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Brianna kehrt nach 17 Jahren zurück nach Irland, zurück nach Hause. Um ihrer Tante zu helfen, muss sie sich ihrer Vergangenheit, ihren Ängsten und dem Mann stellen, den sie als Jungen verlassen musste: dem Vater ihrer unehelichen Tochter! Das Mädchen ahnt nicht, dass sie im Land ihrer Träume mehr als neue Freunde finden könnte, und ihre Welt bricht zusammen, als sie erfährt, wieso ihre Mutter die Insel verlassen hat. Bewahrt sie sich dennoch ihre Liebe zu Irland? Kann sie ihrer Mutter vielleicht sogar helfen, über die Vergangenheit hinweg in die Zukunft zu blicken?
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Seitenzahl: 436
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Heimkehr wider Willen
Alte und neue Freunde
Die Wahrheit
Familie
Großeltern für einen Tag
Die Zukunft
Maeves Rückkehr
Der Plan
Die Sünde
Abschied
Mit diesem Buch möchte ich den tausenden Opfern in Mutter-Kind-Heimen in Irland gedenken. Teils geführt von der Kirche und finanziert von der Regierung lebten und starben uneheliche Kinder und ihre Mütter unter grausamen Bedingungen und endeten in namenlosen Massengräbern.
Diese Verbrechen stammen nicht aus dem tiefsten Mittelalter, sondern aus dem 20. Jahrhundert, aus dem Jahrhundert unserer Eltern und Großeltern, in dem auch ich geboren wurde.
Jedes Kind hat ein Recht auf Leben. Und jede Mutter hat ein Recht auf ein Leben mit ihrem Kind.
Egal, woher ein Kind kommt, es ist ein Mensch!
Wer sagt, das Leben sei schön und man könne aus seinem Leben alles machen, was man will, hat nur nicht den Mut, der Wahrheit ins Auge zu blicken und zu gestehen: Das Leben ist nicht immer schön. Es kann sich unverhofft zur Tragik wenden und jene verletzen, die es nicht verdienen. Das Leben bricht Herzen und lässt Menschen erkalten, die voll heißer Liebe waren.
Es wird nie geschehen, dass mehrere Menschen in absolut allen Dingen den gleichen Weg einschlagen wollen. Es muss Kompromisse geben, jemand muss zurückstecken und auf etwas verzichten. Nicht selten kommen dabei die Gerechtigkeit und die Liebe zu kurz, weil der Schwächere immer wieder von Stärkeren zurückgedrängt wird. Einfach zerquetscht wie eine lästige Fliege auf der Obstschale.
Eine dieser Fliegen war Brianna Fynn, dabei sah man es ihr nie an. Sie lebte mit ihrer Tochter Lena in einem gemütlichen Häuschen am Rande einer Kleinstadt in Deutschland und trug immer ein Lächeln auf den Lippen, wenn sie ihre Tochter ansah. Lena war der einzige Lichtblick in Briannas Leben. Wenn sie sie nur betrachtete, spürte sie Wärme in ihrem sonst so kalten Herzen. Ihre Tochter war die sichtbar gewordene Liebe Briannas. Die einzige Liebe, die sie je gehabt hatte und nie wieder haben würde, wie sie wusste. Deshalb empfand sie mehr Genuss als andere dabei, Lena nur bei den Hausaufgaben zuzusehen. Dann konnte sie sich in ihren Erinnerungen verlieren und lächeln, fiel es ihr sonst auch schwer. War sie allein, ohne das Glück leibhaftig vor sich zu sehen, drückte sie die einsame Traurigkeit zu Boden.
Als Lena aus der Schule kam, warf sie ihre Tasche in die Ecke, ließ sich auf das Sofa fallen und schnaufte durch. Endlich Ferien!
Brianna kam mit einem Tablett zu ihr, das Lenas Aufmerksamkeit nicht so sehr beanspruchte wie der eigenartige Gesichtsausdruck ihrer Mutter. Sie kannte ihre Mutter fast nur mit einem warmen, herzlichen Lächeln voller Liebe. Sie mochte dieses Lächeln, doch an diesem Tag war es nicht echt. Lena konnte selbst nicht benennen, woran sie es festmachte. Vielleicht waren die Augen ihrer Mutter mit Sorgen gefüllt, vielleicht berührte das Lächeln nicht ihr Herz – irgendwas war einfach anders als sonst!
Brianna stellte das Tablett auf den niedrigen Glastisch vor der Couch. Sie hatte Lenas Lieblingskekse – Schokoladenteig mit ganzen Schokoladenstückchen – gebacken. Dazu servierte sie selbst gemachten Eistee und rundete den Anblick mit einem bunten Blumenstrauß aus dem wilden Garten hinterm Haus ab.
Lena sah es nicht mal an. Keinen Blick, keinen Gedanken verschwendete sie an Kekse, Eistee oder Blumen. Mit ernster Miene musterte sie ihre Mutter und suchte den Auslöser für das unwohle Gefühl in ihrem Bauch.
„Was ist los?“, fragte sie skeptisch, denn aus der Mimik ihrer Mutter war nichts zu lesen.
„Wieso?“
„Du hast irgendwas.“
Brianna griente verlegen in sich hinein. Sie kannten sich gut, das funktionierte in beide Richtungen. Ausreden waren zwecklos und auch unnötig zwischen ihnen. Lena würde die Lüge sowieso erkennen. „Nicht jetzt. Jetzt wird gefeiert. Wie sieht es denn aus?“
Lena überlegte noch einen Augenblick, ob sie ihre Mutter vorerst vom Haken lassen sollte. Offenbar war es nichts so Schwerwiegendes, dass es nicht noch ein paar Minuten warten würde. Es gab also keinen Grund, sich dem Triumph nicht hinzugeben. Sie begann zu grinsen, breiter als es einem Menschen möglich sein sollte. „Ich hab es in Bio noch geschafft. Das wird teuer für dich.“
„Ich ahne es“, lachte Brianna in melodischen Klängen und voll Freude, die noch einige Minuten zuvor niemand in ihr gesehen hätte, wenn jemand da gewesen wäre. Sie konnte nicht lachen, nicht mal lächeln, solange ihre sichtbar gewordene Liebe nicht in Sichtweite war.
Sie hatte Lena einen Ansporn für die Schule gegeben. Für jede Eins und jede Zwei bekam sie Geld. Die Zensuren auf dem Zeugnis wurden sogar noch höher vergütet. Es hatte funktioniert. Die Naturwissenschaften waren nicht so Lenas Ding. Eine Drei in Physik, ansonsten jede Menge Einsen und Zweien. Da musste Brianna sehr tief in die Tasche greifen, tat es aber gern. Für Lena waren ihre Schulnoten die beste Einnahmequelle, um ihr Taschengeld aufzubessern. Und passend zu den Ferien landeten jede Menge Scheine in ihrer Hand. Das war glatt noch ein Grund, warum sie sich auf die Ferien freute.
Kein Geld der Welt war Lena jedoch wichtig genug, wenn sie die Sorgen im Gesicht ihrer Mutter sah. So gut sie auch versuchte, es zu verbergen, gelang es Brianna nicht und Lena forderte eine Erklärung.
„Na schön“, schnaufte Brianna und ließ sich neben Lena an die Sofalehne fallen. Es hatte keinen Sinn, sich noch länger vor der Wahrheit zu drücken. Die schlechte Nachricht zu überbringen, war im Moment das schlimmste aller Übel. „Tante Maeve ist krank.“
„Was?“, hauchte Lena geschockt. „Was hat sie denn?“
Brianna verdrehte lachend die Augen. „Von der Leiter gestürzt, als sie im Regen das Dach reparieren wollte.“
„Klingt ganz nach ihr“, musste Lena zugeben. „Wie geht es ihr?“
„Sie dreht grad durch, sag ich dir. Sie hat sich einige Knochen gebrochen und ist noch im Krankenhaus.“
„Die armen Schwestern“, murmelte Lena amüsiert. Sie liebte ihre Tante Maeve, aber die war nicht gerade auf den Mund gefallen, ziemlich herrisch und störrischer als ein Esel.
„Du sagst es“, lachte Brianna. Die Erinnerung an das Telefonat war tatsächlich so witzig, dass sie bereute, es nicht für Lena aufgenommen zu haben. „Als ich mit ihr telefoniert hab, hat sie grad eine Schwester nach einem Kaffee losgeschickt, weil man das Gesöff ja nicht trinken könne.“
„Oh je.“ Lena versuchte, sich ihre Tante in einem Krankenhausbett vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. Tante Maeve war immer hyperaktiv, aufgedreht und ziemlich verrückt. Still in einem Bett herumzuliegen - das passte nicht zu ihr.
„Hör zu“, sagte Brianna beschwingt und nahm die Hand ihrer Tochter zwischen ihre. Sie hatte sich entschieden, es einfach auszusprechen. „Sie hat mich gebeten, eine Weile auf ihren Hof aufzupassen.“
Lena zog jetzt schon die Brauen zusammen. Eigentlich hatten sie vorgehabt, mit dem Rucksack und einem Zelt einfach loszulaufen. Sie hatten die Ferien in der Wildnis verbringen wollen. Und jetzt? Von Freiheit in der wilden Natur hin zum Farmleben in Irland! Ganz toll.
„Och man ...“, schmollte sie.
„Ich weiß“, lächelte Brianna und strich liebevoll eine Strähne hinter Lenas Ohr zurück. „Aber sieh mal, wir haben Tante Maeve viel zu verdanken. Ohne sie könnten wir uns das hier nicht mehr leisten.“
Sie schloss mit einem Blick den ganzen Raum ein. Lena wusste das natürlich. Seit sich ihr Vater aus dem Staub gemacht hatte, wurden sie von Tante Maeve unterstützt. Sie überwies ihnen monatlich genug Geld, um das Haus halten zu können.
Aber es war nicht die finanzielle Verpflichtung, es war die Einsicht, ihrer Tante helfen zu wollen, die Lena dazu trieb, niemandem einen Vorwurf zu machen. Unfälle passieren eben und sie war froh, dass Tante Maeve es überlebt hatte und offenbar glimpflich davongekommen war. Dass ihre Ferienpläne nun über den Haufen geworfen wurden, war einfach Pech.
So packte sie nicht ihren extra angeschafften Trekkingrucksack, sondern einen richtigen Koffer. Das Zelt, den Schlafsack und die Isomatte verstaute sie mit den Wanderstiefeln wieder im obersten Fach ihres Schrankes. Vielleicht im nächsten Jahr oder in den Herbstferien, dachte sie und verschloss mit dem Schrank auch ihre Enttäuschung. Es ließ sich ja nicht ändern.
Brianna sah es ihr trotzdem an. Auch ihr blieb es verwehrt, die Vergangenheit zu ändern und den Unfall rückgängig zu machen. Für ihre Tochter wollte sie dennoch wenigstens ein bisschen der geplanten Freiheit einfangen. Sie würden nicht mit dem Flugzeug nach Irland reisen, sondern mit dem Auto.
Als Lena das hörte, begannen ihre Augen zu glänzen. „Wieso das denn? Da sind wir doch ewig unterwegs.“
„Zwei Tage vielleicht.“ Brianna zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Es ist kein Zelt, aber wenn wir damit zum Schlafen irgendwo stehenbleiben, fühlt es sich vielleicht ein bisschen so an.“
„Oh Ma!“, quiekte Lena und fiel ihrer Mutter um den Hals. „Das wird witzig! Soll ich Musik holen?“
„Ich hatte es gehofft. Aber überreize mich nicht.“
„Keine Sorge!“
Lena rannte noch mal zurück in ihr Zimmer und plünderte ihr nicht gerade knapp gefülltes CD-Regal. Hätte sie das eher gewusst, hätte sie sich noch passende Playlists auf dem Handy erstellt, aber sie mochte es auch, eine CD in den Player zu legen.
Lena wusste, welche Musik ihre Mutter gern hörte, und im Großen und Ganzen lagen sie auf einer Wellenlänge. Ihre Mutter war nicht unbedingt der Schlager- oder Countrytyp. Mit ihr konnte man auch richtige Partys feiern. Von Lenas Lieblingssongs aus den aktuellen Charts hatte Brianna die Texte drauf und tanzte oft mit ihrer Kleinen durchs Haus dazu. Sie war mit siebzehn Mutter geworden, also eine junge Mutter, die den Anschluss nicht verpasst hatte.
Andererseits konnte Lena aber auch zu Rock 'n' Roll richtig tanzen und feiern. Davon hatte sie sich irgendwann einmal eine CD zusammengestellt, die sie zuerst einlegte. Die flotten Takte vertrieben die letzten trüben Gedanken. Sie sangen mit voller Inbrunst mit, während sich Brianna durch den Verkehr schlängelte.
Von Leipzig über die A38 nach Kassel, von dort über die A44 nach Dortmund, ein Stück durch die Niederlande, dann über Antwerpen nach Calais. Bis dahin war Lena noch nie am Meer gewesen. Es hatte sich einfach nicht ergeben und sie war, wenn sie die Wahl gehabt hatte, lieber in die Berge gefahren. Jetzt würde sich gleich zeigen, ob sie seetauglich war. Die Fähre war riesig in ihren Augen, aber gut, wie sollte ein kleines Boot die ungeheure Masse an Autos aufnehmen? Sogar Reisebusse verschlang die Fähre in ihrem Bauch wie ein gigantisches Monster.
Während der etwa eineinhalbstündigen Fahrt stand Lena mit ihrer Mutter unter freiem Himmel an ein Geländer gelehnt und in eine angeregte Unterhaltung vertieft, bestaunte nebenher die Weite des Meeres und war froh darüber, dass ihr überhaupt nicht schlecht wurde. Eine Gruppe Kinder, vermutlich ein Ferienausflug, rannte in regelmäßigen Abständen an ihnen vorbei. Die Sonne lag irgendwo hinter der dicken grauen Masse verborgen. Man konnte nicht mal die Konturen von Wolken erkennen. Es war einfach nur ein grauer Himmel, zu dicht für jeden noch so kleinen Sonnenstrahl. Der Wind so weit auf offener See war wirklich kalt, aber die kleinen Rabauken schien das nicht zu stören. Lena und Brianna waren in dicke Regenjacken gemummelt, die sie bis oben hin geschlossen hatten. Die Kinder dagegen hatten zwar auch Regenjacken übergezogen, trugen darunter allerdings kurze Hosen und Sandalen. Ein kleines Mädchen, vielleicht vier Jahre alt, trug unter der Regenjacke ein niedliches rosa Kleidchen. Sie war langsamer als die Jungen und rannte immer mit einigem Abstand hinter ihnen her. Spaß hatte sie trotzdem daran.
In Dover von der Fähre zu fahren, war ja noch recht einfach. Dabei konnte eigentlich nichts schiefgehen. Sie wurden vom Schiffspersonal in die richtige Richtung gewunken und folgten einfach der ellenlangen Schlange der anderen Autos, mussten noch eine Kontrolle über sich ergehen lassen und wurden dann in den englischen Verkehr entlassen. Und das hieß Linksverkehr!
In der ersten Stunde gab es kein anderes Thema. Ein Navigationssystem sagte ihnen die Richtung an, sie mussten also nicht auch noch mit einer Karte kämpfen. Das machte es nicht leichter. Brianna war noch nie im Linksverkehr gefahren und Lena hatte nicht mal einen Führerschein machen wollen.
An einem Kreisverkehr wäre es definitiv zu einem Crash gekommen, wenn der nette andere Autofahrer nicht den Falschfahrern den Vortritt gelassen hätte. Es war ein Ire, wenn man dem Nummernschild folgte. Er hielt mitten im Kreisverkehr an und gab Brianna mit höflicher Handbewegung den Weg frei. Zum Glück stand auch an ihrem Auto deutlich, dass sie aus Deutschland kamen. Man sah ihr also hoffentlich nach, dass sie so ihre liebe Not mit den Verkehrsregeln hatte. Der Ire lachte auch nur, als sie sich bedankte. Genau wie alle anderen, die wegen ihr an und in dem Kreisverkehr stehenbleiben mussten, weil sie fast verkehrt herum reingefahren wäre und das erst mal korrigieren musste. Was für ein Einstand!
„Endlich“, stöhnte Lena erschöpft, als sie Dover verlassen hatten und auf einer Art Landstraße fuhren. Zweispurig, sie konnten also langsam fahren und sich von dem Schock erholen. Aber wichtig! Langsame Fahrer gehören auf die linke Spur, nicht auf die rechte!
Brianna kicherte leise vor sich hin. „Du wolltest doch einen Abenteuerurlaub.“
„Aber überleben wollte ich ihn bitte auch noch. Wie rechnet man denn die Geschwindigkeiten um?“
„Mach dir mal keine Sorgen, das krieg ich schon hin“, versicherte Brianna liebevoll. „Such lieber mal auf der Karte, wo wir was essen wollen.“
„Echt britisch?“
„Wenn ich bitten darf.“
In der Hinsicht standen sie sich in nichts nach. Bekamen sie die Chance auf eine neue Erfahrung, dann packten sie sie und ließen sie nicht mehr los. In diesem Falle endete es mit Völlegefühl, Übelkeit und einem ungeplanten Schläfchen auf einem Rastplatz ...
Im Nordwesten von England wartete dann die nächste Fähre, diesmal für eine etwas längere Zeit, die sie zum Schlafen nutzten. Als Lena aufwachte, war ihre Mutter weg. Lena runzelte unsicher die Stirn und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Die Bank war nicht unbedingt das, was man bequem nennen würde, aber der Kerl da drüben auf dem Stuhl hatte es wohl noch ungemütlicher. Dabei schien er tief und fest zu schlafen. Sein Hintern hing über die Sitzfläche hinweg, sodass er direkt auf dem Steißbein oder der Wirbelsäule saß. Seine Beine hatte er lang ausgestreckt und den Nacken auf der niedrigen Lehne platziert. Lena beobachtete ihn eine Weile. Wenn sie so schlafen würde, würde sie spätestens beim Aufwachen, wenn sie überhaupt hätte einschlafen können, jeden Muskel spüren und sich vermutlich nicht mehr bewegen können.
Sie wandte den Blick ab. Neben ihr, wo ihre Mutter gelegen hatte, lag ein Zettel. Bin auf dem Deck ganz oben, ganz vorn.
Lena nahm sich ihren kleinen Rucksack, den sie als Kopfkissen missbraucht hatte, und machte sich verschlafen auf die Suche nach ihrer Mutter.
Brianna war gar nicht erst eingeschlafen. Seit sie sich auf diese Reise begeben hatte, krampfte sich ihr Herz mit jedem Kilometer, den sie näher kamen, mehr zusammen. Die Sonne ging gerade auf. Hinter ihr kroch eine kalte, graue Helligkeit den Himmel hinauf. Vor ihr war es noch fast nachtschwarz, nur einige Umrisse waren zu erkennen. Irland, dachte sie wehmütig. Sie hatte nicht daran geglaubt, je wieder einen Fuß in ihre Heimat zu setzen.
Vor ihrem geistigen Auge baute sich die Vergangenheit auf. Damals war sie siebzehn gewesen und glücklich. Reines und tiefes Glück, wie sie es nie wieder erlebt hatte. Auf den drei Schwestern stand sie im Wind der Höhe. Das Land endete direkt vor ihren Schuhspitzen und fiel senkrecht an die hundert Meter abwärts ins Meer hinein. Die Wellen schlugen laut gegen den Widerstand und übertönten doch nicht das Rauschen des Windes in ihren Ohren, der wiederum nicht laut genug war, die geflüsterten Worte zu überhören.
„Ich liebe dich.“
Ein Lächeln legte sich auf Briannas Lippen, damals wie heute. Sie spürte die starken Arme, die sich um sie gelegt hatten. Hinter ihr stand der eine Mann, den sie immer geliebt hatte, aber nicht hatte lieben dürfen. Sein Gesicht stachelte, er hatte vergessen, sich zu rasieren, aber sie mochte das. Sie schmiegte ihre Wange gegen seine und lehnte sich vertrauensvoll zurück. Auch hinter ihr ging es recht steil abwärts, aber Pad würde sie halten - keine Frage. Wo auch immer sie abzustürzen drohte, würde er stehen und sie halten. Und gemeinsam hielten sie die Hände auf Briannas Bauch, sahen aufs Meer hinaus, schwiegen und genossen.
„Ma!“
Brianna zuckte zusammen und drehte sich erschrocken herum. Dort kam sie – direkt auf sie zu. Die sichtbar gewordene Liebe. Brianna lächelte verträumt. Lena hatte eindeutig die blauen Augen ihres Vaters. Kam Brianna in den Genuss, Lena in die Augen sehen zu dürfen, dann war es, als sähe sie in Patricks Seele hinein.
„Wo träumst du dich denn hin?“, fragte Lena amüsiert von dem Blick ihrer Mutter. Den hatte sie noch nie gesehen. So weit fort, aber offenbar an einem schönen Ort.
„Hier und da.“
Endlich war Lena nah genug herangekommen. Brianna nahm das schmale Gesicht ihrer Tochter vorsichtig in die Hände, als wäre sie eine zerbrechliche Porzellanpuppe, und küsste sie sanft auf die Stirn. „Ich liebe dich.“
Das hörte Lena immer wieder gern. „Ich dich auch, Ma.“
Sie drückte sich an sie, schloss die Augen und nahm den milden Rosenduft in sich auf. Ihre Mutter roch immer nach Rosen, aber nicht aufdringlich. Sehr dezent und lieblich. Lena konnte sich nicht an den Tag erinnern, da sie keine Rosen gerochen hatte. Die gehörten einfach dazu.
„Hast du ausgeschlafen?“, fragte Brianna leise.
„Geht so“, antwortete Lena leichthin. Wenn sie ehrlich war, dann schlief sie beinahe im Stehen ein. Sie war so gefüllt mit Vorfreude auf Irland, dass sie aber nicht mehr schlafen konnte. Es fühlte sich an, als hätte sie die Nähe zu der Insel geweckt, damit sie die Ankunft nicht verschlief. „Wollen wir hier frühstücken oder in Dublin?“
„Ich würde sagen, wir verschieben das auf Dublin oder eine Raststätte dahinter, wenn es in Dublin zu voll ist.“
„Guter Idee.“
Brianna sah über Lenas Kopf hinweg Irland entgegen. War dies der richtige Augenblick? Sollte sie ihrer Tochter endlich beichten, dass sie ein uneheliches Kind war? Dass der Mann, den sie als Vater kannte, nicht ihr leiblicher Vater war? Sollte sie ihr erzählen, dass Brianna selbst hier in diesem Land aufgewachsen war? Dass sie hier ihre Liebe gefunden und verloren hatte? War es wirklich schon so weit, ihrem Schatz offenbaren zu müssen, dass Brianna nach Hause kehrte? Lena wusste, dass sie irische Wurzeln hatte, aber nicht, dass ihre Mutter noch in Irland geboren worden war. Und auch jetzt brachte Brianna es nicht über sich, ihr davon zu erzählen. Sie hatte mit dem Thema abgeschlossen gehabt und fand sich nur schwer damit ab, dass die alten Wunden wieder aufgerissen wurden. Lena - als Inbegriff ihres neuen, einsamen Lebens - von ihrem alten Leben zu erzählen, hätte beides verbunden und so weit war Brianna selbst noch nicht.
In Dublin mussten sie sich nicht neu an den Linksverkehr gewöhnen, obwohl es auch hier wieder Regeln gab, die es in England nicht gegeben hatte. Brianna war vorbereitet und hatte sicherheitshalber für alle Länder, durch die sie gefahren waren, die wichtigsten Verkehrsregeln ausgedruckt. Vor allem die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Wenn sie etwas nicht wusste, bat sie Lena, noch mal nachzusehen. Sobald sie neu in ein Land einfuhren, las Lena alles von sich aus vor und gab sich Mühe, es selbst zu behalten, um im Fall der Fälle schnell genug antworten zu können.
Dublin hatte sich verändert, überlegte Brianna. Es war lange her und sie war auch nicht oft hier gewesen, aber es war moderner geworden. Man hätte es kaum von einer anderen europäischen Großstadt unterscheiden können. Der irische Charme war verlorengegangen. Vielleicht war er in irgendwelchen Winkeln erhalten geblieben, aber da kamen sie nicht vorbei. Ihr Ziel war das County Kerry an der Westküste.
Limerick erschien auf den Schildern und Brianna beobachtete mit Entsetzen, dass die Kilometerangabe dahinter viel zu rasant abnahm. Dann war es schon vorbei, Limerick lag hinter ihnen.
Sie fuhren in Tralee ein. Hier war Brianna oft im Theater oder zum Tanzen gewesen, wenn sich jemand gefunden hatte, der sie gefahren hatte. Ihr altes Leben, das irische Leben, brach in Sturzbächen über sie herein. Kleinigkeiten, an die sie plötzlich wieder dachte, die sie zuvor jahrelang in ihrem Herzen eingeschlossen hatte, spielten sich vor ihrem geistigen Auge ab, als wäre kein einziger Moment vergangen.
Murphy hatte sie ins Kino eingeladen. Es hatte ein Date nur zum Schein werden sollen. Murphy war ihr bester Freund gewesen und hatte ihr beweisen wollen, dass Pad das nicht hinnehmen würde. Und so war es gekommen. Pad war in die Vorstellung gestürmt, hatte Murphy rausgeprügelt und ihn zusammengestaucht. Brianna hatte lächelnd daneben gestanden und sich bestätigt gefühlt. Es hatte keine Zweifel an ihrer Liebe gegeben.
Als Pad damals mitbekommen hatte, was der Zweck des Ganzen gewesen war und wie dämlich er sich benommen hatte, obwohl ein Liebesgeständnis wohl nie dämlich sein kann, hatte er beide in den Pub eingeladen. Danach waren die drei noch unzertrennlicher gewesen.
Mit Sarah war Brianna damals in eine irische Folklore-Tanzgruppe eingetreten. Sie hatten große Stars werden wollen und von Tralee aus die ganze Welt anvisiert. Nun kehrte Brianna aus der Welt zurück, um ihre Tante Maeve im Krankenhaus in Tralee zu besuchen.
Tante Maeve war in die Jahre gekommen. Mittlerweile war sie Anfang fünfzig und gezeichnet von einem harten Arbeiterleben auf der Farm. Ihre Hände waren von Rissen und Schwielen übersät, ohne ihnen die Sanftheit zu nehmen. Ihr Gesicht war von der Sonne gegerbt und von Falten zerfurcht, hauptsächlich Lachfalten, die ihr ein altes, liebevolles, aber dominantes Gesicht verliehen. Die schroffe Struktur unterstrich vor allem die Härte einer Domina, dabei konnte man mit ihr jede Menge Spaß machen. Nur zum Feind wollte man sie nicht haben.
„Bri!“, strahlte sie ihr schon entgegen. „Und die kleine Lena! Mensch, bist du groß geworden!“
Die letzten beiden Sätze mögen einen Widerspruch andeuten, doch jeder im Raum wusste, dass mit „kleine Lena“ nicht die Körpergröße gemeint war. Lena würde für ihre Ma und ihre Tante immer die Kleine bleiben, das wusste sie und akzeptierte sie. Es kam einem Kosenamen gleich.
„Tante Maeve!“, freute sich Lena und hüpfte in die ausgebreiteten Arme, die sie zu sich riefen. Ihre Tante war schon viele Male zu Besuch bei ihnen gewesen, leider immer nur ein oder zwei Tage. Aber sie hatten oft telefoniert und sich geschrieben. Lena liebte ihre Tante, obwohl sie so weit weg wohnte. Und jetzt … Maeves Bein lag in Gips und war nach oben gebunden worden. Ihr Arm war ebenfalls eingegipst, ein großes Pflaster am Kopf, eine Platzwunde über dem Auge und blaue Flecken überall.
„Wie geht’s dir?“, fragte Brianna liebevoll, als sie sich auf Maeves anderer Seite in die Umarmung legte.
Maeve seufzte. „Ich werde alt, das sag ich dir. Ich möchte auch noch mal so blühen wie ihr beiden. Ihr könntet fast Schwestern sein.“
„So alt bin ich nun auch nicht!“, beschwerte sich Lena lachend.
„Hey!“, rief Brianna empört. „Was fällt dir eigentlich ein?“
Maeve lachte und drückte beide an sich. „Ich freu mich so, dass ihr hier seid, dabei wäre es mir lieber, es wäre nicht nötig.“ Ihr tat so ziemlich alles weh, das einem wehtun kann. Unterkriegen ließ sie sich davon aber noch lange nicht. Vielleicht sollte sie nur langsam akzeptieren, dass sie keine zwanzig und auch keine dreißig, nicht mal mehr vierzig war.
„Mach dir keinen Kopf, wir packen das schon“, versicherte Brianna lächelnd.
In dem Moment sah sie aus wie ihre Mutter, dachte Maeve. Es erschreckte sie jedes Mal, wenn sie diese kalte Grimasse sehen musste. Für einen Außenstehenden war es ein Lächeln, aber nicht für Maeve, die sich noch daran erinnerte, wie vor knapp zwanzig Jahren das Feuer in Briannas Augen brannte. Liebe und Freude funkelten immer in ihrem Blick. In Brianna steckte ein Herz voll Wärme, aber dieses Lächeln eben war so kühl, dass es Maeve eisig den Rücken hinunterlief. Es war nicht so gemeint, das wusste Maeve ganz sicher, aber im Inneren war Brianna eiskalt geworden und vermochte nicht, diese Kälte vor ihrer Tante zu verbergen. Briannas Mutter war genauso, nur dass sie es immer auch nach außen getragen hatte. Brianna schloss die Kälte zusammen mit dem Schmerz in ihrem Herzen ein. Ob das so viel gesünder ist, fragte sich Maeve nicht zum ersten Mal.
Die beiden Besucher hatten Kuchen und Kaffee im Pappbecher dabei und wurden dafür zu Maeves Helden gekrönt. Und Zeit hatten sie auch noch mitgebracht. Sie waren geschafft nach der langen Fahrt, aber sie gönnten sich und ihr die Freuden der Gesellschaft. Erst am Nachmittag verabschiedeten sie sich. Der Hausschlüssel würde beim Nachbarn auf sie warten oder unter der Fußmatte liegen. Nein, das war nicht leichtsinnig von Tante Maeve, sondern normal für diese einsame Gegend Irlands.
„Ich danke dir“, sagte Maeve zum Abschied. Sie sagte es ernst und richtete es ausschließlich an Brianna. Sie wusste, was es für das Mädchen von damals bedeutete, als Frau zurückzukehren. Ihre Mutter lebte noch immer in Irland, wenn auch nicht mehr in Briannas Elternhaus, aber die Erinnerungen würden bleiben. Brianna brachte hier ein großes Opfer und Maeve wusste das. Sie hatte sich wehren wollen, aber Brianna hatte darauf bestanden. Das von Maeve empfangene Geld war allerdings kein Grund dafür. Brianna liebte ihre Tante und half ihr gern. Wochenlang könnte der Hof nicht überleben und Maeve müsste ihr Heim, das ihr Leben war, aufgeben. Brianna wusste zu gut, was es heißt, seinen Lebensgrund aufzugeben, deshalb hatte sie nicht gezögert.
Und sie war Maeve dankbar, dass sie keine spitzen Andeutungen fallengelassen hatte. Es wäre typisch für Maeve gewesen, Lena mittels kryptischen Bemerkungen der Wahrheit näher zu bringen, denn ihrer Meinung nach hatte Lena ein Recht darauf. Das zu entscheiden war allerdings nicht Maeves Recht, sondern lag allein in Briannas Händen. So blieb Lena weiterhin unwissend und freute sich unschuldig auf den Hof ihrer Tante, von dem sie schon so viel gehört hatte.
Das Navigationssystem brauchte Brianna theoretisch nicht mehr, denn auf dem Land hatte sich gar nichts verändert. Zugegeben, einige Büsche waren gewachsen, aber sonst … Es schien, als würden die gleichen Schafe und Kühe auf den Weiden stehen. Es war nicht ein Wimpernschlag vergangen. Hier und da gab es neue Häuser und Internetcafés, aber in den kleinen, verschlafenen Dörfern herrschte noch immer die irische Gelassenheit.
Eine Herde Kühe kreuzte ihren Weg. Sie sollten von der einen Weide nur über die Straße auf die andere Weide gehen. Die hatten Vorrang und die Autos mussten warten. Vor Brianna und Lena stand noch ein Wagen aus Dublin. Der Fahrer fluchte permanent unüberhörbar laut und trieb den Bauern zur Eile an. Der wiederum ließ sich davon nicht stören. In aller Seelenruhe und mit liebevoller Hingabe ließ er seine Kühe über die Straße traben. Wofür denn hetzen? Auf ein paar Minuten kommt es im Leben auch nicht an. Brianna musste zugeben, diesen Teil ihres irischen Blutes hatte sie tatsächlich verlernt. Sie nahm fast alles mit inzwischen kühler Gelassenheit hin, aber sie hatte sich vom deutschen Stress mitreißen lassen. Nie war ihr das so bewusst geworden wie in dem Augenblick, da sie beides in direktem Kontrast vor sich sah. Da schloss sie sich doch lieber dem Bauern und seiner Gemütlichkeit an.
Brianna mochte das Navigationssystem nicht brauchen, abschalten konnte sie es aber auch nicht, sonst hätte sie Lena erklären müssen, woher sie den Weg kannte. Aber als auf dem Schild der Connor-Pass angekündigt wurde, konnte sie nicht widerstehen.
„Hey!“, rief Lena erschrocken. „Du bist falsch abgebogen!“
Sie suchte schon nach einer Wendemöglichkeit, aber ihre Mutter sah nicht aus, als wolle sie wenden. Ganz im Gegenteil. Ein neues Lächeln strahlte sie an. Die Mundwinkel waren nur leicht gehoben, der Rest des Gesichts vollkommen entspannt, aber es war ein seliges Lächeln. Irgendetwas ganz besonders Schönes ging ihr gerade durch den Kopf. Nur was? Lena hatte nicht die leiseste Ahnung, was ihre Mutter hier in der Fremde so in den Bann ziehen könnte.
„Was ist los?“
„Ich zeig dir was“, schmunzelte Brianna. Wenn die Fragen ihrer Tochter kommen würden, dann müsste sie sie eben beantworten. Früher oder später würde sich Brianna sowieso nicht mehr davor drücken können. Es gab ein wunderschönes Fleckchen auf dem Weg zu Tante Maeves Hof, den sie ihrer geliebten Lena auf keinen Fall vorenthalten wollte, nur weil sie die Fragen fürchtete.
Kurz unter der Spitze des Passes erwartete sie am Straßenrand ein bezaubernder Wasserfall. Brianna war früher schon der Meinung gewesen, der sähe aus wie gemalt. Wie unecht. Nicht von dieser Welt. Wie kann so viel Grausamkeit und so viel Schönheit in ein und derselben Realität vorkommen, ohne sich gegenseitig zu zerstören?
Für Touristen waren ein Parkplatz angelegt und eine Infotafel aufgestellt worden. Das gab es früher noch nicht, aber darum ging es auch nicht.
„Komm“, forderte Brianna, stellte den Motor ab und stieg aus. Wie passend, dass sie allein waren. Keine störenden Urlauber mit Kameras, die die paradiesische Stille mit Lärm gestört hätten.
Lena war gefüllt mit Skepsis. Was sollte denn jetzt kommen? Ihre Ma benahm sich merkwürdig!
Sie folgte ihrer Mutter nicht gleich. Ausgestiegen war sie, aber bevor sie zu dem Wasserfall folgen konnte, musste sie den atemberaubenden Ausblick genießen. Grüne Felder in Wellen – es war traumhaft. Wie lange schon träumte sie nur mithilfe von Bildern von der Grünen Insel? Sie hatte sich im Geiste ein Irland der Träume erschaffen und war mit der Angst in den Urlaub gestartet, dass sie enttäuscht werden könnte. Jetzt stand sie mitten im Land ihrer Träume, hatte einen weitschweifenden Blick vor sich und musste gestehen: Ihre Träume waren die pure Enttäuschung, eine Beleidigung der Schönheit dieses Landes!
„Komm schon!“, rief Brianna aufgeregt.
Als Lena sich umdrehte, stand ihre Mutter über dem Wasserfall und winkte sie hinterher. Lena war gern bereit für ein eingeschobenes Abenteuer. Diesen wesentlichen Charakterzug hatte sie von ihrer Mutter geerbt, wie ihr bestätigt wurde. Die beiden wussten einen faulen Sonntag auf der Couch durchaus zu schätzen. Lieber war ihnen aber ein aufregender Ausflug in eine Kletterhalle, Sommerski, ein Kletterpark, Inlineskating, Wandern querfeldein, Geo-Tracking, Fallschirmspringen, sogar einen Triathlon hatten sie mitgemacht. Es sprach also nichts dagegen, an den Felsen neben dem Wasserfall hinaufzuklettern.
Hinter dem klaren, plätschernden Wasser ging es noch ein Stück weiter, immer dem Flusslauf entgegen, dann standen sie an einem See, wie ihn Lena noch nie gesehen hatte. Er glich einer natürlichen Badewanne. Direkt dahinter erhoben sich fast senkrechte Berghänge und darin eingebettet eine Mulde, gefüllt mit glasklarem Wasser. Eiskalt und paradiesisch schön. Von hier aus sah man auch die Autos und die Straße nicht. Wären die Berge im Hintergrund nicht gewesen, hätte man meinen können, mit dem Wasserfall endete auch die Welt. Aber dahinter lag die Straße verborgen, weit darunter das Tal und dahinter weitere Berge, die man von hieraus sehen konnte.
„Wow.“
Brianna sah ihrer Kleinen gern beim Staunen zu, weil es ehrliche Ehrfurcht vor natürlicher Schönheit war. Lena wusste Orte zu schätzen, an denen man keine menschlichen Einflüsse, nur die wunderbare Perfektion der Natur sehen konnte. Brianna empfand die gleiche Wertschätzung und war froh, dass sie ihrem Kind diese Ansicht während der Erziehung gut genug vermittelt hatte.
Brianna würde nicht offenbaren, wofür sie hier gewesen war und mit wem, aber sie hatte hier viele wunderschöne Stunden verbracht. Mit Freunden zum Feiern und gemeinsamen Jungsein. Sie waren schwimmen gewesen, über die Felsen geklettert und einmal von einem Unwetter überrascht worden. Im Tageslicht ist es nicht schwer, die Wolken zu sehen, wenn sie sich über die Felswand schieben und wie Nebel den Hang hinab zum See kriechen. In der Abenddämmerung hatten sie es nicht bemerkt und plötzlich in strömendem Regen gesessen. Auch nicht so schlimm, sie hatten sich die Kleider von den Körpern gerissen, im Regen getanzt und waren in den See gesprungen. Damals war Brianna fünfzehn gewesen.
„Woher wusstest du davon?“, fragte Lena und sprang vergnügt über die Felsen, die das Ufer säumten. Junge Frösche flohen vor ihr in den See hinein.
Brianna tat, als hätte sie die Frage nicht gehört. „Was hältst du von einem Bad?“
„Jetzt?“, lachte Lena. „Das ist eiskalt!“ Sie hatte schon eine Hand ins Wasser gehalten, um die Temperatur abzuschätzen. Sie war sich also ganz sicher, dass das Wasser keine Badewannentemperatur hatte.
„Angsthase!“, lachte ihre Mutter mit ihr und wiederholte es wie damals: T-Shirt aus, Hose aus, Schuhe aus und mit einem Sprung ins Eiswasser hinein. Als sie auftauchte, grinste sie zufrieden und Lena konnte der Einladung nicht widerstehen. T-Shirt aus, Hose aus, Schuhe aus und langsam hineingleiten lassen, sonst hätte sie womöglich einen Herzstillstand erlitten. Aber wenn sie schon bei inzwischen strahlendem Sonnenschein in Irland stand, dann konnte sie die wärmende Sonne auch für ein Bad ausnutzen.
Nach der Schwimmeinlage ließen sie sich von der Sonne trocknen, plünderten ihre letzten Vorräte an Schokolade und fuhren dann weiter. Einen kurzen Zwischenstopp legten sie auch ganz oben auf dem Pass noch ein, dann gab es kein Zurück mehr. Nächster Halt: Tante Maeves Hof.
Im Dorf von Briannas Kindheit hatte sich nichts verändert. Die Straße war saniert worden, ansonsten sah es noch genauso aus. Und ein Stück weiter, als sie zwischen den weiten Viehweiden in die Richtung von Tante Maeves Hof fuhren, stach es heftig in Briannas Brust. Sie war hier zu Hause gewesen, sie fühlte sich zu Hause, aber es war nicht mehr ihr zu Hause.
Dort an der Ecke hatte Sarah gewohnt, vielleicht wohnte sie immer noch dort. Der einzige Pub im Dorf, in dem Tom an der Bar gestanden hatte, lag direkt neben Murphys Elternhaus. Bei jedem Menschen, den sie sah, bekam Brianna Angst, sie könnte ihn erkennen. Noch größer war jedoch die Angst, man könnte sie erkennen. Es würde nicht lange dauern, bis sich kilometerweit verbreitet hätte, dass sie zurück sei. Mit ihrer Tochter! Eine Tochter, die vielleicht in einer unüberlegten Nacht, unterstützt vom Alkohol, aber in wahnsinnig tiefer und inniger Liebe gezeugt worden war. Das änderte nur nichts an der Tatsache, dass sie eine uneheliche Tochter war. Und dass sie davon nichts ahnte.
Briannas Finger krallten sich um das Lenkrad, als bräuchte sie es zum Festhalten. Sie fuhr genau an dem Hof vorbei, auf dem sie aufgewachsen war. Ihr Blick ging stur geradeaus und sie wünschte sich, ihn nicht gesehen haben zu müssen. Das Tor vor der Weide war noch das Gleiche wie das, an das ihre Mutter sie als Kind gekettet hatte, damit sie nicht weglaufen würde, ohne dass ihre Mutter sie hätte ansehen müssen. Neben der Haustür stand noch immer der Blumenkübel, gegen den sie gefallen war, als ihre Mutter sie aus dem Haus geprügelt hatte. Verzweifelt hatte sie zu Hause auf Hilfe gehofft, als sie von der Schwangerschaft erfahren hatte. Mit üblen Prügeln war sie davongejagt worden. Sie spürte, wie die Tränen der Vergangenheit in ihr aufstiegen. Krampfhaft hielt sie sie zurück. Lena wusste das alles nicht und sollte es auch niemals erfahren. Deswegen hatte Brianna bisher auch noch nicht den Mut gefunden, überhaupt zu offenbaren, dass Lena in Irland gezeugt worden war.
Gleichzeitig musste Brianna mit verbitterter Wut kämpfen. An der Tür ihres Elternhauses hing ein Schild mit der Aufschrift „céad mile failte“ und sollte jeden Besucher willkommen heißen. Brianna hatte nicht ein einziges Mal erlebt, dass irgendjemand willkommen gewesen wäre. Ihre Mutter hatte jeden vertrieben, der sich ihrem Haus auch nur genähert hatte. Bei der eigenen Familie, die sie besuchen kam, war es nicht so leicht gewesen. Sie hatte sie, wie es die Höflichkeit forderte, ins Haus hereingebeten, wo man dann auf die noch unschönere Weise vertrieben worden war. Briannas Mutter hatte es nie geschafft, aus dem Haus ein Heim für Brianna und ihren Vater zu machen, daher hatte sich Brianna umso mehr Mühe gegeben, dass sich Lena wohlfühlte in ihrem zu Hause. Es sollte eben nicht nur ein Haus sein, in dem sie wohnten. Es sollte ein Heim sein, in das man gern zurückkehrt.
„Weißt du, wo wir weiter müssen?“, fragte Lena. Sie bemerkte die Anspannung ihrer Mutter nicht. Neben ihrem Fenster gab es so viel zu sehen, dass sie nicht in die andere Richtung blickte. Viel lieber ließ sie ihre Augen auf einem akribischen Rundflug alles aufnehmen, was sie im Vorbeifahren aufzunehmen imstande waren.
Brianna schluckte kurz. Sie wollte die alte Wut nicht an Lena auslassen. „An der kleinen, roten Tür nach links.“
Erstaunt sah Lena nun doch zu ihrer Mutter. „Woher weißt du denn das nun schon wieder? Tante Maeve?“, vermutete sie.
Brianna antwortete nicht, lächelte nur vorsichtig. Damit hatte sie nicht gelogen, aber auch die falsche Annahme von Lena nicht korrigiert. Sie fühlte sich mies damit. Das war ihrer Mutter-Tochter-Beziehung nicht würdig.
Die kleine rote Tür hätte sie beinahe übersehen. In ihrer Erinnerung war das Rot nicht so blass gewesen, sondern herausgestochen, als wäre die Tür am falschen Haus verbaut worden. Nach siebzehn Jahren war die intensive Farbe deutlich verblasst und blätterte an einigen Stellen sogar ab. Offenbar war sie seit damals nicht mehr gestrichen worden.
Tante Maeves Haus sah ebenso wie alles andere noch genauso aus wie vor siebzehn Jahren. Auch hier hing ein Willkommensschild an der Haustür, nur dass es für dieses Haus immer so gemeint gewesen war. Tante Maeve hatte nie jemanden draußen stehen lassen, der an ihre Tür geklopft hatte.
Auf den Fensterbrettern standen breite Blumenkästen - alle leer. Brianna erinnerte sich amüsiert an die vielen Fehlversuche, dort etwas zum Blühen zu bringen. Schlussendlich hatte Brianna die Kästen heimlich bunt angemalt und Maeve hatte nie wieder versucht, irgendwelche Blumen darin anzupflanzen. Die von Brianna aufgetragene Farbe war verblichen und teilweise abgeblättert. Da zeigten sich dann doch die kleinen Spuren der vielen Jahre.
Sie waren noch nicht mal richtig ausgestiegen, als sie schon begrüßt wurden. Aus dem Nachbarhaus kam eine Frau gestürzt, die in Lenas Augen absolut nicht in diese Umgebung passte. Der Bauer von vorhin, der passte hierher. Mit offenem Flanellhemd über dem einfachen T-Shirt, dreckiger Jeans und Gummistiefeln. Diese Dame hier sah aus wie die Requisite in einem Schöner-Wohnen-Katalog. Die Models tragen auch oft Highheels, wenn sie auf der Couch liegen, was ein normaler Mensch wohl nie tun würde.
„Huhu!“, rief sie schon von weitem und winkte aufgeregt. Es sah eigentlich so aus, als würde sie die oberen Extremitäten unkontrolliert durch die Luft schleudern. Brianna und Lena hatten sich nach dem Ruf umgeschaut und warteten auf die Frau, die da auf sie zukam. Sie sah so gestresst aus. Niemand hetzte sie, also warum blieb sie nicht ruhig und lief ordentlich bis zu den Besuchern herüber? Trotz der Hektik dauerte es eine gewisse Zeit, ehe sie bis zu ihnen getippelt war.
Brianna rutschte die irische Begrüßung „Dia duit“ heraus. Sie hatte es aufhalten wollen, nun war es zu spät. „Huhu“ war nicht unbedingt das, was man als Ire als höflich empfindet, wenn man Fremde trifft. Diese Frau war auch definitiv keine Irin. Vom Akzent des folgenden Satzes ausgehend tippte Brianna auf eine Italienerin.
„Ich freu mich ja so, dass ihr hier seid und ich Maeve endlich mal was Gutes tun kann. Ich bin Francesca.“
Das würde Briannas Verdacht der italienischen Wurzeln bestätigen.
„Brianna. Und das ist meine Tochter Lena.“
Die beiden sahen es Francesca genau an. Wie meistens, wenn sie als Mutter und Tochter auftraten, sorgten sie für Schocks. Francesca verzog ganz kurz das Gesicht und Lena war jedes Mal stolz auf diese Reaktion. Sie war nicht stolz darauf, dass ihre Mutter mit siebzehn ein Kind bekommen hatte, aber sie war stolz, eine so junge Mutter zu haben. Die meisten Frauen schwankten im ersten Augenblick zwischen Verachtung und Neid. Verachtung dafür, wie jung Brianna sich hatte schwängern lassen, da ja offenbar auch kein Mann dazugehörte. Und Neid, weil man sie rein äußerlich auch als Mitte bis Ende zwanzig einschätzen konnte.
Francesca war eine Mittvierzigerin und gehörte ganz klar zur zweiten Sorte. Sie wollte es verbergen, aber für einen Wimpernschlag lang huschte ihr Blick an Brianna hinab. Und genau darauf war Lena stolz. Sie konnte mit ihrer Ma auch in die Disko gehen, ohne dass sie irgendwie aufgefallen wäre.
Auch Brianna selbst musste zugeben, sie sonnte sich gern einige Sekunden in dieser entsetzten Starre. Lena war vielleicht nicht bewusst gewollt gezeugt worden, aber definitiv mehr geliebt als manches „Wunschkind“. Sie war eine wunderschöne junge Frau geworden, war intelligent, witzig, charmant und auch in der Lage, ernsthafte Gespräche zu führen.
„Du hast den Schlüssel für uns?“, fragte Brianna, um Francesca aus der Zwickmühle zu helfen. Sie hätte die Fremde auch noch zappeln lassen können. Manchmal ist es amüsant zu beobachten, wie die Menschen versuchen, sich aus der Situation zu manövrieren, sich aber nur immer weiter hineinziehen.
„Äh, ja.“ Francesca reichte den Schlüssel weiter und Brianna musste schon wieder schmunzeln. Maeve hatte das alte Ding tatsächlich immer noch. Brianna hatte den Anhänger aus Maeves Lieblingsschuhen gemacht, als sie endgültig auseinandergefallen waren. Das war nun über fünfundzwanzig Jahre her. Bei solchen Vergleichen wurde ihr bewusst, dass auch an ihr das Alter nicht vorüberging.
„Braucht ihr noch was?“, fragte Francesca. „Maeve hat mich gebeten, alle verderblichen Sachen aus dem Kühlschrank zu nehmen, weil sie nicht genau wusste, wann ihr kommt.“
„Wir gehen dann noch einkaufen“, lächelte Brianna herzlich. „Aber erst mal würde ich mich gern hinlegen.“
„Na klar. Kommt an und sagt Bescheid, wenn ihr was braucht. Maeve lässt sich ja nicht helfen, aber ihr vielleicht.“
Francesca lachte und winkte zum Abschied, als sie schon wieder über den mit festgetrocknetem Schlamm überzogenen Boden zu ihrem Haus tippelte. Sie bewohnte keinen der Bauernhöfe, sondern eines der neu errichteten Cottages, die hauptsächlich an Urlauber vermietet werden. Vielleicht gehörte es auch Francesca, sie sah eindeutig nach einer aus, die sich ein Ferienhaus in der Einöde leisten konnte.
„Was für eine nette Frau“, flüsterte Lena sarkastisch.
„Oh ja. Die wird wohl jeden Tag rüberkommen und Kontakt suchen.“
Lena konnte sich das leise Kichern nicht verkneifen und drehte sich extra vom Nachbarhaus weg. „Weil ihr hier sonst niemand Beachtung schenkt?“
Brianna schmunzelte, sagte nichts und steckte den Schlüssel ins Schloss. Sie durfte feststellen, das hätte sie sich sparen können. Es war nicht abgeschlossen. Typisch für Maeve und typisch für diese Gegend. Das hätte sie mit ihrem Haus in Deutschland nie getan. Aber hier … Ihr Elternhaus war früher immer das Einzige in der ganzen Gegend gewesen, das abgeschlossen war. Überall sonst standen teilweise sogar die Haustüren offen, wenn das Wetter mitspielte. Deshalb trat trotzdem niemand einfach ein. Man klingelte, auch wenn die Tür offen war. Oder man schlich sich als Kind heimlich hinein, wenn man dem Duft der frisch gebackenen Kekse nicht widerstehen konnte ...
Auf der Kommode hinter der Haustür lag ein Brief von Maeve, der ihnen sagte, sie sollten sich wie zu Hause fühlen. Brianna wusste, dass ihre Tante das explizit für sie geschrieben hatte, denn sie war hier zu Hause. Schon immer gewesen. Theoretisch galt das auch für Lena, aber Maeve hatte akzeptiert, dass Brianna diesen Teil für sich behalten wollte.
Lena richtete sich notdürftig im Gästezimmer ein. In ihrem Fall hieß das, sie stellte nur die Tasche ab, packte alles aus ihrem Rucksack, das sie nicht unbedingt brauchte, und hängte ihr Handy ans Ladekabel. Alles andere könnte sie später machen. Sie war viel zu aufgeregt, um ihre Kleider aus der Tasche zu nehmen und ordentlich wegzuräumen. Viel lieber hätte sie die Umgebung erkundet.
Als sie zum Schlafzimmer ihrer Mutter kam, war klar, sie würde die Erkundungstour verschieben müssen oder allein gehen. Brianna saß erschöpft auf einem Sessel.
„Hey.“ Lena hüpfte zu ihr und setzte sich quer auf ihren Schoß.
„Du willst raus, richtig?“, erkannte Brianna.
„Aber sicher“, lachte Lena auch gleich. Sie schämte sich nicht für ihre Abenteuersucht.
Brianna hatte normalerweise einen ähnlichen Hang zu aufregenden Unternehmungen. Pad war immer ruhiger und besonnener gewesen als sie, aber mitgemacht hatte er alles. Diesmal fühlte sich Brianna irgendwie nicht so ungezwungen und energiegeladen. Ihre Beine empfand sie als bleiern schwere Anhängsel. Sie mochte sich hier nicht öffentlich zeigen und Gefahr laufen, jemanden zu erkennen, beziehungsweise selbst erkannt zu werden. Ihr Herz begehrte dagegen auf, die süße Vergangenheit mit der trostlosen Gegenwart zu verknüpfen. Die schweren Beine, die hämmernden Schläfen, das unwohle Gefühl im Magen waren körperliche Erscheinungen, die ihr den Herzenswunsch überdeutlich aufzeigten. Sie wollte einfach nicht da raus!
Lena zuliebe würde Brianna jedoch alles tun. „Na dann mal los“, schnaufte sie und wollte sich auf die schweren Beine hieven.
Lena ließ ihre Mutter jedoch gar nicht erst aufstehen. „Nichts da! Du legst dich hin. Soll ich mal sehen, wie es mit Vorräten aussieht?“
Brianna runzelte unsicher die Stirn. „Du willst allein einkaufen?“
Lena dagegen verdrehte die Augen. „Ma, wach auf. Ich bin siebzehn und kann schon alleine einkaufen. Auch in einem fremden Ort.“
Wie ungern Brianna dem zustimmte ... „Du hast ja Recht. Nimm dein Handy mit und ruf an, wenn was ist.“
„Handy ist nicht so wichtig wie Geld“, grinste Lena und nahm sich das Portemonnaie ihrer Mutter, nachdem sie auf ihre Tasche gezeigt hatte.
Brianna stand am Fenster eines Zimmers, in dem sie oft übernachtet hatte, wenn es zu Hause mal wieder Streit gegeben hatte, und sah ihrer fast erwachsenen Tochter nach, wie sie pfeifend und tanzend durch den Ort von Briannas Kindheit spazierte. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht, sie mitzunehmen? Früher oder später würde sie jemand erkennen. Der Kontakt ließe sich nicht vermeiden. Sie konnten doch nicht bis zu Maeves Rückkehr ohne jeglichen persönlichen Kontakt ausharren. Das passte nicht zu Lena und eigentlich auch nicht zu Brianna, aber hier… Es war ihr lieber, ihre Heimat durchs Fenster zu bewundern, als Gefahr zu laufen, noch jemandem in die Arme zu laufen, den sie kannte. Jemand, der ihr verdeutlichte, dass ein entscheidendes Detail in Briannas Leben fehlte: Pad!
Lena hatte sich den Weg ins Dorf gemerkt. So schwer war es ja auch nicht, wenn sie in einem Ort saß, der aus nicht mehr als drei Straßen bestand.
Sie war von einer Irin geboren worden, das wusste sie. Von Kindesbeinen an hatte ihre Mutter ihr ihre irischen Wurzeln offengelegt. So gehörte sie auch zu den wenigen lebenden Exemplaren der menschlichen Rasse, die Irisch sprachen. Außerdem kannte sie viele irische Lieder. Ihre Mutter hörte sie gern und Lena liebte sie. Es gab nicht viele, die sie nicht hätte mitsingen können. Zumindest von den alten, traditionellen Liedern. Aber auch einige neuere kannte sie. Im gemeinsamen CD-Regal zu Hause im Wohnzimmer gab es eine eigene Rubrik extra für die irische Musikkunst. Von der Harfe und der Panflöte bis hin zu Pub- und Popsongs war alles in vielseitiger Auswahl vertreten.
Und nun spazierte Lena tatsächlich über irischen Boden! Sie fühlte sich, als wäre sie nach Hause gekommen. Sie spürte eine innere Verbundenheit zu dem Land, schon seit sie denken konnte, und bekam damit eine ganz bestimmte Melodie in den Sinn. „I'm going home to Ireland“ von Rose Marie. Es drückte eben jenes Gefühl aus, das gerade in Lena vorherrschte. Eine unbändige Euphorie, die aus ihr herauszuplatzen drohte. Am liebsten hätte sie ein lautes Quieken von sich gegeben! Sie unterdrückte das unmenschliche Geräusch jedoch und summte lieber das Lied vor sich hin, während sie die Straße entlangtanzte und sich dabei fühlte, wie in himmlische Gefilde versetzt.
Der Geruch der feuchten Weiden, gemischt mit den natürlichen Düngern des Viehs, hüllten sie ein. Links und rechts war die Straße von aufgestapelten Feldsteinen gesäumt, wie sie typisch hier waren. Zugewuchert von herrlich farbintensiven Fuchsien waren die Steine kaum auszumachen. Nur hier und da schimmerten die Natursteine unter dem leuchtenden Rot hervor.
Von hinten näherte sich ein Traktor. Schon von weitem sah der Bauer das junge Mädchen auf seiner Straße tanzen und musste unwillkürlich lächeln. Sie sah so fröhlich aus, dass es ansteckend war, ohne dass er ahnte, was sie so unbeschwert machte. Er fand in sich auch keinen besonderen Grund zur Freude, er empfand sie nur, weil das Mädchen die Glückseligkeit versprühte wie ein Springbrunnen.
Als Lena den Traktor hörte, drehte sie sich um. Sie musste ja wissen, ob er vorbeikäme oder ob sie auf die Mauer klettern müsste. Da sah sie nun einen Mann auf einem hohen Traktor sitzen und verträumt lächeln. Er sah sie direkt an, schien sie aber nicht wirklich wahrzunehmen und von irgendwas besonders Schönem zu träumen.
„Hi!“, rief er ihr entgegen und Lena erinnerte sich, dass ihre Mutter ihr erzählt hatte, wie sich der englische Gruß auch in den ländlichen Gegenden eingeschlichen hatte.
Sie mochte den Traditionellen aber lieber. „Dia Duit“, lachte sie zu dem Bauer hinauf.
Er nickte anerkennend. „Dia is Muire duit. Nicht schlecht, dabei kommst du nicht von hier.“
Lena freute sich ein Loch in den Bauch! Endlich konnte sie mit einem fremden Menschen mal ihre Muttersprache sprechen! Offenbar gut genug, damit er sie verstand. „Nein, aber meine Wurzeln liegen hier“, erklärte sie und hätte beinahe doch noch ein Quieken angehängt. „Kann ich ein Stück aufspringen?“
„Klar, komm rauf.“
Sie warf ihren Rucksack auf den Platz neben ihm, bevorzugte es allerdings, sich nicht hinzusetzen. Sie stand auf dem Außentritt, hielt sich fest und strahlte immer noch, wie es die Sonne nicht hätte besser machen können. Und ohne es bewusst wahrzunehmen, begann sie wieder zu summen.
„Ein schönes Lied“, sagte der Mann nachdenklich.
„Ich liebe es“, gestand Lena und begann, es richtig zu singen. Voller Inbrunst, Sehnsucht und Leidenschaft für dieses Land. Sie wusste nicht, ob einem Menschen die Liebe zum eigenen Vaterland in die Wiege gelegt wird oder ob sie nur so empfand, weil ihre Mutter ihr viel über Irland berichtet hatte. Deutschland gegenüber hatte sie noch nie so viel Patriotismus und Liebe empfunden wie für Irland. Vor allem jetzt, da sie endlich dort war!
Der Bauer kannte das Lied ebenso und stieg mit einer Bassstimme ein, die einen wunderbaren Kontrast zu Lenas Alt bot. Wo sie auch vorbeikamen, lächelten die Menschen. Man stand von der Arbeit auf, kam aus Häusern, Scheunen und Garagen, nur um das Duo beim Singen auch zu sehen. Und einige sangen sogar mit, bis der Traktor an ihnen vorbei gefahren war. An diesem Tag schien die Sonne in der verlassenen Einöde Irlands, obwohl eine durchgängige, helle Wolkendecke den Himmel zierte.
An der Ecke blieb der Bauer stehen. „Vielen Dank“, lächelte er.
„Ich habe zu danken.“ Mit ihrem Rucksack sprang Lena von dem Traktor und winkte dem Mann. „Schönen Tag noch!“
„Gleichfalls. In einer halben Stunde fahre ich in die andere Richtung.“
„Ich werde hier stehen!“, lachte Lena und ging winkend in den Ort hinein. Ob der das ernst gemeint hatte? Praktisch wäre es, dann müsste sie die Einkäufe nicht tragen.
Zunächst müsste sie aber etwas finden, das sie tragen könnte. Das Lächeln und den Frohsinn nahm sie mit in den Laden. Sie hatte sich aufgeschrieben, was auf keinen Fall fehlen durfte. Wurst und Käse und Brot. Aber auch etwas zum Abendessen vielleicht. Da ließ sich vorher schwer sagen, was sie kaufen würde. Genau wie ihre Mutter entschied sie das spontan, wenn sie durch die Gänge und Regale lief, die hier nicht besonders weitläufig waren. Ein süßer, kleiner Dorfladen eben, in dem man dennoch alles Nötige bekäme.
Einiges lag schon in ihrem Körbchen. Im Moment schwankte sie noch zwischen verschiedenen Wurstsorten. Wenn sie schon in Irland war, wollte sie keine typisch deutschen Speisen haben. Sie konnte Leute nicht verstehen, die für viel Geld ins Ausland in ein Luxushotel fahren, nur um dort Bratwurst mit Sauerkraut zu essen. Das gibt es doch in der Heimat an jeder Ecke. Und andererseits gehen Deutsche in Deutschland zum Griechen, Italiener oder Vietnamesen.
„Wen hat uns der Wind denn da in den Ort getrieben“, hörte sie eine Stimme einige Schritte vor ihr, die eindeutig zu einem hormonüberreizten jungen Kerl gehörte. Als sie aufsah, wurde sie bestätigt. Ungefähr ihr Alter. In der ausgeblichenen Jeans und dem dreckigen Shirt unter dem Flanellhemd sah er eher aus wie ein Bauer. Er hatte strohblonde Haare, die er recht lang trug und vom irischen Küstenwind zerzausen ließ. Er grinste und aus seinen blauen Augen blitzte der Schalk. Er wartete auf eine Antwort.
„Ganz schön dreist“, erwiderte Lena und widmete sich wieder ihrem Einkauf.
Er kam einen Schritt näher, lehnte sich an ein Regal und musterte die Fremde. „Na ja, bei der schwindenden Anzahl junger Frauen im Ort muss ich mich ranhalten. Ich weiß ja nicht, wie lange du bleibst und mir Zeit gibst, dich von mir zu überzeugen, bevor wir durchbrennen.“
Lena musste lachen, es ging nicht anders. Hätte ihr in einer deutschen Diskothek jemand so einen Spruch an den Kopf gehauen, wäre sie entweder aus Angst vor einem Vergewaltiger schreiend davongelaufen oder hätte ihm für diese plumpe Anmache eine reingehauen. Bei diesem irischen Kerl kam keines der beiden Gefühle auf. Er grinste wie ein frecher Lausbub.
„Mike!“, rief die ebenso betagte wie beleibte Kassiererin lachend herüber. „Vergraulst du schon wieder unsere Gäste?“
„Ich doch nicht!“, wehrte er empört ab. „Aber du hast meinen Antrag ja abgelehnt, also muss ich mich ja umsehen.“
Lena konnte kaum noch still sein. Ein ausgewachsener Lachanfall hing in ihrer Kehle.