Tagebuch der (Un)Schuld - Sabine Schubert - E-Book

Tagebuch der (Un)Schuld E-Book

Sabine Schubert

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Beschreibung

England, Ende des 19. Jahrhunderts: In einer Kleinstadt wird die junge und allseits beliebte Charlotte Carpenter tot aufgefunden. Die Umstände des Todes lassen nur einen Schluss zu: Es war Mord! Lesen Sie in den Tagebüchern der Beteiligten über Korruption, die beschnittenen Rechte von Frauen, die Suche nach Selbstbestimmung und die Dominanz der Männlichkeit. War das Motiv klassische Eifersucht, eine heimliche Liebe oder vielleicht die Abneigung gegen selbstständig denkende Frauen? Können Sie den Mörder identifizieren?

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Inhalt

03. August

Jack O'Neil

04. August

Duncan Nightham

Susanne Edith (Sue) Alderten

Heather Wilkinson

Kenneth Hadley

Byron McLoad

Adeline Alderten

William Alderten

Finnegan McLoad

05. August

Neele Blackford

Duncan Nightham

Susanne Edith (Sue) Alderten

Kenneth Hadley

Heather Wilkinson

Adeline Alderten

Emily Nightham

Byron McLoad

06. August

Brandon Nightham

Susanne Edith (Sue) Alderten

Adeline Alderten

Kenneth Hadley

William Alderten

George

07. August

Scarlett Wright

Sarah

Susanne Edith (Sue) Alderten

Adeline Alderten

William Alderten

Emily Nightham

Finnegan McLoad

Adeline Alderten

William Alderten

08. August

Scarlett Wright

Lee Eltringham

Kenneth Hadley

Witwe Barlow

Byron McLoad

Edward (Ed)

09. August

Jack O'Neil

William Alderten

Scarlett Wright

Heather Wilkinson

Elizabeth Hadley

Auflösung

Die Theorie

Tagebuch der Schuld

03. August

Jack O'Neil

(Assistent von Byron McLoad)

Ich habe es getan!

Und ich schäme mich nicht dafür! Heute, an diesem verregneten Herbsttag, habe ich endlich den Mut gefunden, mein so lange ersehntes und geplantes Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Es war schon beinahe Feierabend, als sich endlich die Gelegenheit, auf die ich gewartet habe, vor mir ausbreitete. Ich musste in den Laden gegenüber, um Byron die Zeitung zu besorgen. Beim Reinkommen sagte er, er habe es am Morgen nicht geschafft und der Laden würde jeden Moment schließen. Ich sollte mich beeilen, lautete die Anweisung.

Byron ist einer der Menschen, die ich verabscheue, er beweist es mir immer wieder. Er besitzt mehr Land, als ein Mensch allein braucht, und mehr Geld, als ein Mensch allein jemals ausgeben könnte. Gut, er hat mir geholfen, als ich am Boden lag, aber nach fünf Jahren, die ich Tag und Nacht für ihn schufte, könnte er langsam aufhören, mir meinen Absturz immer wieder vorzuhalten. Er selbst hat das Vermögen schließlich auch nicht verdient, sondern geerbt. Und dass ein Brand mein Haus, meine Felder und all mein Hab und Gut verschluckt hat, ist doch nicht meine Schuld. Ich habe das Feuer damals schließlich nicht gelegt und arbeite hart daran, mich wieder aufzurichten und auf eigenen Beinen zu stehen.

Sei's drum. Ich werde den arroganten Schnösel wohl noch einige Jahre mehr ertragen müssen. Immerhin zahlt er regelmäßig. Und wenn er mir befiehlt, in dem Laden gegenüber die Zeitung zu kaufen, dann spurte ich mich natürlich. Und zwar sofort, obwohl die Zeitung keinen Grund an meiner Eile hat.

Die schöne Charlotte ist es, die mein Interesse geweckt hat. Sie ist so wunderschön, ein echtes Meisterwerk Gottes. Allein ihr Lächeln, mit dem sie jeden neuen Besucher in ihrem Geschäft empfängt, sollte entlohnt werden. Und faulen Äpfel in meinem Munde, schmeckt es auf meinen Lippen wie süßester Sirup, nur weil sie mich ansieht. In ihren dunklen Augen liegt etwas Geheimnisvolles und Verbotenes.

Vielleicht ist es auch der Reiz des Unerreichbaren. Ich beobachte schon lange vom Fenster aus, wie Heerscharen gutgekleideter Männern in das Geschäft hineingehen und mit nur wenig gekauften Artikeln wieder herauskommen. Eigentlich brauchen sie gar nichts aus dem Laden, aber sie können dem sirenenhaften Lockruf Charlottes nicht entrinnen. Und lässt jeder Kunde nur einige Penny bei ihr, genügt es doch, dass sie ständig neue Waren anbietet. Sähe es in meinem Geldbeutel nur ein bisschen besser aus, würde ich mich in die lange Schlange der Wartenden einreihen, nur um von ihr angelächelt zu werden.

Und nun endlich, habe ich es einfach getan!

Mit schlotternden Knien überquerte ich die Straße, musste noch zwei Kutschen durchlassen, und öffnete dann die Tür zu Charlottes small Corner. Ein helles Glöckchen, ich hatte es schon oft gehört, verbreitete in süßem Klang die Ankündigung eines neuen Kunden. Charlotte kam aus dem Hinterzimmer mit dem hinreißenden Lächeln im Gesicht, das ich so an ihr mag.

„Jack. Was verschlägt dich so spät noch her?“, fragte sie mich und wie immer fing ich an zu schwitzen. Draußen war es frisch und ungemütlich, aber in ihrer Gegenwart wird mir jedes Mal heiß.

Ich fragte sie nach einer Zeitung für Byron und sie hatte noch genau eine unter der Theke liegen. Der Glockenschlag kündigte das Ende ihres Arbeitstages an und sie drehte in der Tür das Schild herum. Wir waren ganz allein. Nur sie, ich und der prasselnde Regen vor der Tür. Blitze hellten die schmale Straße auf, aber in der Schlucht hoher Häuser und bei so dichtem Regen schaffte es keiner der Blitze, dass ich mehr als Schemen erkennen konnte. Die Schleier des starken Regens flossen wie blickdichte Wasserfälle an den Scheiben des Ladens hinab. Niemand konnte uns sehen und niemand konnte uns hören ...

04. August

Duncan Nightham

(Bäcker)

Was für ein Tag!

Wie immer am Vormittag wollte ich in Charlottes small Corner die Zeitung kaufen. Seit den ersten Sonnenstrahlen verlangen die Menschen nach frischem Brot. Ich stand Stunden vorher schon mit meinem Sohn in der Backstube und wollte endlich zum Frühstück etwas Ruhe und die Zeitung lesen!

Da war der Laden doch tatsächlich zu!

Was für eine Frechheit!

Vermutlich hatte die feine Lady keine Lust, aufzustehen! Seit die den Laden übernommen hat, kann ich meinen Jungen ja nicht mehr hinschicken! Der würde erst zum Abend zurückkehren, wenn überhaupt. Alle Männer der Straße kennen nur noch ein Gesprächsthema! Charlotte hier, Charlotte da, Charlotte, Charlotte, Charlotte … Ich kann den Namen nicht mehr hören!

Und jetzt, mitten am Vormittag sperrt die den Laden zu. Na ja, wer es sich leisten kann … Wer weiß denn schon, womit die ihr Geld wirklich verdient? Deshalb lasse ich ja meinen Brandon nicht mehr zu ihr. Die würde dem armen Kerl sämtliche Sinne vernebeln und den letzten Penny aus der Tasche ziehen!

Ich würde es Gott danken, wenn er unsere Straße, unser Viertel, von diesem bezirzenden Weibsbild befreite.

Susanne Edith (Sue) Alderten

(Tochter des Gutsbesitzers)

Ich bin so aufgeregt. Morgen treffe ich mich mit Brandon Nightham zum Picknick am Fluss. Vater reist heute Abend ab und kommt erst in drei Tagen zurück. Das ist unsere Chance, uns außerhalb unseres Verstecks zu treffen. Brandons Vater ist viel zu sehr mit der Backstube beschäftigt. Der wird bestimmt nichts merken. Nur Scarlett galt es heute zu überzeugen, uns zu helfen. Sie lächelte nur und willigte ein.

Es ist so seltsam mit ihr manchmal. Sie lehrt mich viele Dinge, auf die mein Vater Wert legt, und vieles, das mich interessiert. Angestellt ist sie als Gouvernante, aber sie ist mir auch eine Freundin, daher weiß sie von Brandon und mir. Jedes Mal, wenn ich seinen Namen nur erwähne, dann lächelt sie das Lächeln einer tieftraurigen Seele, die sich alle Mühe gibt, der Welt ihren Schmerz nicht zu zeigen. Sie tut mir leid. Vor einiger Zeit fragte ich sie mal danach und sie antwortete, sie finde sich mit dem einsamen Leben ab. Wie soll sie auch einen Mann finden, wenn sie den lieben langen Tag in unserem Haus arbeitet und lebt? Die Einkäufe übernimmt das Hauspersonal, Scarlett erreicht maximal noch unseren Garten.

Vielleicht werde ich bald mal mit ihr am Flussufer spazieren gehen. Aber nicht morgen, denn da treffe ich Brandon endlich wieder. Ließe mein Vater mir die Wahl, dann wählte ich Brandon Nightham, doch dem würde mein Vater nie zustimmen.

Ob mein Vater mich liebt, weiß ich nicht. Manchmal ist er aufmerksam und fragt mich nach Dingen, die mich interessieren oder was ich gelernt oder getan habe. Und manchmal läuft er an mir vorüber, als hätte er mich übersehen. Wenn er mich wahrhaftig lieben würde, dann würde er meinem Glück nicht im Wege stehen, doch es gibt nicht den kleinsten Zweifel. Er würde mich eher umbringen, als mich Brandon zu übergeben.

Die Wartezeit bis zum ersehnten Wiedersehen mit Brandon wird mir kurzweilig gestaltet, hoffe ich. Meine Eltern haben heute Abend zum Dinner eingeladen. Das heißt auch für mich, ich muss mich fein anziehen und zurechtmachen. Die Anweisung meines Vaters an Scarlett: „Man muss ihr ansehen, dass sie eine Alderten ist.“ Dann ging die Tür zu und ich fühlte mich wie eine Puppe im Schaufenster des Schneiders, die man für einen besonderen Anlass herrichten muss. Zum Glück weiß ich in Scarlett eine Freundin, die mich nicht wie eine Puppe behandelt. Sie stand mit mir zusammen vor dem Schrank, um ein passendes Kleid auszusuchen.

Ich weiß nicht mal so genau, wer alles eingeladen wurde. Hoffentlich ist wenigstens ein Mensch in meinem Alter dabei, mit dem ich mich unterhalten kann. Ansonsten hält der Abend für mich die Runde der Frauen bereit. Dort geht es meist um belanglose Dinge wie Stickarbeiten oder den Haushalt.

Ich verstehe das nicht. Meine Mutter ist in deren Alter und weiß dennoch nichts Besseres mit denen zu bereden? Von Scarlett habe ich viel über die Literatur gelernt. Das erwartet man von einer Frau, sagt mein Vater. Ich dürfe mich auch für Handarbeiten interessieren, aber keine weitschweifenden politischen oder gesellschaftlichen Zusammenhänge. Scarlett versucht immer, mir zu erklären, ich müsse gebildet, aber nicht zu intelligent auftreten. Wie soll ich das das anstellen? Wie soll ich mich präsentieren, ohne meinem Vater Schande zu bereiten? Bin ich gebildet, sollte man Intelligenz voraussetzen. Bin ich aber nicht intelligent, dann bin ich auch nicht gebildet.

„Du denkst schon wieder zu viel nach“, erinnerte mich Scarlett sanft. Ihr kann ich solche Fragen stellen. Sie wird ja schließlich dafür bezahlt, aus mir eine ordentliche Ehefrau zu machen.

Ich denke über sehr vieles nach. Scarletts Meinung nach zu tiefgründig. Ich müsse oberflächlicher denken. Offiziell wenigstens, denn mit ihr darf ich tiefgründig debattieren, solange mein Vater nicht in der Nähe ist.

Scarletts Rat, bevor ich mein Zimmer verließ: „Denk daran: Haltung bewahren und gemäßigt lachen. Egal ob du es lustig findest oder nicht.“

„Ich weiß“, seufzte ich. Das fällt mir nämlich am schwersten von allen Regeln. „Nicht ausgelassen lachen und mir nicht anmerken lassen, wenn der Witz fehlschlägt.“

Ich glaube, ich bin zu jung, um das zu verstehen. Solche Anlässe wie das Dinner heute Abend machen mich nervös. Verhalte dich so, bewege dich so, aber sag dies nicht und jenes darfst du auch nicht tun. Ich fühle mich wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hat. Nun versuche ich, ohne Führung so auszusehen, als hinge ich noch an den Fäden meines Meisters.

Die Aussicht auf Brandon wird mir hoffentlich über den Abend helfen. Und morgen, wenn ich endlich wieder in seine schönen Augen blicke, dann kann ich offen und ehrlich von meinen Ängsten erzählen und muss ihm hoffentlich nicht von einem peinlichen Ausrutscher beichten. Ob ich es ihm wirklich erzählen würde, weiß ich noch nicht. Erst mal muss ich alles geben, die Gesellschaft unbeschadet zu überstehen.

Heather Wilkinson

(Leiterin der örtlichen Frauenrechtsbewegung)

Ich ging heute Morgen zum Laden von Charlotte, so wie immer. Die neue Ausgabe unserer Zeitung sollte unter ihrem Tresen liegen und ich wollte sichergehen, dass alles korrekt sei.

Aber der Laden war zu!

Vor dem Schaufenster drängte sich eine Menschentraube und versuchte, durch die ausgestellten Waren einen Blick zu erhaschen und den Grund für einen Morgen ohne Zeitung zu finden.

„Wo ist Charlotte?“, wollte ich von Witwe Barlow wissen. Sie stand am Rand der Gruppe und sah ebenso verstört aus wie viele andere, die in ihrer morgendlichen Routine unterbrochen worden waren.

„Ich weiß es nicht“, hatte Witwe Barlow aufgeregt geflüstert. „Bürgermeister Eltringham meinte eben, es sieht nach einem Kampf aus. Ein Regal ist umgeworfen.“

Das würde erklären, wieso die Menschentraube sich nicht auflöste, sondern laut schnatternd wartete. Umso größer der Schaden eines anderen, desto mehr Menschen wollen zusehen, statt etwas zu unternehmen oder zu helfen. Ich lief mit Witwe Barlow Richtung Rathaus und direkt daneben zur Polizei. Irgendetwas musste passiert sein, da war ich mir sicher. Charlotte ist viel zu zuverlässig, als dass sie am Morgen einfach die Ladentür verschlossen gelassen hätte.

Genau so sagte ich es auch Inspector Hadley, der uns gleich zurückbegleitete. Es war gar nicht leicht für ihn, sich durch die neugierige Menge Schaulustiger zu zwängen. Er hatte geklopft und geläutet, doch Charlotte hatte nicht reagiert. Ich machte mir Sorgen, das sah auch der Polizist. Dann brach er die Tür auf, verlangte von uns, vor der Tür zu bleiben und die anderen abzuhalten, ihm zu folgen. Nach nur wenigen Sekunden kehrte er zurück und erzählte, Charlotte sei tot.

Seither sind einige Stunden vergangen und ich bin noch immer nicht imstande, zu begreifen, was er sagte. Charlotte … Ein so sanftes und lebensfrohes Wesen ist mir nie zuvor begegnet. Es war egal, wann man zu ihr kam, selbst nachts. Immer trug sie ein Lächeln im Gesicht, dem man sich nur anschließen konnte. Es war unmöglich, sich ihrer Lebensfreude und ihrem unbeugsamen Optimismus zu entziehen. Sie trug die richtigen Worte für jedermann stets auf der Zunge. Der Welt entgeht ein wunderbarer Mensch mit ihrem Tod und mein Geist weigert sich, ihr Fehlen in unserem Leben zu akzeptieren.

Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Im Moment warte ich nur darauf, dass Neele nach Hause kommt. Ich brauche ihre Nähe und ihre Schulter.

Kenneth Hadley

(Inspector)

Charlotte Carpenter ist tot. Heather Wilkinson kam heute Morgen aufgeregt zur Polizei gelaufen und erklärte, ihre Freundin Charlotte hätte den Laden nicht aufgesperrt und durchs Schaufenster sähe es nach einem Kampf aus. Ich ging natürlich mit ihr zu dem Laden und brach mit meinem zweiten Mann die Tür auf. Edward sollte an der Tür bleiben und die Meute davon abhalten, mit in den Laden zu kommen. Die trampelten sich beinahe selbst nieder.

Was ich in dem kleinen Geschäft fand, war grauenhaft. Am Ende der Ladenfläche führt eine versteckte Treppe nach oben in Charlotte Carpenters Wohnung. Am Fuß dieser Treppe lag eine tote Frau. Offenbar war sie die Stufen hinabgestürzt und hatte sich das Genick gebrochen, soweit ich das auf den ersten Blick sagen konnte. Ihre Glieder lagen unnatürlich verdreht und ich sah diverse Platzwunden und einen offenen Bruch des Schienbeins.

Für Heather Wilkinson war es ein wahrer Schock. Sie brach noch auf der Straße vor mir zusammen. Ich konnte sie eben noch auffangen und brachte sie in mein Büro. Dort herrschte etwas mehr Ruhe, ich schenkte ihr einen Tee ein und ließ sie wieder zu sich kommen. Die beiden scheinen gute Freunde gewesen zu sein, das heißt, sie ist auch die erste Anlaufstelle für mich, um die Verwandtschaft zu finden.

Aber nicht gleich. Ich ließ Heather Wilkinson nach Hause bringen und machte mich wieder auf den Weg zu dem Laden. Edward, George und John hatten soweit alles unter Kontrolle. Die Menge hatte sich halbwegs aufgelöst, nur die nervigen Zeitungsleute waren noch da. Die würden vermutlich einen Mord begehen, nur um an eine Ablichtung eines toten Körpers zu kommen.

Den Arzt hatte ich ebenfalls in den Laden geschickt und als ich dazukam, wussten wir schon etwas mehr.

„Es war Mord“, verkündete er sofort. Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Keinen winzig kleinen Zweifel konnte ich in seiner Stimme hören oder in seinen Augen sehen. Ich wollte natürlich wissen, woher er diese Sicherheit nimmt.

Die arme Frau war offenbar geschlagen und schlussendlich die Treppe hinabgestoßen worden. Abdrücke von Händen hatten sich als Blutergüsse in den Schultern verewigt. Welche Verletzungen vom Sturz herrührten und welche ihr zuvor beigebracht wurden, wird der Arzt mir später erst mitteilen können, wenn er sie in seinem Labor untersucht hätte. Bis dahin konnte ich meine Arbeit aber schon mal aufnehmen.

Ich sah mir alles genau an. Im Laden selbst war ein Regal umgefallen, aber Charlotte Carpenter starb sicherlich nicht beim Sturz die Treppe hinauf, sondern hinab. Der Kampf muss also von unten nach oben gegangen sein und schlussendlich in dem Mord geendet haben. Oder der Täter hatte das Regal beim Verlassen des Hauses umgeworfen. Dann müsste er einen Schlüssel haben, weil die Ladentür nämlich verschlossen war, sonst hätten wir sie ja nicht aufbrechen müssen. Also wie war der Täter überhaupt hier herausgekommen?

Erst später fand ich ein Fenster, das nicht verschlossen war, nur angelehnt, aber der Riegel nicht vorgeschoben. Jeder hätte dort hinein oder hinaus gelangen können. Das Fenster führt vom Hinterzimmer des Ladens ebenerdig am hinteren Teil des Hauses in den Garten, von wo aus jeder hätte die Flucht antreten können.

Am Treppenaufgang war auf den zweiten Blick deutlich zu sehen, dass Charlotte Carpenter noch versucht hatte, sich abzufangen. Blut klebt an den Wänden und am Geländer. Ganz oben hängt auch ein Bild schief, als hätte sie es beinahe von der Wand gerissen. Sie muss sich heftig gegen den Tod gewehrt haben.

Die Wohnung über dem Geschäft sah schon eher nach einem richtigen Kampf aus. Außerdem schien derjenige irgendwas gesucht zu haben. Sämtliche Schranktüren stehen offen, ebenso die Schubladen. Der Inhalt liegt in der ganzen Wohnung verteilt. Es muss also auch genügend Zeit geblieben sein, um noch alles zu durchsuchen. Es wird seine Zeit dauern, bis wir alles durchgesehen haben und wissen, was bei dem Kampf zu Bruch ging und was erst danach bei der Durchsuchung.

Was für eine Tragödie!

Byron McLoad

(Anwalt)

Ein Mord in unserer Straße, das muss man sich mal vorstellen! Was für ein Skandal … Die Zeitungsleute tummeln sich auf der Straße und wohin man auch geht, überall hört man nur den Namen Charlotte Carpenter. Und für mich ist es vielleicht ein entscheidender Vorteil. Erfahrungsgemäß tappt die Polizei sowieso im Dunkeln. Mehr als haltlose Vorwürfe wird es nicht geben. Und jeder, der irgendwie verdächtig scheint, ist ein potenzieller Mandant für mich. Wie überaus praktisch sich alles zusammenfügt.

Zuvor kommt jedoch das lästige Händeschütteln und Beileid aussprechen. Was weiß denn ich, ob das Weib Familie hatte? Oder Freunde? Mehr als wartende Verehrer, die sie vertröstete, habe ich bei der nie gesehen. Vielleicht war es auch ihre Taktik, die Männer hinzuhalten und so Geld aus ihnen zu quetschen wie den Saft aus einer Zitrone. Weiber wie die brauchen sich doch nicht zu wundern, wenn sie früher oder später den Falschen auszunehmen versuchen.

Gutes Aussehen lässt sich bei Weibern eben gut verkaufen. Wieso nur bei einem Geld machen, wenn man bei mehreren abkassieren kann? Ein kleines Geschenk hier, eine kleine Spende dort. Den meisten Kavalieren, die sich vor dem Laden gegenüber herumdrückten, fällt ein kleines Geschenk kaum auf. Einer Bettlerin dürften viele kleine Geschenke allerdings sehr genügen.

Charlotte Carpenter hatte es trotz alledem clever angestellt, das muss ich ihr zugestehen. Statt als Prostituierte ihre Schönheit zu verkaufen oder sich die Zeit zu nehmen, die Hoffnung der Männer bei vielen Verabredungen aufrecht zu halten und sie hintenherum um kleine Summen zu bitten, hatte sie einen Laden eröffnet, in dem es jede Menge Kleinigkeiten zu kaufen gibt. Sie musste also nicht aktiv werden, um etwas zu bekommen, sondern die Männer mussten etwas geben, wenn sie sie sehen, beziehungsweise mit ihr sprechen wollten. Dreist und ausgefuchst und einer Dame keinesfalls würdig, aber eine Dame ist die auch nie gewesen. Trotzdem clever, so ungern ich es zugebe.

Noch etwas ist am heutigen Tag besonders. Im komischen Sinne … Ich könnte immer noch lachen, wenn ich daran denke. Mein wertloser Butler Jack O'Neil war auswärts für mich unterwegs. Ich hatte einige Dinge auf der Liste gehabt, die er erledigen musste, daher war er am Vormittag gar nicht im Büro gewesen. Als guter Angestellter wäre er trotzdem am Morgen noch mal gekommen, aber nicht Jack O'Neil. Der glaubt sich selbst erhaben über alles und ist nichts weiter als ein Wurm unter meinem Schuh. Wo wäre der denn, wenn ich ihm nicht geholfen hätte?

Noch immer sind Polizisten am Laden gegenüber zu sehen. Es darf niemand hinein, aber die Presse ist vorerst auch mit einem Bild von außen zufrieden. Ich weiß natürlich, dass die gern hineingehen würden. Am besten wäre es gewesen, als die Tote noch an der Treppe gelegen hatte. Ja, dafür hätten die Zeitungsleute so einiges getan.

Nun kam Jack, der Wurm, heute Nachmittag ins Büro und sah schon ganz verwundert aus. Er legte mir die Zeitung vor und fragte, was denn gegenüber geschehen sei, dass die Polizei herumstand. Ich gab ihm nur zur Antwort, dass die Besitzerin des Ladens wohl ermordet worden sei.

Im gleichen Augenblick hätte ich lauthals lachen können. Jack ließ seine Aktentasche, die ich ihm gekauft hatte, einfach fallen. Seine Augen wurden immer größer und sein Mund stand sperrangelweit offen.

„Ermordet?“, flüsterte er geschockt. Ja, ich sah ihm an, dass er tatsächlich geschockt war. Aber dieser Schock ging weit über das hinaus, das man erwarten würde, wenn ein Mensch in der Nachbarschaft getötet wird. Der hat tatsächlich Gefühle für das Weib entwickelt! Ausgerechnet der! Der besitzt doch nichts! Wie will der denn ein so anspruchsvolles Weibsbild wie Charlotte Carpenter zufriedenstellen?! Ich bezahle ihm wirklich guten Lohn, aber für Höhenflüge reicht es eigentlich nicht. Das verdient der gar nicht! Was bildet der sich denn ein?

Als guter Mensch hielt ich mein Lachen natürlich zurück. Das gehört sich ja schließlich nicht und schlechte Manieren lasse ich mir nicht nachsagen. Ich sagte ihm, er solle sich einen Tee machen und erst mal wieder zu sich kommen.

Zu seinem Glück brauchte er dafür nicht den halben Tag, sonst hätte er sich eine neue Anstellung suchen können. Gesprächig war er nicht, aber er machte seine Arbeit, für die ich ihn schließlich bezahle.

Jack O'Neil und Charlotte Carpenter … Ich kann immer noch nicht glauben, dass ein halbwegs gebildeter Mann so weltfremd sein kann. Jack kommt doch aus gutem Hause, hat eine höhere Ausbildung genossen und ist eigentlich nicht dumm. In Bezug auf Frauen scheint sein Kopf aber nicht sonderlich gut zu arbeiten. Eine Gouvernante wäre noch ein überraschender Fang für ihn. Bei seinen finanziellen Mitteln sollte er sich eher im Gossenbereich umsehen. Ehe der seine Schulden bei mir abgezahlt hat, ist er vermutlich zu alt, um noch eine geeignete Frau zu finden.

Es fällt mir beinahe schwer, diese Zeilen niederzuschreiben. Meine Lippen verziehen sich immer wieder, wie von allein, zu einem amüsierten Grinsen. Jack O’Neil, der Höhenflieger ... Ich muss mich sammeln und beruhigen. Dafür ist das Aufschreiben dieses Ereignisses genau der richtige Weg, hoffe ich.

In einer halben Stunde fahre ich zum Bahnhof und hole meinen Neffen ab. Mit ihm werde ich mich sicherlich auch noch über Jacks kindische Schwärmerei amüsieren.

Finnegan kommt mich für zwei Tage besuchen. Wir sind heute Abend zum Dinner eingeladen und Finnegan soll seine Braut kennenlernen. Mein Bruder bat mich, Finnegan für diese Zeit bei mir aufzunehmen. Natürlich habe ich nichts dagegen, meinem Bruder den Gefallen zu tun. Es ist auch schon alles vorbereitet für meinen Neffen. Kaum zu glauben, dass er schon alt genug zum Heiraten ist. Wo ist nur die Zeit geblieben?

Ich bin gespannt, wie ihm seine zukünftige Ehefrau gefällt. Nicht dass das einen Unterschied machen würde. Die Hochzeit wurde zwischen den Vätern beschlossen und wird vollzogen. Hoffentlich hat der Junge nicht solches Pech wie ich damals, als meine zugesprochene Braut heimlich einen anderen heiratete. Der Skandal war beschämend. Für meinen Vater, für mich, für die ganze Familie. Ich glaube, nach dieser Erfahrung hat sich mein Bruder besonders Mühe gegeben, eine folgsame Frau für seinen Sohn zu finden.

Hoffentlich ...

Adeline Alderten

(Frau des Gutsbesitzers)

Ich kann nicht behaupten, dass ich solche Zusammenkünfte wie heute verabscheue. Eigentlich mag ich es sogar recht gern. Ich bin mit Vergnügen unter Menschen und unterhalte mich auch mit Freude mit anderen. Unangenehm wird es nur, wenn Männer, vor allem William, anwesend sind.

Wie Sue heute wurde auch ich von einer Gouvernante unterrichtet. Sie lehrte mich die Dinge, die mein Vater für ausreichend hielt. Nicht mehr und nicht weniger. Bei der Wahl der Gouvernante für Sue hatte ich die Entscheidung in die eigene Hand genommen. Scarlett kannte ich zuvor nicht, aber sie war mir von einer Freundin empfohlen worden. Inzwischen habe ich Scarlett kennengelernt und sie muss nicht aussprechen, dass sie Sue mehr beibringt, als William gutheißen würde. Aus meiner Sicht ist es genau das Richtige.

In einem Punkt gleicht sich die Geschichte meiner Tochter mit meiner eigenen. Wir beide sind nicht in Armut geboren worden und müssen uns anständig benehmen können. Das musste ich lernen, das muss meine Tochter lernen. Scarlett ist eine umwerfend gute Lehrerin. Sie brachte Sue alles bei, was sie für eine Gesellschaft wissen muss. Höflichkeit und Anstand, Haltung und Sittsamkeit.

Vergangene Woche war William noch dagegen gewesen, Sue mit in die geladene Gesellschaft einzubeziehen, doch ich war mir sicher, sie wird uns nicht blamieren. So gut kenne ich Scarlett und so gut kenne ich auch meine Sue. Und ich behielt Recht. Dass William Sue für heute Abend gleich von selbst einplante, bestätigt mich.

Das Einzige, das ich an dieser Art der Zusammenkunft nicht leiden kann, ist das Verhalten der Männlichkeit. Ich als Ehefrau des Hausherrn begrüßte mit William natürlich die Gäste. Allerdings war ich nur eine Randfigur. Eine Dekoration für William. Niemand seiner Freunde und Geschäftspartner interessierte sich für mich. Zumindest nichts, das über die geforderte Höflichkeit hinausgeht. Ich hörte Komplimente über das Haus, die Einrichtung, mein Kleid, meinen Schmuck und meine Frisur. Aber niemand wollte wissen, was ich denke. Die meisten Männer setzen voraus, dass eine Frau einfach nichts zu sagen hat. Und wenn wir den Mund aufmachen, dann kommt nichts Wichtiges heraus.

In dieser Gesellschaft fühlt sich William wohl, das wundert mich nicht. Zum Glück saß zum Essen eine alte Bekannte neben mir. So konnte ich mich gut unterhalten. Nichts Weltbewegendes, aber immer noch besser, als den ganzen Abend zu schweigen.

Nach dem Essen verteilte sich alles etwas. Ich saß mit Freundinnen beisammen und hörte mir die Nichtigkeiten anderer Leben an. Die eine hat einen neuen Sessel gekauft, die andere ihre Hausangestellte rausgeschmissen. Die Nächste hat in letzter Zeit so viel gestickt, dass ihre Finger schon wund waren. Sie sind wirklich alle nett, aber interessant finde ich keines der Gesprächsthemen. Theoretisch hätte ich mich lieber zwischen die Männer gestellt und über Politik und Wirtschaft gesprochen. Das gehört sich jedoch nicht. Nicht für eine Frau. Dies sind die Momente, in denen ich gern ein Mann wäre.

Ändern kann ich es leider nicht und muss darauf vertrauen, dass Gott seine Gründe hatte, eine Frau aus meinem Körper zu formen, mir aber den freidenkenden Geist eines Mannes zu geben. Schlimmer als mein eigenes Los finde ich die Tatsache, dass ich diesen Geist an Sue weitergegeben habe. Leider auch im Körper einer Frau. Das wird ihr noch Probleme bringen, obwohl sie bisher sehr folgsam war. Anders als ich in diesem Alter.

Entgegen aller Sorge von William hat uns Sue keinesfalls blamiert heute Abend. Sie ist eine bildschöne junge Frau mit umwerfenden Manieren. Jeder Mann könnte sich glücklich schätzen, sie zu heiraten. Solange sie ihren freien Geist für sich behält.

Sie hat sich lange mit einem jungen Mann unterhalten. Der Einzige neben ihr in jungen Jahren. Der Rest der Gästeschaft war mindestens eine Generation mit William und mir. Ich kann schon verstehen, weshalb sich Sue lieber mit einem Gleichaltrigen unterhält.

Ich freue mich jedenfalls, dass auch sie einen augenscheinlich schönen Abend verlebt hat. Mich schmerzt der Gedanke jetzt schon, dass sie bald heiraten und das Haus verlassen wird. Dann ist niemand mehr hier, den ich gern bei mir habe. Vermutlich werde ich dann noch mehr Zeit in der Stadt verbringen. Hoffentlich zieht Sue nicht allzu weit fort, dann könnte ich sie regelmäßig besuchen.

Meine kleine Sue ... Ich sehe sie noch vor meinem geistigen Auge, als sie laufen lernte. Andauernd stieß sie gegen Möbelstücke, weil sie es zu eilig hatte. Ich hatte zusammen mit dem Personal des Hauses überall Kissen ausgelegt. Was sollen denn die Leute denken, wenn mein Kind ständig verletzt ist? So lauteten Williams Gedanken damals. Mir ging es eher darum, Sue vor Schmerzen zu bewahren. Das ist heute noch so und ich hoffe, sie wird einmal einen Mann heiraten, der sie wirklich glücklich machen kann.

William Alderten

(Gutsbesitzer)