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Ein Deutscher, der aus Frust seine Heimat verlässt. Ein Syrer, der vor dem Krieg flieht. Auf einer griechischen Fähre treffen beide aufeinander. Was folgt, sind lange Gespräche und der Beginn einer ungewöhnlichen Freundschaft, die beiden Männern völlig neue Perspektiven eröffnet. Durch die Augen des Flüchtlings Soumar, der auf der Suche nach einer neuen Heimat in Deutschland ist, lernt Autor Florian Schmitz sein eigenes Land neu kennen. "Auch für Soumar ist das Leben in Deutschland nicht einfach. Vorurteile und Angst schlagen ihm ebenso entgegen, wie Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit ihm zuteilwerden. Dabei aber vergisst er nie das Gute. Er lässt sich ein auf meine Heimat, nimmt sie, wie sie ist. Eine Heimat, die ich so nicht kannte und die ich erst durch die Augen eines Fremden wirklich verstehen lerne."
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Seitenzahl: 382
Prolog – Rückkehr in eine fremde Stadt
Auf matt-glänzenden Schienen verlässt die S-Bahn den Flughafentunnel in Richtung Zentrum. Mein erster Blick fällt auf das Bestattungsforum Hamburg-Ohlsdorf. Wie ein Krematorium erhebt sich das blutrote Gebäude aus dem Grün des Friedhofs. Bilder von Konzentrationslagern kommen mir in den Sinn, und ich frage mich, ob es dem amerikanischen Rentnerehepaar, das vor mir in den Zug gestiegen ist, wohl ähnlich geht.
Es ist Anfang Februar. Die S-Bahn hält und trotz der ungewöhnlich milden Luft, die durch die offenen Türen in den Wagon strömt, beginne ich zu frösteln. Es ist mein erster Besuch in Hamburg. Als gebürtiger Ruhrpottler und nach zwölf Jahren Wahlberliner-Dasein bin ich im Dezember 2013 nach Griechenland gezogen. Ich vermisse nicht viele Dinge in Deutschland. Warum auch? Mein Umzug nach Hellas war eine längst überfällige Flucht aus dem Berliner Dschungel un- oder schlecht bezahlter Arbeit. Der Riesenstapel erfolgloser Bewerbungen hat lange und tief an meinem Selbstwertgefühl genagt. Perspektivlosigkeit. Deutschlands Nachricht an mich: »Ich brauche dich nicht.« Und wenn die Heimat einem so etwas permanent ins Ohr flüstert, muss man ihr nolens volens den Rücken kehren. Eines aber vermisse ich manchmal in Griechenland: den Regen. Regen und Kälte. In Gedanken an die unzähligen, nasskalten Junitage in Deutschland ist das vielleicht erst einmal schwierig nachzuvollziehen. Aber wenn man in einem Land aufgewachsen ist, in dem man selbst im Juli immer auf Regen vorbereitet ist und in dem es angeblich nur falsche Kleidung aber kein schlechtes Wetter gibt, vermisst man die Witterung auf einmal. Im letzten August, an einem dieser Tage, an denen Thessaloniki in einer vierzig Grad heißen Glocke aus verdampfendem Meerwasser vor sich hin garte, lag ich bewegungslos auf meinem Bett. In meinem eigenen Schweiß badend habe ich ein deftiges 6-Gänge-Weihnachtsmenü zusammengestellt. Ich hatte die Hoffnung, dass die Gedanken an etwas Winterliches Abkühlung bringen würden. Geholfen hat schlussendlich die Hoffnung auf Wind auf dem Balkon in Verbindung mit kaltem, sehr kaltem Weißwein. Das ist keine Beschwerde. Es ist lediglich die Feststellung, dass Kälte nicht per se etwas Negatives ist. Im Gegenteil. Der Winter in Deutschland hat etwas Kontemplatives. Momente mit Tee und Büchern. Lange Spaziergänge durch den Berliner Januar. Kalte, frische Luft. Auf mich wirkt es oft unfreiwillig komisch, wenn die Menschen auf den Straßen von Thessaloniki bei Temperaturen über dem Gefrierpunkt in eines der wenigen Schneegestöber geraten und sich angsterfüllt den Schal ins Gesicht pressen. Und jetzt sitze ich hier, den milden, griechischen Winter in den Knochen und fröstle so vor mich hin. Vielleicht ist es ja auch nur der Ohlsdorfer Hauch des Todes, der vom Friedhof aus in die öffentlichen Verkehrsmittel weht.
Ich habe mich inzwischen an Thessaloniki gewöhnt, oder an mein ›Fremdsein‹ in Griechenland überhaupt. Vielleicht habe ich mich so an Thessaloniki gewöhnt, dass mein Fremdsein keine Rolle mehr spielt oder von der täglichen Routine zwischen Beruf und Privatleben schlichtweg überdeckt wird. Hier, zurück in Deutschland, fällt mir abgesehen von der Kälte nichts auf. Erst zum dritten Mal seit meiner Wirtschaftsflucht gen Süden betrete ich wieder heimatlichen Boden – und ich hatte es mir irgendwie spektakulärer vorgestellt.
Okay, heimatlicher Boden ist wohl etwas übertrieben. Ich war noch nie in Hamburg. Ich bin als Tourist hier. Mehr noch: Ich bin als Tourist in Deutschland. Trotzdem erkenne ich die Umgebung wieder – unwillkürlich. Die Architektur der Wohnhäuser, die Sauberkeit des Zuges, die tiefen Wolken am Himmel, die winterkahlen Bäume. Mein Blick streift die vorbeifliegenden Werbetafeln und Schilder. Ich verstehe, ohne zu lesen. Um mich herum höre ich Deutsch und ich verstehe, ohne zuzuhören. Ich verstehe, ohne verstehen zu wollen oder zu müssen. Irgendein Typ hinter mir sagt, wie geil es wäre, im Lotto zu gewinnen, gleich danach, dass er jede Nacht vom Sterben träume. Außerhalb meines Sichtfeldes erzählt eine Frau, die von ihrem Begleiter mit Laura angesprochen wird, wie man Kindern mit Migrationshintergrund Sprache und Kultur vermittelt. Drei pubertierende türkisch- oder arabischstämmige Mädchen tauschen sich über ihre Lehrstellen aus – auf Deutsch natürlich. Eine von ihnen trägt ein Kopftuch. Ich bin in Deutschland. Ich erkenne es wieder, obwohl ich fremd bin in Hamburg. Ich erkenne es anders wieder als Orte in Griechenland, an denen ich anders fremd bin. Ich schaue mich um und weiß, wo ich bin; ob ich will oder nicht.
Umsteigen am ZOB. Ich stehe in der Wartehalle des Zentralen Omnibusbahnhofs in Hamburg. Viele Sitzmöglichkeiten gibt es nicht. Dafür wird der Innenraum fast flächendeckend von einem Treppenbau eingenommen, der zur Bürogalerie im ersten Stock führt. Am Geländer hängt ein Schild mit der Aufschrift ›Outstanding Structure Award‹, wobei der Fokus auf ›Standing‹ liegt. Als ich mich zum Abfahrtspunkt begebe, steht mein Bus nach Bremen schon bereit. Ungefragt will ich meinen Businessrollkoffer im großen Gepäckraum verstauen. Sofort kommt der Fahrer auf mich zugestürmt und fragt: »Wohin?«
»Nach Bremen.«
»Gepäck auf die andere Seite.« Ich gehorche wortlos, verstaue den Koffer nach Anweisung und steige mit meinem Rucksack in den Bus.
»Wenn der Rucksack nich’ in dat Ablagefach passt, dann unten rein. NICHTS kommt mir hier auffn Boooden.« Bei dem Wort ›nichts‹ überschlägt sich die ruhrpottakzentuierte Stimme dramatisch. Seine emotional-unkontrollierte Vorsichtshaltung rührt mich. Er hat diese deutsche Mein-Bus-meine-Regeln-Mentaliät, die ihm eine gewisse Autorität verleiht, ganz so, als habe ein Fahrgast keine Ahnung von den Mysterien des Busfahrens.
Aus den Lautsprechern dringt türkische Popmusik. Wir parken gegenüber der Dönerbude ›Soul Kebap‹, wo ich kurz vor der Abfahrt für geschlagene ein Euro fünfzig eine kleine Flasche Erikli-Wasser erstanden habe. »Quellwasser vom Gipfel des Uludag«, steht auf dem Etikett. Moment mal. Uludag ist ein Berg? War das nicht dieses türkische Erfrischungsgetränk?
Ein Passagier mit schwarzer Hautfarbe steigt ein. Dem wachsamen Busfahrer entgeht das nicht. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er auf die Isomatte, die der nichtsahnende Reisende in seinen Händen hält.
»Dat in den Gepäckraum. DAS! GEPÄCKRAUM!!«
Dabei gestikuliert er wild mit den Armen, wohl in der Hoffnung, auf diese Weise die sprachlichen Barrieren zu überwinden. Der geistesgegenwärtige Passagier kombiniert richtig und beugt sich den Auflagen widerstandslos.
Wir setzen uns in Bewegung. Per Mikrofon begrüßt uns der Fahrer mit weiteren Instruktionen.
»Willkommen auf der Fahrt von Hamburg nach Duisburg via Bremen, Münster, Bochum und Essen. Bitte bleiben Sie während der gesamten Fahrt angeschnallt. Zu Ihrer eigenen Sicherheit.«
Selbst Passagieren, die kein Deutsch sprechen, entgeht die dringende Betonung auf gesamt und eigenen nicht.
»Wie Sie sehen, befindet sich in der Mitte des Busses auch ’n Klo. Dat Klo ist unbedingt sauber zu halten. Dat heißt: Auch die Männer SETZEN – SICH – H I N. Auf der Hinfahrt hatte dat jemand wohl vergessen. Könn’ Se sich ja vorstellen, wie dat aussah. Also, HINsetzen. Ansonsten wünsche ich Ihnen eine angenehme Fahrt.«
Glück auf, Herr Busfahrer! Wir sind bereits auf der Autobahn.
Es ist dunkel, als wir in die Stadt hineinfahren. Obwohl es eigentlich nichts Besonderes zu sehen gibt, blicke ich interessiert aus dem Fenster. Das ist also Bremen. Dem ersten Blick auf diese Stadt, die ich noch nie wirklich gesehen habe, haftet der herbe Duft von Realität an. Es ist dieser entzaubernde Moment, wenn die reine, naive Vorstellung von einem Ort auf die 70er-Jahre-Sozialbauten prallt, die man direkt neben die Autobahn gebaut hat und die auf die Bilder der gut erhaltenen Altstadt ein Licht des Zweifels werfen. Wir fahren auf einer langen Straße und schlängeln uns durch den Feierabendverkehr. Bis dato war mein einziger Kontakt mit Bremen der Bahnhof, und das immer nur dann, wenn ich mit dem Wochenendticket von Berlin in den Pott gefahren bin. Jetzt befinde ich mich mittendrin. Ehrlich gesagt, weiß ich kaum etwas über die Stadt. Weser, Becks und Werder. Während ich mir ein Bierchen am Fluss durchaus vorstellen kann, scheidet Fußball für mich aus. Selbst die WM und der vierjährliche Patriotismus samt angestautem Schwarz-Rot-Gold-Wahn lassen mich grundsätzlich kalt. Der Bus fährt am Bahnhof vorbei und dreht. Dann hält er unvermittelt an und die Türen gehen auf. Ich steige aus, blicke mich um und stelle fest, dass der ZOB in Bremen weder ein Gebäude, noch sonst irgendeine Spur von Infrastruktur aufweist. Der sogenannte Busbahnhof ist nicht mal ein Standstreifen, sondern reine Bordsteinkante. Gerade noch ›Outstanding Structure Award‹ und jetzt mit dem Rollkoffer im Bremer Hauptstraßen-Rinnsal. Ich laufe zurück in Richtung Bahnhof. Und dort, vor dem Haupteingang, steht wie verabredet Soumar.
Die großen Fähren, die die Inseln der griechischen Ägäis mit Athen verbinden, sind nach der Hauptsaison im Juli und August eigentlich leer. Die meisten Touristen sind wieder zu Hause. Nur ein paar wenige Nachzügler, kinderlose Nebensaisonbucher oder die Inselbewohner fahren zu dieser Zeit noch mit den Schiffen. Im Sommer 2015 ist alles anders. Schon seit Ausbruch der sogenannten ›Kriege gegen den Terror‹ im Irak und in Afghanistan erreichen Flüchtende die griechischen Inseln. Seit Jahren warnen Menschenrechtsorganisationen vor einer Eskalation. Die Zustände im Flüchtlingslager Amygdaleza in der Nähe von Athen sind katastrophal. Die faschistische Partei Goldene Morgenröte profitiert von der Not, die die Kriege im Nahen Osten mit sich bringen. Bei den griechischen Neuwahlen im Sommer 2015 konnte sie sich als drittstärkste Partei im Parlament neu behaupten. In Athen kontrolliert sie ganze Stadtteile.
Schon im Vorjahr hatte ich für ein Interview am Rande des Dokumentarfilmfestivals Thessaloniki die Münchnerin Anna Brass getroffen. Die Studentin war mit ihrem Film ›Leaving Greece‹ zu Gast, in dem sie minderjährige Asylsuchende begleitet, die auf der Ägäis-Insel Lesbos festsitzen und nach Deutschland wollen. Schon zu diesem Zeitpunkt sind die griechischen Behörden hoffnungslos überfordert mit dem Andrang. Warnende Hilferufe gen Westeuropa werden ignoriert. Geflüchtete Kinder liegen anonym auf dem Friedhof von Patras begraben. In der Regel sind die Minderjährigen allein unterwegs. Ihre Familien in Afghanistan, dem Irak oder in Pakistan mussten große Opfer auf sich nehmen, um ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. In Griechenland erleben sie den europäischen Nimbus der Perspektivlosigkeit. Dabei war ihr Ziel nie Südeuropa, sondern Deutschland, Österreich, England oder Schweden.
»In Athen saß ich mit meinem afghanischen Protagonisten im Alexander-Park, um ein Theaterstück zu sehen. Dann sind wir von irgendeinem Typen aufgefordert worden zu gehen«, erzählt Anna Brass von einer Begegnung mit dem alltäglichen Faschismus im Krisen-Europa. All das liegt schon einige Jahre zurück.
Im Sommer 2015 ertönt in den Bahnhofshallen in Deutschland tosender Applaus. In großen Zahlen erreichen Flüchtende aus den Krisengebieten Westeuropa und finden nun auch bei der breiten Masse Beachtung. Derweil sitze ich mit meinem griechischen Schäferhund Nondas an Deck einer Fähre und schippere durch die Ägäis. Wir sind nicht allein. Mit uns reisen Hunderte von Kriegsflüchtlingen aus dem Nahen Osten. »Das Boot ist voll«, könnte man bei PEGIDA und AfD geistreich scherzen.
Ich fühle mich unangenehm privilegiert. Während ich ganz mondän in den Urlaub fahre, treffe ich hier auf Menschen, die in viel zu großen Gruppen mit fragilen Gummibooten von der türkischen Küste auf irgendeine griechische Insel verfrachtet wurden. Viele unter ihnen kennen Menschen, die auf dieser Überfahrt ertrunken sind.
Die große Mehrheit der spätsommerlichen Mitreisenden steigt in Lesbos zu. Über die gesamte Fläche des Hafengebiets erstrecken sich Zeltlandschaften. Die täglichen Berichte in den Medien werden dem wahren Ausmaß der Situation kaum gerecht.
Mein Hund Nondas ist ein wahrer Publikumsmagnet. Menschenhorden stürmen auf ihn zu, um ihn zu streicheln oder ihn mit dem Handy zu fotografieren. Dank seines diplomatischen Geschicks komme ich ins Gespräch mit den Leuten, ohne mich zu meinem vorformulierten Journalisten-Intro überwinden zu müssen. Die meisten, mit denen ich rede, sind aus Syrien, ein paar wenige aus Afghanistan. Lehrer, Ingenieure, Ärzte, Rechtsanwälte. Es scheint, als sei die syrische Mittelklasse unterwegs auf einer Kollektivkreuzfahrt. Alles zahlende Fahrgäste, die nach den Unsicherheiten der letzten Wochen zum ersten Mal so etwas wie Freizeit haben. Die Stimmung ist gut. Die Fährrestaurants machen das Geschäft ihres Lebens. Die Mitarbeiter haben inzwischen einige Sätze Arabisch gelernt. Sie warnen vor Schweinefleisch und legen stattdessen ein Geflügel-Sandwich nach dem anderen auf die Theke. Eltern spielen mit ihren Kindern, Jugendliche sitzen lachend in der Sonne und trinken Cola, ein altes Ehepaar hält sich im Arm und schaut aufs Meer hinaus. Als wir an der Insel Ikaria haltmachen, steige ich aus. Während ich mich auf Schnorcheln, Lesen und Fischrestaurants freue, fährt die syrische Mittelklasse weiter in Richtung Athen. Die Reisezeit ist günstig. In etwa drei Wochen wird Ungarn die Grenzen schließen. Im Februar 2016 auch die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien.
Sieben Tage später stehe ich wieder am Hafen von Ikaria. Aus den 47er-Flipflops ragen meine Beine, auf deren naturmilchweißer Haut sich eine leichte Röte ausbreitet. Auf dem Boot herrscht bereits reges Treiben. Wie auch in der Woche zuvor besteht die Großzahl der Passagiere aus Flüchtenden. Nondas’ PR-Magnet läuft auf Hochtouren und ich halte mich bereit. Mein Plan: Während der achtstündigen Fahrt nach Athen so viele O-Töne wie möglich einzufangen. Plötzlich verliert mein Hund seine professionelle Contenance und zieht in Richtung Individuum. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Vor uns steht ein Typ, Mitte bis Ende zwanzig, etwa einen Meter siebzig groß, ungeduscht und mit Wanderrucksack auf dem Rücken. Zehn Zentimeter Körpergröße trennen ihn von meinem Backpacker-Ich. Er überschüttet meinen Hund mit Komplimenten und erzählt, dass er seine Katzen in Syrien zurücklassen musste. Wir kommen ins Gespräch und ich vergesse die Dutzende von Interviews, die ich eigentlich führen wollte.
Soumar ist 29 und kommt aus Damaskus. Er hat in Aleppo Ingenieurwissenschaften studiert. Ein Bombenangriff auf die Universität hat seinem Examen ein jähes Ende bereitet. Wie die meisten Flüchtenden will auch er nach Deutschland. Neben seinen Katzen hat er seine beiden Brüder und Schwestern, die Eltern und seine Schwägerin zurückgelassen, eine Amerikanerin, die trotz des Krieges an der Seite ihres Mannes bleibt, in der Hoffnung, dass der Terror und das Blutvergießen bald ein Ende finden.
Die Kykladen präsentieren sich von ihrer besten Seite. Eine Insel nach der anderen erhebt sich aus dem Wasser. Während wir an ihnen vorbeiziehen, verwandeln sie das Mittelmeer in eine sich ständig neu erfindende Landschaft. In unmittelbarer Nähe überholen uns Delphine. Die frühabendliche Sonne ist angenehm warm und taucht die Umgebung in ein leichtes Orange, durch das der Seewind den Duft der heißen Inselsteine bis an die Reling und in die Nasen der vielen Reisenden trägt. Das ganze Flüchtlingsdrama wird in eine Wolke aus Kitsch gehüllt, unter der Nationalität, Status und Durchschnittseinkommen für einen kurzen Moment keine Rolle spielen. Tourist, Krisengrieche oder flüchtende Mittelklasse: Die Katalogatmosphäre verbreitet heilsame Gleichgültigkeit.
Wir fahren an Mykonos vorbei. Reiche Europäer und Amerikaner lassen sich an zu Tode organisierten Stränden 20-Euro-Cocktails servieren. Währenddessen erzählt Soumar von der Welt, die er zurückgelassen hat; einer Welt, in der er seit Jahren nicht mehr ruhig schlafen konnte. Er erzählt von den vielen militärischen Kontrollpunkten in Damaskus, die das natürliche Chaos der Stadt zerstört und das Leben zu einem sich zäh dahinziehenden Dauerwarten degradiert haben. Er erzählt, wie bewaffnete Terroristen in seine Wohnung in Aleppo eindrangen und er in letzter Sekunde fliehen konnte. Später, in einem unserer vielen Interviews, wird er mir lachend erzählen, dass laute Geräusche, wie die Fehlzündung eines Motorrades oder das Fallen von Metall auf Asphalt auch in Bremen die Erinnerung an explodierende Bomben hervorrufen. »Was machst du dann?«, werde ich ihn fragen. Er wird antworten:
»Weißt du, ich habe eine Regel. Solange du das Geräusch noch hörst, bist du am Leben und dann ist alles in Ordnung.«
Soumar und ich sitzen an der Reling. Das Meerwasser spritzt uns ins Gesicht, wir rauchen selbst gedrehte Zigaretten, stoßen auf den Atheismus an und lachen viel. Er passt so gar nicht in meine Vorstellung eines Flüchtenden. Die ganze Stimmung passt nicht zu dem, was ich mir ausgemalt hatte. Ein etwa dreizehnjähriger Junge spielt mit seinem kleinen Bruder Fußball. »Wo willst du hin?«, frage ich ihn.
»Dortmund«, antwortet er lachend und zeigt auf sein BVB-Trikot. Eine Menschentraube drängt sich um zwei Athener Hippies, die Saxofon und Gitarre spielen. Hipstertraumschiffparty. Ich besorge uns Bier. Die Sonne ist inzwischen untergegangen. Da sitzen wir und trinken Alkohol. Was soll man auch sonst tun in dem Wissen, dass ich in wenigen Stunden im Auto nach Thessaloniki sitzen werde, während Soumar seine Flucht vor Krieg und Gewalt fortsetzt? Natürlich biete ich an, ihn mitzunehmen nach Nordgriechenland. Er lehnt ab.
»Ich muss bei meinen Leuten bleiben«, erklärt er und zieht an seiner Zigarette. Eine Zeitlang sagen wir nichts. Je näher wir Athen kommen, desto mehr rückt die Nacht die Verhältnisse wieder in ihren Ist-Zustand. Ja, hier sitzen wir, zwei Atheisten: ein Syrer auf dem hoffnungsvollen Weg nach Deutschland und ein Deutscher auf dem Weg nach Hause, nach Thessaloniki. Unsere Wege werden sich trennen. Ich werde arbeiten gehen, meine Wohnung mit Sicht auf den Olymp und den Thermaischen Golf putzen und beim Gassigehen mit den Nachbarn im Park über den griechischen Krisenalltag reden. Soumar hat den schwersten Teil der »Reise«, wie er seine Flucht bezeichnet, noch vor sich.
»Wo willst du eigentlich hin, wenn du in Deutschland bist?«, frage ich ihn.
»Nach Bremen!«
Mein Helfersyndrom windet sich vor Enttäuschung. Ich hatte es mir so schön zurechtgelegt: Alle meine Freunde in Berlin wollte ich anrufen. Ihm Wohnraum organisieren. Ich hatte ihn schon tanzend und trinkend im Kreuzberger Nachtleben imaginiert. Was will er denn in Bremen?
»Warum Bremen?«, frage ich.
»Eine Freundin von mir wohnt da und ich kann bei ihr bleiben.«
Gut. Das muss ich wohl akzeptieren. Da hat jemand einen Plan. Wir verbringen die restliche Zeit damit, nützliche Begriffe und Wortwendungen der deutschen Sprache auf ein Blatt Papier zu kritzeln:
»Wann fährt der Zug nach Bremen?«
»Wie viel kostet ein Bier?« »Wie viel kosten zwei Bier?« »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn.«
»Ich bin Syrer und brauche Asyl.«
Die Lichter von Athen rücken immer näher.
»Wie kommt ihr nach Nordgriechenland?«, frage ich.
»Mit dem Bus«, antwortet Soumar.
Mit meinem Handy versuche ich den korrekten Abfahrtsort in Athen zu lokalisieren. Dann stellt sich heraus, dass Privatunternehmen, vermutlich vom Staat beauftragt, Busse zur Verfügung stellen, die die Asylsuchenden direkt nach Eidomeni an die griechisch-mazedonische Grenze bringen. Die Fahrt mit dem regulären Überlandbus von Athen nach Thessaloniki kostet etwa 50 Euro. Die Privatbusse geschlagene 120 Euro. Pro Kopf. Das ist ein gutes Geschäft, denn an diesem Punkt ihrer Reise verfügt die syrische Mittelklasse noch über Kapital. Natürlich haben die 1500 Dollar für den Schlepper, der sie mit dem Gummiboot von der Türkei nach Griechenland gebracht hat, die Reisekasse um einiges erleichtert. Die Fähre schlägt dann mit etwa 50 Euro zu Buche. Mein eigenes Ticket hat 30 Euro gekostet, plus Auto, aber es war ein super Angebot im Internet. Für Menschen auf der Flucht stand es leider nicht zur Verfügung. Da haben die Fährunternehmen Fixpreise festgelegt.
Das Schiff legt an. Wir verabschieden uns und ich fühle mich hilflos. Hilflos für ihn, der jetzt mit seinen Begleitern am Rande des fremden Europas steht, auf dem Weg in meine Heimat, wo er auf ein Leben fernab von Krieg und Perspektivlosigkeit hofft. »Alles, was ich mir wünsche, ist ein eigenes Bett, in dem ich ruhig schlafen kann.« Das waren seine Worte irgendwo zwischen Samos und Athen. Ich hoffe, dass irgendwo in meiner Heimat dieses Bett auf ihn wartet, gemeinsam mit einem Leben, das ihm erlaubt, Krieg, Flucht und Gewalt hinter sich zu lassen. Bei dem Gedanken an das, was jetzt vor ihm liegt, überkommt mich die mulmige Gewissheit, dass ich an seiner Misere nicht ganz unschuldig bin.
Wir fahren aus Athen heraus in Richtung Norden. Fast niemand ist auf der Straße. Seit Instandsetzung und Ausbau der Autobahn säumen Mautstellen den Weg.
Insgesamt bezahlt man knapp 35 Euro, um alle Kontrollpunkte bis Thessaloniki zu passieren. Daher überlegen sich die meisten Griechen gut, ob sie wirklich über die Autobahn fahren oder sich über die Landstraßen schlängeln.
Ganz allein sind wir nicht. Alle paar Kilometer überholen wir einen Reisebus. Die Innenbeleuchtung ist ausgeschaltet. Auf dem schwarzen Fensterglas spiegeln sich die vorbeirasenden Lichter der Autobahn. Ich erinnere mich an Soumars Worte und weiß sofort: Das sind nicht die griechischen Überlandbusse, die den Normaleuropäer von Süd nach Nord transportieren. Es sind die Busse, mit denen die Flüchtenden durch das Land geschleust werden, um dann über die Balkanroute weiter nach Mittel- und Westeuropa zu gelangen. Privatpersonen ist es bei Strafandrohung untersagt, Asylsuchende mitzunehmen. Man macht sich damit der Schlepperei schuldig; dieses Recht bleibt nun einmal Unternehmen vorbehalten, die von der Regierung ausgesucht werden. Man kann es den griechischen Politikern nicht übel nehmen, dass sie die Flüchtenden nicht in den ohnehin schon überfüllten Lagern unterbringen wollen. Die Einsparungen im Rahmen der sogenannten Griechenlandrettung lassen Hilfe ja selbst für die Ärmsten unter den Griechen nicht zu; Menschen, die sich keinen Strom, keine Medikamente oder kein Essen leisten können. Da sind die Geldgeberländer streng. Wer Schulden hat, muss diese auch zurückzahlen. Man muss kein Finanzexperte sein, um nachzuvollziehen, dass das Land dem größten Flüchtlingsstrom seit dem Zweiten Weltkrieg trotz versprochener Zusatzmilliarden wohl kaum gewachsen ist.
Ich schaue auf die Busse und stelle mir vor, wie Soumar in wenigen Stunden über die griechische Autobahn fahren wird, vorbei an Thessaloniki, auf dem langen und bald stacheldrahtgesäumten Weg nach Bremen. Ich denke darüber nach, wie die reale Begegnung mit einem einzigen Individuum meiner bequemen Vorstellung einer homogenen Flüchtlingsmasse den Garaus gemacht hat. Seit Wochen und Monaten berichten die deutschen Medien nur noch vom Flüchtlingsstrom. Die Nachrichten werden zu einer Variation ihrer selbst. Immer dieselben Bilder, immer dieselben O-Töne: Nach dem Weg über das Meer und den Balkan, endlich die glückliche Ankunft in den sicheren Hauptbahnhöfen der Bundesrepublik. Noch vor wenigen Wochen beherrschten Tsipras, die griechischen Neuwahlen und das dritte Hilfspaket die Schlagzeilen. Nichts ist seitdem besser geworden. Im Gegenteil. Trotzdem ist Griechenland aus den Medien verschwunden. Von einem Tag auf den anderen. Mit der Ankunft der Flüchtenden in Deutschland scheint auch die Krise verpufft zu sein. Eine bequeme Vorstellung, wie die eine Krise nahtlos übergeht in die nächste, so, als sei auf der Welt immer nur Platz für eine Katastrophe.
Am nächsten Tag beginnt in Thessaloniki der Alltag und ich gehe zur Arbeit. Ich bin bei einer Internet-Agentur beschäftigt, wo ich mir meine griechische Krankenversicherung und ein paar »Südeuros« dazuverdiene. Von Soumar kam bereits früh am Morgen eine Nachricht über WhatsApp. Er und seine Begleiter haben es bis an die mazedonische Grenze geschafft. Die teuren Reiseschlepperbusse sind schnell. Flucht und Luxus scheinen in einer globalisierten Welt kein Widerspruch zu sein. Man muss nicht umsteigen, sieht aber leider auch nichts vom Land. In diesem Sinne kann man nur hoffen, dass die Überfahrt von der Türkei und die Kreuzfahrt durch die Kykladen einen guten Eindruck hinterlassen haben. Denn denen, die es nach Deutschland schaffen und vom Geflüchteten zur Fachkraft befördert werden, winkt Griechenland als freundliche Urlaubsdestination mit feinsten Sandstränden und türkisblauem Wasser. Man muss schon genau schauen, welche Schutzbedürftigen für Deutschland auf lange Sicht tragbar sind. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten zurück ins sichere Herkunftsland. Oder in die Türkei, mit der etwa ein Jahr später eine fragwürdige Vereinbarung über die kontrollierte Rückführung von Flüchtenden abgeschlossen wird, nur wenige Monate, bevor das Land nach einem gescheiterten Putschversuch im Chaos versinkt.
Über die sozialen Netzwerke sind Soumar und ich so oft es geht in Kontakt. Zum ersten Mal seit Langem werden Facebook und WhatsApp zu wirklich nützlichen Instrumenten. Ja, ich weiß. Facebook ist böse. Und WhatsApp gehört zu Facebook. Und alle unsere Nachrichten werden unwiderruflich gespeichert und können jederzeit gegen uns verwendet werden. Aber gerade geht es nicht um Genitalbilder, Shitstorms oder Starbucks-Selfies. Gerade zeigt sich, dass moderne Technologie sinnvollere Dinge kann, als die passenden Emoticons für seine Launen zu finden.
Für die nächsten Tage wird Facebook zu einem digitalen Hilfsnetzwerk. Ich komme in Kontakt mit Annette, Soumars Freundin in Bremen, die zum personifizierten Ziel der Flucht wird. Wie die anderen Flüchtenden hat auch Soumar nicht immer Zugang zum Internet. Er meldet sich aus Belgrad, wo Annette ihm die Möglichkeit organisiert hat zu duschen und ein paar Stunden in einem Bett zu schlafen. Ich denke: »Ach, wie schön, Belgrad!« In der Tat habe ich viele gute Dinge über die Stadt gehört. Aber offensichtlich ist jetzt nicht die Zeit für Kulturtourismus oder Barhopping.
Unter den Flüchtenden verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer: Ungarn macht die Grenzen dicht. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Land das aus der Ferne ersehnte Tor zur EU. Doch der rechtskonservative Ministerpräsident Orbán, Merkels Parteifreund auf europäischer Ebene, setzt der ungarischen Gastfreundlichkeit ein jähes Ende. Kein Gulasch, keine Salami. Nur Stacheldraht. Soumar und ich haben nur kurz Kontakt, bevor er sich von Serbien aus auf den Weg macht. Er wird einer der Letzten sein, die es über diese Route in die EU schaffen.
Die nächste Nachricht kommt ein paar Tage später. Soumar hat es mit Verzögerungen nach Österreich geschafft. Nachdem er in Orbáns Reich eingedrungen war, ist er von der ungarischen Polizei festgenommen worden. Bereits einige Tage vor dem Bau des Stacheldrahtzauns hatte man damit begonnen, die Flüchtenden systematisch zu verhaften. Diese exemplarische Kriminalisierung sollte demonstrieren, dass man es ernst meint. Nach der Traumreise durch Griechenland waren die ersten Erfahrungen mit der EU also Verhaftung, Fingerabdrücke, Verhör und Knast.
Ich telefoniere erneut mit Annette, um zu klären, wie man Soumar in Österreich am besten helfen kann. Innerhalb weniger Stunden finde ich über Freunde in Thessaloniki und Berlin hilfsbereite Kontakte in Wien. Es werden Betten und Duschen angeboten, dringend benötigte SIM-Karten zur Verfügung gestellt und jemand erklärt sich dazu bereit, Soumar und zumindest einen Teil seiner Begleiter mit dem Auto über die grüne Grenze nach Deutschland zu bringen. Wir sind zeitweise ein Team von etwa sieben Personen, die aus der Ferne und vor Ort Informationen einholen und die Flüchtenden mit Utensilien versorgen.
Der Wiener Hauptbahnhof platzt aus allen Nähten. Der akribisch zusammengestellte Fahrplan kann der hohen Nachfrage an Tickets gen Deutschland nicht standhalten.
In der Hoffnung auf detaillierte Informationen wende ich mich vertrauensvoll an das Callcenter der Deutschen Bahn:
Deutsche Bahn: »Callcenter der Deutschen Bahn, Schulz, was kann ich für Sie tun?«
Ich: »Guten Morgen. Ich habe eine Frage. Ein Freund, der aus Syrien geflüchtet ist, sitzt in Wien fest. Er versucht, ein Ticket zu kaufen, ihm wird aber gesagt, dass es unklar sei, wann die Züge fahren.«
Lange Pause. Ich höre mein Gegenüber in das Headset atmen.
Herr Schulz von der Deutschen Bahn: »Soweit wir informiert sind, fahren alle Züge von Wien nach Deutschland planmäßig ab.«
Ich: »Die Kollegen in Wien haben aber offensichtlich organisatorische Probleme. Können Sie mir sagen, wie die Situation vor Ort ist?«
Herr Schulz von der Deutschen Bahn: »Wir sind hier kein Flüchtlingslager.«
Das hätte mir Herr Schulz nicht erklären müssen. Völlig zu Unrecht befürchtet er, dass ich Flüchtende in seinem Callcenter unterbringen will. Ich entscheide mich dafür, die Deutsche Bahn in Zukunft nicht mehr mit Fragen über ihre Dienstleistungen zu belästigen. Vielleicht gibt es Internet-Foren oder eine engagierte Facebookgruppe, die sich mit den Fahrplänen, Verspätungen oder Transportfragen im Falle humanitärer Ausnahmesituationen auseinandersetzen. Natürlich freue ich mich mit dem deutschen Traditionsunternehmen über die unerwartet guten Verkaufszahlen. Meistens ist ja Fliegen preiswerter. Doch die Bahn hat Glück und profitiert von dem rechtlich ungeklärten Status der Flüchtenden. Ohne Visum kann man ja nicht so mir nichts, dir nichts auf Billigairlines ausweichen. Flucht und Flugzeug schließen sich aus. Davon hat nicht nur die Deutsche Bahn profitiert.
Der restliche Tag ist geprägt von Gerüchten. Auch dazu haben die sozialen Netzwerke natürlich viel beizutragen. Abgesehen von der fiktiven Auskunft aus der Callcenter-Gerüchteküche der Deutschen Bahn, die Züge in Richtung Deutschland führen planmäßig ab, gab es viele sich widersprechende Informationen zur Lage an der Grenze. Wer wird ins Land gelassen? Was passiert, wenn ein Zug die Grenze passiert hat? Wen greift der Bundesgrenzschutz auf und wen nicht? Sollte man besser zu Fuß nach Deutschland?
Ein Journalist vom Bayerischen Rundfunk erzählt mir von langen Schlangen am Grenzübergang Braunau. Braunau? Hitlers Geburtsort? Ich versuche mir vorzustellen, wie Soumar gerade aus dem Geburtsort des Führers heraus den ersten Schritt in die Bundesrepublik macht.
Einen Tag zuvor hatte der Münchner Oberbürgermeister verkündet, dass die Stadt an ihre Belastungsgrenzen gelangt sei. Dem Land Bayern kommt dies gerade recht. Die CSU verhärtet den Ton im Konfrontationskurs mit der Kanzlerin. Diese versichert: »Wir schaffen das!« Kurz darauf werden Grenzkontrollen eingeführt.
Soumar meldet sich. Er hat eine Zugkarte nach Landau im Saarland. Das Auffanglager dort soll noch Kapazitäten haben und man munkelt, dass gezielt Tickets verkauft werden, die den Flüchtlingsstrom dorthin lenken. Von Soumar höre ich erst am nächsten Tag wieder. Er ist in Frankfurt und auf dem Weg nach Bremen. Einige seiner Begleiter sind in Landau geblieben. Wenige Stunden später werde ich von Facebook darüber informiert, dass ich in einem Beitrag markiert wurde. Auf meiner Timeline sehe ich ein Foto von Soumar. Er sitzt in einem Wohnzimmer und prostet der Kamera eine Flasche Becks entgegen. Welcome, refugee!
Da steht er. Ein authentischer Neubremer, Zigarette im Mundwinkel, gepflegtes Äußeres, und lacht mir freudig entgegen. Neben den zehn Zentimetern Körpergröße unterscheiden uns nun auch seine Bremer Ortskenntnisse. Es ist die erste Begegnung seit dem Abschied am Hafen von Piräus. Soumar weiß, dass ich ein Buch schreiben will. Das ist der eigentliche Anlass meiner Reise. Wir waren in den letzten vier Monaten regelmäßig in Kontakt. Facebook, E-Mails, Interviews via Skype. Online-Kommunikation aber ist auf Dauer kein Ersatz für persönlichen Kontakt. Informationen austauschen geht. Freundschaft schließen irgendwie nicht.
Ich bin informiert über den Status quo. Ich weiß, dass Soumar offiziell bei Annette wohnt, dass er noch im Verfahren zur Bewilligung seines Asylantrags steckt, dass er als Freiwilliger für die Bremer Flüchtlingshilfe arbeitet, die Sprache lernt und gute Fortschritte macht. Er ist ein ehrgeiziger Schüler und schreibt mir die meisten Nachrichten auf Deutsch.
Wir begrüßen uns herzlich. Ich bin ein wenig nervös, da die nächsten zwei Tage darüber entscheiden, ob wir eine gemeinsame Grundlage für das Buch finden oder nicht; und ich bin aufgeregt, weil es immer ein wenig eigenartig ist, intensiv Zeit mit einem Menschen zu verbringen, den man eigentlich nicht kennt. Und all das auch noch in Bremen. Unbekanntes Terrain. Ich kenne ihn wesentlich besser als die Stadt. Er wiederum kennt Bremen wohl besser als mich. Davon zumindest gehe ich aus.
Soumar hat große Pläne für die nächsten Tage. Er will mir die Stadt zeigen und mir Leute vorstellen. Im letzten Vierteljahr war er eine verlässliche Quelle für alles, was in Deutschland in punkto Flüchtlingspolitik so vor sich ging. Wegen ihm habe ich mich zum ersten Mal bewusst mit den einzelnen Schritten auseinandergesetzt, die man bei einem Asylverfahren zu durchlaufen hat. Durch seine Erzählungen nehmen die Berichte über den Umgang mit und das Verhalten von Flüchtlingen reale Formen an. Nicht nur, weil er selbst Geflüchteter ist, sondern auch, weil seine kritische Perspektive auf beideSeiten neue Einsichten bringt. Schon in den Skype-Interviews musste ich mein negatives Bild von Deutschland häufig korrigieren.
In diesem Moment kann ich mir noch nicht vorstellen, was die nächsten Tage und Monate mit sich bringen werden. Insgesamt sieben Mal werde ich nach Bremen fliegen, um Zeit mit Soumar zu verbringen. Ich werde eine Stadt kennenlernen, die mir bisher eher egal war, und werde mich mit einem Syrer anfreunden, der mich mit ihr verbindet. Integration in die Heimat.
Unsere Priorität in diesem Moment ist Bier. Wir ›schnacken‹ ein wenig, wie man im Norden sagt, während er zielstrebig den Weg nach Hause einschlägt. Wir gehen keine 100 Meter, bis wir auf Bekannte stoßen. Es sind Mitschüler aus dem Sprachkurs. Kurzes Gespräch auf Deutsch, dann gehen wir weiter. Er fragt mich ausführlich nach meinem Hund und nach der Reise. Ich erzähle ihm, dass es immer ein wenig eigenartig ist, wenn ich nach Deutschland komme. Im Dezember war ich nach langer Zeit mal wieder für ein paar Tage in Berlin. Da ich nicht weiß, an wie viele Details meiner Biografie er sich erinnert, erkläre ich, dass ich in Berlin studiert und gearbeitet habe, ursprünglich aber aus dem Ruhrgebiet komme.
»Woher?«
»Aus der Nähe von Dortmund«, antworte ich auf Deutsch. Ich versuche zu beschreiben, dass Verstand und Herz unterschiedlich reagieren, wenn ich zu Besuch in Deutschland bin. Ich berichte von meiner Erfahrung, als Ex-Berliner über den Hermannplatz zu laufen. Mehr als sechs Jahre habe ich dort in der Nachbarschaft gewohnt. Ich kenne jeden Winkel dieser Gegend. Ich weiß, wie die Ampeln geschaltet sind und welchen Eingang ich benutzen muss, um so in die U8 einzusteigen, dass ich am Alexanderplatz direkt an den Treppen aussteige, die zur U2 führen. Als ich noch in Berlin gewohnt habe, hat das natürlich keinen großen emotionalen Wirbel verursacht. Wenn ich jetzt zu Besuch bin, dann denke ich: »Hermannplatz«. Aber ich fühle: »Krass! Hermannplatz!« Selbst der Blick auf Karstadt wird zum Erlebnis. Und jetzt laufe ich durch Bremen und bin – vielleicht wegen des Klimas oder des Döneraromas in der Luft – in einem eigenartigen Heimat-High. Soumar nickt verständnisvoll. Wie empathisch von mir. Da rede ich über Berlin, darüber, wie alles gleichzeitig alt und neu ist, bin emotional ganz aufgelöst und vergesse dabei, dass mein Gegenüber so bald wohl nicht die Gelegenheit haben wird, über irgendeinen Hermannplatz in Damaskus zu laufen und darüber nachzudenken, wie eigenartig sich Heimat und was immer auch damit gemeint ist, anfühlen kann. Ich bin freiwillig aus Berlin nach Griechenland gegangen. Ich bin der Abenteurer, der bewunderte Expat. Menschen klopfen mir auf die Schulter für meinen Mut. Dabei war es eine Mischung aus Zufall und tiefer Verzweiflung, die mich nach Thessaloniki getrieben hat. Berufliche Sackgasse. Generelle Umgebungsermüdung. Und während ich meinen Umzug nach Thessaloniki vor anderen gerne als Wirtschaftsflucht bezeichne, beschreibt Soumar seine Flucht aus Syrien als Abenteuer oder Reise.
Wir laufen weiter durch die feucht-kühle Bremer Abendluft. Soumar klärt mich darüber auf, was wir die nächsten Tage vorhaben. Er nimmt das Projekt ernst und hat sich Gedanken darüber gemacht, was uns weiterbringen könnte. Er erzählt von Bremen, den Leuten – »so freundlich« – und zeigt zwischendurch auf Wohnhäuser, die ihm besonders gefallen – »so schön«. Soumar liebt sein neues Zuhause. Selbst Häuser, die mir kaum auffallen, bekommen durch seine Freude über sie einen neuen, sehenswürdigen Charakter. Ich frage mich, ob seine beinahe kindliche Euphorie dem Mangel an Routine entspringt, die sich nach vier Monaten in der Stadt noch nicht eingestellt hat. Wahrscheinlich aber ist es weit mehr als das. Vielleicht ist es eben nicht das Kindliche, sondern das sehr reife Bewusstsein darüber, in Sicherheit zu sein und auf die Chance zu hoffen, ein neues Leben zu beginnen. Ich kann das verstehen. Mir geht das in Griechenland ähnlich. Freunde dort halten mich oft für τρελός – verrückt. Mein Neusein in Thessaloniki geht einher mit Wellen der Tatkraft. Alles, bei dem ich in meinem Berliner Alltag blockiert war, ergießt sich in Thessaloniki in einen neurotischen Yes-We-Can-Spirit, der auf meine Umgebung nicht immer nur motivierend wirkt. Zumindest am Anfang war das so. Inzwischen konzentriere ich mich, wie die meisten Thessaloniker, auf das Meer.
Durch Soumars Augen sehe ich Bremen auf eine Art, mit der ein Ur-Bremer mir die Stadt wohl niemals zeigen könnte. Aus seinen Worten dringt kein Stolz oder überfrühter Lokalpatriotismus, sondern Dankbarkeit. Und zwar nicht die eines Geflüchteten in Sicherheit oder die leicht unterwürfige eines Geholfenen. Es ist seine ureigene Art, die Welt zu betrachten. Wer in ihm einen Islamisten sucht, wird tief in der Ignoranzkiste graben müssen.
Wir machen halt an einem Kiosk. Natürlich kennt Soumar die etwa Mitte-zwanzig-jährige Verkäuferin. Irgendein Typ, offensichtlich Stammkunde oder ein Freund, leistet ihr Gesellschaft. Das Ganze hat ein wenig was von Olli Dittrichs ›Ditsche‹. Ich ordere Tabak und Blättchen und fühle mich wie in einer Eckkneipe. Keine Ahnung, ob alle Bremer Kioskverkäufer so sind oder ob ich von Soumars Sympathievorarbeit profitiere. Auf jeden Fall wird der Rauchwarenerwerb zu einem überaus angenehmen Ereignis.
Die Nachbarschaft, in der Soumar wohnt, entspricht ganz dem deutschen Klischee. Schöne Ein- bis höchstens Vierfamilienhäuser. Gartenzaun. Ruhe und Ordnung. Es ist etwa neun Uhr abends. Keine Menschenseele auf der Straße. Der gut erzogene, deutsche Haushund hat sich selbst begraben. Soumar öffnet das kleine Tor zu seinem Vorgarten. Vor vier Monaten hatte er nichts als einen Rucksack, Fingerabdrücke in Ungarn und abstrakte Vorstellungen von Deutschland. Jetzt hat er schon einen Vorgarten.
Wir verbringen den Abend zu Hause in der Küche. Soumar hat Essen vorbereitet und der Kühlschrank steht voll mit Bier. Ich lerne Annette kennen, die mit ihrem Mitbewohner, dem zweiten Besitzer des Hauses, in der Küche sitzt und Flaschenbier trinkt.
Meine anfänglichen Bedenken, dass unser Kommunikationsniveau vielleicht nicht für tiefer gehende Interviews reichen könnte, verflüchtigen sich innerhalb weniger Minuten.
»Guck mal!« Er zeigt auf einen Stapel Papier auf dem Tisch. Ich nehme die Blätter in die Hand und sehe meine eigene Handschrift. Es ist der kleine Deutschführer, den wir auf der Fähre zusammengestellt haben. Beim Durchlesen stelle ich fest, dass die frische Seeluft offenbar keinen guten Einfluss auf meine Deutschkenntnisse hatte.
»Da sind Fehler drin«, gebe ich betreten zu.
»Ich weiß!«, antwortet er und lacht. Anders als auf Skype gerät das Gespräch nicht ins Stocken. Wir reden über alles und nichts. Auf Englisch und auf Deutsch.
»Wie hast du dir Deutschland eigentlich vorgestellt?«
»Ich habe viel Schlechtes gehört, ehrlich gesagt. Dass es nicht gut ist und die Leute schlecht reagieren auf Flüchtlinge. Aber einige haben erzählt, dass die Deutschen sehr hilfsbereit sind. Also habe ich nach diesen Deutschen gesucht.«
»Und? Hast du Menschen gefunden, die helfen, oder war das schwierig?«
»Ich kenne viele Leute von der Flüchtlingshilfe Bremen. Da wollen alle helfen. Aber wenn ich im Bus oder in der Straßenbahn bin, dann wird schon viel geglotzt. Ich komme mir dann fremd vor, und darauf war ich nicht vorbereitet, auf dieses Gefühl. Einmal auf der Straße hat eine Frau mich angesehen und ist stehen geblieben, bis ich an ihr vorbei war. Dann hat sie ewig hinter mir her gestarrt. Ein anderes Mal sitze ich im Bus und zwei Männer reden von ›Scheiß Flüchtlingen‹. Ich habe mich dann eingemischt und gesagt: ›Wir sind auch nur Menschen.‹ Daraufhin haben sie mich verdutzt angeschaut und gefragt, ob ich verstünde. ›Ich habe alles verstanden‹, habe ich geantwortet. Dann sind die aufgestanden und haben sich woanders hingesetzt. Sowas habe ich schon oft gehört, aber dieses Mal bin ich so wütend geworden.«
Dort sitzt derselbe Soumar, der mir noch vor wenigen Stunden ganz euphorisch Bremer Einfamilienhäuser präsentiert hat und von den Menschen geschwärmt hat. Aus Soumar dem Individuum ist ein Geflüchteter geworden, dem ein Klischee vorauseilt, gegen das er sich täglich zur Wehr setzen muss. Dabei hätte er eigentlich wichtigere Sachen zu tun.
»Davon hast du bei Skype kaum erzählt, nur von Einzelfällen. Ist es schlimmer geworden?«
»Seit den Anschlägen in Paris hat sich die Situation in der Stadt verändert. Ich werde mehr angeschaut als vorher. Vor ein paar Tagen war ich auf dem Weg nach Hause. Es war ungefähr zehn Uhr abends. Eine Frau hat mich auf Deutsch angesprochen und nach dem Bahnhof gefragt. Ich habe auf Englisch geantwortet. Daraufhin hat sie mich gefragt, wo ich herkomme. ›Aus Syrien‹ , habe ich gesagt. Dann hat sie sich umgedreht und ist gegangen, ohne Danke zu sagen. Das kenne ich aus Bremen nicht. Eigentlich sind die Menschen immer sehr höflich.«
Nein, denke ich, normal ist das nicht. Aber wohl alltäglich. Und zwar nicht nur in Bremen, sondern überall in Europa. Ich denke an die vielen Geflüchteten, die in bestimmten Stadtteilen Athens gejagt und misshandelt werden, an die ungarische Journalistin, die nach einem flüchtenden Vater mit seinem Kind tritt und an brennende Notunterkünfte in Deutschland. Es ist die eine Sache, so etwas aus den Medien zu erfahren und den Kopf zu schütteln. Jemanden vor sich zu haben, dessen Leben erschwert wird dadurch, dass man ihn für einen potenziellen Terroristen hält, ist etwas anderes.
»Das Problem ist, dass die meisten Leute keine Ahnung haben, wen sie meinen, wenn sie über Geflüchtete reden«, erklärt Soumar. »Vor allem nach Paris und der Silvesternacht in Köln. Weißt du, erst war in den Medien überall diese ›Welcome-refugee-Stimmung‹ und alle Menschen waren offen. Dann hat sich der Ton geändert. Jetzt stellt man uns als Aggressoren dar.«
Ich muss überlegen. Es stimmt schon, seit dem Sommer hat sich der Ton in den Medien geändert. Die anfängliche Euphorie ist verpufft, auch weil es wohl keine Bilder mehr gibt von applaudierenden Menschenmassen in den Bahnhöfen.
»Na ja, man redet nicht über syrische Flüchtlinge. In Köln ja sogar eher über nordafrikanische. Das Problem sind die Automatismen. Wenn die Leute heute ›Flüchtling‹ hören, denken sie sofort an Syrer, und wenn was passiert, dann sind Geflüchtete immer ein guter Sündenbock. Ist schön einfach. Dabei sind die Attentäter von Paris ja in Europa geboren. Sie sind Europäer arabischer Abstammung.«
»Ja. Und viele Araber, die in Syrien kämpfen, sind aus Europa gekommen und kommen jetzt zurück. Auf der Flucht.« Wie absurd. Da sitzen wir in der Küche und trinken Bier, während irgendwelche Jugendliche aus dem Sauerland oder von der Schwäbischen Alb freiwillig in den Dschihad ziehen. Darüber müssen wir lachen. Und trotz einiger klischeebedingter Zwischenfälle scheint Soumar sich nicht unwohl zu fühlen. Er geht zum Kühlschrank, nimmt sich ein Bier und öffnet es gekonnt mit dem Feuerzeug. Wenn das mal nicht ein gutes Zeichen im laufenden Integrationsprozess ist. Er erzählt, wie er in die Uni eingeladen wurde, um mit Studenten über die Situation zu sprechen. Viel wüssten die nicht über Syrien, berichtet er. Dann erzählt er von Begegnungen mit anderen Geflüchteten im Camp und darüber, welchen Stellenwert die Sprache hat.
»Das Wichtigste ist die Sprache«, sagt er. Auf Deutsch. »Leute, die hier leben wollen, MÜSSEN die Sprache lernen.« In linken Kreisen ist das mit dem MÜSSEN ein Reizthema. Kann ich einen Menschen dazu zwingen, eine Sprache zu lernen? Ich schlucke meinen vorformulierten Protest herunter, einfach, weil er mir sinnlos erscheint. Vor mir sitzt kein konservativer Politiker oder irgendein Stammtischheinze aus Franken, sondern Soumar. Muttersprache Arabisch.
»Mit Englisch kommt man in Bremen nicht weiter«, ergänzt er. Ich denke an meine Situation in Griechenland und daran, wie nervtötend Gänge zum Amt oder zur Krankenversicherung sind, ohne die Sprache richtig zu können. Ist es wirklich unmenschlich, Menschen einen verpflichtenden Sprachkurs zu finanzieren, damit sie in solchen Situationen nicht permanent auf Hilfe angewiesen sind?
Als ich am Ende des Abends mein Aufnahmegerät in die Tasche stecke, kommt es mir schwerer vor. Es hat viel Material in sich, ganze Diskussionen, über die ich nachdenken muss. Wir verabreden uns für den nächsten Morgen. Ich mache mich auf die Suche nach einem Taxi. Die Bremer Donnerstagnacht ist leer. Nach mehr als 30 Minuten kommt mir das wohl einzige Taxi entgegen, das um halb drei morgens noch auf Suche nach potenziellen Kunden ist. Der Fahrer ist Kurde, wie sich später herausstellt. Als ich ihn frage, woher er komme, antwortet er leicht verwirrt: »Aus Bremen!«