"... erkämpft das Menschenrecht" - Marcel van der Linden - E-Book

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Marcel van der Linden

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Beschreibung

Für die ArbeiterInnenbewegung läuft es schlecht. Die Gewerkschaften haben viel an Macht verloren und organisieren derzeit nur noch sechs Prozent der Beschäftigten weltweit. In vielen Ländern kamen ihnen ihre Verbündeten, die sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterparteien, abhanden, entweder weil diese Parteien untergingen oder weil sie einen neoliberalen Weg einschlugen. Marcel van der Linden erklärt die wichtigsten Bewegungstypen dieser Krise, vom Beginn der organisierten ArbeiterInnenbewegung mit ihren anarchistischen und syndikalistischen Anfängen bis zu den im späten 19. Jahrhundert entstandenen sozialdemokratischen Parteien. Diesen gelangen nach dem Ersten Weltkrieg parlamentarische Durchbrüche, doch wurden sie am Ende des 20. Jahrhunderts durch Verschiebungen in den Sozialstrukturen geschwächt. Der Autor diskutiert auch die historischen Charakteristika des "bolschewistischen Modells", wie es sich in Russland entwickelte, und ruft die verschiedenen Stadien der internationalen Gewerkschaftsbewegung in Erinnerung. Abschließend entwickelt van der Linden Gedanken für eine erneuerte ArbeiterInnenbewegung, die sich erfolgreich den heutigen Herausforderungen stellen kann.

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Marcel van der Linden"... erkämpft das Menschenrecht"

Vom Aufstieg und Niedergang klassischer ArbeiterInnenbewegungen

  

© 2024 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

Coverfoto: »Der Streik« von Robert Koehler (1886), Wikimedia Commons

Lektorat: Eva Himmelstoss

ISBN: 978-3-85371-914-5(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-526-0)

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Über den Autor

Marcel van der Linden, geboren 1952, war Forschungsdirektor des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte und Professor für die Geschichte der Sozialbewegungen an der Universität von Amsterdam. Träger des deutschen Historikerpreises 2014 und seit 2023 Fellow der britischen Royal Historical Society. Er gab im Promedia Verlag den Band »Was war die Sowjetunion? Kritische Texte zum real existierenden Sozialismus« heraus.

Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Anarchismus
»Gebende« Staatsintervention
Staatsnegation in der Scharnierzeit
Schwächung des Anarchismus
Der neue Libertarismus
Eine neue Epoche
3. Syndikalismus
Wachsende Radikalisierung
Der Arbeitsprozess und die Arbeitsbeziehungen
Die Ablehnung der in der ArbeiterInnenbewegung vorherrschenden Strategie
Der Generalstreik
Regionale und geografische Einflüsse
4. Sozialdemokratische Parteien
Anfänge
Die erste Wandlung in Nordeuropa
Die zweite Wandlung
Der südliche Kontrast: zwei Wandlungen in einem
Aussichten
5. Exkurs: Bolschewismus und Leninismus
Die historische Stellung des Leninismus
Widersprüche in Lenins Theorie
Differenzen zwischen bolschewistischer Praxis und leninistischer Theorie
Schlussfolgerungen
6. Kommunistische Parteien
Die Gründungszeit
Anpassungen
Die ländliche Wende
Rückgang
7. Gewerkschaften
Erstes Stadium: Die ArbeiterInnenbewegung definiert sich selbst (bis 1848)
Zweites Stadium: Sub-nationaler Internationalismus (1848−1870er Jahre)
Drittes Stadium: Übergang (1870er bis 1890er Jahre)
Viertes Stadium: Nationaler Internationalismus (1890er bis 1960er Jahre)
Fünftes Stadium: Ein neuer Übergang (seit den 1960er Jahren)
Spekulationen über die Zukunft
8. Krise
Zwei internationale Arbeitsteilungen
Massenemigration und Unterbeschäftigung
Der Wiederaufstieg des Handelskapitals
Strukturveränderungen
9. Ausblick
Die anhaltende Notwendigkeit von ArbeiterInnenbewegungen
Aussichten

1. Einleitung

Seit einiger Zeit werden die alten Organisationen der ArbeiterInnenbewegung in Frage gestellt. So nahm der renommierte Sozialphilosoph und Journalist André Gorz 1980 AbschiedvomProletariat; drei Jahre später sprach der Historiker Erhard LucasVomScheiternderdeutschenArbeiterbewegung. Weitere vier Jahre später bemerkte die prominente deutsche Historikerin Helga Grebing über ihre eigene Partei, die SPD: »Sie ist inzwischen fast noch nicht einmal mehr eine ›interklassistische Volkspartei‹ (wie die französische Sozialistische Partei), geschweige denn eine Arbeiterpartei, was heißen soll: eine Partei der Arbeiterbewegung.« Und 1990 sprach der linke Politologe Denis Berger vom »Ende einer Ära«.1

Im vorliegenden Band möchte ich diese Entwicklung näher beleuchten. Dabei beschränke ich mich auf das, was ich die »klassische« ArbeiterInnenbewegung nenne, d. h. die ArbeiterInnenorganisationen und -aktionen, die etwa zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Ich befasse mich insbesondere mit den Geschicken und Aktivitäten von anarchistischen und syndikalistischen Organisationen, sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien und Gewerkschaften. Den kommunistischen Parteien widme ich nur Aufmerksamkeit, solange sie (noch) nicht die volle Staatsmacht errungen und damit ihren Bewegungscharakter endgültig verloren haben. Christlich-demokratische und sozial-liberale Bewegungen lasse ich überwiegend außen vor.

Der Niedergang, von dem verschiedene Kommentatoren sprechen, scheint unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt zu haben. Der Historiker Eric Hobsbawm stellte fest: »Seit Anfang der 1950er Jahre wurde deutlich, dass die sozialistischen Arbeiterparteien in den meisten Teilen der Welt, wo sie eine Massenbasis erworben hatten, nicht mehr auf dem Vormarsch waren, sondern, wenn überhaupt, eher an Boden verloren, sei es in ihrer sozialdemokratischen oder kommunistischen Form.« 2

Die große Mehrheit der klassischen ArbeiterInnen- und sozialistischen Bewegungen befindet sich in Schwierigkeiten. Die drei Hauptformen der organisierten ArbeiterInnenbewegung zeigen dies. An erster Stelle stehen die Konsumgenossenschaften. Sie gehen auf das 18. Jahrhundert zurück und erlebten ihre Blütezeit in der Zwischenkriegszeit und in der ersten Zeit danach. Die darauffolgenden Herausforderungen (das Aufkommen von Supermärkten und Handelsketten sowie ein verändertes Verbraucherverhalten) erforderten drastische Veränderungen, die die interne Demokratie der meisten Unternehmen untergruben. Eine aktuelle Analyse kommt zu dem Schluss:

»Dort, wo Genossenschaften fusionierten, um Standardisierung und Größenvorteile zu erzielen, distanzierten sich die Mitglieder durch den größeren Umfang der Genossenschaften vom allgemeinen Management, […] wodurch ihre demokratische Anziehungskraft geschwächt wurde. Im Gegensatz dazu waren Bewegungen, die eine stark dezentralisierte lokale Autonomie aufrechterhielten, […] nicht in der Lage, die notwendige Kapitalisierung vorzunehmen, um dem Wettbewerb mit den großen, nicht-genossenschaftlichen Einzelhandelsketten standzuhalten.« 3

In Großbritannien, nach Meinung vieler das Mutterland der modernen Verbrauchergenossenschaften, ist die Zahl der Organisationen innerhalb eines Jahrhunderts von über 1400 auf achtzehn gesunken.4 Ähnliche Trends sind in vielen anderen Ländern zu beobachten.5

Zweitens hat die Macht der unabhängigen Gewerkschaften in den meisten Ländern abgenommen. Als Indikator hierfür verwende ich den gewerkschaftlichen Organisationsgrad, d. h. die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder als Prozentsatz der gesamten Erwerbsbevölkerung. Mir ist klar, dass dieser Indikator gewerkschaftliche Macht nur unzureichend wiedergibt, da auch kleine Gewerkschaften energisch handeln können, indem sie radikale Aktionen unternehmen, aber dennoch muss ich feststellen, dass die Gewerkschaften derzeit weltweit nur einen kleinen Prozentsatz ihrer Zielgruppe organisieren können und die Mehrheit dieser Zielgruppe in der relativ wohlhabenden nordatlantischen Region lebt.6

Der bei weitem wichtigste globale Dachverband ist der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB), der 2006 aus dem Zusammenschluss zweier älterer Organisationen, dem säkularen, reformorientierten Internationalen Bund Freier Gewerkschaften und dem Christlichen Weltbund der Arbeit, hervorgegangen ist. Im Jahr 2014 schätzte der IGB, dass weltweit etwa 200 Millionen Beschäftigte einer Gewerkschaft angehörten (ohne die chinesische) und dass 176 Millionen davon im IGB organisiert waren. Der IGB schätzte außerdem, dass die Gesamtzahl der Beschäftigten im Jahr 2014 weltweit etwa 2,9 Milliarden betrug (von denen 1,2 Milliarden in der informellen Wirtschaft arbeiteten). Der weltweite gewerkschaftliche Organisationsgrad betrug also zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als 7 % (200 Millionen von 2,9 Milliarden). Inzwischen dürfte er auf nur noch 6 % oder weniger gesunken sein. In den OECD-Ländern sank der gewerkschaftliche Organisationsgrad zwischen 2000 und 2019 von 20,9 auf 15,8 %.7 In vielen Ländern zeigt die langfristige Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung ein »gebirgiges« Muster, wie zum Beispiel im Fall der Vereinigten Staaten (Abbildung 1.1).

Abbildung 1.1: Gewerkschaftlicher Organisationsgrad in den Vereinigten Staaten, 1880−2018

Quelle: Ryan Nunn, Jimmy O’Donnell u. Jay Shambaugh, »The Shift in Private Sector Union Participation: Explanation and Effects«, The Hamilton Project Paper, Brookings, August 2019, S. 3: https://www.hamiltonproject.org/assets/files/UnionsEA_Web_8.19.pdf.

Das dritte wichtige Element der ArbeiterInnenbewegungen sind die politischen Organisationen. Der Anarchismus unter den ArbeiterInnen und armen Bauern/Bäuerinnen blühte etwa zwischen 1870 und 1940 auf, wobei er in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg weltweit seinen Höhepunkt erlebte. Der revolutionäre Syndikalismus hatte, global gesehen, zwischen 1900 und 1940 seine Blütezeit. Auch den Sozialdemokratischen und Labour-Parteien geht es in letzter Zeit nicht gut; ihre größte Popularität bei den WählerInnen erreichten die meisten zwischen 1920 und 1989.8

Darüber hinaus wurden etliche kommunistische Parteien in nichtkommunistischen Ländern nach Wahlniederlagen, Spaltungen oder finanziellem Bankrott aufgelöst. Die meisten anderen haben einen schweren Stand. Auch hier ist oft ein »bergiges« oder »parabolisches« Muster zu beobachten, wie die Wahlentwicklung vieler Parteien zeigt.9

Ein weiterer wichtiger Faktor, der bei all dem eine Rolle spielt, ist das endgültige Scheitern der »realsozialistischen« Versuche in der Sowjetunion, in Osteuropa, China und Südostasien. Das Sowjetimperium ist zusammengebrochen, und China und Vietnam haben den Weg zum Kapitalismus eingeschlagen. Obwohl es vor dem Zusammenbruch fast überall viel Kritik an den »kommunistischen« Gesellschaften gab, war diese Entwicklung für viele Linke demoralisierend, denn damit war scheinbar der praktische Beweis erbracht worden, dass eine nicht-kapitalistische Gesellschaft auf Dauer unmöglich ist.

Alles in allem scheinen die obigen Ausführungen auf drei Dinge hinzudeuten: Weltweit sind die Konsumgenossenschaften entweder darnieder gegangen, oder sie haben sich in Einzelhandelsunternehmen verwandelt, wo die Mitglieder nicht mehr über demokratische Macht verfügen. Die Gewerkschaften sind nicht nur eine schwache Kraft, sondern ihre Macht nimmt sogar ab; und in vielen Ländern haben die Gewerkschaften ihre Verbündeten, die ArbeiterInnenparteien, verloren, entweder weil diese Parteien untergegangen sind oder weil sie neoliberale Positionen übernommen haben. Der Niedergang der ArbeiterInnenbewegungen scheint fast allumfassend zu sein.

Über die klassischen ArbeiterInnenorganisationen ist in vielen Sprachen viel geschrieben worden, in der Regel in Form chronologischer Erzählungen, in denen Führungspersönlichkeiten, Kongresse und wichtige Ereignisse hervorgehoben werden. Dieser eingeschränkte Ansatz hat zwei wesentliche Schwächen. Er verwendet einen engen ArbeiterInnenklassenbegriff, der sich auf LohnarbeiterInnen in der Industrie, den Bergwerken, Häfen und der Landwirtschaft beschränkt. Hausfrauen, Bedienstete usw. kommen dabei nicht vor. Und zudem wurden die ArbeiterInnen selbst und »die wirtschaftlichen und technischen Bedingungen, die das Wirksamwerden von Arbeiterbewegungen ermöglichten bzw. verhinderten«, 10 vernachlässigt.

Es ist aber wichtig, die Geschichte der ArbeiterInnenorganisationen in ihren breiteren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontext zu stellen, um verstehen zu können, weshalb viele dieser Organisationen in Schwierigkeiten geraten sind. »Was wir brauchen, ist eine Theorie, die die interne Logik von Organisationsformen mit den sozialen Kräften außerhalb der Organisation in Beziehung setzt.« 11 Es ist wichtig, Organisationen als (temporäre) Kristallisationen zu sehen, als kontextgebundene, mehr oder weniger formal strukturierte menschliche Konstrukte. Jede Organisationsform drückt in erster Linie ein kollektives Reagieren auf eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklung aus.

Der Abwärtstrend hat zwei wesentliche Auswirkungen. Erstens den Aufstieg rechtsextremer Parteien, die die »einheimischen« ArbeiterInnen gegen »die AusländerInnen« ausspielen und so versuchen, die alten ArbeiterInnenparteien zu verdrängen. Und zweitens den Aufstieg von Nichtregierungsorganisationen, die teilweise Aufgaben übernommen haben, für die traditionell die internationale Gewerkschaftsbewegung zuständig gewesen wäre.

Die Krise der ArbeiterInnenbewegungen scheint das Ende eines langen Zyklus zu markieren. Nach einem Vorspiel im 14. Jahrhundert sind seit dem 18. Jahrhundert zahllose Bemühungen um Selbstorganisation und politische Artikulation von ArbeiterInneninteressen zu beobachten, die unter anderem mit den Revolutionen in Haiti (1791), Russland (1917) und Bolivien (1952) und dem Aufstieg mächtiger ArbeiterInnenorganisationen in Teilen Amerikas, Europas, des südlichen Afrikas, Ostasiens und des westlichen Pazifiks ihren Höhepunkt erreichten. Natürlich bestand dieser Fortschritt nicht ausschließlich aus Erfolgen, und die Niederlagen mögen die Siege sogar überwiegen. Lange Zeit schien es jedoch so, als ginge der allgemeine Trend in Richtung Verbesserung: »Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!« Inzwischen hat sich dieser Trend umgekehrt.

Der vorliegende Band versucht die Krise zu erklären durch eine Analyse der Entwicklungslogik der wichtigsten Bewegungstypen. Das Kapitel zwei zeigt auf, wie der Wandel des staatlichen Handelns im 19. Jahrhundert zum Aufstieg des Anarchismus führte und wie dieser Anarchismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch die Entstehung von Wohlfahrtsstaaten wieder untergraben wurde.

Kapitel drei rekonstruiert, wie sich ein Teil der neu entstandenen Massengewerkschaften Ende des 19. Jahrhunderts zum (revolutionären) Syndikalismus hin wandte. Das Aufkommen des Wohlfahrtsstaates und die langfristige Integration der ArbeiterInnen in die entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften ließen den Bewegungen schließlich nur drei Optionen: Marginalisierung, Aufgabe der Prinzipien oder Auflösung bzw. Aufgehen in einer nicht-syndikalistischen Gewerkschaft.

Kapitel vier zeigt, wie die im späten 19. Jahrhundert entstandenen sozialdemokratischen Parteien in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg parlamentarische Durchbrüche erlangten, aber gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch Verschiebungen in den Sozialstrukturen, das Entstehen neuer sozialer Bewegungen und Kulturveränderungen zunehmend geschwächt wurden.

Kapitel fünf diskutiert die historischen Charakteristika des »bolschewistischen Modells«, wie es sich in Russland bis 1918 entwickelte. Der Text hebt hervor, dass Bolschewismus und Leninismus nie deckungsgleich waren und dass die Oktoberrevolution wahrscheinlich nur deshalb gelingen konnte, weil die bolschewistische Partei nichtreinleninistisch war.

Kapitel sechs verfolgt die Entwicklung der kommunistischen Parteien seit der Oktoberrevolution 1917. Hervorgehoben wird die Gabelung dieser Bewegungen. Ein Zweig beteiligte sich, wo möglich, an parlamentarischen Aktivitäten, entwickelte sich, oft nach scharfen Kurswechseln, nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr in eine reformistische Richtung und befand sich, vorwiegend schon vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, im Niedergang. Ein anderer Zweig vollzog (vor allem in Asien) eine Wendung weg von den ArbeiterInnenklassen hin zum Bauerntum.

Kapitel sieben analysiert die Stadien der internationalen Gewerkschaftsbewegung seit der sogenannten Ersten Internationale im 19. Jahrhundert bis heute und legt dar, warum sie sich seit einigen Jahrzehnten in einer noch unklaren Übergangsphase befindet.

Kapitel acht bringt die gemachten Analysen zusammen und bespricht die Paradoxie einer weltweit zunehmenden Proletarisierung parallel zu einer Schwächung der ArbeiterInnenbewegungen. Die weltweite Gleichzeitigkeit der Krise der Bewegungen lässt vermuten, dass nicht das Scheitern einzelner Organisationen bzw. deren Führung die Hauptursache bildet, sondern dass hier allgemeinere Faktoren zum Tragen kommen. Hervorgehoben werden u. a. die Wiederkehr des Handelskapitals und des Verlagswesens sowie die Verinnerlichung der Normen abstrakter Arbeit beim größten Teil der Lohnabhängigen in der nordatlantischen Region.

Kapitel neun bespricht kurz die künftigen Perspektiven von ArbeiterInnenbewegungen im Allgemeinen und entwickelt Gedanken für eine erneuerte ArbeiterInnenbewegung, die sich erfolgreich den heutigen Herausforderungen stellen kann.

Das Buch als Ganzes soll nicht mehr als einen ersten Anstoß für weitere Analysen geben. Eine umfassende kritische Interpretation von zweihundert Jahren ArbeiterInnenbewegung ist eine Aufgabe, die wahrscheinlich nicht von einer Einzelperson geleistet werden kann, sondern am besten durch einen intensiven Dialog zwischen HistorikerInnen und SozialwissenschaftlerInnen aus vielen Teilen der Welt.

Gendering

Wo es möglich war, habe ich die weibliche Form durch ein Binnen-I berücksichtigt, also zum Beispiel ArbeiterIn statt Arbeiter. Allerdings habe ich zwei Ausnahmen gemacht: Zitate von anderen AutorInnen habe ich grundsätzlich unverändert gelassen, und in historischen Situationen, die ausschließlich Männer betreffen, habe ich nur die männliche Form verwendet.

Provenienz

Dieses Buches stützt sich in mancher Hinsicht auf Teilanalysen, die ich früher veröffentlicht habe. Ich erwähne insbesondere meine Bücher Transnational Labour History (Aldershot 2003), Workers of the World (Leiden u. Boston 2008; deutsche Übersetzung Frankfurt/Main u. New York 2017); The World Wide Web of Work (London 2023), und Aufsätze in Economic and Political Weekly (2017), Sozial.Geschichte Online (2022), und natürlich auch meinen Beitrag im Gedächtnisband für den viel zu früh verstorbenen Thomas Welskopp: Gleb Albert, Daniel Siemens u. Frank Wolff (Hg.), Entbehrung und Erfüllung:Praktiken von Arbeit, Körper und Konsum in der Geschichte moderner Gesellschaften (Bonn 2021).

Dank

Das dritte Kapitel (Syndikalismus) basiert auf einem Text, den ich vor einiger Zeit mit meinem kanadischen Kollegen Wayne Thorpe geschrieben habe. Unser damaliger Gedankenaustausch war eine wichtige Grundlage für dieses Buch.

Im Laufe der Zeit hatte ich außerdem das Glück, mit einigen FreundInnen und KollegInnen zu diskutieren, die meine Gedanken kritisiert, geschärft oder ergänzt haben. Ich stehe in der Schuld von Görkem Akgöz, Sven Beckert, Pepijn Brandon, Jan Breman, Eddie Cottle, Ralph Darlington, Angelika Ebbinghaus, Leon Fink, Chitra Joshi, Don Kalb, Amarjit Kaur, Jürgen Kocka, Andrea Komlosy, Sandrine Kott, Sigi Mattl, Catharina Lis, David Mayer, Nicole Mayer-Ahuja, Prabhu Mohapatra, André Mommen, Alice Mul, Dieter Nelles, Magaly Rodríguez García, Karl Heinz Roth, Beverly Silver, Dilip Simeon, Hugo Soly, Heinz Sünker, Raquel Varela, Jelle Visser, Berthold Unfried, Michael Vester und Susan Zimmermann.

Mein Verleger bei Promedia, Stefan Kraft, hat die Herausgabe dieses Buches mit großem Geschick und Enthusiasmus betreut und einige Teile selber aus dem Englischen übersetzt, nachdem zuvor Rosemarie Giese, Klaus Mellenthin und Irmgard Schrand ebenfalls Teile ins Deutsche übertragen hatten. Eva Himmelstoss hat dann mit ihrer bekannten Akribie dem gesamten Text den letzten Schliff gegeben. Ich bin allen zu großem Dank verpflichtet.

Das Buch hätte nicht veröffentlicht werden können ohne die finanzielle Unterstützung durch zwei Institutionen, denen ich mich sehr verbunden fühle, nämlich des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam und der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts in Bremen.

Amsterdam, 31. Juli 2024,Marcel van der Linden

1Adieux au prolétariat. Au delà du socialisme (Paris 1980). Deutsche Übersetzung: Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus (Reinbek 1987); Erhard Lucas, Vom Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung (Basel u. Frankfurt 1983); Helga Grebing, »›Abschied von der Arbeiterbewegung‹ – Ein international vergleichbares Phänomen in nachindustriellen Gesellschaften?«, Gewerkschaftliche Monatshefte, 1987−2, S. 76−91, hier 89−90; Denis Berger, »Mouvement ouvrier: la fin d’une ère«, L’Homme et la société, H. 98 (1990), S. 59−75.

2 Eric Hobsbawm, »The Influence of Marxism 1945−83«, in: Hobsbawm, How to Change the World. Marx and Marxism 1840−2011 (London 2011), S. 344−84, hier 361.

3 Silke Neunsinger u. Greg Patmore, »Conclusion: Consumer Co-operatives Past, Present and Future«, in: Mary Hilson, Silke Neunsinger u. Greg Patmore (Hg.), A Global History of Consumer Co-operation since 1850 (Leiden u. Boston 2017), S. 729−751, hier 748−749. Eigene Übersetzung.

4 Andrew Bibby, »Why are Co-operative Societies on the Decline?«, The Guardian, 14. November 2013.

5 Peter Kramper, »Why Cooperatives Fail: Case Studies from Europe, Japan, and the United States, 1950−2010«, in Patrizia Battilani u. Harm G. Schröter (Hg.), The Cooperative Business Movement, 1950 to the Present (Cambridge 2012), S. 126−149.

6 Zur Problematik des gewerkschaftlichen Organisationsgrades als Indikator: Pietman Roos u. Derek Yu, A Critique of Union Density as a Measure of Union Strength in South Africa (Stellenbosch Economic Working Paper WP04/2023), www.ekon.sun.ac.za/wpapers/2023/wp042023, abgerufen 21. Mai 2024. Eine aktuelle Studie, die ein anderes Maß verwendet, kommt jedoch ebenfalls zu dem Schluss, dass »in mehr industrialisierten Ländern (…) die Stärke der kollektiven Arbeitskraft rückläufig ist.« Anne Metten, »Rethinking Trade Union Density: A New Index for Measuring Union Strength«, Industrial Relations Journal, 52 (2021), S. 528−549, hier 541.

7https://stats.oecd.org/viewhtml.aspx?datasetcodeTUD&langen, abgerufen 21. Mai 2024.

8 Für eine ausführlichere Analyse siehe Marcel van der Linden (Hg.), The Cambridge History of Socialism, 2 Bde. (Cambridge 2023). Relevant ist auch Tabelle 4.1 im vorliegenden Band.

9 Der Begriff »parabolisch« stammt von Philippe Buton, »Les effectifs communistes en Europe occidentale depuis 1968«, Communisme, H. 17 (1988), S. 6−29, hier 10 u. 12.

10 Eric Hobsbawm, Labouring Men. Studies in the History of Labour (London 1964), S. VII.

11 Jerry Lembcke, »Class and Class Capacities: A Problem of Organizational Efficacy«, in: Rhonda F. Levine u. Jerry Lembcke (Hg.), Recapturing Marxism. An Appraisal of Recent Trends in Sociological Theory (New York 1987), S. 64−95, hier 86.

2. Anarchismus

Während der Begriff »Anarchie« in der Bedeutung von »Herrschaftslosigkeit« (αvαρχια) aus der griechischen Antike stammt und einen vorwiegend negativen Klang besaß, entstand das Wort »anarchiste« in der Französischen Revolution und wurde dort vor allem als Pejorativbezeichnung für die Jakobiner verwendet. Zur politischen Theorie entwickelte der Anarchismus sich erst in den Jahren nach 1848, obwohl es frühere Ansätze gab, z. B. in William Godwins Enquiry Concerning Political Justice (1793) und Max Stirners (das ist Johann Caspar Schmidt) Der Einzige und sein Eigentum (1845). Es waren insbesondere Pierre-Joseph Proudhon (1809−1865), Michail Bakunin (1814−1876) und Petr Kropotkin (1842−1921), die die anarchistische Theorie voll entwickelten.

Obgleich sich im Laufe der Zeit ein breites Spektrum anarchistischer Theorien bildete, lassen sich einige grundlegende Gemeinsamkeiten erkennen. Das Ziel des Anarchismus ist die freiwillige Assoziation aller Menschen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Erfüllung von zwei Voraussetzungen erforderlich. Negative Bedingung ist die vollständige Abschaffung des Staates, entweder durch seine gewaltsame Zerschlagung oder durch seine Nicht-Beachtung. Positive Bedingung ist der ansatzweise Aufbau der neuen Gesellschaft innerhalb der alten durch Organisationsformen und Kampfmittel, welche die angestrebte freie Assoziation präfigurieren.

Antistaatliche Tendenzen gab es natürlich schon vor Tausenden von Jahren. Der historische Soziologe Charles Tilly argumentierte Folgendes: »Wenn Schutzgelderpressung das organisierte Verbrechen schlechthin darstellt, dann sind Kriegsrisiko und Staatsmacherei – essenzielle Schutzgelderpressung mit dem Vorteil der Legitimität – unsere besten Beispiele für organisiertes Verbrechen.« 12 Mit Recht wies Tilly darauf hin, dass Staaten in Kern eigentlich nichts anderes sind als historisch erfolgreiche kriminelle Banden, die ein bestimmtes Maß von Legitimität erworben haben. Sie erpressen die eigene Bevölkerung zu finanziellen und Dienstleistungen und bieten im Tausch dafür Schutz gegen andere Staaten.

Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass Bauern und andere, die sich dazu in der Lage sahen, sehr oft dem staatlichen Machtbereich ausgewichen. Mein Amsterdamer Kollege Willem van Schendel – spezialisiert auf süd- und südostasiatische Geschichte – wies vor etwas mehr als zwanzig Jahren darauf hin, dass es im Norden Indochinas, in Thailand, Burma und Südwest-China ein riesiges, gebirgiges Gebiet gibt, wo ethnische Minderheiten leben, die sich bis heute mit Erfolg staatlicher Eingriffe entziehen. Dieses Gebiet hat eine Oberfläche von circa 2,5 Millionen Quadratkilometern und wird Zomiagenannt. Der Begriff stammt von Zomi, was im Tibetisch-Burmanischen »Hochländer« (highlander) bedeutet.13 Der bekannte Anthropologe James C. Scott hat den Zomia-Gedanken ausgearbeitet. In seiner Studie aus 2009, The Art of Not Being Governed,versucht er zu beweisen, dass die Zomia-Bewohner sich bewusst der Moderne entziehen, um in ihren kleinen Gemeinschaften zu leben. Zomia ist seines Erachtens das größte Gebiet auf Erden, das nicht von Staaten absorbiert worden ist.14

Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass es in anderen Teilen der Welt gleichfalls Zomias gab und noch gibt, nur fallen sie kleiner aus. Bekannt ist z. B. das Great Dismal Swamp (der »Große Schreckliche Morast«) in den USA, in Virginia und South Carolina. Das Gebiet von ungefähr 4000 Quadratkilometern diente u. a. im 19. Jahrhundert als Zufluchtsort von mindestens tausend entlaufenen Sklaven und Sklavinnen und war auch das Zuhause vieler Amerinder (Indianer).

Sehen wir uns diesen Staat als Schutzgelderpresser, als organisiertes Verbrechertum, genauer an. Den größten Teil der Menschheitsgeschichte hindurch gab es bekanntlich keinen Staat. Unsere Vorfahren waren Jäger und Sammlerinnen, später auch halb-nomadische Bauern. In der vormodernen Periode (grob gesagt die Zeit, die wir mit dem Feudalismus und Absolutismus assoziieren) waren Staaten für die Unterschichten in allen Teilen der Welt kaum sichtbar, und wenn sie sichtbar wurden, war das für die meisten Menschen absolut kein Vergnügen. Die frühen Staaten verwendeten gewöhnlich ein System indirekter Herrschaft. Sie griffen fast niemals direkt in das tägliche Leben der einfachen Menschen ein, sondern nur über relativ autonome örtliche Vertreter. Und wenn sie dann in dieses Leben eintraten, dann ging es vor allem um das Nehmen (Geld, Güter, Menschen) und höchst selten um das Geben.

Solche Staaten bestanden wesentlich aus drei Kernbereichen: einem Apparat zur Besteuerung der Bevölkerung; einem Apparat zur Ausübung von Gewalt, sowohl nach außen als auch zur Unterdrückung rebellischer Tendenzen im Inneren; und einem Zentrum, wo die großen Entscheidungen fielen (ein Königshaus zum Beispiel). Diese drei Apparate sind noch immer das Rückgrat aller Staaten, wo und wann auch immer.

Menschen aus den unteren Klassen, die unter solchen Verhältnissen Verschlechterungen widerstehen oder ihr Los verbessern wollten, dachten nicht in erster Linie – und wahrscheinlich überhaupt nicht – an den zentralen Staat. Als in Europa und Nordamerika der Kapitalismus aufzublühen begann und größere ArbeiterInnen- und HandwerkerInnen­gruppen entstanden, entwickelten sie in dieser frühen Phase deshalb vor allem Alternativen, in denen der Staat keine bedeutende Rolle einnahm. Gewerkschaften, Gesellenvereine usw. waren buchstäblich transnational und koordinierten nicht selten Aktivitäten über Staatsgrenzen hinweg. Alternative Vorstellungen bezogen sich auf autonome Kooperationen und Experimente. Auch die Idee der sozialen Revolution war in dieser Periode für viele attraktiv, wurde doch der Staat oft als ein feindlicher und fiskalischer Apparat, der besser schnell aus dem Weg geräumt werden sollte, aufgefasst. In einem gewissen Sinne bestand die große Mehrheit der Untertanen in diesen Jahrhunderten aus AnarchistInnen – aber AnarchistInnen ohne anarchistische Ideologie.

»Gebende« Staatsintervention

Diese Phase kam als Folge der napoleonischen Kriege und deren Nachwirkungen in dem »langen 19. Jahrhundert« an ihr Ende. Die immensen Bürgerarmeen des nachrevolutionären Frankreichs und anderer Länder, die das französische Beispiel kopierten, sowie das Aufkommen beträchtlicher, umfangreicher Steuersysteme bewirkten ein qualitativ stärkeres Bemühen des Staates gegenüber den alltäglichen sozialen Verhältnissen. Die Grundstruktur des »nehmenden« Staates blieb natürlich erhalten, aber der Staat übernahm zusätzliche Aufgaben. Diese Wendung ging einher mit einem Übergang zur direkten Herrschaft, wobei die zentralen Behörden begannen, sich viel unmittelbarer mit der Bevölkerung zu befassen, als es früher der Fall gewesen war. Direkte Herrschaft hatte ihrerseits zu Folge, dass sich der Interventionsbereich des Staates schnell auszudehnen begann. Die nichtmilitärischen Staatsausgaben stiegen sprunghaft. Staaten begannen, in die Arbeitsbedingungen einzugreifen, in den Unterricht, die Armenfürsorge, in Wohnungswesen, Kommunikation und Transport. Mehr oder weniger parallel wurden Überwachungssysteme entwickelt, die darauf zu achten hatten, dass keine für die Staaten und ihre Klienten bedrohlichen Protest- oder Widerstandsformen entstanden.15

Diese Tendenz wurde noch bedeutend gestärkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich die Rollen von Staat und Markt im nordatlantischen Raum, aber auch anderswo veränderten. In weiten Teilen Europas und Nordamerikas begann die kapitalistische Wirtschaft mit ihrer Dynamik und ihren unvermeidlichen periodischen Krisen in immer weitere Teile der Gesellschaft vorzudringen; zuerst natürlich in Großbritannien, aber bald auch anderswo. Die städtische Wirtschaft florierte, und die ländlichen Gebiete wurden in den Handel integriert. Diese Entwicklung verlief sehr ungleichmäßig, und es blieb eine hartnäckige Trennung zwischen Industrie- und ländlichen Gebieten bestehen. In den 1840er Jahren begann die Integration der britischen Arbeitsmärkte.16 In den Vereinigten Staaten dauerte dieser Prozess mindestens vierzig Jahre länger.17

Parallel zu dieser Entwicklung, aber auch als Teil davon, fanden zwischen 1850 und 1880 große Veränderungen in der Rolle des Staates statt. Die Vereinigten Staaten wurden nach dem Bürgerkrieg von 1860−65 neu konstituiert, die Leibeigenschaft wurde 1861 in Russland abgeschafft, in Österreich-Ungarn kam 1867 die Doppelmonarchie zustande, während in Japan 1868 die Meiji wiederhergestellt wurde. Sowohl Italien als auch Deutschland wurden 1870−71 vereinigt. Und so weiter. Der Wettbewerbsdruck zwischen den Staaten war wahrscheinlich die Hauptursache für diese Art von Veränderungen, obwohl auch innenpolitische Herausforderungen eine Rolle spielten.18 Es entstanden relativ umfassende Steuersysteme – mit unterschiedlichem Tempo in den verschiedenen Ländern –, und die nichtmilitärischen Staatsausgaben wuchsen. Die Staaten »begannen, Arbeitskonflikte und Arbeitsbedingungen zu überwachen, nationale Bildungssysteme einzurichten und zu regulieren, Hilfe für die Armen und Behinderten zu organisieren, Kommunikationsleitungen aufzubauen und zu unterhalten, Zölle zugunsten der heimischen Industrien einzuführen.« 19 Der anarchosyndikalistische Theoretiker Gerhard Wartenberg (H. W. Gerhard) bemerkte schon während der Weimarer Republik:

»Der Staat hat sozial notwendige Funktionen übernommen, er ist in die Gesellschaft hineingewachsen. […] Ich leugne […] keineswegs, daß der Staat neben diesen sozialen Funktionen noch seine alte Unterdrückerrolle weiterspielt, daß er dem Kapital willfährig ist. Aber ich will darauf aufmerksam machen, daß der Staat heute weitgehend Funktionen übernommen hat, deren Erfüllung notwendig ist, deren Nichterfüllung Desorganisation, Hunger zur Folge haben würde.« 20

Damit wuchs nicht nur der Einfluss der Staaten, sondern auch deren Umfang. Zuvor war der Staatsapparat sehr klein gewesen (1848 hatte das britische Innenministerium insgesamt nur zweiundzwanzig ständige Beamte, Türhüter und dergleichen ausgenommen 21), aber nun begann sich dieser Staatsapparat in eine Bürokratie umzuwandeln, und die Zahl des Verwaltungspersonals stieg stark an. Natürlich führten diese Innovationen zu einem explosionsartigen Anstieg der Staatsausgaben. Um 1890 formulierte der Ökonom Adolph Wagner sein »Gesetz«, das besagt, dass der Anteil der öffentlichen Ausgaben parallel zum Volkseinkommen steigt. Dafür gebe es drei Gründe: die Ersetzung privater Aktivitäten durch öffentliche Aktivitäten; die Erhöhung der Ausgaben für Kultur, Bildung und Wohlfahrt; und die Verstaatlichung natürlicher Ressourcen.22

Staatsnegation in der Scharnierzeit

Diese Entwicklungen erforderten eine grundlegende Neuorientierung der entstehenden ArbeiterInnenbewegungen und der ihnen eng verbundenen SozialistInnen. Zuvor – etwa bis zu den Revolutionen von 1848/49 – hatten sie den Staat ja normalerweise nicht als Lösung sozialer und wirtschaftlicher Probleme betrachtet. In den seltenen Fällen, in denen Staaten in den Alltag eindrangen, bestand ihre Hauptaufgabe darin, zu nehmen (Steuern, Wehrpflichtige), und fast nie, zu geben. Unter diesen Umständen dachten die ArbeiterInnen, die darauf hofften, die sich verschlechternden Bedingungen aufhalten oder sogar ihr Schicksal verbessern zu können, dabei zunächst nicht und wahrscheinlich überhaupt nicht an den Staat. ArbeiterInnengruppen ersonnen daher vor allem Alternativen, die keine nennenswerte Rolle des Staates vorsahen. Im nordatlantischen Raum waren Gewerkschaften, Gesellenvereine und dergleichen transnational avant la lettre, und in vielen Fällen koordinierten sie Operationen über nationale Grenzen hinweg. Alternative Konzepte basierten auf autonomen Genossenschaften und auf liberalen Experimenten. Auch für »fortgeschrittene« Bevölkerungsgruppen strahlte das Konzept der sozialen Revolution oft eine breite Anziehungskraft aus, da der Staat eher als feindlicher Militär- und Steuereintreibungsapparat angesehen wurde, der beseitigt werden musste.

Es gab eine breite communis opinio, dass soziale Gerechtigkeit in erster Linie auf autonomer Verwaltung beruhen sollte und dass der Staat diese Art von Aktivität bestenfalls nur erleichtern könne. Wie Otto Kirchheimer sagte: »Der Kampf für Freiheit und Gleichheit und die Bestimmung der Stellung des Einzelnen sollte innerhalb der Gesellschaft stattfinden, wobei der Staat nur einen regulativen Nachgedanken bildete.« 23

Als jetzt die Staaten mehr von ihren Untertanen verlangten und sich intensiver mit ihnen befassten, begannen diese, Gegenleistungen zu verlangen. Das moderne Bürgertum (citizenship), das früher zuweilen schon auf städtischem Niveau bestanden hatte, wurde parallel zum Aufkommen der direkten Herrschaft eine nationale Erscheinung. Es ist genau diese Phase, in der der »Untertan« zum »Bürger« zu werden beginnt, in der der Anarchismus als politisch-philosophische Tendenz zur Entwicklung kam. Der Anarchismus als Ideologie ist das Produkt jener »Scharnierzeit«, in der der nehmende Staat noch stark in aller Bewusstsein war und der gebende Staat noch nicht voll entwickelt. In dieser Zeit des Übergangs sehen wir das Entstehen explizit anarchistischer Bewegungen, meistens in Verbindung mit Teilen der aufkommenden ArbeiterInnenbewegungen. Dem »gebenden« Staat wurde nicht getraut, und er wurde entlarvt als im Wesentlichen ein »nehmender« Staat. Besser, als sich durch die Angebote des »neuen« Staates verführen zu lassen, sei es, an den alten Autonomiebestrebungen festzuhalten.

Seinen größten Einfluss in der internationalen ArbeiterInnenbewegung hatte der Anarchismus zwischen zirka 1870 und 1940. Von Europa breitete er sich zunächst vor allem in den ehemaligen Siedlerkolonien Amerikas aus: in Nordamerika, aber noch mehr in weiten Teilen Lateinamerikas und der Karibik (Argentinien, Brasilien, Chile, Kuba etc.).24 Tim Wätzold hat einige dieser Bewegungen sogar zusammengefasst unter dem Nenner eines »libertären Atlantik«.25 In Afrika war der anarchistische Einfluss aufgrund des langsamen Tempos der Industrialisierung und Proletarisierung begrenzter, aber, wie Steven Hirsch und Lucien van der Walt bemerkten: »Wie im Fall Lateinamerikas entstand die Bewegung in den Bereichen, die am engsten mit den globalen Prozessen der Kapitalakkumulation und imperialen Durchdringung verbunden sind: Südliches Afrika und der Mittelmeerraum Nordafrikas.« 26

In Ostasien fand der Anarchismus wahrscheinlich seine ersten Anhänger während des Russisch-Japanischen Krieges von 1904−05, als der Pazifist Shūsui Kōtoku im Gefängnis Kropotkins Fields, Factories and Workshops las. Kōtoku näherte sich dem Anarchismus »nicht im Sinne der Arbeiterpolitik, sondern der aufopferungsvollen Hingabe der hochgesinnten Liberalen niederer Samurai-Herkunft«.27 1911 wurde er wegen Hochverrats hingerichtet. Inzwischen hatten andere, wie Sakae Ōsugi, anarchistische Ideen aufgegriffen, obwohl ihr Einfluss begrenzt geblieben zu sein scheint.28 Von Japan aus verbreiteten sich anarchistische Ideen nach Korea, damals eine japanische Kolonie, und nach China, wo die Bewegung von 1918 oder 1919 bis in die frühen 1930er Jahre einen gewissen Einfluss unter Intellektuellen und in der ArbeiterInnenbewegung gewann.29 Eine Zeit lang, in seiner Jugend, fühlte sich sogar Mao Zedong vom Anarchismus angezogen.

Der Anarchismus war von Anfang an eine internationale Bewegung. Militante Exilanten, wandernde Handwerker, Seeleute und ArbeitsmigrantInnen verbreiteten anarchistische Ideen in weiten Teilen der Welt. Selbst wenn es keine internationalen anarchistischen Organisationen gab oder sie schwach waren, bestand immer noch eine »schwarze Internationale« in diesem Sinne.30

In Verbindung mit gewerkschaftlichen Bewegungen entwickelte der Anarchismus sich in mehreren Ländern zum Syndikalismus, der zum Teil Massencharakter bekam. Anarchismus und Syndikalismus wurden jedoch beide nach dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution erheblich geschwächt, trotz Ausnahmen (China bis 1927, Spanien bis 1939). Vor mehr als dreißig Jahren haben Wayne Thorpe und ich eine Studie veröffentlicht, in der wir zwölf syndikalistische Bewegungen in Europa, Nord-Amerika und Lateinamerika miteinander verglichen. Wir kamen zum Schluss, dass diese Bewegungen spätestens um 1940 alle ihren Impetus verloren hatten.31

Schwächung des Anarchismus

In den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg begannen immer größere Teile der internationalen ArbeiterInnenbewegung zu erkennen, dass sie den Staat nicht mehr ignorieren konnten. Zunehmend setzte sich die Überzeugung durch, dass sie ihn nicht vernichten, sondern fortan beeinflussen oder selbst erobern sollten – eventuell mit der Absicht, ihn in einem späteren Stadium nachträglich abzuschaffen. Die anarchistischen Einflüsse ermatteten in dieser Periode und verschwanden letztendlich fast völlig. Ein aufschlussreiches Zeichen war Benedict Andersons Beobachtung, dass »keine einzige nationale Revolution [im globalen Süden] nach dem Zweiten Weltkrieg vom Anarchismus angeführt wurde« – eine Tatsache, die ihn nicht überraschte, da alle Unabhängigkeitsbewegungen darauf abzielten, Mitglied der Vereinigten Nationen zu werden, was auch immer ihre ideologische Orientierung war.32

An der Stelle anarchistischer Bewegungen gewannen Strömungen an Einfluss, die über den Staat Reformen realisieren wollten – als Vorboten einer sozialen Revolution oder als kumulative Strategie kleiner Schritte. Dieser vornehmlich sozialdemokratische oder kommunistische »Partei-Sozialismus« erreichte zwischen 1920 und 1990 seinen internationalen Höhepunkt und verlor danach auch stark an Einfluss.

Warum konnte der Anarchismus sich nicht behaupten? Wichtig war in vielen Fällen die staatliche Repression. Das erklärt allerdings nicht hinreichend das andauernde Fehlen bedeutender syndikalistischer Bewegungen. MeineTheseist:Woder»gebende«Staatsichdurchsetzte,hattederAnarchismusaufDauerkeineChance. Sehen wir uns doch einmal kurz einige Resultate des »gebenden« Staates an. Die Einführung des Schulzwangs; die Einführung von Sozialversicherungen, die Schutz boten im Falle von Invalidität, Erkrankung, Alter oder Arbeitslosigkeit; die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, zumeist erst für Männer und später für Frauen – all dies trug dazu bei, dass die Unterschichten sich tendenziell weniger als Außenseiter und mehr als Teilhaber an der Gesellschaft betrachteten. Neben dem Wohlfahrtsstaat sind die integrativen Auswirkungen der entwickelten kapitalistischen Beziehungen zwischen Produktion und Konsumtion (manchmal fälschlicherweise als »fordistisch« bezeichnet) zu beachten. Sie führen dazu, dass Arbeiterfamilien nicht nur produzieren und ihre Arbeitskraft reproduzieren, um sie zu verkaufen, sondern gleichzeitig als Personen des individualisierten Massenkonsums handeln, indem sie viele Konsumgüter, die sie produzieren, innerhalb eines Systems erwerben, das es dem Kapital ermöglicht, zu expandieren, und den ArbeiterInnen, ihren materiellen Lebensstandard zu verbessern.

Das Aufkommen des Wohlfahrtsstaates und die Gegebenheiten einer langfristigen Integration der ArbeiterInnen in die entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften ließen den anarchistischen und syndikalistischen Bewegungen, die nicht schon durch staatliche Repression zerschlagen worden waren, nur drei Optionen, von denen jede letztlich tödliche Folgen haben musste. Eine Bewegung konnte (1.) an ihren Prinzipien festhalten – in diesem Fall würde sie unweigerlich vollkommen marginalisiert werden, (2.) ihren Kurs völlig verändern und sich den neuen Bedingungen anpassen – in diesem Fall würde sie ihre Prinzipien aufgeben müssen; oder (3.) wenn diese beiden Alternativen ausschieden, sich auflösen, oder, was dem gleichkommt, in einer nicht-anarchistischen Bewegung aufgehen.33

Der neue Libertarismus

Seit den 1960er Jahren sind staatsverneinende Strömungen zurückgekehrt, allerdings in veränderter Form. Die erste anarchistische Welle von 1860−1940 stellte sich als Reaktion auf den wachsenden Einfluss von Staat und Großindustrie diesem sogenannten Fortschritt entgegen und strebte eine landwirtschaftliche und handwerkliche Idylle an. Sozial von HandwerkerInnen, ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen getragen, strebte sie vor allem nach politischer, sozialer und wirtschaftlicher Gleichberechtigung, meistens jedoch mit männlichem Unterton. Mit dem Ende der euphorischen Fortschrittsstimmung in den letzten Jahrzehnten scheinen sich die »romantischen Mängel« des Anarchismus für manche in einen Vorteil zu verwandeln. Dass viele das Streben nach einer humaneren und ökologisch verantwortlicheren Gesellschaft in einem kleineren Rahmen verwirklichbar sehen, entspricht ganz oder teilweise dem alten anarchistischen Projekt. Die zweite Welle, die noch andauert, ist stärker kulturell inspiriert und zieht AnhängerInnen vor allem aus dem Kreis hochgebildeter junger Menschen an, die zunehmend auch offen für Diskussionen über Geschlecht und Ethnizität sind.34

Es gibt zwei bemerkenswerte Aspekte des erneuten Engagements von AnarchistInnen. Erstens sind die sozialen Bewegungen, durch die sich dieses Engagement ausdrückt, im Allgemeinen nicht rein anarchistisch; die anarchistischen Elemente sind tatsächlich Teil einer umfassenderen, libertären politischen Kultur. Die mexikanischen Zapatistas, die brasilianische Sem-Terra-Bewegung landloser Bauern/Bäuerinnen, die Gegner der kapitalistischen »Globalisierung« und die Occupy-Bewegung – sie alle waren nie anarchistisch im engeren Sinne, aber alle priorisierten direkte Aktionen und wollten »Herrschaftsmechanismen aufdecken, delegitimieren und abbauen bei gleichzeitiger Gewinnung immer größerer Autonomieräume.« 35

Der zweite Aspekt ist, dass die neuen AnarchistInnen viel Inspiration von Gesellschaften aus der Peripherie des Weltsystems beziehen. Sie sympathisieren einerseits mit traditionellen Gesellschaften, die Staatsbildungsprozesse bewusst zurückhalten (wie das oben genannte Zomia),36 und zum anderen mit Rojava im Nordwesten Syriens, wo während des Syrienkrieges ab Juli 2012 auf einer Fläche von knapp über 18.000 Quadratkilometern drei »autonome demokratische Zonen« – Cizîrê, Efrîn und Kobanê – geschaffen wurden, mit knapp einer Million Menschen. Formal inspiriert von den Ideen des nordamerikanischen »libertären Kommunalisten« Murray Bookchin (1921−2006) führte die kurdische Partiya Yekîtiya Demokrat (PYD) in diesen Zonen ein vierstufiges Rätesystem ein. Die Basis dieses abgestuften Systems bilden kleine Dörfer oder Stadtbezirke mit 30 bis 150 Haushalten; diese bilden über Zwischenstufen den Volksrat von Westkurdistan (Meclîsa Gel a Rojavayê Kurdistanê, MGRK). Alle Ebenen folgen dem Prinzip des Co-Vorsitzes, das heißt, alle Räte werden immer gemeinsam von einem Mann und einer Frau geleitet. Darüber hinaus gibt es auch autonome Frauenräte. Je höher in der Hierarchie, desto stärker der Einfluss der PYD und ihrer Frontorganisationen. Während auf Dorfebene tatsächlich ein hohes Maß an Demokratie zu herrschen scheint, nimmt es in den höheren Rängen deutlich ab. Natürlich könnte man zu seiner Verteidigung argumentieren, dass das Rojava-Experiment dadurch verzerrt wird, dass es mitten in einem Kriegsgebiet durchgeführt wird, aber es bleibt eine historisch einzigartige Kombination aus Rätedemokratie und einem Einparteiensystem.37 Ungeachtet seiner Mängel demonstriert Rojava in den Augen vieler AnarchistInnen die Machbarkeit direkter Demokratie.

Beide Tendenzen scheinen auf eine ziemlich breite Sympathie für autonome Strukturen hinzuweisen, wahrscheinlich besonders unter jungen Menschen.

Eine neue Epoche

Die neue anarchistische Tendenz steht – genau wie die Jugendproteste der späten 1960er und frühen 1970er Jahre insgesamt, die ihr Entstehen anregten – am Anfang einer neuen Epoche, deren Konturen sich erst allmählich enthüllen. Es findet eine schrittweise Schwächung des gebenden und des nehmenden Staates statt. Nicht weil der Staat verschwindet, sondern weil er seine Interventionsbereiche neu definiert und immer mehr Aufgaben supranational regulieren lässt. Der Sozialstaat wird umstrukturiert (Hartz IV, »Reform« der Altersrenten, usw.); supranationale Autoritäten wie die EU gewinnen an Einfluss und greifen immer öfter auch in Alltagsbereiche ein; Armeen sind in supranationale Verbände integriert (z. B. die NATO) und intervenieren weltweit; wirtschaftliche Bündnisse werden ebenfalls auf supranationaler Ebene organisiert (Welthandelsorganisation usw.).

Genau in dieser Sattelzeit sind auch die alten, staatsorientierten ArbeiterInnenbewegungen in eine Krise geraten. Dies bedeutet m. E. nach, dass wir uns in einer Scharnierzeit befinden. Immanuel Wallerstein hatte wohl nicht ganz Unrecht, als er sagte, dass wir in einer Übergangsperiode leben. Der alte Kapitalismus versucht sich zu erneuern, steckt aber in einer tiefen Krise, und die Gegenkräfte von unten sind zersplittert und noch im Embryonalstadium. Es gibt zwar neue Aktionsformen, wie wir z. B. in der Occupy-Bewegung haben sehen können, und auch embryonale Formen autonomer Organisation, aber diese haben noch nicht zu stabileren Strukturen mit einer inhaltlich relativ klaren Linie gefunden.

Jetzt ist die Zeit für eine kritische Evaluation des klassischen Anarchismus gekommen. Dabei gilt es, auch die anti-emanzipatorischen und politisch unsympathischen Aspekte ernst zu nehmen. Beispielsweise Pierre-Joseph Proudhon, der in seinem Tagebuch festhielt: »Der Jude ist der Feind der Menschheit. Diese Rasse muss nach Asien zurückgeschickt oder ausgerottet werden.« 38 Proudhon rechtfertigte auch die, wie er es nannte, Negersklaverei, und war der Meinung, dass Frauen nur für die Ehe, den Haushalt und das Kinderkriegen geeignet sind. Mit diesen Auffassungen war Proudhon in den damaligen anarchistischen Kreisen nicht alleine. Der Niederländer Ferdinand Domela Nieuwenhuis neigte z. B. zum Antisemitismus und war übrigens auch Teilhaber einer Plantagenwirtschaft im kolonialen Indonesien.

Befreit von derartigen Entstellungen könnte der Anarchismus (auf jeden Fall der Sozialanarchismus) durchaus eine wichtige Anregung für neue soziale Bewegungen werden. Dabei gilt es aber zu bedenken, dass eine 100 %ige Rückkehr zum klassischen Anarchismus höchstwahrscheinlich nur für marginale Gruppen interessant sein dürfte. Auch wenn der national orientierte, nehmende und gebende Staat allmählich zu verschwinden scheint, ist eine vollständig anti-staatliche Politik wohl nicht mehr durchsetzbar. Der Staat ist tief in die Poren unseres Alltagslebens eingedrungen (man denke z. B. nur an Infrastrukturen), auch alternative Strategien werden nicht mehr ganz ohne Staatlichkeit auskommen. Auch der Gedanke einer plötzlichen und totalen gesellschaftlichen Umwälzung kann wohl nicht länger als sinnvoll betrachtet werden.39

12 Charles Tilly