Erinnere dich! - Max Reiter - E-Book
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Erinnere dich! E-Book

Max Reiter

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Beschreibung

Was hast du mit ihr gemacht? Du bist für ihren Tod verantwortlich. ERINNERE DICH! 20 Jahre ist es her, dass die Abiturientin Maja bei einer Wanderung spurlos verschwand. 20 Jahre, in denen ihr Freund Arno Seitz jede Erinnerung an das traumatische Ereignis verdrängt hat.  Jetzt kommt beim Abiturtreffen vieles wieder hoch – Bilder, Gefühle, längst Vergessenes. Die Freunde von damals beschließen, den Wanderweg noch einmal gemeinsam zu gehen. Und jemand, der sich nicht zu erkennen gibt, zwingt Arno, sich endlich seinen Erinnerungen zu stellen.  Er hat Maja als Letzter gesehen. Er weiß genau, wo sie an jenem Morgen waren. Er hat sie in die Höhle gelockt. Aber was ist dann passiert? »›Erinnere dich!‹ hat mich gepackt und bis zum Ende nicht mehr losgelassen. Verstörend und grandios!« Arno Strobel

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Seitenzahl: 394

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Max Reiter

Erinnere dich!

Thriller

 

 

Über dieses Buch

 

 

Was hast du mit ihr gemacht? 

Du bist für ihren Tod verantwortlich.

ERINNERE DICH!

 

Vor zwanzig Jahren verschwand die Abiturientin Maja spurlos bei einer Wanderung. Ihr Freund Arno hat seither jede Erinnerung an das traumatische Ereignis verdrängt. Doch beim Abiturtreffen beschließen die Freunde von damals, den Wanderweg noch einmal gemeinsam zu gehen. Arno gerät unter Druck, plötzlich sind da Bilder, Erinnerungen: Er hat Maja als Letzter gesehen. Er weiß genau, wo sie an jenem Morgen waren. Er hat sie in die Höhle gelockt. Aber was ist dann passiert?

 

Soghaft perfider Psychothrill, dem man nicht entkommen kann

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Die Idee zu seinem Thriller »Erinnere dich!« kam Max Reiter bei einem Klassentreffen. Manche der alten Geschichten, die erzählt wurden, hatte er anders in Erinnerung oder ganz vergessen. Und dann gibt es auch immer die eine oder andere Geschichte, an die man lieber nicht erinnert werden will. Meistens ist es eine harmlose Sache. Doch was, wenn nicht? Dem geht Max Reiter in »Erinnere dich!« auf die Spur, denn die Art, wie Menschen mit ihrer Vergangenheit umgehen, hat ihn schon immer fasziniert. Sie spielt auch in seinen Kriminalromanen aus dem München der 1950er Jahre, die er unter seinem richtigen Namen Andreas Götz veröffentlicht hat, eine wichtige Rolle. Und das Thema wird ihn sicher noch weiter beschäftigen.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Der Umschlag sah...

Acht Wochen davor

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Vier Wochen vor der Wanderung

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Eine Woche vor der Wanderung

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Die Wanderung

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Zwei Wochen später

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

Vier Tage später

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

Der Umschlag sah völlig unverdächtig aus. Weiß, wattiert, mit Briefmarke verschickt und meiner Anschrift auf einem Adressaufkleber. Das Einzige, was mich stutzig machte, war die fehlende Absenderangabe. Ich erwartete keine Sendung, dachte mir aber weiter nichts und steckte den Umschlag zusammen mit der anderen Post in meine Tasche. Oben in der Wohnung öffnete ich ihn. Er enthielt ein Handy, zusammen mit dem passenden Ladekabel. Ansonsten lag der Sendung nichts bei, das Herkunft und Zweck erklärt hätte. Ich drückte ein wenig auf den Tasten herum, das kleine Display leuchtete auf. Es war ein Billighandy, gut genug zum Telefonieren und Simsen, mehr nicht. Kein Passwort nötig. Ich konnte es sofort benutzen. Versuchsweise wählte ich die Nummer meines eigenen Handys. Es klingelte in meiner Tasche. Das Ding funktionierte also und hatte anscheinend Guthaben. Nachdenklich legte ich es zur Seite.

Es war schon Nachmittag – ich saß am Schreibtisch und war mit der Vorbereitung einer Vorlesung für das nächste Wintersemester beschäftigt –, als ich von jenseits des Flurs ein Piepen hörte. Ich unterbrach meine Arbeit und ging in die Küche, wo das Billighandy noch immer auf der Anrichte lag. Das Display zeigte an, dass eine SMS eingegangen war. Von Lost & Found. Das war zumindest der Name des Absenders, der auf dem Display zu lesen war.

Ich öffnete die Nachricht. Sie war denkbar knapp. Die Nachricht lautete:

ERINNERE DICH!

Acht Wochen davor

1

»Hab ich irgendwas im Gesicht? Oder wieso starren Sie mich die ganze Zeit an?« Die Stimme der jungen Frau klang schrill über den Gang der S-Bahn.

Ich schreckte aus meinem Dämmerzustand auf. Sie meinte doch wohl nicht mich?

»Ja, Sie.« Ihre weit aufgerissenen Augen fixierten mich. »Haben Sie genug gesehen?«

Mir war nicht bewusst, dass ich die Frau angestarrt hatte. Ich war innerlich weggetreten. Nur auf Standby. Jetzt aber war ich wach. Mein Puls jagte. Der Schweiß rann mir aus allen Poren, ich wurde in meinem Anzug regelrecht gegrillt. Nein, ich war nicht so ein Typ, wie sie dachte. Kein Gaffer. »Entschuldigung, ich … äh …. ich wollte nicht …« Sie winkte ab, so als könne kein Wort wiedergutmachen, was ich ihr angetan hatte, und wandte sich zur Seite.

Die Leute starrten mich an. Tuschelten. Ein Kichern. Galt das mir? Vor aller Augen zerfloss ich zu einer Pfütze aus Schweiß und Scham.

Die S-Bahn fuhr in eine Haltestelle ein. Ich wusste nicht, welche es war. Egal. Ich sprang auf und drängte zum Ausstieg.

»Hey, Alter. Hast du nicht was vergessen?«

Ich drehte mich um. Ein Teenager deutete grinsend auf meine Aktentasche.

Die frische Luft auf dem Bahnsteig kühlte wenigstens ein bisschen. Ich wischte mir mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn. Nahm die Krawatte ab, steckte sie in die Jacketttasche und öffnete die beiden obersten Hemdknöpfe. »Gehen Sie weiter, Mann!« Eine Schulter stieß unsanft gegen die meine. Der Mann hechtete in die S-Bahn, dann gingen die Türen auch schon zu.

Ich schaute mich um. Das war die Haltestelle Hackescher Markt. Eine zu früh. Sollte ich die nächste S-Bahn abwarten? Nein, von S-Bahnen hatte ich im Moment genug. Wenn ich mich beeilte, reichte die Zeit, um es zu Fuß noch rechtzeitig zur Uni zu schaffen. Das Seminar begann erst um vierzehn Uhr c.t. Und man würde auf mich warten. Schließlich war ich der Dozent.

Ich nahm den Weg quer über die Museumsinsel. Während ich mich langsam beruhigte, kehrten meine Gedanken zurück zu dem merkwürdigen Vorfall in der S-Bahn. Was war überhaupt passiert? Hatte ich die Frau wirklich angestarrt? Ich hatte nur dagesessen, mit einem, wie ich meinte, tagträumend leeren, ziellosen Blick. Die Frau war mir durch nichts aufgefallen, ich erinnerte mich kaum mehr an ihr Gesicht. Nein, es war ein Missverständnis gewesen, weiter nichts. Ich war nicht die Sorte Mann, die Frauen anstarrte. Kein Grund also, mich für irgendetwas zu schämen. Doch wieso tat ich es dann?

 

Im Seminarraum wurde ich schon erwartet. Ein gutes Dutzend junger Leute, größtenteils Frauen, nur wenige Männer. Ich hatte mich auf der Toilette frisch gemacht und mir die Krawatte wieder umgebunden. Als ich den Raum betrat, entschuldigte ich mich für die kleine Verspätung und nahm sofort meinen Platz an der Querseite des Rechtecks aus zusammengeschobenen Bänken ein. Ich holte meine stark zerlesene, mit handschriftlichen Randkommentaren und Post-it-Zetteln angereicherte Gesamtausgabe der Kurzgeschichten von Edgar Allan Poe aus der Aktentasche und übergab das Wort an Lena, die Studentin, die das heutige Referat halten würde.

Lena saß an der Längsseite des Rechtecks, mit der aufrechten Haltung einer Dressurreiterin. Wie von einem Gewicht beschwert hing ihr der schwere geflochtene Zopf über den Rücken hinab bis zum Steißbein. So stramm wie ihre Haltung war auch ihr Intellekt. Klar und streng war er, und was ihm an letzter Brillanz fehlte, glich sie durch Gründlichkeit aus.

Lena klappte ihren Laptop auf und begann ohne ein Räuspern ihren Vortrag, dessen Thema Poes Kurzgeschichte The Tell-Tale Heart war. Obwohl alle den Text gelesen haben sollten, was angesichts seiner Kürze keine große Mühe machte, referierte sie zunächst den Inhalt: Ein offensichtlich wahnsinniger Mann, der mehrfach behauptet, geistig gesund zu sein, tötet einen alten Mann, dessen merkwürdig aussehendes Auge ihm Angst macht. Und obwohl die Polizei keinerlei Verdacht gegen ihn hegt, offenbart er in einem irrationalen Anfall von Panik das Versteck der Leiche; einer Panik, die von einem immer lauter werdenden Geräusch ausgelöst und befeuert wird, das dem Ticken einer Uhr oder dem Schlagen eines Herzens ähnelt. Er meint, die Polizisten, die ihn befragen, müssten dieses verräterische Geräusch ebenfalls hören, doch es ist nur in seinem Kopf.

Nach der Zusammenfassung des Inhalts bot Lena als Interpretationsansatz, dass es sich bei der Geschichte weniger um eine Kriminalgeschichte über einen Mord handle, wie in der Sekundärliteratur oft zu lesen sei, sondern vielmehr um den Monolog eines Psychopathen, in dem Wirklichkeit und Wahn unlösbar ineinander verstrickt seien und der als Entstehungsgeschichte einer Psychose zu lesen sei.

Während Lena ihr Referat hielt, strichen zwei ihrer Finger immer wieder geradezu zärtlich über das Touchpad ihres Laptops, um in ihrem Redetext weiterzuscrollen. Die andere Hand lag locker am Ansatz ihres Halses, und eine Fingerspitze vollführte dort kleine kreisende Bewegungen. Nach einer Weile ließ sie die Hand sinken, und da sah ich, was sich unter ihrer Fingerspitze verborgen hatte: ein leicht erhabenes Muttermal. Und da fiel mir wieder ein, was mich am Gesicht der Frau in der U-Bahn so gefesselt hatte: ein Muttermal.

Ein herzförmiges Muttermal.

2

Am späten Nachmittag kam die Sonne heraus, und sogleich stellten sich Frühlingsgefühle ein. Da ich keine Eile hatte, stöberte ich nach dem Seminar ein wenig in den antiquarischen Büchern und Musik-CDs, die vor der Universität in Bananenschachteln angeboten wurden. Auch wenn ich noch nie auf eine echte Perle gestoßen war, deren wahren Wert nur ich erkannte – die seltene Erstausgabe eines modernen Klassikers, ein vom Autor signiertes Exemplar –, hoffte etwas in mir weiter auf den großen Fund. Nun ja, andere spielen Lotto.

»Du hast meine Nachricht also doch gekriegt«, sprach mich jemand von hinten an. Ich blickte von den Buchrücken auf. Natürlich hatte ich die dunkle, melodiöse Stimme sofort erkannt, und auch den leichten amerikanischen Akzent in der ansonsten makellosen Aussprache. Ich drehte mich um, und da stand sie vor mir, mit einem Regenmantel über dem Arm und einer ihrer riesigen Handtaschen über der Schulter: Kaitlan. Kam sie geradewegs aus New York? Aber wo war dann ihr Gepäck?

»Nachricht?«, fragte ich. »Welche Nachricht?«

»Die ich dir vor einer Stunde geschrieben habe.«

»Moment.«

Ich holte mein Handy heraus. Es war noch immer auf stumm geschaltet. Da sah ich Kaitlans Nachricht: Überraschung! Bin eben in Berlin gelandet! Ich weiß, du hast noch Seminar. Sehen wir uns danach? Bei den Buchverkäufern vor der Uni? Love, Kaitlan

»Warum bist du hier, wenn du meine Nachricht gar nicht gelesen hast?«, sagte Kaitlan.

Ich zuckte bloß mit den Schultern. »Vermutlich Gedankenübertragung.«

Das war es gewiss nicht. Anders als ich kannte Kaitlan meinen Stundenplan auswendig, und das, obwohl ich ihn ihr nur ein Mal vorgetragen hatte. Sie hatte ein phänomenales Gedächtnis. Und meine Gewohnheiten waren ihr ebenfalls bestens vertraut. Deshalb hatte sie auch ohne meine Bestätigung ahnen können, dass sie mich um diese Zeit hier finden würde.

Wir umarmten und küssten uns, gerade so intensiv, wie ich es mir als Dozent vor der Universität, wo jederzeit Studenten von mir vorbeikommen konnten, erlaubten durfte. Den Rest hoben wir uns für später auf. Ich hatte Kaitlan vermisst, aber wie sehr, merkte ich erst jetzt, da wir wieder zusammen waren.

Ich schaute sie von oben bis unten an, und sie erschien mir von Mal zu Mal strahlender: Kaitlan Kempf, meine Fernbeziehung seit eineinhalb Jahren. Sie trug ihr schulterlanges braunes Haar heute offen und wirkte selbst in der legeren Jeans-mit-Shirt-Kombi elegant gekleidet. Wenig später gingen wir auf der Suche nach einem Restaurant nebeneinander her: sie, eine amerikanische Germanistin von der Columbia University in New York; ich, ein auch nicht ganz unansehnlicher deutscher Amerikanist von der Humboldt-Universität in Berlin; ein hübsches Paar seit einem Symposium in Heidelberg über die literarische Romantik in Europa und ihre Ausläufer in Amerika.

»Wieso hast du nicht gesagt, dass du kommst?«

»Habe ich doch. Wenn du deine Nachrichten nicht liest, ist das nicht meine Schuld.«

»Das war eine Stunde vor dem Treffen. Sehr knapp, angesichts eines transkontinentalen Besuchs.«

»Ich wollte dich überraschen.«

»Quatsch.«

Sie schwieg eine kleine Weile, dann griff sie nach meiner Hand, verschränkte ihre Finger mit den meinen. »Ich brauchte eine Auszeit von Amerika. Und ich hatte befürchtet, wenn ich dich frage, hättest du vielleicht gerade keine Zeit. Wir würden andere mögliche Termine suchen, die für mich alle zu spät wären, denn ich musste jetzt weg.«

»Und wenn ich gerade jetzt keine Zeit gehabt hätte?«

Sie lächelte mich an. »Wenn ich bei dir bin, hast du immer für mich Zeit. Ist doch so?«

Ich spürte deutlich, wie ihre Hand die meine etwas fester drückte, und das gab mir – zumindest in diesem Moment – ein zwiespältiges Gefühl.

 

Wir wählten ein indisches Restaurant in der Nähe des Hackeschen Marktes, das wir schon von früheren Besuchen Kaitlans in Berlin kannten. Da wir fürs Abendessen noch reichlich früh dran waren, herrschte ziemliche Leere, nur ein paar Tische am Fenster waren besetzt. Doch für Kaitlans innere Uhr war ja gerade erst Mittag, und wenn sie hungrig war, musste sie essen, sonst bekam sie sehr schnell schlechte Laune. Wir bestellten beide Chicken Tandoori. Weil ich vermutet hatte, dass ihre Gemütslage kein Thema war, das sich auf der Straße besprechen ließ, hatte ich diesen ruhigeren Moment abgewartet, um zu fragen: »Was ist denn so schrecklich in New York, dass du derart dringend wegmusstest?«

»Alles!« Es kam so laut aus ihr heraus, dass die wenigen anderen Gäste kurz die Köpfe von den Speisekarten oder Tellern hoben. Etwas gedämpfter im Ton, aber kaum weniger nachdrücklich, fuhr Kaitlan fort: »Das Klima bei uns ist mittlerweile unerträglich. So aufgeheizt. So aggressiv. Es sind nicht nur Trump und seine Leute. Auch die, die mal vernünftig waren, werden rigoros und wollen nur noch die eigene Wahrheit gelten lassen. Keiner will mehr zuhören. Jeder hasst jeden. Völlig egal, auf welcher Seite du stehst. Überall dieselbe Rechthaberei und Gesinnungsprüfung. Und dann all diese Lügen, Halbwahrheiten, alternativen Wahrheiten. Wenn ich mir vorstelle, dass die Trump-Leute wiedergewählt werden, und danach sieht es aus …«

Ein junger Kellner trug unser Essen auf. Reis und Hühnchen dampften, der Geruch war überwältigend, und mein Hunger stellte sich bei dem Anblick ein. Kaitlans merkwürdige Stimmung zügelte meinen Appetit jedoch gleich wieder, so dass ich das wunderbare Essen vorerst unberührt ließ. Ich kannte und schätzte Kaitlan als politischen Menschen, liberal in der Gesinnung, mit klaren Prinzipien, gleichzeitig eine gute, empathische Zuhörerin. Wir hatten in unseren langen, für mich spätnächtlichen, für sie frühabendlichen FaceTime-Gesprächen oft über die politische Lage gesprochen. Dabei waren wir uns darüber einig, dass bei allen unterschiedlichen Einschätzungen, Meinungen und Interpretationen eines nie in Frage gestellt werden dürfe: die reinen Fakten.

Kaitlan begann als Erste zu essen. Ich spürte, dass sie noch längst nicht alles gesagt hatte, aber ich wollte sie nicht drängen und wandte mich ebenfalls Reis und Hühnchen zu.

»Ich denke darüber nach, ein Sabbatical einzulegen«, sagte sie, nachdem der größte Hunger gestillt war. »Die Universität geht mir auf die Nerven. Die Studenten mit ihren rigiden Ansichten werden auch immer anstrengender. Ich möchte endlich mein Buch schreiben. Das scheint mir das Einzige, wofür diese Zeit gut ist: sich zurückzuziehen und ein Buch zu schreiben.«

Kaitlan hatte schon öfter davon gesprochen, dass sie etwas schreiben wolle, ohne je konkret zu werden. Nur eines war sicher: Es sollte nichts Wissenschaftliches werden. Autobiographisch angehauchte Kurzgeschichten vielleicht, oder sogar ein Roman. Sie hatte verschiedene Ideen im Kopf, über die sie sich allerdings ausschwieg.

»Ein guter Plan«, sagte ich.

Sie schaute auf und lächelte mich an. »Freut mich, dass du das sagst. Es wird sogar noch besser: Ich überlege ernsthaft, aus New York wegzugehen. Und rate mal, wohin.«

Ich hörte auf zu kauen und sah sie an. Sicher nicht mit dem Gesichtsausdruck, den sie sich erhofft hatte. Um nicht gleich antworten zu müssen, stellte ich mich dümmer, als ich war, und fragte: »Wohin denn?«

Ihr Lächeln verschwand. »Schon verstanden.« Sie stocherte in ihrem Essen. »Ich habe nicht erwartet, dass du einen Freudensprung machst, so gut kenne ich dich inzwischen. Trotzdem, ein bisschen mehr hätte ich schon erhofft. Keine Sorge, ich habe nicht vor, bei dir einzuziehen.«

»Entschuldige«, sagte ich rasch, um den Abend nicht ganz zu ruinieren. »Es ist nur die Überraschung. Natürlich fände ich es schön, dich hier in Berlin zu haben.«

»Bemüh dich nicht. Du bist der schlechteste Lügner, den ich kenne.«

»Das sagst du nur, weil du meine guten Lügen nicht bemerkst.«

»Ha-ha. Was für ein Glück, dass ich mir für dieses Mal ein Hotelzimmer genommen habe.«

»Hast du nicht.«

»Du wirst ja sehen.«

 

Das Prasseln der Dusche drang aus dem Bad ins Schlafzimmer. Kaitlan hatte die Tür offen gelassen, wie sie es immer machte. Ich mochte das Geräusch. In jeder Hinsicht satt lag ich im Bett, mein Blick verlor sich im Weiß der Zimmerdecke. Einen trägen alten Kater hatte Kaitlan mich schon mal genannt, weil ich nach dem Sex nicht sofort aufsprang. Ich genoss lieber die Entspannung, sie gehörte für mich mit dazu. Heute allerdings war ich nicht ganz so entspannt wie sonst, denn zu vieles ging mir durch den Kopf.

Kaitlan auf Dauer in Berlin – die Vorstellung beunruhigte mich. Ich genoss jede Minute mit ihr, fühlte mich mit ihr verbunden und dachte oft an sie. Aber ich war auf eine Fernbeziehung eingestellt. Tage, meinetwegen Wochen mal diesseits, mal jenseits des Atlantiks, nicht immer nur Berlin oder New York, auch andere Städte und Gegenden. Jedes Mal war es ein bisschen so, als würden wir uns neu ineinander verlieben. Und in den Zeiten ohne den anderen zehrten wir von den schönen Erinnerungen. Außerdem gab es FaceTime. Dabei ging es mir nicht darum, das Gefühl der Verliebtheit frisch zu halten. Nein, ich mochte gerade die Vertrautheit zwischen uns, die Gewöhnung aneinander. Wir waren verwandte Seelen. Allerdings war ich ein gebranntes Kind, was Alltagsbeziehungen anging. Eine aufreibende Kurzehe, gefolgt von einer hässlichen, sich in die Länge ziehenden Scheidung, hatte mich ein für alle Mal abgeschreckt und mir meine Grenzen aufgezeigt. Beschuldigungen, echte und erfundene, die man einander an den Kopf warf, nur um den anderen zu verletzen. Streit um Kleinigkeiten. Wer was wann gesagt hatte. Wer was wie gemeint hatte. So etwas brauchte ich nie wieder. Natürlich würde es mit Kaitlan nicht so enden wie mit Bettina, denn Kaitlan war völlig anders als meine Ex-Frau. Doch es gab viele Möglichkeiten des Scheiterns, und ich wollte keine davon mit Kaitlan erproben. Dafür war mir das, was wir hatten, zu wertvoll. Auch die Möglichkeit, dass wir uns liebten, bis dass der Tod uns schied, löste in mir keine Euphorie aus, sondern eher ein Unbehagen. Mir missfiel in dieser Formulierung das Wort Tod.

Das Wasserrauschen im Bad hörte auf. Kaitlan würde jeden Moment ins Schlafzimmer kommen, und ich würde ihr zusehen, wie sie ihren durch Fitnesstraining wohlgeformten Körper mit überflüssigem Stoff bedeckte. Bequeme Sachen, gut für drinnen und auch für draußen, falls wir uns später noch mal die Beine vertreten wollten. Kaitlans Koffer stand neben der Tür, noch mit den Lufthansa-Aufklebern und Plastikbändern, wir hatten ihn nach dem Essen aus einem Schließfach am Hauptbahnhof abgeholt. Es dauerte eine Weile, bis Kaitlan endlich ins Schlafzimmer trat, in meinem Bademantel und mit nassen Haaren. In der Hand eine Karte, die ich erst auf den zweiten Blick erkannte.

»Wiedersehen macht Freude«, las sie. »Zwanzig Jahre Abitur.«

Ich fuhr hoch. Mit meiner Ruhe war es schlagartig vorbei. »Hey, meine Liebe, es gehört sich nicht, die Post anderer Leute zu lesen!« Ich beherrschte mich und ließ meinen Protest weniger ernst klingen, als es mir damit war. Ihr Verhalten war dreist und übergriffig. Aber auf Streit hatte ich keine Lust.

Kaitlan zuckte mit den Schultern. »Die Karte lag offen da.«

Dass sie nicht mal einen Anflug von Einsicht zeigte, ärgerte mich. Ich sprang auf, riss ihr die Karte aus der Hand und zerfetzte sie vor ihren Augen.

Überrascht von der Heftigkeit meiner Reaktion, sah Kaitlan mich irritiert an. »Sorry. Ich wusste ja nicht …«

Hatte ich überreagiert? Natürlich hatte ich das! Ich bereute es sofort, wegen so einer Lappalie die Beherrschung verloren zu haben, schämte mich nicht nur vor ihr, sondern auch vor mir selbst dafür. »Schon okay«, sagte ich, nun wieder kontrolliert. »Ich geh da eh nicht hin.«

»Warum nicht? Ist doch nett, die alten Freunde wiederzusehen und in Erinnerungen zu schwelgen.«

Ich schlüpfte in meine Boxershorts. »Kommt auf die Erinnerungen an.«

»Wieso? Was ist passiert?«

Die Frage klang harmlos. Was sie für mich nicht war. Ich wollte schon abwiegeln, etwas halbwegs Geistreiches sagen wie: Lehrjahre des Herzens eben. Aber irgendwas ließ mich zögern. Sollte ich Kaitlan nicht doch davon erzählen? Seit annähernd zwanzig Jahren hatte ich mit niemandem mehr über die Sache von damals gesprochen. Nicht einmal mit Bettina in den besseren Tagen, die wir ja auch gehabt hatten. Dass ich jetzt überhaupt daran dachte, diesen Teil meiner Vergangenheit mit ihr zu teilen, konnte Kaitlan auf ihrer Habenseite verbuchen. Und es würde ihr zeigen, dass meine zögerliche Haltung zu ihren Umzugsplänen nach Berlin nicht aus mangelndem Vertrauen resultierte.

»Eine Mitschülerin ist damals verschwunden«, sagte ich. »Sie tauchte nie mehr auf. Nicht mal ihre Leiche.«

Kaitlan machte einen Schritt auf mich zu. »Das ist ja fürchterlich. Stand sie dir sehr nahe?«

»Kann man sagen. Wir waren zusammen.« Ich ließ eine Pause, fügte dann hinzu: »Als Paar. Und auch als sie verschwand, war ich bei ihr. Es passierte bei einer zweitägigen Wanderung in den Bergen. Wir legten uns in der Hütte gemeinsam schlafen. Am Morgen war sie fort. Ihr Rucksack war noch da. Die Jacke fehlte. Sie musste in der Nacht oder frühmorgens aufgestanden und nach draußen gegangen sein. Was danach passiert ist, weiß keiner.«

Meine Kehle wurde eng. Ich schwieg. Konnte Kaitlan in diesem Moment nicht ansehen.

»Wie war ihr Name?«, fragte sie.

»Maja.« Ich hielt wieder kurz inne, ehe ich, mehr zu mir als zu ihr, sagte: »Sie hatte ein herzförmiges Muttermal auf der rechten Wange.«

Ich ließ mich auf der Bettkante nieder, Kaitlan setzte sich neben mich.

»Wie war Maja?«, fragte sie.

Was sollte ich darauf antworten? Wie war Maja? Sie sah toll aus, war klug, witzig, abenteuerlustig, frivol. Auch ein wenig hitzig, mit einem sehr eigenen Kopf. Jedenfalls war sie mehr als das, was ein von Minderwertigkeitskomplexen geplagter, junger Kerl wie ich sich wünschen konnte. Was für ein Mensch sie allerdings gewesen war, hinter den bezaubernden Äußerlichkeiten – das wusste ich damals nicht und heute noch viel weniger.

»Sie war einfach wunderbar«, sagte ich, wohl wissend, wie abgedroschen das klang. »Sie war meine erste richtig große Liebe, verstehst du?«

Kaitlan nickte. »The first cut is the deepest.«

So war es. Und weil das Ende ein dermaßen abrupter Absturz ins Bodenlose gewesen war, hatte mir dieser erste Schnitt eine umso tiefere Wunde zugefügt. Ich war für eine lange Zeit wie gelähmt gewesen. Hatte nichts und niemanden an mich herangelassen. Erst der Wehrdienst, den ich nach dem Abitur leistete, mit seinen vorgegebenen Strukturen und Abläufen und der Klarheit von Befehl und Gehorsam, hatte mir aus dem Loch herausgeholfen.

Kaitlan war der einzige Mensch in meinem Leben danach, dem ich von Maja erzählte, und das brachte sie mir unerwartet nah. Ich wandte mich ihr zu, nahm ihre Hände und sagte, nicht ganz frei von Sentimentalität: »Vielleicht ist es wirklich keine schlechte Idee, dass du nach Berlin kommst. Das mit uns beiden ist etwas Besonderes.«

»Und vielleicht solltest du zu diesem Abiturtreffen gehen«, sagte sie kühl. »Oder dich auf anderem Weg mit dieser Sache von damals konfrontieren. Denn ich spüre schon länger, dass es bei dir einiges aufzuarbeiten gibt. Da ist etwas Dunkles in dir, und du solltest Licht in diese Sache bringen.«

Das traf mich völlig unvorbereitet. Etwas Dunkles in mir? Was meinte sie damit? Dass ich gestört war? Ein psychisches Problem hatte? Zu einem Psychotherapeuten gehen sollte? Ich hätte sie fragen können, doch ich war sprachlos wie immer, wenn es um Gefühlsdinge ging. Solche Gespräche ermüdeten mich und endeten stets unbefriedigend, deshalb mied ich sie, wo ich nur konnte. Während Kaitlan später in der Nacht längst neben mir eingeschlafen war, lag ich wach und fragte mich zum tausendsten Mal, was es für uns bedeutete, wenn sie mich die ganze Zeit über als Mann mit Problemen gesehen hatte. Hatte ich, ohne es zu wissen, bei ihr unter Beobachtung gestanden? War die Beziehung zwischen uns für sie nie so verbindlich gewesen wie für mich? Hatten wir uns deshalb noch nie gestritten? Ich hatte das stets für einen Vorzug unserer Beziehung gehalten. Vielleicht ein Irrtum. Ich fragte mich: Wenn Kaitlan mich für einen Mann mit Problemen hielt, wieso war sie dem nie auf den Grund gegangen? Weil ich, weil unsere Beziehung es ihr nicht wert waren? Wahrscheinlich hatte ich mich vor ihr hochgradig lächerlich gemacht, weil ich glaubte, ihr Plan, nach Berlin zu ziehen, habe irgendwas mit mir zu tun. Das hatte er nicht, davon war ich inzwischen überzeugt. Und wie sollte es jetzt weitergehen?

Draußen vor dem Fenster ging das Schwarz der Nacht schon in das tiefdunkle Blau des kommenden Tages über, als ich endlich einschlief.

3

Als ich aufwachte, war das Bett neben mir leer und kein Laut in der Wohnung zu hören. Ich erschrak. Hatte plötzlich Angst. Es war ja schon einmal ein geliebter Mensch aus meinem Leben spurlos und auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Nicht, dass ich annahm, auch Kaitlan könne verschollen sein. So etwas passierte einem nicht zweimal im Leben. Und trotzdem war die Angst, entgegen aller Vernunft, da. Das Gespräch über Maja hatte sie wieder an die Oberfläche gebracht. Erst als ich Kaitlans Koffer neben der Kommode erblickte, als sichtbaren Beweis dafür, dass sie nicht einfach verschwunden war, klang die Angst ab. Doch was für ein Beweis war das? Auch von Maja war damals schließlich der Rucksack zurückgeblieben …

In der Küche lag ein Zettel auf dem Tisch. Ausgeschlafen, mein Süßer? Ich musste los zur ersten Wohnungsbesichtigung und wollte dich nicht wecken. Drück mir die Daumen! Love, Kaitlan. Mir fiel ein, dass sie gestern einen Termin erwähnt hatte, den sie von New York aus über das Internet vereinbart hatte. Aber der war erst gegen Mittag. Ein Blick auf die Uhr: Es war halb zwölf. Ich las die Nachricht noch einmal, verharrte bei Mein Süßer und Love und kam mir vor wie ein Narr, mit all meinen Mutmaßungen und Verdächtigungen. Dann ging ich unter die Dusche. Während das Wasser heiß auf mich herabprasselte und das Bad von Dampf erfüllt war, sickerten meine Zweifel und Sorgen zurück in mein Bewusstsein. Ich hatte Kaitlan gesagt, dass ich heute nicht an die Uni musste, wieso hatte sie mich trotzdem nicht geweckt? Wollte sie mich nicht dabeihaben? Oder war es ihr einfach nur egal?

Beim Frühstück, das eigentlich ein Mittagessen war, kam ich auf die Idee, dass sie mir vielleicht Fotos von der Wohnung schicken würde oder Nachrichten, in denen sie mich informierte, wie es lief, oder mich um Rat fragte. Doch mein Handy blieb still. Sollte ich mich bei ihr melden? Nein, bestimmt würde das nur stören. Sie würde sich schon melden. Je länger sie es nicht tat, desto enttäuschter war ich, ja, ich entwickelte einen leisen Groll. Dabei sagte ich mir selbst, wie verrückt es war, ihr Vorwürfe zu machen, denn sie hatte nichts versprochen oder auch nur in Aussicht gestellt. Wieso eigentlich nicht? Wäre es nicht vernünftig und naheliegend gewesen, einen Berliner mitzunehmen, der die Wohnung viel besser einschätzen konnte? So drehte sich die Gedankenmühle ununterbrochen weiter. Dass ich anfangs über ihre Idee, nach Berlin zu ziehen, keine große Begeisterung gezeigt hatte, war so gut wie vergessen.

Kaitlan kam am frühen Nachmittag zurück. Ich erwartete sie in der Küche, sagte nichts. Sie sah genervt aus. Vielleicht hoffte sie, dass ich sie in den Arm nahm und küsste. Ich stand nur da, eine Tasse Tee in der Hand, und rang mir ein dürftiges: »Und?« ab.

»Dreißig Leute«, sagte sie, »wir wurden durch die Wohnung getrieben wie eine Viehherde.«

»Was hast du erwartet?«

Sie schwieg. Ich nahm sie nun doch in den Arm, aber nur kurz, denn ich fühlte mich unwohl dabei. Das blieb ihr nicht verborgen.

»Alles okay mit dir?«, fragte sie.

»Klar.«

»Wollen wir nachher irgendwas unternehmen?«

»Ich muss gleich noch was vorbereiten.« Das war gelogen. Ich hatte nichts Dringendes zu tun.

»Schade. Muss ich mich wohl allein unterhalten. Vielleicht gehe ich in ein Museum.«

»Gute Idee.«

Ich küsste sie auf die Nasenspitze und zog mich an meinen Schreibtisch zurück, wo ich geschäftig tat, bis Kaitlan gegangen war. Danach sackte ich in mich zusammen. Ich fühlte mich wie der Idiot, der ich war. Was passierte hier? Wie war es dazu gekommen? Ich hatte Kaitlan von Maja erzählt und damit an etwas gerührt, das vielleicht besser unberührt geblieben wäre. Oder hatte Kaitlan recht damit, dass ich mich, ganz im Gegenteil, mit der Sache von damals und meinen Gefühlen dazu auseinandersetzen sollte? Dabei war ich bisher ganz gut damit gefahren, mich mit all dem nicht weiter zu beschäftigen. Die Vergangenheit ließ sich nicht ändern.

Wie auch immer, ich wollte nicht, dass diese Vergangenheit zwischen uns geriet und die Gegenwart ruinierte. Und ich wollte aufhören mit meinem kindischen Verhalten und mir keine dummen Gedanken mehr machen. Ich wollte wieder mein besseres Ich sein. Doch je mehr ich in den nächsten Tagen versuchte, ganz der Alte zu werden, desto weniger gelang es mir. Etwas verkrampfte sich. Ich stand neben mir. War nicht mehr in der Rolle, die ich üblicherweise spielte. Ich rechnete jederzeit damit, dass Kaitlan mich auf meine Schweigsamkeit, meine ironischen Bemerkungen oder was auch immer ansprechen würde, und war fest entschlossen, alles von mir zu weisen und zu behaupten, dass sie sich irre und dass alles bestens sei. Doch sie fragte nicht. Auch sonst kam nichts von ihr. Keine Bemerkung, kein Blick, einfach nichts. Sicher, sie war sehr von ihrer Wohnungssuche eingenommen, die sich weiterhin recht frustrierend gestaltete. Aber bemerkte sie wirklich nichts von meiner Verdrossenheit? Wie hätte sie ihr entgehen können, nachdem sie vorher behauptet hatte, sie habe erahnt, dass etwas tief in mir vergraben sei? War ihr meine Befindlichkeit auf einmal egal?

So verging die Woche, die Kaitlan in Berlin war. Am Tag ihres Abschieds begleitete ich sie zum Flughafen. In der Zeit davor hatte ein Teil von mir ihre Abreise kaum erwarten können. Jetzt fühlte ich einen unerwartet heftigen Trennungsschmerz. In der Abflughalle lagen wir uns in den Armen, küssten uns. Als es endgültig so weit war, löste Kaitlan sich von mir und ging zur Security. Ich blieb diesseits der Absperrbänder stehen und sah zu, wie ihr Handgepäck kontrolliert wurde. Danach drehte sie sich noch einmal zu mir um und winkte. Ich winkte zurück. Es war wie immer. Trotzdem hatte ich auf dem Heimweg ein Gefühl, als sei gerade etwas zu Ende gegangen. Als sei es ein Abschied für immer gewesen. Als hätte ich wieder eine Frau verloren, die ich mehr liebte, als mir bewusst war. Sie schrieb mir zwar nach ihrer Ankunft in New York wie üblich eine Nachricht, doch das änderte nichts an meinem Gefühl von Trauer und Verlust.

 

Ein paar Tage nach Kaitlans Abreise erhielt ich unter dem Betreff Letzte Mahnung! eine E-Mail, die mich an das Abiturtreffen erinnerte und um baldige Rückmeldung bat, ob ich kommen wolle. Bis jetzt war ich fest entschlossen gewesen, nicht hinzugehen. So wie ich das Treffen vor zehn Jahren auch schon ausgelassen hatte. Damals wie heute wollte ich nicht erneut der bemitleidenswerte Kerl sein, der mit dem Mädchen zusammen war, das spurlos verschwand. Ich erinnerte mich an Kaitlans Rat, der Einladung zu folgen. Wie kam sie auf die Idee, dass mir ein Wiedersehen mit Leuten von früher guttun würde? Leuten, mit denen ich seit einer Ewigkeit nichts mehr zu tun gehabt hatte. Sie waren Fremde für mich. So wie ich für sie ein Fremder war. Kaitlan hatte natürlich weniger das Treffen als solches gemeint, sondern mehr die Wiederbegegnung mit meiner Vergangenheit. Mit Maja und allem, was mit ihr zu tun hatte. Und mit dem ganzen Rest meines damaligen Lebens, der auch nicht gerade rosig war. Hatte sie vielleicht recht? Sollte ich hingehen? Mich noch einmal mit all dem beschäftigen, was damals passiert war?

Keineswegs zu irgendwas entschlossen, durchwühlte ich meinen Papierkorb nach den Überresten der zerrissenen Einladungskarte. Ich fand die Teile, setzte die Karte wieder zusammen und fixierte alles mit Tesafilm. Mehrfach las ich den Text:

WIEDERSEHEN MACHT FREUDE

20 JAHRE ABITUR

1999–2019

WIR FREUEN UNS AUF EUCH!

Dann folgten Ort und Zeit der Veranstaltung: früher Abend im Schwanenwirt, wo es auch Gästezimmer gab. Wer wollte, konnte vorher schon einen Rundgang durch die alte Schule machen.

Ich setzte mich an den Laptop und betrachtete die Erinnerungsmail. Dabei musste ich wieder an das herzförmige Muttermal im Gesicht der fremden Frau in der S-Bahn denken, das Majas Muttermal so ähnlich gewesen war. An das Muttermal der Studentin Lena. An Kaitlan, wie sie mir die Einladungskarte vorlas und wie ich die Karte zerfetzte. Meine unüberlegte Offenheit. Unser Abschied, schmerzhafter für mich als für sie. Es wirkte, als stünden all diese einzelnen Geschehnisse in einem inneren Zusammenhang, der mich genau vor diese Entscheidung geführt hatte. Man hätte glauben können, es stecke ein Plan dahinter. Nein, ein Plan sicher nicht, denn da ich nicht an eine Himmelsmacht glaubte, gab es niemanden, der das hätte planen können. Aber es wirkte schon wie ein Muster

Ich klickte auf Antworten und schrieb:

Danke für die Einladung. Ich komme gern.

LG

Arno Seitz

Ich ließ den Cursor über dem Pfeil für Senden kreisen. Was riskierte ich schon, wenn ich zusagte? Sollte ich es mir anders überlegen, konnte ich meine Teilnahme jederzeit absagen. Sorry, kann nun doch nicht, bin krank, Stress im Job, was auch immer. Ich klickte auf den Pfeil, und mit dem üblichen Wischgeräusch verließ die Mail mein Postfach. Zugleich setzte in mir eine kleine flackernde Unruhe ein, die eine Weile anhielt, ehe sie mich wieder verließ.

4

Das nächste Referat im Edgar-Allan-Poe-Seminar hielt ein Student namens Raimund, ein etwas verschrobener junger Mann, der seine Kommilitoninnen stets verstohlen beobachtete, jedoch nie mit einer von ihnen sprach. Mit seiner schlaksigen Gestalt, dem vorspringenden Adamsapfel und dem schon in seinem jungen Alter schütteren Haar wirkte er selbst ein wenig wie eine Figur aus einer Edgar-Allan-Poe-Geschichte. Und der Eindruck verstärkte sich noch durch die säuselnde Stimme. Es passte irgendwie zu ihm, dass er sich für seinen Vortrag die bizarre Geschichte Berenice ausgesucht hatte. Nun sind natürlich so gut wie alle Geschichten von Poe bizarr, doch diese gehörte für mich zu denen, die mich am meisten befremdeten.

Wie so oft wieder ein Ich-Erzähler am Rande des Wahnsinns, der diesmal das Grab seiner verstorbenen Frau schändet, um sich ihrer Zähne zu bemächtigen; später kann er sich an seine Tat nicht erinnern. Das Besondere an Raimunds Vortrag war nicht die biographische Deutung des Textes – Poe habe darin das inzestuöse Verhältnis zu seiner Cousine Virginia vor dem Hintergrund des frühen Todes seiner Mutter verarbeitet –, sondern dass Raimund völlig frei in nahezu druckreifen Sätzen sprach. Und nichts ließ vermuten, dass er sein Redemanuskript auswendig gelernt hatte, vielmehr entwickelte er die Gedanken anscheinend beim Sprechen. Er war auch nicht, wie die anderen Referenten, auf seinem Platz sitzen geblieben, sondern aufgestanden und hatte seinen Vortrag wie ein Schauspieler mit Gesten begleitet. Weil er manchmal laut, dann wieder sehr leise sprach, musste man sich konzentrieren, und das verlieh dem Referat eine zusätzliche Eindringlichkeit. Während er redete, fiel mir ein, dass die Geschichte von Berenice auch in meinem Leistungskurs Englisch behandelt worden war, und schon damals hatte sie mich auf eine faszinierende Weise abgestoßen, so wie einen Leichen gleichermaßen faszinieren und abstoßen konnten.

Raimund bekam für seine Darbietung lang anhaltenden Applaus, auch von mir. Er hatte uns alle überrascht, und es freute mich jedes Mal wieder, wenn jemand, dem man es nicht zugetraut hatte, über sich hinauswuchs und glänzte. Oft veränderte das den Blick auf einen Menschen nachhaltig. Ich sagte zu Raimund: »Spannender hätte es Poe auch nicht ausführen können. Fast schon ein wenig gruselig.« Raimund sagte nichts, wurde stattdessen rot im Gesicht und setzte sich an seinen Platz. Im Nachhinein war ich mir nicht sicher, ob er meine Bemerkung wirklich als das Lob aufgefasst hatte, als das es gemeint war, und nicht etwa als ironische Spitze oder gar eine als Lob getarnte kleine Gemeinheit.

Nach dem Ende des Seminars checkte ich auf dem Handy meine E-Mails. Eine Antwort mit dem Betreff Letzte Mahnung! war eingegangen.

Lieber Arno,

schön, dass du bei unserem großen Wiedersehensfest dabei bist!

LG

Das Orga-Team (Nadine, Betti, Markus, Ulrike)

Ich versuchte, mich zu erinnern, wer Nadine, Betti und Markus waren. Bei Ulrike wusste ich es sofort. Ulrike Gärtner. Sie war zu Schulzeiten mit meinem besten Freund Lukas zusammen gewesen. Ulrike, Lukas, Maja und ich – wir waren damals eine verschworene Viererbande. Die beiden waren auch bei der Wanderung dabei, von der Maja nicht zurückkehrte.

 

Die harmlose E-Mail, die ja keineswegs unerwartet kam – im Gegenteil, ich hatte mich gewundert, dass nach mehreren Tagen noch immer keine Reaktion erfolgt war –, hatte einen feinen Impuls durch meine Nerven gesandt, der auch noch anhielt, nachdem ich die Universität verlassen hatte. Ich war nicht nervös oder gar aufgeregt, spürte nur ein leichtes Zittern in mir. Bisher hatte ich der Tatsache, dass ich mich für das Abiturtreffen angemeldet hatte und somit nach fast zwanzig Jahren wieder an den Ort meiner Herkunft zurückkehren würde, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich geschenkt. Ich hatte keine alten Fotos, keine Jahrbücher und solche Dinge herausgeholt. Nichts dergleichen. Ich hatte mich anderweitig beschäftigt, und das war mir auch recht gut gelungen. Nun aber drängte es mich dazu, die verblichenen Erinnerungsstücke herauszuholen.

Wieder zu Hause, ging ich in den Keller, den ich nur aufsuchte, wenn es sich nicht vermeiden ließ, denn schon der feucht-modrige Geruch verursachte mir Übelkeit, und die höhlenartige Atmosphäre wurde nicht angenehmer durch die schwache Beleuchtung. In meinem Kellerabteil stapelten sich Umzugskisten mit all dem nutzlosen Kram, der mich aus früheren Wohnungen begleitet hatte. Jeder hat diese Kisten im Keller oder auf dem Speicher. Überwiegend sind sie gefüllt mit Sachen, die man nicht mehr braucht, aus irgendeinem Grund aber nicht wegwerfen will. So bleiben sie bis zum nächsten Umzug zu einer Art Zwischenexistenz verdammt, um dann doch in der Mülltonne zu landen.

Unter diesen Schachteln gibt es allerdings immer eine oder zwei, die von Wohnung zu Wohnung und von Keller zu Keller mitwandern, ungeöffnet und doch nie in Gefahr, für immer entsorgt zu werden. Sie enthalten Fotos, Briefe und sonstiges Gekritzel, alle Arten von Reise- und anderen Souvenirs, Freundschaftsbänder, Schlüsselanhänger, kleine Kuscheltiere und, und, und … Es sind die Überreste aller früheren Leben, die man geführt hat; es sind fossile Ablagerungen von vergangenem Glück, von Kämpfen, die man gewonnen oder verloren hat, und von ausgestandenem Kummer. Diese Kiste suchte ich und fand sie auch in der hintersten Ecke des Kellers, nachdem ich mich mühsam bis dorthin durchgegraben hatte. Von außen fühlte sie sich klamm an. Ich kontrollierte, ob sich irgendwo Mäuse hineingenagt hatten, und nahm sie erst mit hinauf in die Wohnung, nachdem ich keine Löcher entdeckt hatte.

Was mich gerade am brennendsten interessierte, war das Jahrbuch unserer Abschlussklasse. Wer waren wir gewesen? Oder besser: Wie hatten wir uns gesehen? Ich blätterte durch die Seiten, las die Namen, die Hobbys, die Zukunftswünsche und betrachtete die Fotos. Mir fiel so einiges wieder ein, das ich schon vergessen hatte. Auch zu dem jungen Mann, der ich selbst gewesen war und der mich von dem Foto mit aufgesetztem Selbstbewusstsein angrinste. Obwohl Maja erst nach dem Abitur verschwunden war, hatte dieser Verlust meine gesamte Erinnerung an die Schulzeit verdüstert, hatte die Schule in meiner Vorstellung zu einem unheimlichen Ort werden lassen.

Nun wurde mir bewusst, dass das nur die halbe Wahrheit war. Ein Ort heller Freude war die Schule für mich, den Außenseiter, zwar in der Tat nie gewesen. Ich war ein unausgeglichener Jugendlicher mit mancherlei düsteren Gedanken, einerseits introvertiert und ungelenk im Umgang mit anderen, andererseits voller Aggressionen, die ich nicht immer im Griff hatte. Die Schule hatte mir immerhin eine Zuflucht vor einem noch tristeren Zuhause ohne Inspiration und Freude geboten. Das war für einen mit meiner Herkunft schon viel. Auch wenn ich damals wie alle anderen über Schule und Lehrer lästerte – das gehörte zum guten Ton –, war ich lieber dort unter diesen Menschen als zu Hause bei meinem alten Herrn, von dem ich nur Demütigungen und Prügel zu erwarten hatte.

Als ich dann mit Maja zusammenkam, änderte sich für mich alles. Ich hatte keine Ahnung, was es bedeutete, jemanden zu lieben; und noch weniger, wie es war, geliebt zu werden. Ein Gefühl, das ich nicht kannte und dem ich lange nicht traute. Vielleicht niemals so ganz.

Nach Majas Verschwinden änderte sich erneut alles. Es war ein Absturz in einen bodenlosen Abgrund. Wo man den Aufprall ersehnte, selbst wenn er einen umbrachte, nur damit der Schmerz endlich aufhörte. Aber der Aufprall kam nicht, und der Schmerz hörte nicht auf. Er wurde lediglich gleichförmig und stumpf. Ich wusste nicht mehr, ob ich mich von den anderen zurückgezogen hatte oder ob die anderen mich mieden. Vermutlich beides. Jedenfalls überdauerte meine Freundschaft zu Ulrike und Lukas nicht einmal den Herbst nach dem Abitur. Nicht, dass wir uns zerstritten hätten. Eher das Gegenteil war der Fall. Es machte sich eine Sprachlosigkeit zwischen uns breit, die unsere Freundschaft sehr schnell aufzehrte. Ich wollte mit allem abschließen, wollte nichts mehr von früher wissen und woanders neu anfangen. Das tat ich auch. Ich absolvierte meinen Dienst bei der Bundeswehr, ging danach zum Studium nach Berlin und blieb dort.

Ich blätterte zum Foto meines damaligen besten Freundes Lukas Markwart. Lässig, ja sogar ein wenig überheblich, schaute er den Betrachter an. Er war ein Großmaul gewesen, aber mit viel Charme, so dass man es ihm nicht übelnahm. Außerdem steckte in ihm ein Kindskopf, der nichts ernst nahm, auch sich selbst nicht. Seinen Eltern gehörte ein alteingesessenes Modehaus, das so tief in der DNA unseres Ortes verankert war, dass man nur »zum Markwart gehen« sagte, wenn man meinte, man wolle neue Klamotten kaufen. Doch nicht Lukas, sondern sein älterer Bruder Winfried sollte das Geschäft einmal übernehmen. Als Berufswünsche hatte Lukas angegeben: Lokführer, Feuerwehrmann, Astronaut. Eine typische Lukas-Antwort, die bedeutete: Er hatte keinen Plan.

Dann seine Freundin Ulrike Gärtner. Das Selbstbewusstsein der Einser-Schülerin schaute ihr aus den großen Augen. Sie kam aus sehr viel einfacheren Verhältnissen als ihr Freund Lukas. Die Mutter Hausfrau, der Vater Beamter bei der Bahn. Ulrikes Berufswünsche: Psychologin, Journalistin, Schauspielerin. Was wohl aus den beiden geworden war? Dass sie immer noch zusammen waren, glaubte ich nicht. Der verwöhnte reiche Bengel und die nüchterne Schönheit von schlichter Herkunft – so was hatte keine Zukunft.

Ich setzte mich an meinen Laptop, googelte beide Namen und erhielt Treffer. Lukas war in Wendling geblieben und praktizierte dort als Zahnarzt. In einer Praxis, die seine Frau mit in die Ehe gebracht hatte. Ob Ulrike auch verheiratet war, ließ sich aus dem spärlichen Profil bei Facebook nicht erschließen, denn auf ihrer Seite war so gut wie nichts öffentlich. Immerhin gab sie ihren Beruf an. Weder Psychologin, noch Journalistin, noch Schauspielerin war sie geworden. Sie arbeitete bei der Kriminalpolizei in Rosenheim.

Vermutlich hatten die beiden mich auch gegoogelt. Was gab es über mich zu finden? Ich war weder bei Facebook noch einem anderen sozialen Netzwerk, hatte keine eigene Homepage. Über die Universität ließ sich meine wenig beeindruckende akademische Karriere herausfinden. Mein Doktortitel. Ich hatte an verschiedenen Symposien und anderen Veranstaltungen teilgenommen, hatte etliche literaturwissenschaftliche Veröffentlichungen vorzuweisen. Sonst nichts. Da ich mein Privatleben nicht zur Schau stellte, musste Außenstehenden mein Leben langweilig erscheinen. Besonders aufregend war es wirklich nicht, und das war genau das, was ich daran schätzte. Das Einzige, was mich interessant machte, war die Tatsache, dass vor zwanzig Jahren meine damalige Freundin spurlos verschwunden war. Aber um auf diesen Zusammenhang zu stoßen, musste man tief in den Eingeweiden des Internets graben.

Ich hatte bisher bewusst einen Bogen um Majas Eintrag im Jahrbuch gemacht. Nun blätterte ich ihn auf. Maja Hofmann. Ihr Foto war ein wenig unscharf, aber das passte zu ihr. Trotzdem war das herzförmige Muttermal auf der Wange, unterhalb ihres Mundwinkels, gut zu erkennen. An ihr war etwas Unstetes, schwer Fassbares, was sie für mich und viele andere Jungs umso begehrenswerter machte. Sie war der Paradiesvogel, der sich in unsere kleinen irdischen Leben verirrt hatte. Eine Zugezogene, von der niemand genau wusste, woher ihre Familie kam. Auch wenn es schrecklich ist, das zu sagen, so ist es auf poetische Weise doch wahr: Es passte zu ihr und ihrem Wesen, dass sie einfach so aus der Welt verschwand. In der Rubrik Berufswünsche standen bei ihr nur drei Fragezeichen.

Ich klappte das Jahrbuch zu, ging in die Küche und trank ein Glas Leitungswasser. Maja. Arme liebe Maja. Ich wusste nicht, ob ihre Eltern sie offiziell für tot hatten erklären lassen. Aufgrund der Umstände ihres Verschwindens war die Polizei allerdings recht bald davon ausgegangen, dass sie nicht mehr lebte. Und ich konnte mir auch nichts anderes vorstellen. Was wohl aus dir geworden wäre, Maja, wenn dein Leben einfach so weitergegangen wäre wie das unsere? Auf welche Weise hätte das Leben dir die Flügel gestutzt? Denn das tut es ja immer. Mein Blick traf auf das scharfe Fleischmesser, das auf der Anrichte lag. Ich nahm es in die Hand und betrachtete es genau, um zu sehen, ob es benutzt war. Kaitlans Worte fielen mir wieder ein: The first cut is the deepest. Was bedeutete das in meinem Fall? Ich wusste es nicht. Da die Klinge sauber war, steckte ich das Messer in den freien Schlitz am Messerblock.

Ich kehrte an den Schreibtisch zurück und legte das Jahrbuch wieder in die Umzugskiste. Dabei bemerkte ich mehrere dieser Döschen, in denen man analoges Filmmaterial aufbewahrt. Ich nahm sie heraus und spürte schon am Gewicht, dass eine Rolle darin sein musste. Ich öffnete eines, und wirklich, ein belichteter Kodak-Film. Da fiel mir wieder ein, dass ich die Filme mit den Fotos von unserer letzten Wanderung nicht zum Entwickeln gebracht hatte. Ich hätte es schwer ertragen, uns auf den Bildern unbeschwert und glücklich zu sehen, während irgendwo schon ein Verbrecher darauf wartete, Majas Schicksal zu entscheiden. Ich hätte es aber genauso wenig ertragen, dass jemand anderes meine Bilder ansah. Deshalb hatte ich sie der Polizei vorenthalten, obwohl wir aufgefordert worden waren, alle belichteten Filme abzugeben.

Inzwischen waren zwanzig Jahre vergangen. Ob auf den Filmen überhaupt noch etwas zu erkennen war? Das Haltbarkeitsdatum war weit überschritten und die Lagerung in einem feuchten Keller dem Material sicher nicht zuträglich gewesen. Wenn jemand etwas retten konnte, dann nur ein Spezialist. Wie es der Zufall wollte, kannte ich einen bestens ausgerüsteten semiprofessionellen Fotografen, der noch analog fotografierte und alle seine Filme selbst entwickelte. Ich rief ihn an und bat ihn, mir zu helfen. Er versprach es, meinte aber, ich solle mir vom Ergebnis nicht zu viel erwarten.

5

Nach meiner Vorlesung über den frühen amerikanischen Roman, in der auch die meisten meiner Studenten aus dem Edgar-Allan-Poe-Seminar saßen, kam Raimund auf mich zu. Er hatte gewartet, bis der Saal sich fast geleert und ich meine Unterlagen eingepackt hatte. Und auch dann blieb er im Abstand von einigen Metern vor mir stehen und wartete, bis ich ihn ansprach.

»Ist noch was?«

Erst jetzt trat er ganz heran. »Nichts Wichtiges, Herr Dr. Seitz.«

»Immer raus damit.«

»Ich habe etwas geschrieben und wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht einen Blick darauf werfen könnten. Falls Sie Zeit haben. Es würde mir … viel bedeuten.« Während er geredet hatte, hatte er mich nicht angesehen, sondern die meiste Zeit auf den Boden geschaut und nur ab und zu den Blick gehoben.

Das Vertrauen, das sich in dieser Anfrage ausdrückte, überraschte mich. Wodurch hatte ich es verdient? Mir fiel nichts ein, außer dass ich das Referat gelobt hatte. Allerdings wusste man ja nie, was in einem so verschlossenen Menschen wie Raimund vorging.

»Zeigen Sie mal her«, sagte ich.