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Über das größte Missverständnis beim Kinderhaben
»Kannst du nicht mal … Musst du immer … Ich habe dir doch schon zehnmal gesagt …« Was bringt uns eigentlich dazu, mit Kindern umzugehen, wie wir es mit Erwachsenen nie tun würden? Ist Elternsein ein ewiges Ziehen und Zerren, Maßregeln und Belohnen, Schimpfen und Fordern? Läuft nicht grundlegend etwas falsch in der Beziehung zwischen großen und kleinen Menschen?
Viele Debatten, die wir rund um Kinder führen, hören dort auf, wo Ruth Abraham mir ihrem Buch anfängt. Mit radikaler Ehrlichkeit hält sie uns einen Spiegel vor und deckt mit klugen Beobachtungen auf, wie inkonsequent wir darin sind, unsere eigene Rolle zu hinterfragen. Zugleich zeigt sie, wie leicht es sich Gesellschaften machen, die Elternschaft zur Privatsache erklären. Abrahams Plädoyer bricht eine Lanze für unsere Kinder, denkt das Zusammenleben mit ihnen neu und leistet damit einen wesentlichen pädagogischen Beitrag. Sie zeigt, dass wir für ein besseres Familienleben, für eine fairere Gesellschaft gar nicht anders können, als Erziehung hinter uns zu lassen.
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Seitenzahl: 109
Veröffentlichungsjahr: 2025
Wir haben Macht über Kinder. Und zwar mehr, als uns bewusst ist
Was bringt uns dazu, mit Kindern umzugehen, wie wir es mit Erwachsenen nie tun würden?
Ist Elternsein ein ewiges Ziehen und Zerren, Maßregeln und Belohnen, Schimpfen und Fordern?
Läuft nicht grundlegend etwas falsch in der Beziehung zwischen großen und kleinen Menschen?
Die Kulturwissenschaftlerin Ruth Abraham bricht eine Lanze für unsere Kinder und denkt das Zusammenleben mit ihnen neu. Mit radikaler Ehrlichkeit hält sie uns einen Spiegel vor und deckt auf, wie inkonsequent wir darin sind, unsere eigene Rolle zu hinterfragen. Zugleich zeigt sie, wie leicht es sich Gesellschaften machen, die Elternschaft zur Privatsache erklären. Ihr Plädoyer offenbart, dass wir für ein besseres Familienleben, für eine fairere Gesellschaft gar nicht anders können, als Erziehung hinter uns zu lassen.
RUTHABRAHAMist Kulturwissenschaftlerin mit einem Masterstudium in Soziologie und Ethik. Ihr Fokus auf Gender, Migration, Diskriminierung und Systemsoziologie prägt auch ihre Sicht auf Elternschaft. Sie ist eine Ikone der »Unerzogen«-Bewegung, seit vielen Jahren bringen die Kurse, Workshops und die Community ihrer Plattform »Der Kompass« Mütter und Väter einer friedvollen Elternschaft näher. Ruth Abraham hat drei Kinder und lebt in Portugal.
Ruth Abraham
Erziehung war gestern
Die radikale Kehrtwende für Eltern, bei der alle gewinnen
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Redaktion: Dr. Daniela Gasteiger
Umschlag: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: Robert Kohlhuber /stocksy images
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-32537-4V001
www.koesel.de
Inhalt
Das Ende der Erziehung
Erziehung
Liebe
Beziehungen
Scham
Mutterschaft neu erfinden
Faschismus
Lösungen
Schluss: Prioritäten
Anmerkungen
Das Ende der Erziehung
Ich habe den Schwur viele Male geleistet. Das erste Mal, als mein Sohn wenige Tage alt war. Als er neben mir lag und seine winzigen Finger sich im Schlaf bewegten, schwor ich: Ich werde dir die beste Mutter sein, die ich sein kann.
Ich schwor wieder und wieder. Als er anfing zu krabbeln, seine klebrigen Hände voller Dinge, die er auf seinen Streifzügen fand. Als er lief, langsam, meine Hand umklammernd. Ich will dir die beste Mutter sein, die ich sein kann. Manchmal rührselig, manchmal stur wiederholte ich diese Idee. Ich wollte es so dringend anders machen, als ich es selbst erlebt hatte. Ich wollte so dringend heilen. Da sein für diesen kleinen Menschen. Sicherheit geben und emotionale Nähe.
Hast du den Schwur auch geleistet? Die meisten Eltern, die ich kenne, haben eine Version von ihm. Und bei den meisten, mich eingeschlossen, kommt irgendwann eine Entschuldigung dazu: Es tut mir leid. Von hier ab will ich die beste Mutter sein, die ich sein kann. Jetzt wird es anders. Morgen reiße ich mich zusammen. Wirklich. Ab morgen … Eines Tages.
Dieser Schwur, den viele Eltern mit sich tragen, hat wie bei mir auch eine unausgesprochene Seite, einen Schatten: Ich will nicht sein, was ich kenne. Ich will friedvoll sein in meiner Elternschaft.
Aber warum ist das so schwer? Und was, wenn die gesamte Idee von Erziehung das Problem dabei ist, und nicht die Methode, mit der ich erziehen will? Wenn die Idee, dass das Kind »das mal lernen muss«, das Problem ist, und nicht, wie nett ich frage, ob es mir beim Tischabräumen hilft? Was, wenn Erziehung selbst gewaltvoll ist, egal wie nett die Methode ist, mit der ich sie umsetze? Was, wenn nicht die Frage ist, wie ich mein Kind dazu bekomme, jetzt dem Onkel Hallo zu sagen, sondern warum ich glaube, dass das nötig ist? Friedvolle Elternschaft fragt nach dem »Warum« – nicht danach, ob es funktioniert.
Über diese Entdeckung schreibe ich dieses Buch: Ein Leben jenseits von Erziehung ist möglich. Ich will zeigen, was für eine Welt sich erschließen kann, wenn wir die unangenehme Wahrheit zulassen, dass Erziehung die Wiederholung gewaltvoller Muster ist, nur vielleicht mittlerweile mit anderen Methoden. Diese Wiederholung wird oft vollkommen unbewusst über die Generationen weitergegeben, ein unsichtbares Erbe, das uns in Worten, Taten und Gedanken beeinflusst. Ich schreibe hier, weil ich heute weiß, dass Erziehung schadet, nicht nötig ist und uns gesellschaftlich zurückwirft. Und weil es mich befreit hat, Erziehung loszulassen.
Anfang 2012 ertrank ich im Alltag mit einem, dann mehreren kleinen Kindern. Zähne putzen, aus dem Haus, Nase putzen, nicht hauen, probier doch wenigstens, die endlosen Nächte. Mein Schwur schrumpfte mehr auf eine zaghafte Hoffnung zusammen, als dass er Realität wurde.
Als mein Sohn drei war, schrie ich ihn an. Sein Blick brach mir das Herz. Wir standen im Treppenhaus vor unserer Wohnung in Norddeutschland. Meine Nachbarn schauten zu. Ich schämte mich. Aber ich konnte nicht aufhören. Und überhaupt, er hätte sich halt anders verhalten müssen! Als er vier war, zerrte ich ihn vom Supermarkt nach Hause. In der anderen Hand schleppte ich schwere Einkaufstaschen, auf meinem Rücken weinte seine Schwester in der Trage. Seine Hand griff danach nicht mehr nach meiner.
Da wusste ich: Ich muss etwas ändern. Mein Schwur war zum schweren Gepäck geworden, zum Mahnmal meines Scheiterns: Ich wiederholte, was ich nicht wiederholen wollte. Meine Elternschaft war irgendwie falsch. Aber ich wusste nicht, wo. Und ich wusste vor allem nicht, wo anfangen.
Friedvolle Elternschaft zu leben ist für viele Eltern ein Versprechen an sich selbst. Und es ist einhaltbar. Aber eben nicht durch einen Schwur, an dem wir nur verzweifeln können, wenn wir an Erziehung festhalten. Ich schlage vor, dass wir damit aufhören. Erziehung ist das Problem, nicht die Lösung. Und jenseits von ihr ist Freiheit. Dort finden wir eine radikal von Anleitungen befreite Elternschaft, die echte Begegnung ermöglicht. Von Mensch zu Mensch. Jenseits von Erziehung gibt es Lösungen, die wir uns nie haben erträumen können. Genau dann, wenn wir nicht mehr wollen, dass Kinder funktionieren, tritt oft die Ruhe ein, die wir uns mit Erziehung versucht haben zu erfüllen.
Dieses Buch ist für mich. Ich schreibe es für die junge Mutter, die vor 15 Jahren völlig verzweifelt war, weil sie mit einem kleinen Kind im Arm plötzlich zum Monster mutierte und nicht verstand, warum sich alle Ratgeber zum Thema so falsch anfühlten. Ich schreibe es für die kleine Neugierde, die sich in mir auf den Weg machte, Erziehung als die Gewalt zu verstehen, die sie ist. Für die, die ihr Wissen aus Soziologie und Philosophie anwendete, um es auf die Begleitung unserer Kinder zu übertragen.
Und ich schreibe es für uns. Für die Eltern, die wie ich spüren, dass etwas nicht stimmt in der Art, wie wir Kinder sehen und mit ihnen umgehen. Ich schreibe es als Plädoyer dafür, moderne wissenschaftliche Theorien wie die der Gewaltforschung und Wissen über systemische Diskriminierung endlich klar und radikal auf junge Menschen anzuwenden und ihre Würde wahrzunehmen.
Friedvolle Elternschaft ohne Erziehung zu leben ist eine Befreiung. Sie ist keine theoretische Übung für die Eltern, die das entsprechende Studium haben. Sie ist auch kein falsches Versprechen von Glückseligkeit. Sie ist einfach moralisch richtig. Wir haben uns von Erzählungen einlullen lassen, in denen wertvolle Elternschaft voller Entbehrungen und Kompromisse ist. Seit Jahren gibt es massive Kritik an der bedürfnisorientierten Elternschaft, die elterliche Bedürfnisse in der Praxis nicht zu beachten scheint.
Ich glaube, das Problem ist nicht, dass wir (scheinbar) netter mit Kindern geworden sind. Das Problem ist, dass wir nicht sanfter mit uns werden. Das Buch ist auch ein Ausflug in eine Welt, in der wir Perfektion hinter uns lassen und endlich, endlich unperfekte Eltern werden dürfen. Entgegen aller Scham, die uns erzählt, es gäbe nur eine gute Art, friedvolle Eltern zu sein.
Dieses Buch ist eine Entlastung. Es will dir nichts vorschreiben. Ich werde dir Praktiken nennen, die in meiner Erfahrung hilfreich sind, um erziehungsfrei zu leben. Aber ich glaube zutiefst nicht daran, dass gute Kinderbegleitung bestimmte, äußerlich messbare Methoden hat. Es geht um deine Haltung zu deinem Kind und letzten Endes zu der Welt, in der wir leben.
Dieses Buch ist auch eine Provokation. Sobald wir gewaltvolle und schädliche Strukturen benennen, kommt Widerstand von denen, die von diesen Strukturen profitieren. Und da Kinder keine Stimme haben, hören wir viel Widerstand. Erziehung als das Problem zu benennen, was es historisch, psychologisch und moralisch ist, kann sogar massiven Widerstand auslösen. Wenn dir das so geht, versichere ich dir – du bist damit nicht allein, und es ist in Ordnung.
Als ich vor 15 Jahren auf die Theorien der Antipädagogik stieß, regte sich in mir auf dreifache Weise der Widerstand: Ich war empört, fand sie lächerlich und diskreditierte innerlich sofort die Autor*innen. Die Bewegung der Antipädagogik besteht seit den 1970er-Jahren und setzte sich kritisch mit der Grundidee von Pädagogik auseinander – weil sie Pädagogik als Gewalt einordnet. Innerlich wand ich mich also stark, mich mit dem auseinanderzusetzen, was mir angetan wurde – schließlich wurde ich auch erzogen – und was ich weitertrage. Auch ich wich zuerst vor der erschütternden Realität aus, dass mein Bild von Kindern diskriminierend und gewaltvoll ist. Egal, wie sehr ich das mit Liebe begründe.
Nicht zuletzt ist dieses Buch deshalb eine Kampfschrift, ein wütendes Manifest gegen die Gewalt, an die wir von klein auf gewöhnt werden und die es uns so viel leichter macht, ungerechte Systeme zu tolerieren und aufrechtzuerhalten. Diese Wut trägt mich, aber sie ist niemals eine individuelle. Sie richtet sich niemals gegen die, die in diesen Strukturen ihr Bestes versuchen, und in der Praxis befürworte ich praktische Lösungen und vor allem Sanftheit gegenüber uns selbst. Bleib sanft zu dir. Sei wütend auf das große Ganze. Auf die mangelnden Betreuungsplätze, die fehlende Anerkennung von Carearbeit, auf die Generationen vor dir, die Erziehung erlebt und erlitten haben. Nicht auf dich.
Der Verzicht auf Erziehung scheint so unmöglich wie unverschämt. Schließlich ist Erziehung das Wasser, in dem wir schwimmen. Sie scheint uns unersetzlich, alles andere muss doch Vernachlässigung nach sich ziehen. Der Kampfbegriff des Laisser-faire ist auch ein Angstbegriff, der zeigt, wie hilflos wir in der Begleitung junger Menschen sind, wenn wir nicht kontrollieren und keine Ziele setzen. Ohne Erziehung, das muss ja bedeuten, dass man gar nichts mehr macht. »Lässt du deine Kinder dann bei Rot über die Ampel gehen?«, schallt es mir nicht selten aus den verschiedenen Ecken des Internets entgegen. Das ist in all den Jahren, die ich über das Thema schreibe und spreche, eine Konstante geblieben.
Diese Fantasielosigkeit und die Unfähigkeit, sich Verantwortungsbewusstsein jenseits von Erziehung vorzustellen, sollte uns allerdings nicht davon abhalten, diesen Raum zu erkunden. Denn er hat Potenzial. Gesellschaftlich und persönlich profitieren wir alle davon, wenn wir Erziehung als die veraltete und verächtliche Herangehensweise hinter uns lassen, die sie ist, und uns zu einer neuen Erfahrung voller Neugierde und echter Begegnung aufmachen. Und nein, das ist nicht einfach. Aber längst nicht so schwierig, wie es erscheint. In meiner Erfahrung ist das Freimachen von Erziehung vor allem ein Weg der tausend kleinen Schritte. Wir folgen damit der Neugierde auf die Person, die wir ohne die alten Denkstrukturen sind. Und der Neugierde auf die Person, die unser Kind ist, wenn wir ihm neu begegnen. Einige dieser Schritte werde ich dir vorstellen.
Friedvolle Elternschaft arbeitet nach Prinzipien, also Näherungswerten und Richtlinien – nicht nach Vorgaben. Prinzipien dienen der Orientierung. Sie leiten sich aus einem moralischen, also auf unseren Werten aufbauenden Anspruch auf unser Miteinander ab und sind damit anpassbar und nicht starr. Du kannst dich also in jeder Situation fragen: »Was würde eine Annäherung an meine Prinzipien hier bedeuten?«, ohne in Richtig und Falsch, Schwarz und Weiß zu verfallen.
Mögliche Prinzipien können sein:
Verbindung vor Korrektur: Es ist wichtiger, dass wir uns verbinden, als dass ich das Verhalten meines Kindes direkt korrigiere. Mein Blick geht auf unsere Beziehung, bevor er auf das geht, was das Kind lernt.Konflikte sind Qualitätszeit: Ich weigere mich, bei dem Mythos mitzumachen, der gute Elternschaft an Konfliktfreiheit festmacht. Konflikte mit Kindern sind wichtige Bestandteile einer Beziehung, und ich muss sie nicht vermeiden. Wenn wir Konflikte haben, bemühe ich mich darum, sie als Qualitätszeit wahrzunehmen, die entscheidend für unser Miteinander ist.Neugierde statt Empörung: Ich begegne kindlichem Verhalten mit der Unterstellung, dass es immer Sinn ergibt, auch wenn er sich nicht erschließt. Wenn das Verhalten meines Kindes mich ärgert oder verunsichert, versuche ich, es zu verstehen, bevor ich mir ein Urteil bilde.In diesem Buch teile ich meine Gedanken und Erfahrungen aus vielen Jahren Studium der Kulturwissenschaften, der Soziologie und Philosophie, der Begleitung meiner eigenen Kinder, meiner Arbeit als Gründerin von DerKompass