Es gilt das gesprochene Wort - Sönke Wortmann - E-Book

Es gilt das gesprochene Wort E-Book

Sönke Wortmann

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Beschreibung

Ist Schweigen wirklich Silber und Reden Gold?  Franz-Josef Klenke arbeitet als Redenschreiber für den Außenminister Hans Behring und begleitet ihn regelmäßig auf seinen Auslandsreisen. Er tut alles, um den integren Mann gut dastehen zu lassen, wozu auch gehört, dass man in Reden zwar nicht unbedingt die Unwahrheit sagt, aber manche Wahrheit auch nicht ausspricht. Doch ausgerechnet Klenke, ein Mann des Worts, liebt Maria, die nicht sprechen kann. Und das sorgt immer wieder für Probleme.  Als die Delegation zu einer Reise nach Marokko aufbricht, um dort über ein Rücknahmeabkommen für illegale Flüchtlinge zu verhandeln, erwartet sie dort der Diplomat Cornelius von Schröder. Er hat seine eigenen Ansichten zum Thema Migration – und eine Agenda, von der niemand etwas ahnt.     »Ein Redenschreiber liebt eine Frau, die nicht sprechen kann. Das Romandebüt von Sönke Wortmann ist wie seine Filme: Komisch und tragisch, berührend und klug.« Jan Weiler

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Es gilt das gesprochene Wort

Der Autor

Sönke Wortmann, geboren 1959, studierte Regie an der Hochschule für Fernsehen und Film in München sowie am Royal College of Art in London. Mit Filmen wie Der bewegte Mann, Das Wunder von Bern, Die Päpstin und Der Vorname begeisterte er Millionen von Zuschauern. Nun legt er sein Romandebüt vor.

Das Buch

Am Nachmittag fand das Treffen des Außenministers mit dem Präsidenten statt, anschließend fuhren sie im Konvoi zum Flughafen. Auf der Fahrt leuchteten die Augen des Carsten Pollerhoff. Eskortiert von Polizei und Motorrädern ging es, ohne auch nur einmal anzuhalten, quer durch die Sieben-Millionen-Stadt direkt vor das Flugzeug. »Das will ich auch zu Hause haben«, juchzte er, und Klenke sah ihm an, dass er genau das umsetzen würde, wenn er die Macht dazu hätte.

Sönke Wortmann

Es gilt das gesprochene Wort

Roman

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Verlag© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Textauszug aus: »Liebe auf den ersten Blick«, in: Wisława Szymborska, Die Gedichte.Übertragen von Karl Dedecius. © der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997Umschlaggestaltung: © BÜRO JORGE SCHMIDT, MünchenTitelabbildung: © Roy Bishop/ArcangelAutorenfoto: © Till BrönnerE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comISBN 978-3-8437-2641-2

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

PROLOG

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Dank

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

PROLOG

Widmung

Für Elsa, Hugo und das Gretchen

Motto

Die ganze Kunst der Sprache bestehtdarin, verstanden zu werden.(Konfuzius)

PROLOG

Anne Geneviève de Bourbon-Condé war übellaunig. Die Herzogin von Longueville war jetzt neunundzwanzig Jahre alt, nach Meinung ihrer Zeitgenossen eine der schönsten Frauen Frankreichs, von adeliger Herkunft, einigermaßen glücklich verheiratet und allgemein beliebt. Doch sie hatte Sehnsucht nach Paris, nach den Salons, nach den Theatern und Banketten, die ihre Freundinnen aus der Hautevolee gerne für sie gaben. Und nach Francois IV., dem Prinzen von Marcillac (und späteren Herzog von La Rochefoucauld), in den sie heimlich verliebt war. Viel zu lange schon saß sie nun in dieser kleinen, stinkenden Stadt im Westfälischen fest, von deren Existenz sie zuvor nicht einmal gehört hatte: Münster. Jetzt, Anfang des Jahres 1647, wollte sie endgültig weg von hier, aber das war nicht leicht zu bewerkstelligen, war sie doch die Frau von Henri II. d’Orléans-Longueville, dem Leiter der französischen Delegation. Dieser sollte für sein Land und seinen noch minderjährigen König zu den bestmöglichen Bedingungen einen Krieg beenden, der nun schon beinahe dreißig Jahre andauerte. Der Herzog liebte seine Frau, war stolz auf ihre Schönheit und versuchte, sie mit allerlei Annehmlichkeiten und Sensationen gewogen zu halten. Er verfügte über die schönsten und größten Kutschen weit und breit, hatte stets drei Dutzend Köche für seine Entourage in Lohn und Brot und ließ einmal sogar einen echten Elefanten herbeischaffen, der von den Münsteranern sehr bestaunt wurde. (Die Madame selbst fiel allerdings nicht vor Entzücken in Ohnmacht, sie hatte das arme Tier mit dem Namen »Hansken« bereits einige Jahre zuvor in Paris gesehen.) Es half alles nichts. Anne Geneviève wurde zunehmend schwermütig – was auch einer fortgeschrittenen Schwangerschaft sowie der Nachricht vom Tode ihres Vaters geschuldet war – und reiste schließlich ab.

Der Auslöser für ihren unfreiwilligen Aufenthalt lag lange zurück und ereignete sich 1618, ein knappes Jahr, bevor die Herzogin überhaupt das Licht der Welt erblicken sollte. Viele Meilen weiter östlich, im Königreich Böhmen, war die Lage angespannt. Nach der Reformation hatten sich zwei religiöse Lager gebildet, von denen das der Protestanten immer mehr Zulauf erhielt, was dem König von Böhmen (und später auch Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation) gar nicht gefiel. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit schränkte Ferdinand II. die Religionsfreiheit für die Protestanten ein und ließ unter anderem Kirchen schließen und zerstören. Am 23. Mai eskalierte die Situation. Nach einer Versammlung zogen etwa 200 protestantische Vertreter der böhmischen Stände unter Führung des Heinrich Matthias von Thurn zur Prager Burg und warfen, nach einem kurzen Schauprozess, zwei katholische Statthalter des Kaisers aus dem Fenster, dazu noch den Sekretär Philipp Fabricius (der später vom Kaiser geadelt wurde und den sinnigen Titel »von Hohenfall« erhielt). Alle drei überlebten den Sturz aus 17 Metern Höhe, was von den beiden Lagern natürlich unterschiedlich bewertet wurde. Die Katholiken dankten der Jungfrau Maria, die diese Rettung angeblich möglich gemacht hatte, die Protestanten brachten einen Misthaufen ins Spiel, der sich unter dem Fenster angesammelt hatte. Ein Misthaufen im Burghof? Ausgerechnet dort, wo die Defenestrierten hingestürzt waren? Oder waren vielleicht doch die Fenster zu klein gewesen, als dass man die drei mit dem nötigen Schwung hätte hinauswerfen können? Dafür spricht die Aussage des ersten Opfers, des Grafen von Martinitz, der verletzt nach oben blickte und sah, wie man dem Grafen Slavata »die Finger seiner Hand, mit der er sich festgehalten hatte, bis aufs Blut zerschlagen hatte«, bevor man ihn schubste. Und war vielleicht auch das Dach unterhalb des Fensters zu schräg, sodass sie eher hinunterrutschten als fielen, wie Historiker vermuten? Wie dem auch sei, die Aufrührer schossen den Verletzten noch ordentlich Gewehrkugeln hinterher, die aber konnten sich ins nahe gelegene Haus der katholischen Adligen Polyxena von Lobkowicz retten, wo sie Schutz und Zuflucht, mit anderen Worten: Asyl, erhielten.

Der Kaiser konnte sich diesen Affront auf keinen Fall bieten lassen. Mit der Unterstützung des Herzogs Maximilian von Bayern schickte er mehr als dreißigtausend Soldaten nach Prag, die sich am »Weißen Berg« bewaffneten protestantischen Rebellen gegenübersahen, die zahlenmäßig zwar weit unterlegen waren, aber auf dem Hügel die strategisch bessere Position innehatten. Eines Morgens im November 1620 kam ein Mönch mit einem Bildnis der Heiligen Familie, auf dem der Jungfrau Maria (und allen anderen mit Ausnahme des Jesuskindes) die Augen ausgestochen waren, ins Lager zurück. Schnell wurden die Protestanten als Frevler und Bilderschänder gebrandmarkt (was sicher weder die ersten noch die letzten Fake News in der Geschichte von Kriegen und Kriegstreibern waren), und nun gab es kein Halten mehr. Unter lautem »Santa Maria!«-Kriegsgeheul machten die Angreifer kurzen Prozess mit den böhmischen Verteidigern.

Eine umfassende Rekatholisierung, die mit einer großen Migrationsbewegung einherging, war die Folge. Dreißigtausend Flüchtlinge waren gezwungen, nach Westen zu ziehen, und sorgten unterwegs für kleinere und größere Scharmützel. Die Kaiserlichen zogen weiter nach Norden, wo sich das Königreich Dänemark sogleich bedroht fühlte und mobilmachte. Andere Staaten taten es ihm gleich, ein Bündnis ergab das nächste, sodass sich auch Frankreich, Spanien und schließlich Schweden genötigt sahen, ihre Religion zu verteidigen (und vor allem ihre Gebietsansprüche militärisch geltend zu machen).

Dreißig Jahre und fünf Millionen Tote später war von deutscher Seite der kaiserliche Gesandte Isaak Volmar für die Verhandlungen zuständig, nachdem der eigentliche Delegationsleiter, Graf von Trauttmansdorff, krank und frustriert nach Wien abgereist war. Fünf Jahre schon dauerten die Verhandlungen, der Krieg war von keiner Seite mehr zu gewinnen. Die Deutschen waren mit Spanien verbündet, die katholischen Franzosen inzwischen mit den protestantischen Schweden. Wallenstein, der kaiserliche Feldherr, befehligte bis zu seiner Ermordung 1634 unter anderem auch eine erhebliche Anzahl von Protestanten in seinem Heer, weil sie bei ihm besser bezahlt wurden. Da sollte noch einer von »Religionskrieg« sprechen, dachte Volmar.

Die Niederländer führten überdies ihren eigenen Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien, was die Sache nicht einfacher machte. Die deutschen Reichsstände (Grafschaften, Herzogtümer, Städte und Stadtstaaten) machten auch Probleme, hatten doch auch sie meist unterschiedliche Interessen, und schmiedeten wechselnde Allianzen. Die Franzosen schienen am Frieden nicht wirklich interessiert, die Schweden waren sich sogar untereinander nicht einig. Hier in Münster (und Osnabrück, dem zweiten Verhandlungsort) beharkten sich die Gesandten Salvius und Oxenstierna, der mehr an Gelagen mit Prostituierten Gefallen fand als an ernsthaften Verhandlungen, gegenseitig. Wie konnte dieser Knoten nur gelöst werden?

Immerhin lag nach fünf Jahren Verhandlung so etwas wie eine Einigung in der Luft, sowohl was die unterschiedlichen Gebietsansprüche als auch die religiöse Frage betraf. Diese sollte abschließend gelöst werden. Eine »Wahrheit«, darüber war man sich mittlerweile einig, gab es in diesem Punkt nicht, deshalb sollten der katholische und der evangelische Glaube vollkommen gleichgestellt werden. So wollten es am Ende auch die Reichsstände, die Kaiser Ferdinand (mittlerweile dem dritten) ein Ultimatum stellten: Anerkennung oder völlige Isolation. Wie würde der Kaiser darauf reagieren? Ein Bote brachte die Depesche mit dem kaiserlichen Siegel, aber Volmar war, zu seinem eigenen Schrecken, außerstande, den chiffrierten Text zu entschlüsseln. Die Reichsstände witterten Betrug, der Kaiser wolle weiterhin auf Zeit spielen! Und nach Tagen voller Schlaflosigkeit, Verzweiflung und quälender Suche nach dem Schlüssel fand ihn Volmar im letzten Moment doch noch: »Pax sit«, schrieb der Habsburger Herrscher. »Friede soll sein.«

Der »Westfälische Friede« war in trockenen Tüchern, eine diplomatische Glanzleistung ohne Beispiel in der Weltgeschichte. Er gilt als Beginn einer Entwicklung, an deren Ende das heutige Völkerrecht steht, und wurde zum großen Vorbild vieler späterer Friedenskonferenzen, auch weil er dem Prinzip der Gleichberechtigung der Staaten, unabhängig von ihrer tatsächlichen Macht, den Weg ebnete. Am 25. Oktober 1648 wurde er in Münster öffentlich verlesen – und auch Anne Geneviève musste sich keine Sorgen mehr machen, zu einer Rückkehr genötigt zu werden. Sie war ohnehin wieder schwanger.

1

Klenke saß in einem beigefarbenen Ledersessel und beobachtete im Spiegel, wie der bärtige Hipster an seinen Haaren herumschnippelte. Zunächst lief alles gut, Klenke hatte keine Lust auf Konversation und war froh, dass der Mann hinter ihm schweigend seine Arbeit machte. Dann aber doch die obligatorische Frage.

»Where are you from?«

Klenke versuchte, seiner Antwort etwas Kategorisches zu verleihen, er wollte einen Punkt mitsprechen (nicht drei), um Nachfragen zu verhindern.

»Germany.«

Er wusste natürlich, dass der andere damit noch nicht zufrieden sein konnte. Wie ein Tscheche sah er nicht unbedingt aus, eher südländisch, vielleicht war er Grieche oder Italiener. Insofern war Klenkes Gegenfrage berechtigt, vor allem wollte er nicht unhöflich sein.

»And you?«

»Tunisia.«

Die Antwort überraschte ihn dann doch. Der Mann sah in keiner Weise tunesisch oder nordafrikanisch aus, und Klenke fragte sich unwillkürlich, wie lange der schon hier war. Wahrscheinlich vor dem ersten großen Flüchtlingsstrom 2015 eingereist, die restriktive Politik der osteuropäischen Staaten heutzutage ließ kaum einen anderen Schluss zu. Egal.

»What are you doing here in Prague?«

Diese Art Small Talk war Klenke unangenehm. In Deutschland hatte er seine Taktik, derlei aus dem Weg zu gehen, beinahe perfektioniert, seine zurückhaltende Ausstrahlung ließ diese Fragen selten zu, und zur Not konnte er sich immer hinter einer Zeitschrift verstecken. Das ging hier mit der tschechischen Ausgabe von GQ natürlich nicht.

»Business or vacation?«

Klenke war beruflich in Prag, aber wenn er das jetzt zugäbe, würde das nur weitere Fragen nach sich ziehen. Also:

»Vacation.«

Er musste an die deutschen Friseure und deren Namensgebung denken, die er oft wirklich grenzwertig fand. »Hair Müller« war noch akzeptabel, wenn der Inhaber so hieß, aber sonst? »Um ein Haar«, »Haarscharf«, »Vier Haareszeiten«, »Haargenau«, »AtmospHair«. Eine Zeit lang hatte er sich mit Georg, dem persönlichen Referenten des Finanzministers, einen Spaß daraus gemacht, die Läden mit den blödesten Namen zu fotografieren, und die schickten sie sich gegenseitig per WhatsApp, mal mit Selfie, mal ohne. »Kamm in«, »Hairport«, »Komm Hair«. Sein persönlicher Favorit war »Pasha’s Haare’m«, gleich mit zwei Apostrophen an der falschen Stelle. Den sollte Georg erst mal toppen! Er selbst saß gerade hier im »Jet Set« (Czech & Slovak Winner 2014–2015 in der Kategorie »Colorist of the Year«). Die Tschechen waren also auch nicht unbedingt cooler beim Benennen ihrer Geschäfte. So hieß der Hotspot der Prager Restaurantszene tatsächlich »James Dean« (natürlich mit einem riesigen Porträt des Schauspielers an der Fassade). Allein aus diesem Grund würde es ihm nie einfallen, den Laden zu betreten. Er hatte mal in einer Werbeagentur gearbeitet, so etwas blieb nicht ohne Folgen.

»How long will you stay?«

Sein Friseur hatte nun offenbar vor, das ganze Programm abzuspulen. Als Nächstes würde er fragen, ob ihm Prag gefalle, und genau so war es. Klenke fügte sich seinem Schicksal und erklärte wahrheitsgemäß, dass Prag (neben Lissabon) seine Lieblingsstadt in Europa sei und dass er immer wieder gerne herkomme, weil die Stadt wirklich wunderschön, die Moldau der schönste Fluss der Welt, die Restaurants fantastisch und die Menschen freundlich und gebildet seien. Natürlich viel zu viele Touristen, aber jetzt, nach den Sommerferien, ginge es. Und so weiter. Schließlich hielt ihm der andere einen Spiegel hinter den Kopf. Klenke war zufrieden. Gute Arbeit. Er war jetzt dreiunddreißig Jahre alt, sein dunkles Haar begann dünner zu werden, aber dieser Tunesier hier konnte die ersten lichten Stellen besser kaschieren als so mancher Künstler bei Shan Rahimkhan. Er zahlte mit seiner MasterCard, ging noch einmal zurück nach hinten, um dem Mann ein gutes Trinkgeld zuzustecken, und trat hinaus in den, nun ja, Prager Herbst.

Klenke war in der Tat beruflich hier in Prag, und zwar im Auftrag seines Landes, der Bundesrepublik Deutschland. Sein Chef war Außenminister Hans Behring, er war sein Redenschreiber. »Speechwriter« war der englische Begriff, manchmal auch »Ghostwriter«, was Klenke insofern passender fand, weil Leute wie er nicht als Autoren ihrer Texte in Erscheinung traten, gewissermaßen also unsichtbar blieben wie ein Geist. Diesen Beruf gab es nachweislich schon seit zweitausend Jahren, im alten Griechenland hatte der sogenannte Logograf als Verfasser von Gerichtsreden eine wichtige Funktion. Klenkes Aufgabe war es, dem Außenminister ein inhaltlich, stilistisch und formal vortragsreifes Manuskript zu erstellen, welches auf dessen Persönlichkeit abgestimmt war und auch dem besonderen Ort des Vortrags Rechnung trug. Es war natürlich wesentlich heikler, eine Rede zu schreiben, die in Israel gehalten würde als beispielsweise in der Schweiz. Wenn der deutsche Außenminister vor der Knesset sprach, hörten die Leute besonders genau hin, da musste jede Silbe stimmen.

Die Delegation aus Berlin war am späten Vormittag in Prag gelandet. Vom Flughafen war es direkt in die Prager Burg gegangen, zur Residenz des Präsidenten der Tschechischen Republik. Im Spiegelsaal war das Thema die sogenannte V4, die Visegrad-Gruppe, bestehend aus Tschechien, Ungarn, Polen und der Slowakei, und deren Haltung zur Flüchtlingspolitik. Diese stand nach wie vor im Widerspruch zu der von Deutschland geforderten Verteilung von Asylbewerbern mittels einer Quote. Andrej Babis, der Regierungschef, ließ sich aufgrund dringender Termine entschuldigen, ein klares Signal, dass er kein Interesse hatte, sich mit den Vorschlägen eines deutschen Außenministers zu befassen. Unter der Kanzlerin machte er es nicht. Um die Deutschen nicht zu brüskieren, gab es einen Termin bei Präsident Zeman, der aber erwartungsgemäß unverbindlich blieb. Viel entscheiden konnte er, ähnlich wie der deutsche Bundespräsident, ohnehin nicht. Nach dem Mittagessen im Restaurant Hergetova Cihelna, sehr malerisch direkt an der Moldau gelegen, begab man sich auf den Fußweg zum Palais Lobkowitz, dem Sitz der deutschen Botschaft. Vor ziemlich genau 30 Jahren befanden sich etwa 4000 geflüchtete DDR-Bürger auf dem Gelände, und zwar unter äußerst schwierigen Bedingungen. Außen hatten tschechoslowakische Polizisten die Botschaft umstellt, drinnen hatte Dauerregen alles in eine Schlammwüste verwandelt, es gab kaum etwas zu essen, und die Schlangen vor den hastig aufgestellten Toiletten waren so lang, dass sich manche direkt wieder hinten anstellten, nachdem sie vom Klo gekommen waren. Es gab auch immer wieder Streit und sogar Schlägereien mit vermeintlichen Stasispitzeln. Außenminister Genscher, der direkt von Verhandlungen mit seinem Kollegen Schewardnadse aus Moskau herbeigeeilt war, trat um 18:57 Uhr auf den Balkon der Botschaft, um die berühmten Sätze für die Geschichtsbücher zu sprechen, die schließlich im Jubel untergehen sollten:

»Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …« Ab hier war Genscher nicht mehr zu verstehen. »… in die Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist.« So ging dieser Satz weiter, wie Klenke jetzt auf einer kleinen Gedenktafel lesen konnte, die auf ebenjenem Balkon aufgestellt war. Ob man dafür wohl einen Redenschreiber brauchte? Eher nicht. Es war ja auch keine Rede, sondern eher eine Mitteilung. Oder wollte Genscher noch viel mehr sagen? Man wusste es nicht.

Es gab dann noch einen Fototermin auf dem berühmten Balkon, gefolgt vom Grußwort des Botschafters und der Rede Behrings. Reine Routine für Klenke, so etwas schüttelte er sich mittlerweile aus dem Ärmel. 1989, Prager Botschaft, Atem der Geschichte, Mauerfall, samtene Revolution hier in Tschechien, von Willy Brandt über Gorbatschow zu Václav Havel, dem Lyriker, der am 29. Dezember zum Präsidenten der Tschechen gewählt wurde. Skurril wurde es nur noch anschließend, im Innenhof der Botschaft. Der Programmpunkt hieß »Zusammentreffen mit ehemaligen Botschaftsflüchtlingen«. Vier von ihnen (zwei Männer, zwei Frauen) wurden dem Außenminister zugeführt und schilderten ihre Erlebnisse. Wie sie in ihrer Verzweiflung alles hinter sich zurückließen, Freunde und Familie, wie sie unter großem Risiko nach Prag reisten, wie sie ihre Trabi-Schlüssel an einen Baum pinnten in der Hoffnung, ihn nie wieder fahren zu müssen, wie sie an vielen Polizisten vorbei über den Zaun auf das Gelände der Botschaft kletterten, hinter ihnen die Stasischergen, die an ihnen zerrten, um genau das zu verhindern. Als Behring den Vergleich mit der Situation der Flüchtlinge von heute herstellte, blickte er in fragende Augen. Keiner der vier war der Meinung, das eine habe mit dem anderen zu tun. Dafür gaben sie Behring mit auf den Weg, sich doch bitte bei der Kanzlerin dafür einzusetzen, dass die Grenzen endgültig dichtgemacht würden.

Normalerweise dauerte so ein Arbeitsbesuch innerhalb Europas nicht länger als einen Tag, aber Behring, der am kommenden Nachmittag die Ehrendoktorwürde der Universität Linz erhalten sollte, lag noch ein weiterer Termin am Herzen. Sein Vater war im Zweiten Weltkrieg als Garnisonspfarrer in der Tschechoslowakei stationiert gewesen, die ja ganz besonders unter den Besatzern zu leiden hatte. Er wollte anlässlich einer Ausstellungseröffnung zu diesem Thema am nächsten Vormittag in der Kirche St. Cyrill und Method sprechen, die Delegation blieb also über Nacht und hatte, was eher selten vorkam, ein wenig Zeit, sich die Stadt anzusehen. Klenke ging, nachdem er vom Friseur gekommen war, noch einmal zurück auf die Kleinseite, hoch zu einem Seitenflügel des Alten Königspalasts, wo seinerzeit der Prager Fenstersturz den Dreißigjährigen Krieg ausgelöst hatte. Schwer vorstellbar, wie die drei defenestrierten Katholiken das überlebt und sich im Palais Lobkowitz in Sicherheit gebracht haben sollten. Palais Lobkowitz? Hieß nicht so auch das Gebäude, in dem die deutsche Botschaft untergebracht war? In dem fast vierhundert Jahre später die DDR-Bürger Zuflucht gefunden hatten? Klenke beschloss, das später einmal nachzulesen.

Auf dem Rückweg fiel ihm ein Schild auf, das auf ein Museum für den Schriftsteller Franz Kafka hinwies, der ja in Prag gelebt und gearbeitet hatte. Vielleicht würde er dort Inspiration für die Rede finden, die er heute Abend schreiben wollte und die Behring, das hatte er sofort gespürt, viel wichtiger war als das Geplänkel vorhin in der Botschaft. An Kafka hatte sich Klenke in der Schule zwar immer die Zähne ausgebissen, aber vielleicht würden ihm heute Einsichten beschert, für die er damals zu jung gewesen sein mochte. Dem war aber nicht so.

Es gibt nur zweierlei: Wahrheit und Lüge. Die Wahrheit ist unteilbar, las er eine Inschrift des Meisters an der Wand, kann sich also nicht selbst erkennen. Wer sie erkennen will, muss Lüge sein. Noch immer musste Klenke solche Sätze mehrfach lesen, ohne danach sicher zu sein, was sie bedeuteten.

Auch das ist vielleicht nicht eigentlich Liebe, wenn ich sage, dass Du mir das Liebste bist. Liebe ist, dass Du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle.

Einmal mehr beschloss Klenke, doch lieber seinen Russen treu zu bleiben. Tschechow, Bulgakow, Tolstoi – das waren seine Helden der Literatur und würden es immer bleiben. Und natürlich Dostojewski! Niemand vermochte es besser, komplexe Geschichten so zugänglich zu erzählen, als der verehrte Fjodor Michailowitsch!

Er ging zurück über die Cˇ ech-Brücke ins Zentrum und stieg an der Station Staromeˇstská tief hinunter in die Metro. Er liebte es, mit der U-Bahn zu fahren, wahrscheinlich seit London, wo er darauf angewiesen gewesen war. Aber auch später in München und Berlin war das so geblieben, obwohl er sich da längst Taxis hatte leisten können. Nirgendwo sonst konnte er Menschen besser beobachten und sich für den einen oder anderen eine Biografie ausdenken. Er stieg in Mu˚ stek um und war zwei Stationen später am Karlovo námeˇsti, dem Karlsplatz. Hier stand, um die Ecke in der weitläufigen Resslova-Straße, die Kirche St. Cyrill und Method. Klenke ging hinein, schaute sich um und machte sich mit dem Gebäude vertraut. Hier würde morgen der Termin stattfinden, der Behring so am Herzen lag. Und je wichtiger ein Termin, desto wichtiger auch die Rede, die er zu schreiben hatte. Natürlich würde Behring noch einmal drüberlesen und einzelne Formulierungen ändern, denn am Ende galt selbstverständlich das gesprochene Wort. Aber im Großen und Ganzen blieb es meist so, wie er, Klenke, es aufgeschrieben hatte. Weil er Behring kannte wie sonst nur dessen Frau.

Klenke schauderte, als er sich in der Kirche umsah und sein Blick auf den Eingang der Krypta fiel, Schicksalsort der Geschichte und Symbol des Widerstands gegen die Deutschen. Ursprung des Blutbads war das Attentat auf Reinhard Heydrich gewesen, der einzig erfolgreiche Anschlag während des Zweiten Weltkriegs auf eine führende Nazigröße. Der »Reichsprotektor in Böhmen und Mähren« leitete die berüchtigte Wannsee-Konferenz im Januar 1942 und war damit der maßgebliche Organisator des Holocaust. Ende des Jahres ging er in die besetzte Tschechoslowakei, ergriff sogleich drakonische Maßnahmen gegen die Zivilbevölkerung und baute die österreichische Festung Theresienstadt zum Konzentrationslager um. Man nannte ihn fortan den »Schlächter von Prag«.

Es gab aber auch Widerstand. Nach dem Einmarsch der Deutschen war ein Teil der tschecheslowakischen Regierung nach England geflohen. Präsident Edvard Beneš ließ in der Heimat immer wieder Sabotageakte durchführen, auch um das eigene Ansehen zu festigen. Der große Coup sollte jetzt folgen. Von britischen Soldaten ausgebildet, sprang eine Eliteeinheit von Widerstandskämpfern nachts über der Heimat ab, um dort Kontakt mit dem Untergrund aufzunehmen und das Attentat vorzubereiten. Für die Operation selbst wurden zwei Männer ausgewählt, die beide Landesteile repräsentierten, der Slowake Jozef Gabcˇík und der Tscheche Jan Kubiš (der seinen verletzten Landsmann Karel Svoboda ersetzte). Beide bezogen am 27. Mai 1942 in einer Straßenkurve im Vorort Libenˇ Stellung und erwarteten Heydrich, der mit Fahrer und Dienstwagen unterwegs von seinem Landgut Panenské Brˇežany zur Prager Burg war. Als der Wagen in die Kurve einbog, wollte Gabcˇík das Feuer eröffnen, aber die Waffe hatte Ladehemmung. Schnell warf Kubiš eine Handgranate auf den Wagen, erwischte jedoch nur den hinteren Radkasten. Dessen Splitter trafen Heydrichs Körper. Dieser wurde sofort im nahe gelegenen Bulovka-Krankenhaus operiert, Heinrich Himmler entsandte sogar seinen Leibarzt. Zunächst schien sich der Patient zu erholen, dann aber trat eine plötzliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes ein. Vermutlich waren nicht erkannte Partikel der Polsterung des Wagens in die Bauchhöhle gelangt, was zu einer Blutvergiftung führte. Heydrich fiel ins Koma und starb am 4. Juni.

Die Attentäter konnten fliehen und tauchten mithilfe des Bischofs Pavlík in ebenjener Kirche unter, in der Klenke gerade stand. Die deutschen Besatzer spürten sie erst mit der Hilfe des verhafteten Widerstandskämpfers Karel Cˇ urda auf. Für 500 000 Reichsmark verriet er die Adressen von sogenannten »sicheren Häusern«, auch das der Familie Moravec im Stadtteil Žižkov. Während der Durchsuchung nahm sich Frau Moravec mit einer Zyankali-Kapsel das Leben. Ihr 16-jähriger Sohn wurde gefoltert, gab aber erst beim Anblick des abgetrennten Kopfes seiner Mutter (verbunden mit der Drohung, den des Vaters in Kürze dazuzulegen) den Aufenthaltsort von Kubiš und seinen Freunden preis.

Wenig später versuchte ein SS-Kommando, die Kirche zu stürmen. Nachdem sie damit keinen Erfolg und beträchtliche eigene Verluste zu verzeichnen hatten, fluteten sie das Gebäude mit Unterstützung der Feuerwehr und setzten Tränengas ein. Die Attentäter ergaben sich dennoch nicht, flohen unter Flüchen und Absingen ihrer Nationalhymne in die Krypta und erschossen sich schließlich dort.

Der Bischof wurde zusammen mit drei weiteren Mitarbeitern in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und kam einen Tag später vor ein Erschießungskommando. Die »Vergeltungsmaßnahme« der Nazis in den Dörfern Lidice und Ležáky, der Hunderte Zivilisten, auch Frauen und Kinder, zum Opfer fielen, ging als eines der größten Kriegsverbrechen jener Zeit in die Geschichte ein.

Später im Hotel googelte Klenke noch ein bisschen zum Thema. Er war immer wieder erstaunt, was man im Netz an bewegten Bildern finden konnte, auch 70 Jahre später. Hier war es die Hinrichtung von Polizeichef Karl Hermann Frank, der die Ermordung der Einwohner von Lidice und Ležáky angeordnet hatte. Dieser hatte sich in den Wirren der letzten Kriegsjahre aus Prag absetzen können und stellte sich den Amerikanern. Als die jedoch herausfanden, mit wem sie es da zu tun hatten, wurde er kurzerhand an die Tschechoslowakei ausgeliefert und zum Tode verurteilt. Zum Einsatz kam, vor mehreren Tausend Schaulustigen, ein Würgegalgen, eine österreichische Erfindung. Klenke sah, wie Frank an einem Pfahl hochgezogen wurde und eine Schlinge um den Hals gelegt bekam. Daraufhin wurde er von zwei Gehilfen ruckartig nach unten gezogen, ein dritter hielt ihm Mund und Nase zu. Die Schlinge sorgte für eine sofortige Unterbrechung der Blutzufuhr. Frank zuckte noch einmal kurz, dann war er tot.

Nachdem er das gesehen hatte, war für Klenke an Schlaf erst mal nicht zu denken. Er zog seinen Trainingsanzug und die Laufschuhe an, verließ das Interconti-Hotel und stieg am anderen Moldau-Ufer die vielen Treppen zum Letná-Park hinauf, von dem man die beste Sicht auf Prag hat. Was für eine wunderschöne Stadt! In der Dämmerung lief er zunächst nach links bis zu den Gärten des Hradschin, dann etwa drei Kilometer in die entgegengesetzte Richtung, bis es nicht mehr weiterging. Dann noch einmal hin und noch einmal zurück. Jetzt kam er langsam in seinen Rhythmus, dann hatte er die besten Ideen. Von Süden her rauschte der Verkehr zu ihm hinauf, aus der Gegenrichtung wehte Torjubel aus dem Stadion von Sparta Prag herüber. Noch einmal hin und her, dann war es dunkel, und Klenke wusste, was der deutsche Außenminister am nächsten Tag sagen würde.