« und in einem Massengrab in Ata-Bejit endeten. Trotzdem gibt es Momente, in denen man die Stimme erheben muss, selbst wenn es einen alles kostet. Und dies war einer dieser Momente.
»Herr Minister, ich schlage mit allem Respekt vor, dass Ihre Leibwächter sich außer Hörweite zurückziehen. Schließlich stelle ich keine Bedrohung dar.«
Ich hob meine gefesselten Hände. Tynalijew musterte mich, dann nickte er seinen Leibwächtern zu. Nach einer kurzen, aber gründlichen Durchsuchung gingen sie hinaus, wobei der leitende ment sich nur so weit entfernte, dass er uns zwar nicht mehr hören, jedoch nach wie vor jede meiner Bewegungen sehen konnte.
»Sie sagen, ich bin ein Arschloch, Herr Minister. Gut möglich – nein, fast sicher –, dass Sie recht haben.«
Tynalijew sagte nichts, sondern starrte mich nur an.
»Aber damit wären wir zwei«, sagte ich im vollen Bewusstsein, was ich mit meiner Beleidigung des Ministers riskierte. Aber ich sah keine andere Möglichkeit, aus der Situation rauszukommen. Wenn ich mich verbog und nachgab, würde ich garantiert nicht nach Bischkek zurückkehren, oder nur, um im Hotel Jussupow einzuchecken, in dem immer ein Zimmer frei war.
»Das ist eine ziemlich gefährliche Schlussfolgerung, meinen Sie nicht auch?«, sagte Tynalijew mit glatter und samtener Bedrohlichkeit.
Ich zuckte die Schultern und schenkte ihm ein angedeutetes Lächeln.
»Sie sind kein Mann, der seinen Verstand von seinem Herzen bestimmen lässt, Herr Minister. Ich war Ihnen in der Vergangenheit nützlich und bin es nach dem Stand der Dinge immer noch. Aber dieses ganze Theater mit Handschellen und fensterlosen Transportern macht mir weder Angst, noch beeindruckt es mich. Sie haben mich hierherbringen lassen, um mich entweder zu töten oder mir Anweisungen zu geben. Und ich glaube nicht, dass Sie sich all die Mühe gemacht hätten, nur um mir eine Kugel in den Hinterkopf zu verpassen.«
Ich machte eine Pause, um das Zittern meiner Beine und das Beben in meiner Stimme zu kontrollieren. Tynalijew zuckte seinerseits mit den Schultern.
»Sie sind nicht wichtig genug, um Sie zu töten, Inspektor«, sagte er, »aber Sie sind das, was Lenin einen nützlichen Idioten genannt hat. Sie verfügen über eine Reihe von Fertigkeiten, die ich gebrauchen kann. Danach …?«
Er zuckte erneut mit den Schultern, winkte dem Typen, der mich hergebracht hatte, und deutete mit den Fingern das Drehen eines Schlüssels an.
Der ment war nicht glücklich, doch niemand gewinnt, wenn er dem Minister für Staatssicherheit widerspricht. Also gehorchte er, achtete jedoch darauf, mir dabei den Arm zu verdrehen. Ich lächelte und gab ihm mit einem Zwinkern zu verstehen, dass wir uns irgendwann in einer dunklen Gasse wieder begegnen würden, wenn niemand dabei war. Seine Miene verfinsterte sich noch ein bisschen mehr, während er zurück zur Tür stampfte.
Tynalijew wies auf einen Stuhl und verfolgte mit einem neugierigen Lächeln, wie ich mich dorthin schleppte.
»Sie haben Eier, Inspektor, das muss ich Ihnen lassen«, sagte er. »Es gibt nicht viele Menschen, die den Nerv hatten, mich ein Arschloch zu nennen.« Er hielt inne und blickte zur Decke. »Tatsächlich sind Sie der Einzige, glaube ich. Der noch am Leben ist.«
Tynalijew zündete sich eine Zigarette an, blies Rauch über seine Schulter und schob mir die Packung zu. Ich schüttelte den Kopf, weil ich nicht wollte, dass meine zitternden Hände mich verrieten.
»Ich habe Sie hierherbringen lassen, damit wir vor neugierigen Ohren sicher sind. Wie Sie wissen, habe ich Feinde. Dies ist ein sicherer Ort, um Sie über Ihren nächsten Auftrag zu unterrichten.«
Er machte eine Pause und bedachte mich mit einem tödlichen Blick.
»Falls das zu irgendwem durchsickert – an die Presse, Ihre Freunde oder den Mann in der Marschrutka122, können Sie mit der ruhigen Gewissheit schlafen, dass ich Sie, wenn die Leute, die ich auf Sie ansetze, Sie nicht töten, persönlich erledigen werde. Und zwar nicht kurz und schmerzlos.«
Er drückte seine Zigarette auf der Tischplatte aus. Ich roch den beißenden Gestank von verbranntem Lack und wusste, dass Tynalijew es todernst meinte.
In den nächsten zwei Stunden hörte ich mir an, was Tynalijew zu sagen hatte, während er eine Packung Zigaretten wegrauchte und fast eine ganze Flasche Malewitsch-Wokda leerte. Er kannte mich gut genug, um mir nichts anzubieten. Am Ende war er zu fünfundzwanzig Prozent betrunken, und ich war zu hundert Prozent entsetzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich bei seinem Plan auch nur ein paar Wochen überlebte, war so gering, dass ich mich lieber am Tschüi-Prospekt vom Tsum-Center stürzte. Schmerzhaft, aber immerhin schnell.
Schließlich zerknüllte Tynalijew die leere Zigarettenpackung und warf sie über die Schulter, ohne sich darum zu kümmern, wo sie landete, solange es nicht in seiner Nähe war. Wahrscheinlich die gleiche Einstellung, die er mir gegenüber hatte.
»Und, was denken Sie?«, fragte er.
»Ganz ehrlich?«, fragte ich zurück.
Tynalijew nickte.
»Es wäre einfacher, mich sofort zu erschießen, um Zeit und eine Menge Geld zu sparen.«
»Das ist nicht die Antwort, die ich hören will, Inspektor«, sagte er. »Und …«