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***DAS FINALE*** Der letzte Band der weltweit erfolgreichsten Vampyr-Serie aller Zeiten Die Göttin der Dunkelheit zeigt ihr wahres Gesicht Showdown in Tulsa: Neferet, die Göttin der Dunkelheit, hat allen ihr wahres Gesicht gezeigt. Sie ist jetzt die uneingeschränkte Herrscherin in Tulsa und im House of Night. Niemand – weder Mensch noch Vampyr - kann ihr mehr gefährlich werden. Nur mit Hilfe der alten Magie könnte man sie noch stoppen. Zoey Redbird ist die Einzige, die damit umgehen kann. Wer wird diesen allerletzten großen Kampf gewinnen?
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Seitenzahl: 491
P.C. Cast | Kristin Cast
Erlöst
House of Night 12
Aus dem Amerikanischen von Christine Blum
FISCHER E-Books
Dieses Buch ist Matthew Shear gewidmet – Verleger, Freund, Förderer und Vaterfigur. Kristin und ich bezeichnen St. Martin’s Press oft als unsere Familie. Matthew war das Herz dieser Familie. Er fehlt uns.
Mir war noch nie so düster zumute gewesen. Nicht mal, als ich zerschmettert in der Anderwelt gefangen saß und meine Seele angefangen hatte, sich aufzulösen.
Damals war ich innerlich total zerbrochen und auf dem besten Weg gewesen, den Verstand zu verlieren. Aber so düster mir damals zumute war, die beiden Leute, die mich am meisten liebten, hatten mir als leuchtende, wunderschöne Hoffnungsschimmer den Weg gewiesen. Ihr Licht hatte mir neue Kraft geschenkt, und ich hatte mich aus der Düsternis herausgekämpft.
Diesmal hatte ich keine Hoffnung. Ich sah kein Licht und verdiente es, zerschmettert und verloren zu sein. Diesmal verdiente ich keine Rettung.
Statt mich gleich im Gefängnis abzuliefern, wie es bei Verhafteten eigentlich üblich war, hatte Detective Marx mich mit ins Tulsa County Sheriff Office genommen. Auf der scheinbar endlosen Fahrt vom House of Night zu der großen Polizeizentrale aus braunem Stein an der First Street hatte er sich ausführlich mit mir unterhalten. Er hatte mir erklärt, er habe ein paar Hebel in Bewegung gesetzt, damit ich in eine spezielle Zelle kam. Dort würde ich warten, bis ich einen Anwalt hatte, dem Haftrichter vorgeführt werden konnte und sicherlich auf Kaution freikäme. Immer wieder hatte er mir dabei rasche Blicke durch den Rückspiegel zugeworfen. Ich hatte zurückgeschaut. Schon ein Blick in seine Augen hatte ausgereicht. Ihm war klar, dass ich keine Chance auf Freilassung hatte.
»Ich brauch keinen Anwalt«, sagte ich. »Und ich will keine Kaution.«
»Zoey, du kannst momentan nicht klar denken. Lass dir ein bisschen Zeit. Glaub mir, du wirst einen Anwalt brauchen. Und auf Kaution freizukommen, wäre das Beste für dich.«
»Aber nicht für Tulsa. Niemand wird ein Monster auf die Stadt loslassen.« Ich erklärte all dies flach und ausdruckslos, aber tief drin in mir schrie und schrie es.
»Du bist kein Monster«, hatte Marx gesagt.
»Haben Sie die zwei Männer gesehen, die ich umgebracht hab?«
Er hatte wieder einen Blick durch den Rückspiegel geworfen und genickt. Seine Lippen waren fest zusammengepresst, als müsste er sich davon abhalten, etwas zu sagen. Aus unerfindlichen Gründen blickte er immer noch freundlich. Ich ertrug den Blick nicht.
Ich sah aus dem Fenster und schob hinterher: »Dann wissen Sie, was ich bin. Nennen Sie’s, wie Sie wollen – Monster oder Killer oder abtrünniger Jungvampyr. Es spielt keine Rolle. Ich hab’s verdient, eingesperrt zu werden. Egal, was jetzt mit mir passiert, ich hab’s verdient.«
Da hatte er mit dem Reden aufgehört, und ich war froh darüber.
Der Parkplatz der Polizeibehörde war von einem schwarzen Eisenzaun umgeben. Marx fuhr zur rückwärtigen Einfahrt, wo er sich erst identifizieren musste, bevor sich das schwere Tor öffnete. Drinnen hielt er vor einer Hintertür und führte mich in Handschellen in ein großes, in Waben unterteiltes Büro, in dem reger Betrieb herrschte. Als wir eintraten, waren Unterhaltungen im Gange, und Telefone klingelten. Aber sobald die Cops Marx und mich bemerkten, war es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Das Reden verstummte, und das Gaffen begann. Ich starrte stur vor mich hin und konzentrierte mich darauf, den Schrei, der in mir tobte, nicht rauszulassen.
Wir mussten einmal mitten durch den ganzen Raum gehen. Dann traten wir durch eine Tür, hinter der sich ein Zimmer befand, das stark an die Räume erinnerte, in denen die geniale Mariska Hargitay in Law and Order: New York immer die Bösen verhört. Da traf mich die bittere Erkenntnis, dass ich aufgrund dessen, was ich getan hatte, jetzt auch eine von den Bösen war.
An der Rückwand des Zimmers führte eine Tür auf einen kleinen Flur hinaus. Marx wandte sich nach links, blieb vor einer massiven Stahltür stehen und zog seinen Dienstausweis durch einen Schlitz. Jenseits der Stahltür endete der Flur nach etwa zwei Metern. In der rechten Wand befand sich eine zweite Stahltür, die offen stand. Sie war nur unten massiv; etwa ab Schulterhöhe bestand sie aus Gitterstäben. Dicken, schwarzen Gitterstäben. Hier hielt Detective Marx an. Ich schielte in den Raum hinter der Tür. Er sah aus wie ein Grab. Plötzlich fand ich es schwer zu atmen, und meine Augen schraken vor dem schrecklichen Anblick zurück und suchten sein vertrautes Gesicht.
»Ich nehme an, mit deinen übernatürlichen Kräften kämst du hier wohl raus«, sagte Marx sehr leise, als rechnete er damit, dass uns jemand belauschte.
»Die Kraft, mit der ich die zwei Männer getötet hab, kam von meinem Seherstein. Den hab ich im House of Night gelassen.«
»Warte. Dann hast du sie gar nicht von dir aus getötet?«
»Ich war sauer und hab meinen Zorn auf sie gerichtet. Der Seherstein hat nur nachgeholfen. Es war meine Schuld, Detective Marx. Schluss. Aus. Ende.« Vergeblich versuchte ich, unbeugsam und selbstsicher zu klingen – meine Stimme jedoch war schwach und zittrig.
»Kannst du aus dieser Zelle ausbrechen, Zoey?«
»Ehrlich gesagt, hab ich keine Ahnung, aber ich verspreche Ihnen, ich werd’s nicht versuchen.« Tief holte ich Luft und wiederholte, was sich nun mal nicht wegleugnen ließ. »Ich gehöre hier rein, und egal, was passiert, ich hab’s verdient.«
»Nun, zumindest bist du hier sicher. Niemand kann dir etwas tun«, erwiderte er freundlich. »Dafür habe ich gesorgt. Was du also auch zu befürchten hast, es wird kein Lynchmob sein.«
»Danke«, gelang es mir zu antworten, obwohl meine Stimme brach.
Er nahm mir die Handschellen ab. Ich war unfähig, mich zu bewegen.
»Du musst jetzt da reingehen.«
Ich zwang meine Füße, sich voreinander zu setzen. In der Zelle drehte ich mich um. Bevor er die Tür schloss, sagte ich: »Ich will niemanden sehen, vor allem niemanden aus dem House of Night.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Du weißt, was du da sagst, ja?«
Ich nickte. »Ich weiß, was mit Jungvampyren ohne Kontakt zu Vampyren passiert.«
»Das heißt, im Grunde verurteilst du dich zum Tode.«
Er sagte es nicht als Frage, aber ich antwortete trotzdem. »Ich trage nur die Konsequenzen für meine Tat.«
Er zögerte, schien noch etwas sagen zu wollen, aber dann zuckte er mit den Schultern und seufzte. »Na gut. Viel Glück, Zoey. Tut mir leid, dass es so weit kommen musste.«
Die Tür schloss sich wie der Deckel zu einem Sarg. Es gab kein Fenster, nur zwischen den Gitterstäben drang etwas Lampenlicht aus dem Gang herein. Hinten in der Zelle stand ein Bett – eine dünne Matratze auf einer harten Pritsche, die fest in der Wand verankert war. Mitten aus einer Seitenwand, nicht weit vom Bett entfernt, ragte eine Toilette aus Aluminium. Ohne Deckel. Der Boden der Zelle bestand aus schwarzem Beton. Die Wände waren grau. Die Decke auf dem Bett auch. Es war wie in einem Albtraum.
Ich ging zum Bett hinüber. Sechs Schritte. So lang war die Zelle. Sechs Schritte. Ich stellte mich vor die Seitenwand und maß die Zelle quer aus. Fünf Schritte. Quer waren es fünf Schritte. Ich hatte recht gehabt. Abgesehen davon, dass die Decke normal hoch war, war es ein Grab.
Ich setzte mich aufs Bett, zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Wiegte mich vor und zurück, vor und zurück. Ich würde sterben.
Ich konnte mich nicht erinnern, ob es in Oklahoma die Todesstrafe gab. Hatte wohl nicht aufgepasst, während Mr. Fitz im Geschichtsunterricht einen Film nach dem anderen zeigte. Aber es spielte sowieso keine Rolle. Ich war außerhalb des House of Night. Allein. Ohne erwachsene Vampyre. Selbst Detective Marx wusste, was das bedeutete. Es war nur eine Frage der Zeit, bis mein Körper sich der Wandlung zu widersetzen beginnen würde.
Als wäre in meinem Kopf ein Rückspulknopf gedrückt worden, spielten sich vor meinen geschlossenen Augen Szenen von sterbenden Jungvampyren ab: Elliott, Stevie Rae, Stark, Erin …
Ich kniff die Augen noch fester zu. Es geht ganz schnell. Ganz, ganz schnell, redete ich mir ein.
Noch eine Sterbeszene stieg in mir auf. Zwei Männer. Widerliche Penner, aber quicklebendig, bis ich die Beherrschung verloren hatte. Ich erinnerte mich daran, wie ich all meinen Zorn auf sie losgelassen hatte – sie gegen die Felswand neben der kleinen Grotte im Woodward Park schleuderte –, wie sie dagelegen hatten, verkrümmt, mit verdrehten Gliedern …
Aber sie hatten sich bewegt! Es hatte nicht ausgesehen, als wären sie tot! Ich hatte sie auch gar nicht töten wollen! Das war nur ein furchtbarer Unfall!, schrie es in meinem Kopf.
»Nein!«, wies ich den selbstsüchtigen Teil in mir, der sich herausreden und vor den Konsequenzen drücken wollte, scharf zurecht. »Sterbende Leute zucken nun mal. Die zwei sind tot, und ich bin dafür verantwortlich. Und auch wenn es sie nicht wieder lebendig machen wird, ich hab’s verdient, zu sterben.«
Ich rollte mich unter der kratzigen grauen Decke zusammen und starrte die Wand an. Ich ignorierte das Tablett, das durch einen Schlitz in der Tür geschoben wurde. Hunger hatte ich sowieso keinen, und was immer da auf dem Teller war, roch nicht gerade verlockend.
Keine Ahnung warum, aber der Geruch von dem schlechten Essen erinnerte mich an das letzte geniale Essen, das ich gehabt hatte – Psaghetti im House of Night, umgeben von all meinen Freunden. Damals war ich jedoch viel zu angespannt gewesen, wegen meiner Aurox/Heath/Stark-Probleme, um die Psaghetti richtig genießen zu können. Genauso, wie ich es nicht genossen hatte, mit meinen Freunden zusammen zu sein. Oder mit Stark. Jedenfalls nicht genug.
Ich hatte mir kein bisschen klargemacht, welches Glück ich hatte, dass zwei so tolle Typen mich liebten. Stattdessen war ich genervt und wütend gewesen.
Das ließ mich an Aphrodite denken. Daran, wie ich mitbekommen hatte, wie sie und Shaylin sich darüber unterhalten hatten, dass Shaylin mich beobachtet hatte. Wie ich hingestürmt war und Shaylin mit der Macht meines Zorns, verstärkt durch den Seherstein, einen Stoß versetzt hatte.
Bei der Erinnerung erschauerte ich vor Scham. Aphrodite hatte völlig richtig gehandelt. Es war bitter nötig gewesen, mich zu beobachten. Aber ich war für vernünftige Argumente unempfänglich gewesen. Himmel, als sie versuchte, es mir zu erklären, hatte ich so was von nicht vernünftig reagiert.
Wieder erschauerte ich, als ich mir klarmachte, wie nahe ich dran gewesen war, meinen Zorn auch bei Aphrodite zu entladen.
»O meine Göttin! Dann hätte ich sie töten können«, flüsterte ich in meine Hände hinein, die ich mir vors Gesicht geschlagen hatte.
Es spielte keine Rolle, dass der Seherstein irgendwie, ohne dass ich es wollte, meine Kräfte verstärkte. Meine Alarmglocken hätten tausendmal schrillen können. All die Male, wo ich wütend gewesen war und der Stein sich parallel dazu erhitzt hatte. Warum hatte ich mir nie die Zeit genommen, darüber nachzudenken? Warum hatte ich niemanden um Hilfe gebeten? Mann, ich hatte Lenobia ja auch um Rat in meinem Beziehungschaos gefragt. Beziehungschaos! Ich hätte sie bitten sollen, Antiaggressionstraining mit mir zu machen!
Aber alles, wofür ich Rat gesucht hatte, war das, was unmittelbar mich betraf: ich, ich, ich. Was war ich für ein egoistisches Miststück gewesen. Ich verdiente es so sehr, hier zu sein. Ich verdiente alles, was auf mich zukam.
Das Licht im Gang wurde gelöscht. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Es kam mir wie Jahre statt Monate vor, dass ich ein normales Mädchen gewesen war und an Schultagen abends (viel zu früh) ins Bett gemusst hatte.
Ich wünschte mir mit jeder Faser meiner selbst, ich könnte Superman rufen und bitten, mit mir rückwärts um die Erde zu fliegen: bis es wieder gestern wäre. Dann wäre ich noch im House of Night bei meinen Freunden. Würde geradewegs in Starks Arme rennen und ihm sagen, wie sehr ich ihn liebte und schätzte. Und dass mir das Aurox/Heath-Chaos leidtäte und dass wir – wir zweieinhalb – schon eine Lösung finden würden. Und dass ich, egal, wie es ausging, dankbar für all die Liebe wäre, die mich umgab. Danach würde ich mir den verfluchten Seherstein vom Hals reißen, ihn Aphrodite in die Hand drücken und sie bitten, den Frodo für mich zu spielen.
Aber für Wünsche war es zu spät. Die Zeit zurückzudrehen war unmöglich. Superman existierte nicht.
Ich schlief nicht. Es war Nacht, und die Nacht war jetzt mein Tag. Genau jetzt sollte ich mit meinen Freunden in der Schule sein. Mein Leben leben, einen ganz normalen »Tag« (soweit es bei mir so was gab) verbringen. Stattdessen lag ich zusammengekauert hier. Warum war ich nicht klüger gewesen? Und stärker? Statt mich wie ein selbstverliebtes Gör zu benehmen?
Stunden später hörte ich wieder den Schlitz in der Tür klappern, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass das unangetastete Tablett weggeräumt worden war. Gut. Vielleicht würde dann auch der Geruch verfliegen.
Ich musste aufs Klo, aber ich wollte nicht. Nicht auf dieses Klo, das mitten aus der Wand ragte. Ich starrte in die oberen Ecken der Zelle. Kameras.
War es offiziell erlaubt, dass die Wärter den Gefangenen beim Pinkeln zusahen? Galten für mich überhaupt die üblichen Gefängnisregeln? Ich meine, ich hatte noch nie von einem Jungvampyr oder Vampyr gehört, der vor ein menschliches Gericht gestellt worden war oder in einem menschlichen Gefängnis saß.
Ach, egal. Ich werde sowieso lange vor der Gerichtsverhandlung an meinem eigenen Blut ersticken.
Seltsamerweise war dieser Gedanke tröstlich, und als das Licht im Gang eingeschaltet wurde, fiel ich in einen unruhigen, traumlosen Schlaf.
Gefühlte zehn Sekunden später quietschte es am Schlitz in der Tür, und wieder wurde unsanft ein Aluminiumtablett in meine Zelle geschoben. Ich schrak aus dem Schlaf hoch, war aber noch völlig durcheinander und nahe daran, sofort wieder einzuschlafen. Doch der Duft nach Eiern und Speck ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Wie lange war es her, dass ich etwas gegessen hatte? Puh, ich fühlte mich scheußlich. Verschlafen stand ich auf, tappte die sechs Schritte zur Tür, hob das Tablett auf und trug es vorsichtig zu meinem zerknautschten Bett zurück.
Die Rühreier waren eklig glibbrig. Der Speck war so hart wie Beef Jerky. Außerdem gab es Kaffee, einen Karton Milch und ein paar Scheiben trockenen Toast. Ich hätte so ziemlich alles für eine Schale Count Chocula und eine Dose Cola gegeben.
Ich nahm einen Bissen von den Eiern. Sie waren so versalzen, dass ich fast daran erstickte. Aber stattdessen fing ich an zu husten. Und mitten in dem heftigen Hustenanfall schmeckte ich etwas – etwas Metallisches, Warmes, seltsam Aromatisches. Mein eigenes Blut.
Mich durchzuckte ein heilloser Schrecken, und mir wurde schwindelig. So bald schon? Aber ich kann nicht … Ich will noch nicht!
Ich versuchte mich zu räuspern, zu atmen, spuckte die Eier aus. Dabei ignorierte ich die leicht rosa Verfärbung in dem glibbrigen Gelb, stellte das Tablett auf den Boden. Ich rollte mich ganz klein auf dem Bett zusammen, schlang die Arme um mich und wartete auf den nächsten Husten, das nächste Blut …
Es kam mehr Blut. Als ich mir den Mund abwischte, zitterte meine Hand. Ich hatte solche Angst!
Brauchst du nicht, redete ich mir gut zu, während ich versuchte, einen ganz furchtbaren Hustenreiz zu unterdrücken. Bald siehst du Nyx. Und Jack. Und vielleicht sogar Dragon und Anastasia. Und Mom!
Mom … Plötzlich sehnte ich mich wie wahnsinnig nach meiner Mutter.
»Ich wollte, ich wäre nicht allein«, flüsterte ich rasselnd in die harte, glatte Matratze.
Da hörte ich die Tür aufgehen, aber ich drehte mich nicht um. Ich wollte das entsetzte Gesicht des Wärters nicht sehen. Ich kniff die Augen fest zu und versuchte mir vorzustellen, ich läge in meinem Zimmer auf Grandmas Lavendelfarm. Und der Duft nach Eiern mit Speck käme aus ihrer Küche. Und der Husten sei nur eine Erkältung, wegen der ich nicht in die Schule konnte.
Und es klappte. O Nyx, danke! Plötzlich roch ich sogar die Düfte, die Grandma immer umgaben – Lavendel und Süßgras. Das verlieh mir den Mut, schnell – bevor meine Stimme vom Blut erstickt wurde – zu demjenigen, der in die Zelle gekommen war, zu sagen: »Alles okay. Das passiert mit manchen Jungvampyren. Bitte gehen Sie einfach weg und lassen mich allein.«
»O Zoeybird, meine allerliebste U-we-tsi a-ge-hu-tsa, begreifst du immer noch nicht, dass ich dich nie und nimmer allein lassen werde?«
Zuerst dachte ich, sie wäre nur eine Halluzination, wie man sie vor dem Tod hatte, wie sie da in einer verwaschenen lila Bluse und einer ausgefransten Jeans in der Tür meiner Zelle stand, am Arm einen ihrer zahllosen Picknickkörbe. Aber kaum hatte ich mich umgedreht, da kam sie zu mir geeilt, setzte sich an meinen Bettrand und zog mich in ihre Arme, hinein in die Düfte meiner Kindheit.
»Grandma, es tut mir so leid! Es tut mir so leid!«, schluchzte ich an ihrer Schulter.
»Pssst, U-we-tsi a-ge-hu-tsa. Ich bin da.« Sanft und wunderbar liebevoll streichelte sie mir in einer kreisenden Bewegung den Rücken.
Mein Husten ließ einen Moment lang nach, also vertraute ich ihr an: »Auch wenn’s selbstsüchtig von mir ist, ich bin so froh, dass du da bist. Ich will nicht ganz allein sterben.«
Grandma wich zurück, packte mich an den Schultern und schüttelte mich energisch. »Zoey Redbird, du stirbst nicht.«
Tränen strömten mir die über Wangen. Ich kümmerte mich nicht darum, wischte mir den Mundwinkel ab und hielt ihr zitternd den Finger entgegen, damit sie das Blut sehen konnte.
Sie warf kaum einen Blick auf den Beweis, den ich ihr zu zeigen versuchte. Stattdessen schnürte sie den Picknickkorb auf, nahm eine rot-weiß karierte Serviette heraus und begann, mir Mund und Nase abzutupfen. Genau wie sie es immer getan hatte, als ich noch klein war.
»Grandma.« Ich bemühte mich (erfolglos), mit dem Weinen aufzuhören. »Ich weiß, du liebst mich mehr als jeder andere auf der Welt. Aber du kannst nicht verhindern, dass mein Körper sich gegen die Wandlung wehrt.«
»Richtig, U-we-tsi a-ge-hu-tsa. Ich nicht. Aber sie schon.« Sie nickte in Richtung Tür.
Ich drehte den Kopf. Dicht an dicht standen im Gang vor der Zelle Thanatos und Lenobia, Stevie Rae, Darius und Stark – mein Stark. Stevie Rae schluchzte so herzzerreißend, dass mir unbegreiflich war, warum ich sie nicht gehört hatte. Stark weinte auch, aber lautlos.
»Aber ich hab doch extra gesagt, niemand soll zu mir kommen! Ich muss mich meiner Strafe stellen.« Jetzt heulte auch ich los, genauso heftig wie Stevie Rae.
»Dann lebe und stell dich ihr!«, herrschte Stark mich an. »Und ich weiche keinen Schritt von deiner Seite, damit du das Ganze durchstehst!«
»Ich kann nicht«, schluchzte ich. »Mein Körper hat schon angefangen, sich gegen die Wandlung zu wehren!«
»Kind, was deine Großmutter meinte, stimmt. Sofern es nicht vom Schicksal vorherbestimmt war, dass dein Körper die Wandlung zurückweist, wird unsere Anwesenheit diese aufhalten«, sagte Thanatos.
»Du stirbst nicht! Das verbiete ich dir!«, brüllte Stark unter Tränen und wollte in die Zelle treten.
»Halt, Junge! Ich sagte, immer nur einer.« Ein Mann in Sheriffuniform drängte sich an meinen Freunden vorbei und stellte sich zwischen sie und die Zelle. »Es reicht schon, dass Detective Marx mich angewiesen hat, Sie hier reinzulassen. Aber mehr Extrawürste gibt’s nicht. Nur ein Besucher auf einmal, wie üblich. Die Großmutter ist eine Verwandte. Die Übrigen können im Verhörzimmer warten.« Er bedachte Grandma mit einem strengen Blick. »Sie haben eine Viertelstunde.« Dann knallte er die Tür zu.
»Eine Viertelstunde.« Grandma schnaubte leise. »Das ist ja wohl kein Besuch – das ist ein hartgekochtes Ei. Na gut, dann mal los. Zoeybird, putz dir die Nase und steh auf. Du brauchst eine anständige Reinigung. Oh-ha, da hat der gute Mann, der mich durchsucht hat, meinen Korb aber ganz schön durcheinandergebracht.«
Sie war dabei, in ihrem scheinbar unendlich großen Korb zu wühlen. Deshalb musste ich ihre Hände in meine nehmen, damit sie aufsah und mir zuhörte.
»Grandma, ich liebe dich. Weißt du das?«
»Natürlich, U-we-tsi a-ge-hu-tsa. Und ich liebe dich, aus ganzem Herzen. Deshalb muss ich dich reinigen. Ich wünschte, es gäbe hier drin eine Badewanne oder wenigstens ein Waschbecken, damit du dich zuerst waschen könntest. Aber so muss wohl der Rauch genügen. Ich habe die ganze Nacht überlegt und dann beschlossen, als Gefäß die Austernschale zu nehmen, die du und ich am Strand gefunden haben, als wir damals den Mississippi entlang bis zum Golf gefahren sind. In dem Jahr, als du zehn wurdest, weißt du noch?«
»Ja, natürlich, aber Grandma –«
»Gut. Ich habe hier eine Mischung aus Salbei, Zedernnadeln und Lavendel. Die drei zusammen eignen sich besonders gut, um Körper und Geist gründlich zu reinigen.« Aus einem schwarzen Samtbeutel schüttete sie die gemahlenen Kräuter in die Austernschale. »Außerdem habe ich eine Adlerfeder und meinen liebsten ungeschliffenen Türkis dabei. Ich weiß, vielleicht werden sie dir beides abnehmen, aber lass uns versuchen, beides unter der Matratze zu verstecken. Das sollte dich beschützen, solange –«
»Grandma, bitte hör mir zu.« Als sie verstummte, sah ich ihr fest in die Augen. »Ich habe diese zwei Männer getötet. Ich verdiene es nicht, gereinigt oder beschützt zu werden. Was ich verdiene, ist das, was dabei war zu passieren, bevor ihr alle aufgetaucht seid.« Ich hatte nicht vor, so eisig zu klingen, aber sie zuckte bei meinem Ton richtiggehend zusammen. Da fuhr ich sanfter fort – aber mein Entschluss blieb gefasst. »Dank der Vampyre ersticke ich jetzt nicht mehr an meinem Blut, aber das ändert nichts daran, dass ich etwas Furchtbares getan hab. Etwas, wofür ich bestraft werden muss.«
Grandma hielt in ihren Vorbereitungen für die Reinigungszeremonie inne und musterte mich mit ihrem scharfen Blick. »Erzähl mir, U-we-tsi a-ge-hu-tsa, warum hast du diese beiden Männer umgebracht?«
Mit einem Kopfschütteln strich ich mir das zerzauste Haar aus dem Gesicht. »Ich wusste gar nicht, dass sie tot waren, bis Detective Marx zum House of Night kam. Ich wusste nur, dass ich eine Stinkwut auf sie hatte. Die beiden hingen oft in Woodward Park herum und versuchten Leute, vor allem junge Mädchen, so einzuschüchtern, dass die ihnen Geld gaben.« Noch einmal schüttelte ich den Kopf. »Aber das entschuldigt nicht, was ich getan hab. Als ihnen klarwurde, was ich bin, wollten sie mich in Ruhe lassen.«
»Und sich ein anderes Opfer suchen.«
»Wahrscheinlich. Aber sie wollten niemanden töten. Sie waren keine Mörder. Nur Trickbetrüger.«
»Erzähl, was passiert ist. Wie hast du sie getötet?«
»Ich hab ihnen meinen ganzen Zorn entgegengeschleudert. Genau wie kurz zuvor, als ich Shaylin gestoßen hatte, und zwar so fest, dass sie umfiel. Nur war ich im Park noch viel wütender. Irgendwie hat der Seherstein meine Gefühle verstärkt und mir die Macht verliehen, sie beide gleichzeitig anzugreifen.«
»Aber Shaylin hast du nicht getötet«, wandte Grandma vernünftig ein. »Ich habe sie noch vorhin im House of Night gesehen, ehe ich hierher kam. Sie kam mir sehr lebendig vor.«
»Nein, sie hab ich nicht getötet. Diesmal nicht. Aber wer weiß, was noch passiert wäre, wenn ich nicht abgehauen und in den Park gerannt wäre – und meine Wut an den zwei Typen ausgelassen hätte? Grandma, ich war total außer mir. Ich war ein Monster.«
»Du hast etwas Monströses getan. Aber das macht dich noch nicht zu einem Monster, Zoey. Du hast dich sogar freiwillig der Polizei gestellt. Du hast den Seherstein aus der Hand gegeben, und du hast dich einsperren lassen. All das würde ein Monster nicht tun.«
»Aber Grandma, ich hab zwei Menschen umgebracht!« Wieder spürte ich, wie mir Tränen in die Augen stiegen.
»Und jetzt musst du dich den Folgen dieser Tat stellen. Aber das bedeutet nicht, dass du aufgeben und den Leuten, die dich lieben, noch mehr Schmerz bereiten darfst.«
Ich biss mir auf die Lippe. »Ich wollte doch allein die Verantwortung auf mich nehmen und sicherstellen, dass ich nie wieder jemandem etwas zuleide tue – vor allem nicht den Leuten, die ich liebe.«
»Zoeybird, ich weiß nicht, warum diese schreckliche Sache passiert ist. Es passt einfach nicht zu dir, eine Mörderin zu sein.« Ich wollte etwas sagen, aber sie hielt die Hand hoch. »Ja, ich weiß, diese beiden Männer sind tot, und es sieht aus, als hättest du ihren Tod verschuldet. Aber du selbst gibst zu, dass der Seherstein dabei eine große Rolle spielte. Das bedeutet doch, dass Alte Magie im Spiel war.«
»Ja, ich habe den Stein benutzt«, sagte ich fest.
»Oder er hat dich benutzt«, konterte sie.
»Egal. Das Ergebnis ist dasselbe.«
»Für die beiden Männer. Nicht unbedingt für dich, U-we-tsi a-ge-hu-tsa. Und jetzt stell dich vor mich hin. Dein Geist und dein Verstand müssen gereinigt werden, damit du genau analysieren kannst, was dich in diese Zelle gebracht hat. Du siehst, ich will dir nicht helfen, dich vor deiner Tat zu verstecken. Ich will dir helfen, dich ihr wahrhaft zu stellen.«
Wie immer sprachen aus Grandma Vernunft – und bedingungslose Liebe. Ich stand auf und gab mich dem kurzen, winzigen Trost hin, ihr dabei zuzusehen, wie sie, die Austernschale in einer Hand, ein winziges rundes Stück Holzkohle auf die Kräutermischung legte und anzündete.
Als die Kohle Feuer gefangen hatte, erklärte sie: »Dreimal tief durchatmen, U-we-tsi a-ge-hu-tsa. Lass mit jedem Atemzug die giftige Energie entweichen, die dir den Geist verdunkelt und den Verstand vernebelt. Stell sie dir vor, Zoeybird. Welche Farbe hat sie?«
Ich dachte an das eklige Zeug, das mir aus der Nase gekommen war, als ich zum letzten Mal eine Nebenhöhlenentzündung gehabt hatte. »Schleimgrün.«
»Sehr gut. Atme aus und stell dir vor, die Energie strömt mit dem Atem aus.«
Die Holzkohle war jetzt gut durchglüht und wurde an den Rändern schon grau. Grandma griff in den schwarzen Samtbeutel und streute etwas von der Kräutermischung darauf. »Ich danke dir, Geist des weißen Salbeis, für deine Kraft, Reinheit und Macht.« Aus der Austernschale begann süßer Rauch aufzusteigen. »Ich danke dir, Geist der Zeder, für dein göttliches Wesen und deine Fähigkeit, eine Brücke zwischen Erde und Anderwelt zu schlagen.« Der Rauch wurde dichter, und ich atmete tief ein und aus – ein und aus. »Und wie immer danke ich dir, Geist des Lavendels, für deine beruhigende Wirkung, dafür, dass du uns von unserem Zorn zu befreien vermagst und uns Frieden schenkst.«
Grandma begann, im Uhrzeigersinn um mich herumzugehen. Ihre Schritte erzeugten einen herzschlagartigen Rhythmus, der den duftenden Rauch, den sie mir mit der Adlerfeder zufächelte, mit Energie aufzuladen und in meinen Körper zu leiten schien. Ohne in ihrer Bewegung zu stocken, erhob sie in deren Rhythmus die Stimme, und ihre Worte schienen durch ihr Blut in meines überzuströmen. »Raus mit dem Gift, das grün ist wie Galle. Rein mit dem Rauch, süß, silbern und rein.«
Während ihres Tanzes konzentrierte ich mich wie in meiner Kindheit auf das Ritual.
»Atme Heilung. Atme Reinheit. Atme Ruhe«, sang Grandma. »Grüne Galle verschwinde. Auf dass silberne Klarheit dich finde.«
Ich hob die Hände, fächelte mir den Rauch zu und dachte nur an die silberne Reinigung.
»O-s-da«, sagte Grandma und wiederholte es auf Englisch: »Gut. Du findest langsam deine Mitte wieder.«
Der Rauch und Grandmas Gesang hatten mich in einen schläfrigen, tranceartigen Zustand versetzt. Ich blinzelte, als tauchte ich aus tiefem Wasser an die Oberfläche auf. Verblüfft riss ich die Augen auf. In dem Rauch war deutlich ein heller silberner Schein sichtbar, der Grandma und mich wie eine Blase umgab.
»Du strahlst, Zoeybird. Der silberne Schein hat die Finsternis ersetzt, die in dir herrschte.«
Noch einmal holte ich tief Luft. In meiner Brust war eine erstaunliche Leichtigkeit. Fort war die schreckliche Enge, die mich hatte husten lassen. Fort war die quälende Verzweiflung, die nun schon so lange anhielt. Wie lange eigentlich?, fragte ich mich. Nun, da sie fort war, erkannte ich erst, wie erdrückend sie gewesen war.
Grandma war vor mir stehen geblieben. Sie stellte die noch immer rauchende Austernschale zwischen unsere Füße auf den Boden, dann nahm sie meine Hände. »Ich weiß nicht alles. Ich kenne die Antworten auf deine Fragen nicht. Ich kann nicht mehr tun, als deinen Geist und Verstand zu reinigen. Ich vermag dich nicht von diesem Ort wegzubringen oder etwas an den Dingen ändern, die dich hierhergebracht haben. Ich kann dich nur lieben und dir die eine kleine Regel in Erinnerung rufen, an der ich mich mein Leben lang orientiert habe: Man kann andere nicht beherrschen. Man kann nur sich selbst und seine Reaktionen auf andere beherrschen. Und wenn alles andere versagt, entscheidet man sich für Freundlichkeit. Für Verständnis. Wenn man dann schlechte Entscheidungen trifft, hat man wenigstens seinem Geist keinen Schaden zugefügt.«
»Aber ich hab das nicht geschafft, Grandma.«
»Ja, richtig. Lass diesen Misserfolg in der Vergangenheit ruhen, wohin er gehört, lerne aus ihm und gehe weiter. Und lass dir so einen Fehler nicht noch einmal unterlaufen, U-we-tsi a-ge-hu-tsa. Das bedeutet: Wenn du wegen dieser schlimmen Sache vor Gericht und ins Gefängnis musst, sprich stets die Wahrheit und handle freundlich und verständnisvoll – wie es eine Hohepriesterin deiner Göttin tun sollte.«
»Ich sollte auch nicht ständig alle zurückstoßen, die mich lieben.«
Ich hatte es nicht als Frage formuliert, aber sie antwortete trotzdem darauf. »Diejenigen wegzustoßen, die dich lieben und nur dein Bestes wollen, wäre nicht nur nicht hohepriesterlich, sondern kindisch.«
»Grandma, glaubst du, Nyx will mich noch als Hohepriesterin?«
Grandma lächelte. »Ja. Aber was ich glaube, ist unwichtig. Was glaubst du von deiner Göttin, Zoey? Ist sie so launisch, dass sie dich erst lieben und dann abweisen würde?«
»Ich zweifle nicht an Nyx. Sondern an mir.«
»Dann sieh in dich hinein. Bleib dabei fest geerdet.« Sie hob den Türkis auf, den sie aus dem Picknickkorb genommen hatte, und schloss meine Hand darum. »Ob mit Absicht oder nicht, in der letzten Zeit hast du deine Energien auf den Seherstein gerichtet. Ich glaube, jetzt musst du einen neuen Punkt in dir finden, wo du deine Energien sammeln kannst. So wie der Türkis seine Schutzkraft aus sich heraus gewinnt, musst du deine eigene Kraft finden – in dir selbst. Und diesmal nicht mit Hilfe des Zorns, Zoey. Sondern mit Hilfe von Verständnis und Liebe.«
»Liebe, auf immer und ewig«, ergänzte ich und spürte dem glatten Stein in meiner Hand nach.
»Sei so fest in dir verankert, wie du jetzt diesen Stein festhältst. Und denk immer daran, dass ich dich für viel stärker, weiser und gutherziger halte als du dich selbst.«
Ich schlang die Arme um sie und drückte sie ganz fest. »Ich liebe dich, Grandma. Bis in alle Ewigkeit.«
»Und ich werde dich immer lieben.«
»Zeit ist um!«, erklang die Stimme des Wärters.
Widerstrebend ließ ich Grandma los.
»Hey, was ist hier los? Brennt da was?«
Grandma drehte sich zu ihm um und sagte in ihrem freundlichsten Ton: »Kein Grund zur Beunruhigung, mein Lieber. Das diente nur der Reinigung und Klärung. Mögen Sie Schokokekse? Ich habe ein paar selbstgebackene dabei, ein Geheimrezept, dem noch nie jemand widerstehen konnte.« Sie tätschelte ihm den Arm und führte ihn auf den Gang zurück. Dabei zog sie aus ihrem magischen Korb eine Pappschale voller Kekse und zwinkerte mir verstohlen zu. »Holen wir uns doch einen Kaffee dazu, und währenddessen schicken Sie diesen netten jungen Vampyr namens Stark zu meiner Enkelin.«
Stark!
Ich setzte mich aufs Bett, strich nervös meine Kleider glatt und versuchte mit den Fingern, halbwegs Ordnung in meine total verfilzten Haare zu bringen. Aber als er dann vor mir auf der Schwelle stand, vergaß ich völlig, wie ich aussah. Ich vergaß alles, außer wie glücklich ich war, ihn zu sehen.
»Kann ich reinkommen?«, fragte er zögernd.
Ich nickte.
Er legte die sechs Schritte in weniger als Millisekunden zurück. Aber selbst das war mir zu lang. Kaum war er in Reichweite, da warf ich mich auch schon in seine Arme und vergrub das Gesicht an seiner Schulter. »Es tut mir so leid! Bitte hasse mich nicht – bitte hasse mich nicht!«
»Warum soll ich dich hassen?« Er hielt mich so fest, dass ich kaum noch Luft bekam, aber das war mir egal. »Du bist meine Königin, meine Hohepriesterin und meine Liebe – meine einzige Liebe.« Er ließ etwas lockerer und sah mir in die Augen. »Du darfst nicht Selbstmord begehen. Das überlebe ich nicht, Zoey. Das weiß ich ganz genau.«
Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und war so bleich, dass seine roten Vampyrtattoos geradezu leuchteten. Er sah aus, als wäre er in nur einem Tag zehn Jahre gealtert. Es war schrecklich, wie müde und krank er wirkte. Und noch schrecklicher war, dass ich dafür die Schuld trug.
Ich erwiderte seinen Blick und sagte so freundlich und verständnisvoll wie nur möglich: »Das war ein Fehler. Ich mach das nie wieder. Tut mir leid, dass ich dir das zugemutet hab – dass ich dir all das hier zugemutet hab.« Ich deutete auf die Gefängniszelle.
Er strich mir sehr zart, ja fast respektvoll über die Wange. »Wohin du auch gehst, ich komme mit. Ich bin dir durch Eid verbunden, in diesem Leben und darüber hinaus, Zoey Redbird. Und solange wir einander haben, können wir all das ertragen. Wir haben einander doch noch?«
»Ja.« Ich küsste ihn, lang und fest. Eigentlich, um ihn zu trösten, aber dann wurde mir klar, dass seine Nähe, sein Duft und seine Liebe in Wahrheit mich trösteten. In jenem Augenblick wurde mir erst wirklich bewusst, wie sehr ich Stark liebte.
Er bedeckte mein Gesicht mit kleinen, schnellen Küssen und wischte die Tränen ab, die mir über die Wangen rannen. »Schau. Alles schon viel besser. Alles wird gut.«
Ich wollte nicht einwenden, dass ich mir nicht sicher war, ob jemals wieder alles gut werden würde. Es hätte zu hart geklungen. Stattdessen führte ich ihn zu meinem harten schmalen Bett. Wir setzten uns darauf, und ich kuschelte mich in seine Armbeuge.
»Wir werden uns vor deiner Tür abwechseln, damit du nicht wieder anfängst, dich der Wandlung zu widersetzen«, erklärte er leise, den Arm fest um mich geschlungen. »Ab jetzt wird immer ein Vampyr direkt vor deiner Tür sein. Im Gang wird eine Pritsche aufgestellt.«
»Wirklich? So nah darfst du an mich ran?«
»Ja, das hat Detective Marx veranlasst. Der ist echt klasse. Er hat dem Polizeichef verklickert, dass dich von Vampyren zu isolieren damit vergleichbar wäre, wenn man einem menschlichen Gefangenen eine Rasierklinge gäbe und sich nicht darum kümmern würde, was er damit macht. Er meinte, es sei unmenschlich. Und da du dich freiwillig gestellt hättest, müssten dir dieselben Rechte gewährt werden wie jedem anderen auch.«
»Das war nett von ihm.« Plötzlich wurde mir bewusst, welche Tageszeit es sein musste – mindestens Mittag. »Halt mal. Du solltest gar nicht hier sein. Draußen ist Tag.« Ich setzte mich auf und musterte ihn sorgfältig, ob er irgendwo verbrannt aussah.
Er lächelte. »Mir geht’s gut. Und Stevie Rae auch. Wir sind in dem Schultransporter hergefahren, der hinten keine Fenster hat.«
Ich nickte grinsend. »Der Gangstervan.«
Sein Grinsen wurde bad-boy-mäßig. »Darunter mach ich’s nicht. Und dank Marx durften wir in der Tiefgarage parken. Wir haben keinen einzigen Sonnenstrahl abbekommen.«
»Okay, aber sei vorsichtig, ja?«
Er hob die Brauen. »Was? Du sagst mir, ich soll vorsichtig sein?«
Mir fiel ein, dass ich freundlich sein wollte. »Also, ich bitte dich darum.«
Er brach in Lachen aus und umarmte mich. »Zoey Redbird, du bist total gestört, aber ich liebe dich.«
»Ich dich auch.«
Viel zu bald ließ er mich los, und seine Miene wurde ernst. »Hör zu, erzähl mir jetzt alles, ja? Ich weiß schon, dass du sauer auf die zwei Menschen wurdest und irgendeine Art Macht auf sie losgelassen hast, aber ich brauch die Einzelheiten.«
Ich hatte überhaupt keine Lust, auch nur eine Sekunde unseres Zusammenseins dafür zu opfern, über meinen schrecklichen Fehler zu reden. »Stark, können wir nicht einfach –«
Er unterbrach mich. »Nein, wir können das nicht einfach ignorieren. Zoey, du bist alles Mögliche, aber keine Mörderin.«
»Ich hab zwei Menschen gegen eine Felswand gedonnert, und sie sind tot. Ich bin eine Mörderin, Punkt.«
»Schau, genau das ist mein Problem. Ich denke, der wahre Mörder ist der Seherstein. Deshalb hast du ihn doch Aphrodite gegeben, oder? Weil er deinen Zorn auf diese zwei Typen gelenkt hat.«
Ich öffnete den Mund, um ihm zu erklären, was ich selbst nicht so recht kapierte. Aber da kam jemand den Gang entlanggerannt, und in der Tür erschien der Wärter.
Er war außer Atem und hatte geweitete Augen. Wild fuchtelnd winkte er Stark zu sich. »Raus hier. Raus hier, sofort! Einer von euch Vampyren kann bleiben, aber nur draußen im Gang. Der Rest verschwindet gefälligst dorthin, wo ihr herkommt.«
»Hey, das waren noch keine fünfzehn Minuten – nicht mal fünf!«, protestierte Stark.
»Tut mir leid, nichts zu machen. Wir haben Anweisung zum sofortigen Schließen der Zellen. In der Innenstadt gibt’s wohl einen Notfall.«
Ich folgte Stark zur Tür. Über meinen Rücken schien ein Eiswürfel zu gleiten. »Wo in der Innenstadt? Was für ein Notfall?«
»Großeinsatz am Mayo. Die brauchen da alle verfügbaren Leute.« Die Tür knallte zu, und Stark und ich schauten einander durch die Gitterstäbe an.
»Neferet«, sagte Stark.
»Mist nochmal«, war alles, was man dazu sagen konnte.
Es war heller Vormittag an jenem schläfrigen Sonntag, als Neferet den Fäden der Finsternis befahl, sie aus der wabernden Wolke aus Blut und Tod auf den Bürgersteig vor dem Mayo gleiten zu lassen. Nach ihrer Landung brachte sie ihr weißes Armani-Kostüm in Form und warf das lange kastanienbraune Haar zurück. Nun war sie bereit: Im Triumph wollte sie wieder in ihr mit Marmor und Samt ausgestattetes Penthouse hoch oben auf dem Dach einziehen. Sie stieß die antike, verglaste Eingangstür mit den Messingbeschlägen auf, trat ein und blieb erst einmal stehen. Mit einem glücklichen Seufzer ließ sie den riesigen Zwanzigerjahre-Ballsaal aus weißem Marmor mit seinen hohen, strengen Säulen auf sich wirken. Er erstreckte sich vor ihr bis zu der breiten Doppeltreppe, die geschwungen wie die lächelnden Lippen einer Göttin auf eine Galerie hinaufführte.
Ihre dunklen Brauen hoben sich, und ihr smaragdener Blick wurde schärfer. Mit neuem Interesse musterte Neferet ihre Umgebung. »Wahrlich. Dieses Bauwerk ist erhaben genug, um einer Göttin als Tempel zu dienen.« Sie lächelte. »Mein Tempel. Mein Zuhause.«
»Miss Neferet! Sind Sie es wirklich? Wir haben uns solche Sorgen gemacht, dass Ihnen etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte, als wir Ihr verwüstetes Penthouse sahen!« Neferet richtete den Blick auf die junge Frau, die hinter dem Empfangstresen stand und sie anstrahlte.
»Mein Tempel. Mein Zuhause. Meine Jünger.« Sie wusste nun, was zu tun war. Warum hatte sie es nicht schon früher erkannt? Vermutlich, weil sie noch nie so viel Tod auf einmal in sich aufgenommen hatte wie vor ihrer Ankunft hier. Wie ihre treuen Tentakel vibrierte Neferet vor Macht, und mit der Macht kamen Klarheit und Zielstrebigkeit in ihr Denken. »Ja, genau so muss es sein. Jeder Mensch in diesem Gebäude muss mich anbeten.«
Das strahlende Lächeln der Rezeptionistin begann zu verblassen. »Tut mir leid, ich verstehe nicht, Ma’am.«
»Oh, das wirst du schon noch. Sehr bald sogar.« Übernatürlich schnell und lautlos glitt Neferet auf sie zu und warf einen Blick auf das goldene Namensschild des Mädchens. »Ja, Kylee, meine Liebe, bald wirst du mich voll und ganz verstehen. Aber zuerst verrätst du mir, wie viele Gäste sich derzeit im Hotel aufhalten.«
Kylee machte ein verlegenes Gesicht. »Es tut mir leid, Ma’am. Diese Information kann ich Ihnen nicht geben. Wenn Sie mir sagen, was genau Sie wünschen, kann ich vielleicht –«
Neferet lehnte sich gegen den weichen Marmor des Empfangstresens und strich energisch darüber. Das Mädchen brach ab und starrte sie an.
»Du wirst mir nicht widersprechen. Du wirst mir keine Fragen stellen. Du wirst genau das tun, was ich dir befehle.«
»Es – es tut mir leid, Ma’am. Ich wollte Sie nicht beleidigen, aber alles, was unsere Gäste betrifft, ist streng vertraulich. Was … was Diskretion angeht, sind wir hier äußerst g-gewissenhaft.« Mit zitternder Hand griff sie nach dem kleinen Kruzifix, das an einer Goldkette um ihren Hals baumelte.
Auch ohne ihre empathische Gabe hätte Neferet gespürt, welche Angst das Mädchen hatte – die kleine Kylee stank förmlich danach.
»Sehr schön. Da du deine Befehle ab heute von mir erhältst, erwarte ich fortan, dass du es mit der Diskretion noch viel genauer nimmst – was meine Angelegenheiten betrifft.«
Kylees Angst und Verwirrung wuchsen weiter. »Verzeihen Sie, Ma’am. Haben Sie das Mayo Hotel denn gekauft?«
»Oh, viel besser. Ich habe beschlossen, dieses herrliche Bauwerk zu meinem ersten Tempel zu machen. Aber habe ich dir nicht eben befohlen, diskreter zu sein?« Neferet seufzte und schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Kylee, daran musst du noch arbeiten. Aber zerbrich dir nicht dein armes blondes Köpfchen. Ich bin eine gütige Göttin. Ich werde dir Hilfe zur Seite stellen, um dich zu einer perfekten Jüngerin zu machen.«
Während Kylee der Mund offen stand wie einem Fisch auf dem Trockenen, wandte Neferet sich dem Meer von Tentakeln zu, das unsichtbar für das blonde Dummchen über den Marmorboden wogte und ihr zärtlich um die Beine strich. »Ihr hattet ein reiches Festmahl, Kinder. Nun ist es Zeit, sich für meine Großzügigkeit zu revanchieren.« Die Tentakel wanden sich wie Klapperschlangen bei der Paarung, und Neferet lächelte sie liebevoll an. »Ja, ich habe euch meinen Eid gegeben: Das war nur der Anfang unserer Schlemmerei. Aber ihr müsst euch euer Essen verdienen. Ich dulde keine Nichtsnutze unter meinen Kindern.« Sie lachte fröhlich auf. »Einer von euch muss Besitz von diesem Menschen ergreifen. Nein! Nicht, um das Mädchen zu töten«, stellte sie klar, als sich über ein Dutzend Fäden erregt und in eindeutiger Absicht auf Kylee zuschlängeln wollten. »Folgt meinem Geist in ihr Inneres hinein. Nutzt den Pfad, den ich euch zu ihr bahne, um nach ihren tiefsten Gedanken, Wünschen und Trieben zu suchen. Rollt euch um ihren Willen herum zusammen und zurrt ihn fest. Nicht so stark, um sie zu töten oder sie dessen zu berauben, was man vielleicht als Verstand bezeichnen kann. Ich will keinen Tempel voll sabbernder Idioten. Ich will einen Tempel voll gehorsamer Diener! Ergeift von ihr Besitz, damit ihr Gehorsam mir sicher ist!«
Neferet wirbelte zu dem Mädchen herum. Diese war so bleich geworden, dass ihre braunen Augen aussahen wie Blutergüsse. Tränen schwammen darin. »Miss Neferet, bitte tun Sie mir nichts!«
»Liebste Kylee, meine erste menschliche Jüngerin, ich will nur das Beste für dich. Der freie Wille ist eine schreckliche Last. Als ich ein Mädchen war, nicht viel jünger als du, war ich trotz meines freien Willens in einem Leben gefangen, in dem andere über mich bestimmten. Und wie vielen Menschen geht es so? Sieh dich doch an – diese niedere Arbeit, diese minderwertige Kleidung. Wünschst du dir nicht mehr vom Leben?«
»D-doch«, stotterte sie.
»Nun, dann ist das geklärt. Ich nehme dir den freien Willen und damit auch all die unerwarteten Schrecken, die das Leben mit sich bringt. Von jetzt an werde ich dich vor allem Unerwarteten beschützen, Kylee.«
Neferet bohrte ihren Blick in den des Mädchens und drang tief in deren Geist ein. Ihre Konzentration auf Kylee hinderte sie daran, nach unten zu blicken, aber sie wusste, dass eines ihrer treuen, starken Tentakel ihr gehorchte und sich an dem Mädchen hinaufschlängelte. Kylee konnte nicht sehen, was sich da um ihre Schenkel wand, aber sie spürte es definitiv. Sie öffnete den Mund und kreischte.
»Dring in sie ein, und mach ihrer Angst ein Ende!«, befahl Neferet.
Das Tentakel schoss nach oben, in den offenen Mund des Mädchens hinein. Kylee würgte krampfhaft und wäre wohl ohnmächtig geworden, hätte Neferet sie nicht unbeirrt in ihrem Bann gehalten.
»Wie schwach. Wie menschlich«, murmelte die Göttin vor sich hin, während sie spürte, wie sich Finsternis um den Verstand des Mädchens legte. Als Neferet das absolute Zentrum von Kylees Willen – deren Bewusstsein, deren Seele – erreicht hatte, befahl sie: »Umschließe es!«
Dank jenes sechsten Sinns, der ihr vor über hundert Jahren von einer anderen Göttin verliehen worden war, wurde Neferet Zeugin dessen, wie die Finsternis sich Kylees bemächtigte. Das Mädchen brach zuckend zusammen.
»Merkt euch genau die Methode, die ich euch soeben gezeigt habe, meine Kinder. Kylee ist nur die erste von vielen.« Neferet klatschte in die Hände. »Komm, Kylee. Reiß dich zusammen. Dein Leben ist gerade so viel reicher geworden, und ich habe noch eine Menge Aufgaben für dich.«
Wie eine Marionette an einer Schnur schoss Kylee in den aufrechten Stand.
»Na, das ist doch viel besser. Nun sag mir, wie viele Gäste derzeit im Hotel sind, und ich möchte kein lästiges Gekreische mehr hören.«
»Ja, Ma’am«, antwortete Kylee unverzüglich in mechanischem Ton.
Neferets Lächeln kehrte zurück. Sie war erfüllt von einem berauschenden Machtgefühl! Die Menschen würden sie anbeten müssen – dieser schwache Wille, der so leicht zu überwältigen war, ließ ihnen überhaupt keine andere Wahl. »Und hör auf, mich Ma’am zu nennen. Nenn mich Göttin.«
»Ja, Göttin«, antwortete Kylee automatisch und völlig ausdruckslos. Dann richtete sie den leeren Blick auf den Computerbildschirm und begann auf der Tastatur herumzutippen. »Wir haben momentan zweiundsiebzig Gäste, Göttin.«
»Sehr schön, Kylee. Und wie viele Dauermieter?«
»Fünfzig.«
Neferet legte einen langen Finger an Kylees Kinn und zwang sie, den Kopf zu drehen und sie anzusehen. »Fünfzig – und?«
Kylee erschauerte, aber ihr Blick blieb offen und leer. Sie berichtigte sich sofort. »Fünfzig, Göttin.«
»Sehr, sehr schön, Kylee. Ich werde mich jetzt in mein Penthouse zurückziehen. Denk daran, dieses Gebäude ist nun mein Tempel, und ich bestehe darauf, dass meine Privatsphäre sowie die Unversehrtheit meines göttlichen Leibes gewahrt werden. Verstehst du?«
»Ja, Göttin.«
»Das heißt: Sollte jemand zu dir kommen und nach mir fragen, dann wirst du ihm versichern, dass ich auf keinen Fall hier bin, und ihn wieder wegschicken.«
»Ich verstehe, Göttin.«
»Du warst mir eine außerordentlich große Hilfe, Kylee. Ich werde dir die Gnade gewähren, lange genug zu leben, um mich angemessen zu verehren.«
»Danke, Göttin.«
»Nichts zu danken, meine Liebe.« Während Neferet auf die blankpolierten Aufzugtüren zuglitt, winkte sie ihren getreuen Dienern. »Kommt, meine Kinder. Ich fürchte, wir werden ein wenig renovieren müssen.«
Eifrig schlängelten sich die prallen, von frischem Blut pulsierenden Fäden der Finsternis hinter ihrer Herrin her.
»Genau wie ich es mir dachte. Alles liegt in Trümmern! So geht das nicht!« Neferet stapfte durch den Raum voller umgestürzter Stühle und besudelter Teppiche. Einst war das hier das Wohnzimmer eines peinlich sauberen Luxus-Penthouse-Apartments gewesen. »Und alles stinkt nach geronnenem Blut! Leckt es auf!«, befahl sie. Die Tentakel gehorchten, wenn auch langsamer, als wenn sie ein frisches Mahl vorgesetzt bekamen. »Oh, nicht so zimperlich. Manches von dem Blut ist von Kalona. Selbst geronnen ist das Blut eines Unsterblichen noch mächtig.« Das schien die Tentakel etwas zu versöhnen, und in ihre Bewegungen kam mehr Enthusiasmus.
Während die Kinder arbeiteten, ging Neferet zu ihrem Weinvorrat und stellte fest, dass er leer war. Nicht eine Flasche von dem teuren Cabernet, den sie so liebte, war zu finden. »Das passiert, wenn man nicht da ist und diesen faulen Menschen auf die Finger schaut. Pflichtvergessenes Pack. Ich habe keinen Wein, und mein Penthouse ist ein Schweinestall!«
Ihr verärgerter Blick fiel auf das verwischte Häufchen Türkisstaub, das noch dort lag, wo ihre Tentakel die unerträglich sture Sylvia Redbird in einem Käfig aus Finsternis gefangen gehalten hatten. »Und das da! Lasst diesen fürchterlichen blauen Staub verschwinden. Er verschandelt den herrlichen schwarzen Marmorboden noch mehr als diese verdreckten Perserteppiche.«
Einige Tentakel wollten ihr gehorchen, schraken aber vor dem blauen Häufchen zurück, als wohnte diesem noch immer etwas von seiner Schutzmacht inne. Das Kühnste der wimmelnden Wesen bohrte sich in den Steinstaub, nur um sofort schaudernd zurückzuweichen. Seine glitschige, gummiartige Haut begann zu schwelen, und aus den Wunden trat eine dunkle, stinkende Flüssigkeit.
Neferet runzelte die Stirn und winkte das Tentakel zu sich. Mit ihrem scharfen Fingernagel riss sie sich die Handfläche auf. »Komm, trink von mir, und heile dich«, sprach sie ihm zu und genoss das Gefühl, wie das kalte Maul sich schmerzhaft in ihre Hand bohrte. Sie streichelte das Ding, während es trank. Es erzitterte unter ihrer Berührung.
»So funktioniert das nicht. Ein menschenverursachtes Durcheinander zu beseitigen ist keine Arbeit, die meiner treuen Kinder würdig ist. Für so etwas brauche ich menschliche Verehrer – Menschen, die mir zu Willen sind und mir Arbeit abnehmen. Erfreulicherweise befinden sich unter diesem Dach mehr als hundert davon. Nur ahnt von ihnen außer meiner guten Kylee noch niemand, wie beschäftigt sie bald sein werden. Hmmm … wie initiiere ich meine neuen Jünger wohl am besten?«
Sie schüttelte das saugende Tentakel ab. »Nicht so gierig. Du bist schon geheilt.« Das schleimige Ding glitt davon. Nachdenklich rieb sich Neferet den langen schlanken Hals. Sie musste die ideale Vorgehensweise finden, und zwar schnell.
Sie hatte in der Boston Avenue Church keine lebenden Zeugen zurückgelassen. Wohl aber einige hundert blutleere verstümmelte Leichen. »Natürlich werden die Behörden zuerst zum House of Night gehen. Thanatos wird sofort abstreiten, dass jemand aus ihrer ach so reinen Herde je so etwas tun würde. Sie wird mir die Schuld zuschieben. Ob sie ihr glauben oder nicht, selbst die unfähige Polizei wird irgendwann auf den Gedanken kommen, hier vorbeizuschauen.«
Mit ihren langen Fingernägeln trommelte sie auf den schwarzen Marmortresen ihrer unerfreulich leeren Bar. Sie durfte keine Zeit verlieren, es sei denn, sie beschloss, wieder unterzutauchen. »Nein. Ich werde mich nie wieder verstecken. Ich bin eine Göttin, eine Unsterbliche mit der Macht, die Finsternis zu beherrschen. Nyx hat mich nie verstanden. Kalona hat mich nie verstanden. Niemand hat mich je verstanden. Jetzt werde ich sie dazu bringen, mich zu verstehen – alle werde ich dazu bringen! Die Bewohner von Tulsa sollen sich vor mir verstecken, nicht ich mich vor ihnen!«
Sie musste schnell Tatsachen schaffen, bevor die Polizei kam und sie zu verhaften versuchte – oder etwas von ihrer Orgie in der Kirche in die Medien durchsickerte und die Gäste des Mayo – ihre neuen Jünger – flohen.
Neferet fand die Fernbedienung und schaltete den großen Flachbildfernseher an der Wand ein, der den Kampf zum Glück unbeschadet überstanden hatte. Im lautlosen Modus stellte sie einen Lokalsender ein. Die Augen auf den Bildschirm gerichtet, begann sie auf- und abzugehen und laut zu denken.
»Schade, dass ich die Menschen nicht alle wie die alte Frau einsperren und nur rauslassen kann, wenn ich ihre Dienste oder ihre Anbetung benötige. Das wäre so viel einfacher – für sie und, viel wichtiger, für mich natürlich. Ich wette, niemand würde sich mir so widersetzen wie Sylvia Redbird. Normale Menschen könnten einen von euch, meine Kinder, hergestellten Käfig aus Finsternis niemals von allein betreten oder verlassen. Und nach dem, was ich bisher gesehen habe, scheinen mir die Menschen hier eigentlich ganz normal zu sein.« Abrupt hielt sie an. Meine Jünger sind normale Menschen. Tulsa ist voll von normalen Menschen. Und ich bin inzwischen so viel mehr als ein normaler Mensch oder Vampyr.
Geistesabwesend streichelte sie ein Tentakel, das sich ihr um den Arm gewickelt hatte. »Ich muss die Menschen hier nicht gefangen halten. Ich kann ihnen Schutz bieten, ihnen die Chance geben, ein erfülltes Dasein der Anbetung zu führen. Genau wie ich es bei Kylee getan habe.« Sie liebkoste das Tentakel, das sich vor Vergnügen ringelte. »Ich muss sie nicht einsperren. Ich muss sie umsorgen!«
Mit ausgebreiteten Armen schenkte sie ihren finsteren Dienern ein Lächeln, wunderschön und schrecklich zugleich. »Ich kenne die Lösung für unsere Probleme, meine Kinder! Der Käfig, in dem wir Sylvia Rebird gefangen hielten, war ein schwacher, jämmerlicher Versuch. Seither habe ich viel gelernt. Und so viel Macht gewonnen – wir haben so viel Macht gewonnen. Wir werden die Menschen nicht in Käfige sperren. Ich bin keine Gefängniswärterin, sondern eine Göttin.
Meine Kinder, wir werden die Mauern meines Tempels selbst in euer magisches, unzerbrechliches Geflecht hüllen, damit meine Jünger in der Lage sind, mich ungehindert anzubeten. Und das wird nur der Anfang sein. Wenn ich weiter an Macht gewinne, warum nicht die ganze Stadt einschließen? Ich kenne jetzt meine Bestimmung.
Ich werde den Grundstein meiner göttlichen Regentschaft legen, indem ich Tulsa zu meinem Olymp mache. Kein dröger Olymp wie in den Mythen. Dieser hier wird real sein – eine finstere Anderwelt auf Erden! In meiner finsteren Anderwelt wird es keine menschlichen Monster geben, die unschuldige Lämmer reißen. Alle werden unter meinem Schutz stehen. Ich werde ihr Schicksal in den Händen halten – sie werden keine anderen Pflichten haben, als meine Wünsche zu erfüllen. Ah, wie sie mich anbeten werden!«
Angesteckt von ihrer Begeisterung wanden die Tentakel sich erregt um Neferet. Sie lächelte und streichelte diejenigen, die ihr besonders nahe kamen. »Ja, ja, ich weiß. Das wird herrlich werden. Aber zuallererst, meine Kinder, brauche ich den Zimmerservice. Lasst uns meine neuen Diener rufen. Einige von ihnen werden diese Räumlichkeiten säubern. Andere werden mir endlich Wein bringen. Und sie alle werden mir uneingeschränkt gehorchen. Macht euch bereit. Die Zeit von Neferet, Göttin der Finsternis, ist angebrochen!«
Es lief glatter, als Neferet zu hoffen gewagt hatte. Nicht nur waren die Menschen lächerlich leicht zu beherrschen, sie alle waren ebenso wehrlos wie Kylee gegen das finstere Tentakel, das sich in sie bohrte. Neferet hatte recht gehabt. Die Menschen waren auf sie so angewiesen wie ein Baby auf seine Mutter.
Der einzige Haken an der Sache war, dass sie nicht unbegrenzt viele Tentakel zur Verfügung hatte. Nachdem sie zerschmettert worden war, blieben ihr nur ihre treuesten, wahrsten Kinder. Kurz erwog sie, mehr Fäden der Finsternis zu sich zu rufen, schob den Gedanken aber ebenso schnell wieder von sich. Die Kinder, die sie in der Zeit ihrer größten Not verließen, hatten bitteren Verrat an ihr geübt, und das würde sie ihnen nicht verzeihen.
Mit einem Glas ihres Lieblings-Cabernet in der Hand schlenderte sie zwischen den Menschen herum, die sich bemühten, das von Zoey und ihren Freunden verursachte Chaos in ihrem Penthouse peinlich genau zu beseitigen. Sie zählte sie. Sechs. Vier Zimmermädchen und zwei Männer vom Zimmerservice. Neferets Mundwinkel hoben sich – eigentlich waren es eher Jungen, beide blond, und beide waren auf ihre Bitte nach Wein hin sofort eifrig losgeeilt. Als sie aus dem Aufzug traten, hatten sich ihre Gedanken so deutlich in ihren Mienen gespiegelt, dass Neferet sich nicht die Mühe gemacht hatte, in ihren Geist einzudringen. Sie begehrten sie. Mit aller Macht. Offenbar hatten sie gehofft, sie wünsche zu ihrem Wein auch etwas Blut und Sex. Die Narren! Jetzt gehorchten sie mit mechanischen Bewegungen ihren Befehlen. Sie waren genau so, wie sie menschliche Männer am liebsten hatte – stumm, gefügig und jung.
»Das Leben ist wundervoll, meine Herren. Nicht wahr?«
Zwei blonde Köpfe hoben sich und drehten sich ihr zu. »Ja, Göttin«, sagten die beiden wie auf Kommando.
Neferet lächelte. »Wie ich schon so oft gesagt habe, der freie Wille ist eine schreckliche Bürde. Es war mir ein Vergnügen, euch davon zu befreien.« Dann befahl sie: »Jetzt aber wieder an die Arbeit.«
»Danke, Göttin. Jawohl, Göttin«, gaben sie im Chor zurück.
Nun hatte sie schon sechs ihrer Tentakel eingesetzt. Nein, sieben mit der kleinen Kylee an der Rezeption. Nachdenklich betrachtete sie das wimmelnde Nest ihrer Kinder, die die eingeschlagene Tür zur Dachterrasse umschwärmten, um die letzten Tropfen von Kalonas Blut aufzulecken. Wie viele waren es? Sie versuchte, sie zu zählen, aber vergeblich. Sie bewegten sich schnell und neigten dazu, nach Lust und Laune miteinander zu verschmelzen und sich dann wieder voneinander zu lösen. Aber es waren viele. Und durch das Festmahl waren sie alle größer, dicker und merklich stärker geworden. Sie müssen unbedingt gut genährt bleiben. Sie dürfen nicht dahinschmelzen – dann würde auch meine absolute Kontrolle über die Menschen dahinschmelzen.
Entschlossen nahm Neferet das Haustelefon und drückte die Null.
»Rezeption. Was kann ich für Sie tun, Neferet?«, fragte Kylees muntere Stimme schon nach dem ersten Klingeln.
»Kylee, wenn ich dich anrufe, ist die korrekte Antwort: ›Wie kann ich Euch dienen, meine Göttin?‹«
Kylees Stimme wurde flach. Völlig leblos sagte sie: »Wie kann ich Euch dienen, meine Göttin?«
»Sehr schön, Kylee. Du lernst so schnell. Ich muss wissen, wie viel Personal heute in meinem Tempel arbeitet.«
»Sechs Zimmermädchen, zwei Pagen, vier Leute vom Zimmerservice und ich. Eigentlich sollte Rachel mit mir an der Rezeption sitzen, aber sie hat sich krank gemeldet.«
»Die arme unglückliche Rachel. Aber damit bleibt die herrliche Anzahl von dreizehn. Ohne das Restaurant natürlich. Ist es heute geöffnet?«
»Ja, wir haben sonntags bis vierzehn Uhr zum Brunch geöffnet.«
»Und wie viel Personal gibt es dort?«
Kylee überlegte und zählte dann auf: »Der Küchenchef, der Souschef und ein Beikoch, der Barkeeper, der auch der Verwalter ist, und drei Kellnerinnen.«
»Macht zusammen zwanzig. Hör zu, Kylee. Schließ sofort das Restaurant, aber lass keinen der Angestellten gehen. Sag ihnen, das Hotelmanagement hat gewechselt, und der neue Besitzer will eine Besprechung mit dem gesamten Personal abhalten.«
»Ich werde tun, was Ihr sagt, Göttin, aber das Restaurant gehört nicht den Snyders.«
»Wer sind die Snyders?«
»Die Familie, die das Mayo 2001 gekauft und renoviert hat. Ihnen gehört das Gebäude.«
»Korrigiere, Kylee: Ihnen gehörte das Gebäude, das man bisher als Mayo Hotel kannte. Ich herrsche über den Tempel, zu dem ich es bestimmt habe. Aber egal, all das wird sich sehr bald klären. Deine Aufgabe ist jetzt nur, den Angestellten des Hotels und des Restaurants zu sagen, dass sie sich in dreißig Minuten in meinem Penthouse zur Personalbesprechung einfinden sollen. In Zukunft werde ich das Wort ›Personalbesprechung‹ aber abschaffen. In Wahrheit ist es eine Gelegenheit, eure Göttin anzubeten. Hört sich das nicht viel netter an als Personalbesprechung?«
»Ja, Göttin.«
»Sehr gut, Kylee. Ich erwarte dich und meine neuen Jünger in dreißig Minuten.«
»Aber ich kann die Rezeption nicht unbesetzt lassen, Göttin. Wenn nun jemand aus- oder einchecken will?«
»Die Antwort ist einfach, Kylee. Verriegle alle Türen, durch die man meinen Tempel betreten oder verlassen kann, und bring die Schlüssel hierher mit.«
»Ja, Göttin.«
Neferet würde sich eine andere Räumlichkeit suchen müssen, um die Huldigungen ihrer Untertanen entgegenzunehmen. Für so viele Menschen war ihr Penthouse viel zu eng. Nun, für den Moment musste es genügen. Sie hatte in der Buntglas-Doppeltür Aufstellung bezogen. Die zerbrochenen Scheiben waren inzwischen von einem der beiden blonden Jungen ersetzt worden. Die grellen elektrischen Lampen waren gelöscht worden, und auf ihren Befehl hin hatten die Zimmermädchen Kerzen gebracht. Nun waren der Tresen, der Kaminsims, der Art-déco-Couchtisch aus Marmor und der große massive Esstisch mit Kerzen jeder Größe und Form übersät. Auch aus den Hängelampen beidseits der Tür hatte sie die Glühbirnen entfernen und durch weiße Wachskerzen ersetzen lassen. Sie nahm sich vor, ihre Diener weitere Kerzen kaufen zu lassen – viele, viele Kerzen.
Zufrieden ließ Neferet den Blick durchs Penthouse schweifen. Alles sah schon besser aus. Sie genoss ihre zweite Flasche Cabernet und freute sich schon darauf, ihn später, in intimerer Atmosphäre, noch mehr zu genießen, wenn einer ihrer Jünger etwas von seinem (oder ihrem) Blut hineingegeben haben würde.
Froh, dass ihre Kleidung während ihrer Abwesen