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Der Prozess des "Erwachsen-werdens" geht stets einher mit der Lösung der engen Bindung des Kindes von den Eltern. Für erwachsene Menschen mit einer geistigen Behinderung oder Mehrfachbehinderung stellt dies eine erhebliche Herausforderung dar. Mitarbeiter in den verschiedenen Wohnformen und Diensten treten als zusätzliche Bezugspersonen in Erscheinung. Das Buch bietet Grundlagenwissen u.a. zu den spezifischen Eltern-Kind-Beziehungen, den Prozessen der Ablösung und Annäherung, den Rollen der Fachkräfte und beschreibt die Entwicklungsaufgaben der Menschen mit Behinderungen in fünf "Lebens"-Phasen. Der Erwachsene mit einer kognitiven Beeinträchtigung steht im Mittelpunkt des Freiraumkonzeptes. Gleichzeitig wird die Situation der Eltern differenziert betrachtet und dadurch eine sehr gute Verstehensbasis für eine wertschätzende und konstruktive Zusammenarbeit geschaffen.
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Seitenzahl: 181
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Herr Ingo Emmelmann studierte an der Katholischen Fachhochschule Münster Heilpädagogik und arbeitete in verschiedenen Wohngruppen für Erwachsene Menschen mit geistigen und Mehrfachbehinderungen sowie in einer Kurzeitwohneinrichtung für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen. Über 20 Jahre lang leitete er verschiedene Wohnstätten für erwachsene Menschen mit geistigen und Mehrfachbehinderungen. In dieser Zeit entwickelte er zusammen mit seinen Mitarbeiterteams das Freiraumkonzept. Darüber hinaus ist er seit vielen Jahren verbandlich engagiert. So hat er zum Beispiel mehrere Jahre im Fachbeirat für Menschen mit geistigen Behinderungen und Lernbehinderungen des CBP (Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie) mitgewirkt. Nebenberuflich bietet er praxisorientierte Fortbildungen zu unterschiedlichen Themenfeldern wie Grundlagen der Begleitung von Menschen mit Behinderungen, Angehörigenarbeit, basierend auf dem Freiraumkonzept, oder Verstehensansätze und Entwicklung von Handlungsalternativen bei selbst- und fremgefährdendem Verhalten an.
Prof. Dr. phil. habil. Heinrich Greving lehrt seit 1999 an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Münster Allgemeine und Spezielle Heilpädagogik, seit 2013 ist er an der Universität Hamburg Privatdozent und lehrt dort Behindertenpädagogik. Seine Forschungs- und Entwicklungsschwerpunkte beziehen sich hierbei vor allem auf folgende Themenfelder: Theorien und Konzepte Heilpädagogischer Organisationen, Heil- und Behindertenpädagogische Systematik und Theoriebildung, Didaktik und Methodik der Heilpädagogik, Professionalisierung der Heil- und Behindertenpädagogik, Professionsethik, Lebenswelten von Menschen mit einer sog. Behinderung, Beratung, Coaching und Organisationsentwicklung, Qualitätsmanagement im Sozial- und Gesundheitswesen.
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1. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-033880-7
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-033881-4
epub: ISBN 978-3-17-033882-1
mobi: ISBN 978-3-17-033883-8
In diesem Buch begegnen sich Theorie und Praxis – so wie dieses im Titel dieser Buchreihe schon angedeutet wird: Die Praxis der Heilpädagogik wird im Hinblick auf ein spezifisches Thema erläutert, analysiert und methodologisch begründet. In diesem Band wird es um die Ablöseprozesse gehen, welche sich Eltern von Kindern (in diesem Fall Erwachsenen) mit Beeinträchtigungen (sog. geistigen Behinderungen) stellen, wenn diese aus dem Elternhaus ausziehen. Zudem werden auch die Aufgaben benannt, welche auf die Erwachsenen, aber auch auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den jeweiligen Organisationen der Eingliederungshilfe bei diesen Ablöse- und Neuorientierungsprozessen zukommen.
Was wird in diesem Band somit konkret erläutert?
Die für jeden Menschen geltende Entwicklungsaufgabe des Erwachsenwerdens geht einher mit der Weiterentwicklung von einer engen Eltern-Kind-Beziehung hin zu einer eigenständigen Persönlichkeit.
In dem vorliegenden Band sprechen die Autoren von Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung – wohlwissend, dass diese Bezeichnung nicht unumstritten und zudem auch wissenschaftlich nicht in allen Punkten valide darstellbar ist (in Ergänzung hierzu werden auch weitere Begrifflichkeiten zur Beschreibung dieser Personengruppe herangezogen – auch hierbei ist den Autoren bewusst, dass diese nur rudimentär der zu beschreibenden Wirklichkeit entsprechen). Diese Formulierung, diejenige der »Geistigen Behinderung«, soll deutlich machen, dass jeder Mensch, unabhängig vom Grad seiner geistigen Behinderung mit Erreichen der Volljährigkeit als erwachsener Mensch angesehen werden möchte. Es wird nicht weiter differenziert, in welchem Umfang diese sog. geistige Behinderung diagnostiziert wird. Nicht die Behinderung, oder die Beeinträchtigung, steht im Vordergrund, sondern der erwachsene Mensch. Alle im Freiraumkonzept beschriebenen Phasen und die damit verbundenen Entwicklungsaufgaben gelten unabhängig vom Grad der Behinderung für die gesamte Zielgruppe. Vereinzelt wird vom Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung und Mehrfachbehinderung gesprochen. Diese Formulierung berücksichtigt, dass bei Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung auch unterschiedliche Mehrfachbehinderungen (oder -beeinträchtigungen) einhergehen können. Auch hier gilt, dass aufgrund des Umfanges und der Vielzahl möglicher Mehrfachbehinderungen dem Menschen nicht das Recht abgesprochen werden kann, als erwachsener Mensch ernstgenommen zu werden.
Es besteht der heilpädagogische Anspruch, dass bei einer umfassenden geistigen Behinderung (oder Lernschwierigkeit) und weiteren Mehrfachbehinderungen in erster Linie die Kreativität und die Kompetenz der Bezugspersonen gefordert sind, dem Erwachsenen in der Erfüllung seiner Entwicklungsaufgabe zu unterstützen.
Das Freiraumkonzept bezieht alle unterschiedlichen Wohnformen mit ein, in denen erwachsene Menschen mit einer geistigen Behinderung leben, wenn sie das Elternhaus oder eine Kinder- und Jugendeinrichtung verlassen. Es wird grundsätzlich nicht unterschieden, ob es sich um das Leben in einer (eigenen) Wohnung, in einer Wohngemeinschaft oder einer umfassenden Wohnform handelt.
Wenn Erwachsene mit einer geistigen Behinderung relativ eigenständig in einer eigenen Wohnung leben, zeigt die Praxis, dass die Eltern in vielen Fällen immer weiter in der Begleitung und Unterstützung eingebunden sind. Das gilt vor allem dann, wenn die notwendigen Fachleistungsstunden für die Begleitung durch z. B. das »Ambulant Begleitete Wohnen« nicht ausreichend sind. Es ist eine besondere Herausforderung für die Eltern sich dennoch Zug um Zug zurückzuhalten, um dem Erwachsenen mit geistiger Behinderung seinen Freiraum zuzugestehen. Besonders in der zweiten Phase des Freiraumkonzeptes in Kapitel 4.2 wird auf diesen Konflikt eingegangen (Kap. 4.2).
Im Freiraumkonzept steht der Erwachsene mit einer geistigen Behinderung im Fokus. Die Autoren gehen von folgenden Prämissen aus:
• Jeder Mensch kann und möchte selber Entscheidungen treffen.
• Jeder Mensch kann und möchte möglichst selbstständig sein Leben meistern; der Mensch erhält seine Würde, wenn er selber aktiv werden kann.
• Jeder Mensch ist Experte in seiner Sache, er weiß am besten, was er braucht.
• Jeder Mensch lernt sein Leben lang.
Im Freiraumkonzept wird die Beziehung vom Menschen mit geistiger Behinderung, seinen Eltern und den professionellen Helfern zugrunde gelegt.
Die unterschiedlichen Rollen von Müttern und Vätern werden nicht differenziert bearbeitet. Es wird grundsätzlich von Eltern gesprochen.
Die Zielgruppe der professionellen Helfer wird mit der Bezeichnung »Mitarbeiter« zusammengefasst. Wohl wissend, dass in der Praxis dieser Begriff eher in Einrichtungen für erwachsene Menschen mit einem höheren Betreuungsumfang genutzt wird. Alternativ wird auch von Bezugspersonen gesprochen. Die Unterscheidung dieser Begrifflichkeit wird im Kapitel 3.2 »Das Bezugspersonensystem« (Kap. 3.2) verdeutlicht.
Im ersten Kapitel werden die dem Freiraumkonzept zugrundeliegenden heilpädagogischen Prämissen skizziert. Es wird beschrieben, mit welcher Begründung die Begrifflichkeit des Freiraumkonzeptes die üblicherweise verwendete Formulierung Ablösekonzept ablöst. Des Weiteren wird auf die Besonderheit unterschiedlicher Motivationen beim Einzug in eine umfassendere Wohnform, in eine klassische Wohneinrichtung oder eine Wohnstätte eingegangen. In diesen Wohnformen tauchen erfahrungsgemäß die meisten Konflikte in der Arbeit mit Eltern und Angehörigen auf.
Im zweiten Kapitel werden dann die theoretischen Begründungen zum Freiraumkonzept dargelegt. Diese sind in einem Dreischritt unterteilt in: theoretische, methodologische und pragmatische Aspekte. Der argumentative Weg dieses Kapitels führt somit über die theoriegeleiteten Begründungen hin zu den methodischen Grundlagen um dann schließlich in einigen pragmatischen Hinweisen zu münden. Da es sich bei diesem Buch um die Darlegung eines Konzeptes für die Praxis handelt, sind die Aussagen dieses Kapitels möglichst knapp – aber dennoch kohärent – gehalten.
In Kapitel 3 werden wesentliche Grundlagen für Konzeptionen von Wohnangebote beschrieben, auf die sich das Freiraumkonzept in der Umsetzung bezieht. Das Freiraumkonzept muss eingebunden sein in eine Gesamtkonzeption der Einrichtung und Dienste und kann nicht isoliert betrachtet werden.
In Kapitel 4 wird das Freiraumkonzept detailliert vorgestellt. Die unterschiedlichen Aufgaben der Erwachsenen mit geistiger Behinderung und möglichen Mehrfachbehinderungen werden in fünf Phasen beschrieben und mit vielfältigen Praxisbeispielen verdeutlicht. Zu jeder Phase wird auf die besondere Situation von Eltern eingegangen. Diese Sichtweise unterstützt ein Einfühlen in die schwierigen Situationen von Eltern, wenn diese ihr Kind beim Prozess des Erwachsenwerdens unterstützen.
Ebenso werden zu jeder Phase die jeweiligen Schwerpunkte der Arbeit der Mitarbeiter konkretisiert. Es ist eine in der Praxis immer wiederkehrende Annahme, dass es ein eindeutiges und stringentes Konzept in der Arbeit mit den Eltern und Angehörigen geben muss. Diese Annahme ist falsch und führt teilweise zu so heftigen Konflikten, dass Erwachsene mit einer geistigen Behinderung die gewählten Wohnformen verlassen müssen, wenn die Mitarbeiter und die Eltern vor derart schwierigen Konflikte stehen, die sie nicht bewältigen können.
Zum Ende jeder Phase werden Reflexionsfragen gestellt. Die dort benannten Beispiele sind alle aus der konkreten Praxiserfahrung heraus beschrieben.
Im nächsten Kapitel wird auf die möglichen Einsatzfelder des Freiraumkonzeptes eingegangen. Es wird beschrieben, wie das Freiraumkonzept in bestehende Konzeptionen implementiert werden kann und worauf in besonderem Maße geachtet werden muss. Ein Aspekt wird für die Zielgruppe der Heilpädagogen verdeutlicht, die mit Hilfe des Freiraumkonzeptes in Beratungssettings konkrete Hilfestellungen geben können.
Im abschließenden Kapitel wird der Blick auf das »Fehlende« gelenkt. Es gibt in den meisten Fällen für Eltern von Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung wenig oder keine geschützten Beratungs- und Unterstützungsangebote. Die Autoren weisen auf die Idee eines »Mentoren-Modells« für Eltern und Angehörige hin. Diese Angebote sind sicherlich sinnvoll und ausbaufähig.
Somit stellt dieses Fachbuch für Träger und Einrichtungsleitungen eine fachlich fundierte und sich in der Praxis bewährte Grundlage für die Weiterentwicklung der Konzeptionen zur Eltern- und Angehörigenarbeit dar.
Für Mitarbeiter und Auszubildende ist das Wissen um das Freiraumkonzept eine notwendige Grundlage, um die eigenen Rollen und Aufgaben in dem komplexen Arbeitsfeld der Unterstützung des Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung und der damit verbundenen Elternarbeit zu klären. Das Freiraumkonzept sollte nach Einschätzung der Autoren zur Basisausbildung im Arbeitsfeld der Heilpädagogik gehören.
Für Eltern von Kindern bzw. Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung stellt das Freiraumkonzept in anschaulicher und nachvollziehbarer Weise die unterschiedlichen Entwicklungsschritte und -aufgaben dar. Es hilft sich selbst und die Regeln, Möglichkeiten und Grenzen in erwachsengemäßen Wohnangeboten besser zu verstehen.
Münster, Dezember 2018
Ingo EmmelmannHeinrich Greving
Vorwort
1 Entstehungsgeschichte/Einleitung
1.1 Grundsätzliches
1.2 Vom Ablösekonzept zum Freiraumkonzept
1.3 Motivation zum Einzug in eine Wohneinrichtung
2 Heilpädagogische Grundlagen
2.1 Theoretische Aspekte
2.2 Methodologische Aspekte
2.3 Pragmatische Aspekte
3 Grundlagen für Konzeptionen in Wohneinrichtungen
3.1 Der Heilpädagogische Dreisatz
3.2 Das Bezugspersonensystem
3.3 Individuelle Hilfeplanung/Teilhabeplanung
4 Die 5 Phasen des Freiraumkonzeptes
4.1 Phase 1: Gemeinsamkeit
4.1.1 Phase 1: Gemeinsamkeit – Erwachsene mit einer geistigen Behinderung
4.1.2 Phase 1: Gemeinsamkeit – Eltern
4.1.3 Phase 1: Gemeinsamkeit – Mitarbeiter
4.1.4 Reflexionsfragen zur Phase 1: Gemeinsamkeit
4.2 Phase 2: Loslassen und Freiräume entwickeln
4.2.1 Phase 2: Loslassen und Freiräume entwickeln – Erwachsene mit einer geistigen Behinderung
4.2.2 Phase 2: Loslassen und Freiräume entwickeln – Eltern
4.2.3 Phase 2: Loslassen und Freiräume entwickeln – Mitarbeiter
4.2.4 Reflexionsfragen zur Phase 2: Loslassen und Freiräume nutzen
4.3 Phase 3: Annäherung und Freiräume nutzen
4.3.1 Phase 3: Annäherung und Freiräume nutzen – Erwachsene mit einer geistigen Behinderung
4.3.2 Phase 3: Annäherung und Freiräume nutzen – Eltern
4.3.3 Phase 3: Annäherung und Freiräume nutzen – Mitarbeiter
4.3.4 Reflexionsfragen zur Phase 3: Annäherung und Freiräume nutzen
4.4 Phase 4: Verantwortung übernehmen und Freiräume einschränken
4.4.1 Phase 4: Verantwortung übernehmen und Freiräume einschränken – Erwachsene mit einer geistigen Behinderung
4.4.2 Phase 4: Verantwortung übernehmen und Freiräume einschränken – Eltern
4.4.3 Phase 4: Verantwortung übernehmen und Freiräume einschränken – Mitarbeiter
4.4.4 Reflexionsfragen zur Phase 4: Verantwortung übernehmen und Freiräume einschränken
4.5 Phase 5: Die Zeit nach dem Tod eines Elternteils
4.5.1 Phase 5: Die Zeit nach dem Tod eines Elternteils – Erwachsene mit einer geistigen Behinderung
4.5.2 Phase 5: Die Zeit nach dem Tod eines Elternteils – Eltern/Angehörige
4.5.3 Phase 5: Die Zeit nach dem Tod eines Elternteils – Mitarbeiter
4.5.4 Reflexionsfragen zur Phase 5: Die Zeit nach dem Tod eines Elternteils
5 Einsatzfelder des Freiraumkonzeptes
5.1 Implementierung
5.1.1 Implementierung – Einrichtungsleitung
5.1.2 Implementierung – Mitarbeiter
5.1.3 Implementierung – Erwachsene mit geistiger Behinderung/Beeinträchtigung
5.1.4 Implementierung – Eltern
5.2 Das Freiraumkonzept in der Fachberatung
5.3 »Was fehlt?« – Ausblick
6 Das Schaubild zum Freiraumkonzept
7 Literatur
»Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.«
(Johann Wolfgang von Goethe)
»Vergiss es nie, hörte ich meinen Vater sagen: Jede Generation hat ihren eigenen Weg.«
(Joe Cocker)
Der Wunsch nach Freiheit, sein Leben möglichst so zu gestalten, wie man es möchte und eigene Entscheidungen zu treffen, sind Grundbedürfnisse des Menschen. Diese Entwicklung gelingt in einem biographischen Prozess. Es handelt sich dabei um eine wechselseitige Entwicklungsaufgabe von Kindern und Eltern. Gelingende Ablösungsprozesse sind von besonderer Bedeutung für die Ausbildung der eigenen Identität und der verschiedenen Rollen in Kultur und Gesellschaft. Dieser angestrebte Freiraum umfasst alle Entwicklungen und Veränderungen im Eltern-Kind-Verhältnis, welche mit einem Mehr an Unabhängigkeit und Eigenständigkeit für beide Seiten einhergehen.
Wir gehen davon aus, dass jeder erwachsene Mensch, unabhängig von seinem Hilfebedarf, das Recht auf eine eigene Wohn- und Lebensform hat. Menschen mit Behinderungen und ihre Eltern müssen lernen, mit ihrem neu gewonnen Freiraum konstruktiv umzugehen. Die unterschiedlichen Wege, den eigenen Freiraum zu erobern und zu gestalten, führen zu Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlichen Sichtweisen. Die daraus resultierenden Konflikte sind normal und notwendig.
Eine aktive und wertschätzende Elternarbeit unterstützt diesen Prozess, sobald sich Menschen entscheiden in eine Wohnstätte oder in eine eigene Wohnung zu ziehen. In dem Freiraumkonzept steht der Mensch mit Behinderung im Vordergrund. Gleichwohl sind die beiden anderen wichtigen Bezugsgruppen, die Eltern und die Mitarbeiter, von entscheidender Bedeutung.
Wenn Erwachsene mit einer geistigen Behinderung und/oder Mehrfachbehinderungen vom Elternhaus in eine erwachsengemäße Wohnform ziehen, ist ein weiterer Schritt im Sinne der Selbständigkeit von Menschen mit Behinderungen gegangen. Die Erfahrungen in nahezu allen Einrichtungen der Eingliederungshilfe zeigen, dass die Elternarbeit sich in einem sensiblen und meist spannungsreichen Beziehungsfeld zwischen den Menschen mit Behinderungen, deren Eltern und den Mitarbeitern vollzieht.
Die Eltern der Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung sind für die alltägliche Arbeit in den Wohneinrichtungen einflussreiche Protagonisten. Oftmals fehlt jedoch ein differenziertes fachliches Konzept, welches den Mitarbeitern Orientierung über die sich ändernden Rollen und Aufgaben in der Zusammenarbeit mit den Eltern gibt. Ebenso fehlt den Eltern eine klare Darstellung der Themen, die ihnen im Laufe der Jahre bezüglich der Entwicklung ihres Kindes widerfahren. In den vom Wohn- und Teilhabegesetz geforderten Vorvertragsinformationen werden Details zu Leistungen, Abläufen und Regeln gegeben. Die persönlichen Themen, die die Eltern jedoch erleben werden, werden selten thematisiert. Auch mit den Menschen mit Behinderungen wird selten über das in der Wohnform geltende Konzept zur Elternarbeit gesprochen.
Das im Folgenden dargestellte Freiraumkonzept schließt hier eine fachliche Lücke, indem erstmalig in fünf Phasen die Beziehung von Menschen mit Behinderungen und ihrer Eltern von dem Einzug in eine neue Wohnform bis zum Leben der Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung nach dem Tod der Eltern beschrieben wird. Das Freiraumkonzept formuliert die jeweiligen Entwicklungsaufgaben der Menschen mit Behinderungen und die sich ändernden Aufgaben und Rollen der Eltern.
Für die Mitarbeiter werden strukturierte und praxisorientierte Aufgaben beschrieben, um den Menschen, die in einer Wohneinrichtung oder eigenen Wohnung leben, darin zu unterstützen, selbstbewusste Erwachsene zu werden und deren Eltern zu ermutigen, die eigenen neu gewonnenen Freiräume zu nutzen.
Durch die Einführung des Freiraumkonzeptes werden Konflikte mit Eltern nicht vermieden. Sie sind im Grundverständnis der Entwicklung von Freiräumen notwendig und sinnvoll. Es wird jedoch eine wertschätzende Verstehens-Basis für eine konstruktive, am Menschen mit Behinderungen orientierte Zusammenarbeit gelegt. Die Festlegung der zeitlichen Dimensionen der ersten beiden Phasen wird mit den Erfahrungen aus der Praxis begründet. Es hat sich gezeigt, dass ohne diese Festlegung teilweise sehr lange Verhandlungen über den richtigen Zeitpunkt zum Wechsel in die nächste Phase stattfinden.
Das Freiraumkonzept ist grundsätzlich auf alle Wohnformen anzuwenden, die für Erwachsene mit einer geistigen Behinderung möglich sind. Es gilt sowohl für Wohneinrichtungen und Wohnstätten, die einen umfassenden Betreuungsauftrag haben. Es gilt für sogenannte Außenwohngruppen, aber auch dann, wenn Erwachsene mit einer geistigen Behinderung und/oder Mehrfachbehinderung in ihre eigene Wohnung ziehen und durch Fachdienste, z. B. das »Ambulant Begleitete Wohnen«, unterstützt und begleitet werden. Im Buch wird daher grundsätzlich von Wohnformen gesprochen.
Mit der Bezeichnung »Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung und/oder Mehrfachbehinderung« sollen grundsätzlich alle unterschiedlichen Ausprägungsformen erfasst werden. Das Freiraumkonzept ist eine Orientierung sowohl für Erwachsene mit einer Lernbehinderung als auch für Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung und möglicherweise weiteren Mehrfachbehinderungen. In jedem Fall muss individuell geprüft werden, in welcher Form die notwendige Unterstützung und Begleitung aussehen kann. Ausgehend von unserem Menschenbild kann es aber keine grundsätzlichen Einschränkungen oder Ausnahmen geben. In den Fällen, wo die Entscheidung eines Erwachsenen mit einer schweren geistigen Behinderung nicht eindeutig erfasst werden kann, soll die sogenannten 50 %-Regel gelten. Diese beinhaltet, dass in solchen Situationen die notwendige Unterstützung maximal zur Hälfte weiterhin von den Eltern geleistet werden soll. Nur wenn der Erwachsene mit einer schweren geistigen Behinderung und seine Eltern die Erfahrung machen, dass auch Mitarbeiter diese Unterstützung leisten können, ist die Chance zum Nutzen des neuen Freiraums denkbar.
In der Fachliteratur wird als Entwicklungsaufgabe von Menschen die Ablösung vom Elternhaus beschrieben. Der Begriff Ablösung ist hier zentral. Er macht deutlich, dass die enge symbiotische Beziehung von Kindern mit ihren Eltern sich im Laufe der Jahre Zug um Zug entwickelt. Die Ablösung erreicht einen zentralen Schnitt, wenn der junge Erwachsene das Elternhaus verlässt und beginnt, überwiegend auf eigenen Beinen zu stehen (Kap. 2.1).
Diese Entwicklungsaufgabe gilt grundsätzlich auch für Menschen mit geistigen Behinderungen und/oder Mehrfachbehinderungen. Dennoch hat dieser Personenkreis mit der besonderen Herausforderung zu tun, so dass sie ein Leben lang auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Demzufolge wird ihnen unterstellt, diese Entwicklungsaufgabe nicht meistern zu können. Ablösung bedeutet dann vor allem, dass es sich nicht um Eigenständigkeit, sondern um ein Verlagern der notwendigen Unterstützung an andere Personen handelt.
Für Eltern impliziert das in besonderer Weise, sich ein Leben lang verantwortlich für das Kind zu fühlen. Demzufolge kann es keine Ablösung geben. Der Begriff »Ablösung« ist folglich negativ, weil unmöglich besetzt. In vielen Gesprächen mit Eltern kamen wir immer genau an diesen Punkt. Ablösung ist nicht möglich, also sind bestimmte Regeln und Konzepte zur Verselbständigung nur vorgeschoben, um selber als Wohneinrichtung Einfluss auf den Menschen mit Behinderung zu bekommen. Eine Mutter drückte das sehr deutlich aus: »Ich kann mich nie von meinem Kind lösen – ich bleibe immer die Mutter!«
Ebenso reagierten durchaus auch Erwachsene mit einer geistigen Behinderung, wenn sie von Ablösung hörten. Sie drücken z. B. ihre Sorge derart aus: »Wenn ich mich von zu Hause ablöse – darf ich dann nicht mehr nach Hause fahren?«
Wir haben lange nach alternativen, nicht so mit Angst besetzten Begriffen gesucht. In vielen Diskussionen wurde deutlich, dass es sich beim Ablöseprozess nicht um eine Abkehr oder endgültige Trennung handelt. Im Vordergrund steht die Einstellung, dass jeder Mensch seinen eigenen Lebensweg gehen kann. Ein Auszug aus dem Elternhaus schafft neue Freiräume. Diese Freiräume gilt es zu nutzen. Aus diesem Grunde ist aus einem ehemaligen Ablösekonzept ein Freiraumkonzept entstanden.
Vorab: Die Entscheidung von Menschen mit Behinderungen, in eine neue Wohnform ziehen zu wollen, ist immer verbunden mit Wünschen, Hoffnungen und Sorgen. Dies trifft ebenso auf die Eltern zu, die solch eine Entscheidung mittragen oder sogar für ihr »erwachsenes Kind« treffen.
Die Gründe für die Entscheidungen sind sehr vielfältig. In den letzten Jahren ist zunehmend eine Generation von Menschen mit Behinderungen und ihrer Eltern in Erscheinung getreten, die sehr selbstbewusst und aus der Überzeugung heraus argumentieren, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner Behinderung, das Recht hat, ein eigenständiges Leben nach eigenen Vorstellungen leben zu können. Für diesen Personenkreis ist die Entscheidung, den ersten Schritt in eine neue Wohnform für erwachsene Menschen zu gehen, oft gut durchdacht und mit klaren Vorstellungen verbunden. Nach unseren Erfahrungen haben diese Menschen mit Behinderungen oftmals ein sehr individuelles Netz von Hilfen erfahren, die sie ein Leben lang begleitet haben: von der Frühförderung bis zur Sonderschule und den Ausblick auf einen realistischen Arbeitsplatz. Für diese Menschen ist das Leben in einer neuen Wohnform ein normaler Schritt in ihre Form der Eigenständigkeit und der notwendige Schritt aus dem Elternhaus. Dies trifft auch auf die Eltern zu, die solch eine Entscheidung für ihr Kind mit einer schweren geistigen Behinderung und/oder Mehrfachbehinderungen getroffen haben. Die Beteiligung ihres »Kindes« basierte in der Regel nicht auf Gesprächen, sondern auf dem aufmerksamen Beobachten, während sie verschiedene Wohnangebote geprüft und besucht haben. In den oben genannten Fällen haben die Menschen mit Behinderungen und ihre Eltern die Erfahrungen gemacht, sich im sozialen Netz der Hilfen zu Recht zu finden und entsprechend ihrer Rechte die angemessenen Hilfen einzufordern.
Eine andere Gruppe von Menschen mit Behinderungen und ihrer Eltern sind die, die den Auszug aus dem Elternhaus möglichst lange vor sich herschieben und den Anspruch haben, solange es eben noch geht sich um ihr behindertes Kind zu kümmern. Diese Haltung ist nicht ungewöhnlich und basiert unter anderem auf der Erfahrung, dass sich die Eltern am besten um ihr Kind kümmern