Es läuten die Glocken - Karl Ludwig Schleich - E-Book

Es läuten die Glocken E-Book

Karl Ludwig Schleich

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Beschreibung

Phantasien über den Sinn des Lebens, geschrieben vom Chirurg und Schriftsteller Karl Ludwig Schleich. Inhalt: I. Am Tor der Wunder II. Die Glockenläuter-Gesellen III. Heilig ist der Augenblick IV. Die Bernsteinstadt V. Des Feurigen Spielwarenfabrik VI. Kommt ein schmucker Bursch gegangen VII. Elselein wird kein Wunderkind VIII. Der Theateracker IX. Die Lichtreiterchen und ihre unsichtbaren Knappen X. Aldebaran und der Alte von Weimar im Gespräch XI. Der Weltallsdenker zu Königsberg XII. Der Schneckenkönig und seine Königin XIII. Im Reich der Zwerge XIV. Reise durch den Wunderstrom XV. Vom Glockenstuhl der Seele XVI. Der Abendmahlsmaler XVII. Die Prismakönigin XVIII. Das heilige Viereck XIX. Das Geheimnis der Kugel XX. Die Perückendoktoren XXI. Bächleins Heldenlied und Schneeflöckchens Spinnstube XXII. Eiserkrönchen und Lockenschönchen u.a.

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Es läuten die Glocken

Carl Ludwig Schleich

Inhalt:

Karl Ludwig Schleich – Lexikalische Biografie

Es läuten die Glocken

I. Am Tor der Wunder

II. Die Glockenläuter-Gesellen

III. Heilig ist der Augenblick

IV. Die Bernsteinstadt

V. Des Feurigen Spielwarenfabrik

VI. Kommt ein schmucker Bursch gegangen

VII. Elselein wird kein Wunderkind

VIII. Der Theateracker

IX. Die Lichtreiterchen und ihre unsichtbaren Knappen

X. Aldebaran und der Alte von Weimar im Gespräch

XI. Der Weltallsdenker zu Königsberg

XII. Der Schneckenkönig und seine Königin

XIII. Im Reich der Zwerge

XIV. Reise durch den Wunderstrom

XV. Vom Glockenstuhl der Seele

XVI. Der Abendmahlsmaler

XVII. Die Prismakönigin

XVIII. Das heilige Viereck

XIX. Das Geheimnis der Kugel

XX. Die Perückendoktoren

XXI. Bächleins Heldenlied und Schneeflöckchens Spinnstube

XXII. Eiserkrönchen und Lockenschönchen

XXIII. Die drei Tongeisterchen

XXIV. Des Lebens goldene Schlüsselein

XXV. Die mitternächtige Spielbank

XXVI. Das Geheimnis aller Blüten

XXVII. Tod ist ein Menschenwahn

XXVIII. Intermezzo

XXIX. Begrabene Sonne

XXX. Aldebarans Abschied

Es läuten die Glocken, C. L. Schleich

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849635374

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Karl Ludwig Schleich – Lexikalische Biografie

Mediziner, geb. 19. Juli 1859 in Stettin, verstorben am 7. März 1922 in Bad Saarow. Studierte in Zürich, Greifswald und Berlin, war Assistent bei Virchow, Helferich, Senator und Olshausen, errichtete 1889 in Berlin eine chirurgische Klinik und Poliklinik und wurde 1899 zum Professor ernannt. 1900 war er Leiter der chirurgischen Abteilung des Kreiskrankenhauses in Großlichterfelde. S. entdeckte die Infiltrationsanästhesie und tat sich auch auf dem Gebiete der Wundheilung mit weitgreifenden Reformen hervor. Er erfand das Glutol und andre Heilmittel und die atoxische Wundbehandlung mit Chloroform und Alkohol. Bemerkenswert sind seine mehr philosophischen Studien und Beiträge zur Mechanik seelischer Vorgänge. Er schrieb: »Schmerzlose Operationen. Örtliche Betäubung mit indifferenten Flüssigkeiten. Psychophysik des natürlichen und künstlichen Schlafes« (Berl. 1894, 5. Aufl. 1906); »Neue Methoden der Wundheilung« (2. Aufl., das. 1900); »Die Selbstnarkose der Verwundeten« (das. 1906).

Es läuten die Glocken

Phantasien über den Sinn des Lebens

Meiner Frau Hedwig gewidmet

I. Am Tor der Wunder

Ihr stillen Försterhäuser in aller Herren Länder seid gegrüßt! Ihr friedlichen Wohnungen der Wächter der Wälder, dieser Wiegenhüter der noch winzigen Urenkel altehrwürdiger Tannen, Buchen und Eichen seid gegrüßt! Eure efeuumrankten, morschen Mauern fangen die geheimnisvollen Laute des Waldes auf, saugen das Rauschen der Zweige, das heilige Schweigen der Jahrhunderte überdauernden Stämme ein. Sie hören die Lockrufe des Wildes und das Balzen der nistenden Schaukler der Äste und geben mit ihrem Echo beides, die Sprache des Waldes und sein Verstummen, geheimnisvoll zurück. Die Pilger des Lebens, Wälder durchschreitend, Spielleute, Fuhrmänner und fahrendes Volk – wie gerne rasten sie an einem schattigen Plätzchen in euren Lauben und erquicken sich mehr noch als an den landfrischen Gaben der schmucken Försterfrauen an dem Hauche eures Friedens! Wie kleine Waldkirchen, verborgene Kapellen für den Sonnen-Gottesdienst der Natur, zwingt ihr uns alle in den Bann eurer Weltflucht und Waldeseinsamkeit!

Um solch eine, gleichsam von einem gewaltigen Heere alter Baumrecken belagerte und eingeschlossene, einsame Menschenveste spielten sich vor langer, langer Zeit viele wunderbare und merkwürdige Begebnisse ab, die sich wie Bernsteinstückchen oder Perlen um einen Faden, so um ein Ereignis, das Eingreifen des Unsichtbaren in die schlichte, sichtbare Welt reihen lassen, und die ich erfuhr von – ja, von wem? Von Menschenmund nicht und nicht aus Büchern oder Dokumenten! Sie lagen an jener friedlichen Stelle der Weltferne gleichsam in der Luft. Die alten Wände des Hauses raunten sie dem Lauschenden zu, aus den versteckten Ecken begannen sie zu flüstern, und der alte Nußbaum rauschte sie hernieder in vielen geheimen Stunden, wenn die Traum- und Märchenschiffchen durch das blaue Luftmeer gleiten und Sehnsucht die einzig echten Schätze des Lebens vor unserm Auge dahinschweben läßt. Wenn alte Mauern reden, so raschelt es von Geheimnissen, dann leben längst erstarrte Echolaute auf, und wenn die Sonne durch eine Bodenluke ihre goldenen Stäbchen schiebt, leuchtet der Staub, die Spinngewebe glitzern und zittern vor Begier, das, was sie einst von der Spreu des Lebens abgefangen und erwischt haben, mitzuteilen und dem Nachdenklichen sonderbare Rätsel aufzugeben.

Auf einer kleinen Insel im Pommernland an der Ostsee liegt ein Häuschen, grau und bröcklig vor Altersschwäche. Aber was tut's, daß seine Wände schon Risse zeigen und nicht mehr ganz lotrecht stehen – sind doch die vier größten Maler der Welt, Lenz, Sommer, Herbst und Winter, unermüdlich am Werke, die Spuren seines Alters zu übertünchen und die schiefen Linien zu vertuschen! Vor ihm dehnt sich der fast die ganze Insel umhüllende Wald aus, mit seiner Rückseite schaut es zur See, von ihr getrennt nur durch eine weidenbestandene Wiesenfläche, die steil und abhangartig zum hellen, weißen Strande abfällt.

Hier lebte in alten, alten Tagen ein unwirsches, unzufriedenes Elternpaar, das sich garnicht in den stummen Frieden dieses Waldes schicken konnte. Sie litten beide, Förster und Försterin, an der Stille und Abgeschlossenheit, an der Kargheit des Gehalts und der amtlichen Bezüge und waren mit aller Welt zerfallen. Sie hatten ein einziges Töchterlein, Else, die Traumelse genannt, wegen ihrer in sich gekehrten, hinbrütenden Sinnesart. Schlecht, herzlich schlecht hatte es das arme Kind. Der Vater, barsch und rauh, hatte nur Sinn für Jagd, Holz und Landwirtschaft und kümmerte sich kaum um dieses der Schonung so bedürftige Reis des Waldes, ja er ging mit jeder jungen Baumpflanze geduldiger und zärtlicher zu Werke, als mit seinem eigenen Sprößling. Er sah das Kind eigentlich nur, um mit ihm zu zanken, wenn die herben Scheltworte der Mutter scheinbar nicht genügten, um den verträumten Sinn der Kleinen zu rügen. Elselein hatte nichts als ihr gutes Herz. Sie war wirklich ein wenig langsam, so sehr sie sich auch bemühte, sorgsam und fleißig zu sein, aber es mißglückte ihr beinahe alles. Ach! wenn nur die Schule nicht gewesen wäre! Nicht, daß sie geklagt hätte, wenn sie täglich stundenweit bei Wind und Wetter, in Schnee, Regen und Kälte ins nächste Dorf pilgern mußte, – aber Lesen, Schreiben und namentlich Rechnen schienen ihr nur erfunden, um sie zu quälen. Sie hätte sich eher getraut, ein ganzes Kornfeld allein zu mähen oder den dichten Garten umzupflanzen, als daß sie je gehofft hätte, zu lernen, was anderen Kindern nur so zuflog.

Allmählich wurde sie traurig und gramerfüllt: mehr Tränen rannen über ihre bleichen Wangen als Regentropfen über ihr Köpfchen. Sie sah nur in sich selbst die Schuld an allem, fand sich durchaus ungeschickt und redete sich schließlich ein, sie sei gar kein wirklicher Mensch, sondern irgendein verzaubertes Wesen, und träumte immer von Erlösung und Befreiung. Sie fand es aber nur gerecht, daß die Strafen niederhagelten, wenn sie Tassen, Teller, Geräte fallen ließ, Gerichte verdarb, Kleidchen, Strümpfe und Schuhe zerriß. – »Geh in Lumpen, alte Schmutzliese!« sagte dann wohl die Mutter, »dir noch etwas anzuschaffen, freilich, das würde sich lohnen!« – So, furchtsam geworden, mied sie auch Gespielinnen und Weggenossen, und hätte doch gern dem ersten Besten, der freundlich zu ihr wäre, ihr ganzes, kleines goldenes Herz geschenkt. – Nun ging sie einsam oft durch Flur und Feld. Es war etwas in der Stille des Waldes, das ihrem eigenen Schmerz verwandt schien, und sie bildete sich ein, Bäume und Blumen, die Geschöpfe des Waldes und die Tiere des Hofes seien die einzigen Wesen, welche ihr Leid verstünden und sich in ihrer Art Mühe gäben, ihr einigen Trost zu spenden. Sie glaubte, daß die Rosen blasser würden, wenn sie ihnen tief in die Kelche schaute, und daß die Laubzweige sich senkten, um sie zu streicheln, wenn sie die Ärmchen hilfeflehend zu ihnen emporstreckte. Es fiel ihr auf, daß Tauben geflattert kamen und die Hühner das Gackern ließen, wenn sie weinte. Wolf, der Jagdhund, schmiegte sich oft dicht an sie und sah der Weinenden traurig-stumm und unverwandt ins Gesicht und gab ihr mit der Pfote Zeichen hilflosen Trostes. Der alte Schimmel Hans weinte oft wirklich mit ihr, und die Kühe Lisa und Trud ließen das Fressen und sahen sie mit rückgewandten großen Augen unsäglich mitleidig an, sobald sie in den Stall kam, um sie zu melken. Die alte schrumplige, wackelnde Köhlerfrau, die im Geruch eines Bundes mit bösen Geistern stand, und, wie man sagte, der Voraussicht aller Begebnisse kundig sei, hatte eine merkwürdige Art, sie höhnisch zu begrüßen:

»Ah! da kommt ja des Wegs unser süßes, kleines Prinzeßchen Sonnenblick! Schönen Tag, Euer Gnaden, Lichtkindlein! Vergeßt nur die alte Möller nicht in Glanz und Glück! Hi! Hi! ich sehe was, ich fühle was! Prinz des Lichts! Hi! Hi!«

Und noch lebte in unserem Elselein eine stille, frohe Hoffnung – bis zu der Stunde, wo ihr das Ärgste widerfuhr.

Der Förster hatte Geburtstag, und Elselein sollte, als es Abend ward über dem goldenen Herbsttag, aus der Küche eine große Kanne Punsch dem Vater in die Stube bringen. Sie trug den dampfenden Trank und bat noch alle guten Geister, ihr zu helfen, daß sie ja nichts verschütte. Da trat sie an der Schwelle fehl und dem lauernden Wolf auf die Pfote. Dieser springt heulend auf, fährt ihr zwischen die Beine, und in weitem Bogen fliegt der Punsch dem harrenden Förster zu Füßen. Der wurde entsetzlich jähzornig, packte die um Vergebung wimmernde Else beim Schopf, schleppte sie zum Weidentor des Hauses und stieß sie hinaus in die dämmernde Nacht. Fluchend schloß er hinter ihr alle Türen ab.

Da stand sie allein auf der weiten Wiese, verwirrt, vom Schmerze betäubt, schuldlos-schuldig, und starrte in den Sternenhimmel. Alles kam ihr so geheimnisvoll still vor, daß sie gewaltsam das Schluchzen unterdrückte, als störe ihr wehmütiger Erdenlaut das heilige Schweigen der Nacht. Nur Tränen ließ sie rinnen; die rauschten nicht, sie perlten still hernieder zu ihren Tauschwestern in das Gras. So schleppte sie sich zu einer hölzernen Bank am Waldesrand, von wo man das weite dunkle Meer und den Himmel mit seinem ausgespannten Sternentuch überblicken kann. Das Letzte, was Else sah, waren Tausende von kleinen Glühlichtern, die im Grase und zwischen den Farnwedeln aufleuchteten, so dicht, als wenn sich die sternengeschmückte, alte Nacht heimlich im Spiegel der dunkelgrünen Rasenfläche einmal selbst bewunderte. – Else sank in die Knie, lehnte ihr Köpfchen auf die Bank, hörte noch einen Augenblick die Wellen klagend zu der Höhe heraufrauschen, belauschte das Wiegenlied des Seewindes im Laube – dann fiel sie in einen tiefen, tiefen Schlaf, aus dem sie zu hohem Glück erwachen sollte.

Traumelse hatte ganz recht gesehen, als ihr trotz der Tränenblitzerchen ihrer Wimpern auffiel, wie ungewöhnlich zahlreich die Glühwürmer in dieser Nacht herumflatterten. Hier war die Stätte einer sonderbaren Begebenheit. Else war gerade am » Tor der Wunder« eingeschlafen, an einem Pünktchen der großen Mutter Erde, wo die Vorsehung Wirklichkeit und Geisterweben zur innigsten Berührung zwingt. Gerade, als sie die Augen schloß, begann nicht weit entfernt von ihr ein wimmelndes Leben im Gras und Gestrüpp des Waldes. Kleine Erdgeister in buntestem Gemisch trugen allerhand festliches Gerät, Speisen und Tränke zu unzähligen kleinen und großen Pilzen, deren flache Platten zu Tafeln herhalten mußten. Andere deckten Tischzeug aus Spinnweben und Blütenweiß gewebt über die Pilzkronen. Kleine Musikanten schlugen emsig mit Reiserchen auf die freihängenden Glocken blauer Blumen. Das gab ein feines Klingen, wie von Silberharmonika und von tönendem Glasrand, während andere auf kleinen Lilienblüten Trompetchen bliesen und auf Doldenpauken herumtrommelten. Das ließ sich im Schein der Glühlichter gar feierlich an.

Und wirklich, hier war auch heute ein Weltfesttag! Die vier Wichtelkönige gaben sich an dieser Stelle, ihr alle hundert Jahre wiederkehrendes Stelldichein! – Eben war mit tausenden zierlichen Kaleschen und Equipagen, die winzige Rubinenfenster und Diamantenlaternchen trugen, der Wichtelkönig der Erde eingetroffen. Sechsspännig war er gekommen, von gelben und ockerfarbigen Wieseln mit zierlichen Silbergeschirren gezogen. Da hielt noch die Galakarosse, der eben der kleine König der Erde entstiegen war und in goldenem Sammetmantel, umwimmelt von seinem Gefolge von Käfern, Grashüpfern und vielem Bodengekreuch, zu dem Zeltdach eines zum Throndach geschmückten Farnes heranschritt.

Alsbald rauschte es unter endlosem Jubel vieler Tausender kleiner Erdwesen herauf vom Meere, wie von springenden Wellen und singenden Tropfen, und über den Abhang schoß ein von Strudelrädern getragener Muschelwagen in allen Regenbogenfarben heran; der trug den Wichtelkönig des Meeres in schwerem blauen Königsmantel, hinter ihm ein Heer von Bernsteinwägelchen und Kristallschiffchen.

Während sich die beiden Könige begrüßten, wurde es plötzlich taghell, denn aus tausend Spalten der Erde züngelten unzählige Elmfeuer und Irrlichtflammen, Moorlichtchen und Weidenkerzen auf, und inmitten all der jubelnden Helle aus einer Garbe von Glut schritt der Wichtelkönig des Feuers in scharlachrotem Mantel heran, eine Krone aus unaufhörlich zuckenden kleinen Blitzen auf dem Haupte. Auch er küßte und begrüßte die beiden harrenden Fürsten der Elemente und fragte nach dem König der Luft, indem er eine kleine Uhr mit Zeigern aus zwei Sonnenstrahlen hervorholte.

Aber da schossen schon aus der Höhe Tausende von Sternschnuppen herab und waren im Nu zur Stelle: allen voran ein blendend weißer Kometenwagen mit Rädern aus kleinen kreisenden Monden. Hei! wie der Silbermantel blitzte, indes sein königlicher Träger zu Land glitt und auf die drei kleinen Majestäten zueilte. – Nun waren sie beisammen, und die Beratung konnte beginnen. – »Geistergruß und Harmonie, meine königlichen Brüder!« – so begann der Gastgeber, der Erdkönig. – »Wieder hat uns der Wegweiser der Ewigkeit, wie alle Jahrhunderte einmal, zusammengeführt! Heut gilt unser Wirken der Erde! Ein nie Dagewesenes werde Tat! Was soll es diesmal sein? Habt ihr Vorschläge?«

»Mitnichten!« »Rate du!« »Es ist an dir!« riefen die drei durcheinander. – »So will ich's erproben! Die Menschen gehn bald hundert Jahr im wachsenden Dunkel über meines Reiches Boden. Ihre in den letzten Erdjahrzehnten bekundeten Gesinnungen strotzen von Aberwitz und Naseweisheit. Denkt euch, sie wollen das Leben aus ihrem armseligen Einmaleins, aus dem Alphabet und aus der Formel der Entwicklung begreifen! Sie haben das heilige Wundern, das Erschauern, die demütige Ehrfurcht vor dem Webstuhl des Ewigen verlernt! Die Welt des Geheimen scheint ihnen durchschaubar wie eine klappernde Maschine! – Daher möchte ich ihnen einmal ein Wunder wiederschenken – wenn's sein muß, durch Sintflut, Kometenkatastrophe – Bersten der Erdkugel – Bruch des Firmamentes! Wäre es nicht –« Hier stockte der Erdkönig, der sich ganz in Zorn geredet hatte, denn er sah, wie plötzlich der König der Luft erblaßte, mattgelb und lichttrübe wurde. Auch die anderen Majestäten blickten auf ihn. – »Ich weiß nicht,« sagte, stockend und erregt um sich blickend, der Befragte. »Es muß etwas in der Nähe sein – ich habe das schmerzliche Zuckgefühl, an dem ich öfter leide! Hier muß irgendwo, vielleicht ganz nahe, ein weinender Mensch sein!«

Alle sprangen auf. Geführt vom Luftkönig schlüpften sie durch das Gras gegen den Strandabhang, und standen plötzlich vor der schlafenden Else. Schnell und behutsam kletterten sie von allen vier Seiten auf die Bank und begannen nach Wichtelmännchenart dem armen Elselein hinter die Stirne zu sehen. Denn diesen Geisterchen ist es ein Leichtes, in die Gedanken und Träume jedes Menschenkindes zu schauen und darin zu lesen wie in einem offenen Buche aus lauter kleinen leuchtenden Buchstaben. O, was standen da für Kummerzeilen! Wie überheizt und glühend war die kleine Tränenmaschine, und wieviel kalter Reif lag auf dem Edelkristall eines ganz reinen Menschenherzens! »Sehe ich recht?« wisperte leis der Erdkönig. »Erkennt ihr das Siegel am Herzen?« »Ja,« antworteten die andern. »Es ist von Seiner Hand!« »Eine Geweihte!« – »Mir schwant etwas,« sagte der Herr des Feuers. »Ein Fingerzeig, eine Fügung. Nun brauchen wir uns nicht fürder unsere königlichen Köpfe zu zerbrechen: Das hohe Gebot! Dies Erdenkind soll unserm Schutz empfohlen sein! Ich will sie in eine Feuersbraut verwandeln!«

»Ich führe sie ins Reich meiner Edelgesteine!« rief der Erdkönig. – »Bruder,« sagte der Meeresfürst, »ein Kind der See bring' ich in meine kühlen Kristallschlösser!«

Da meinte ernst der König der Luft: »Geziemt euch Selbstisches? Habt ihr nicht genug an euren Undinen, Melusinen, Dornröschen und Schneewittchen – soll sie sich ewig zu Menschen sehnen? Laßt sie bei Ihresgleichen! Hier auf Erden soll sie teilhaben an unserm Lebensglück, das sie Märchen nennen ... bis sie ihr eigenes findet. Ich gebe ihr den jüngsten meiner Söhne, den Prinzen Aldebaran, auf zehn Jahre zu Schutz und Schirm und zum Propheten!«

»So sei es!« riefen alle. Der Luftkönig winkte einen kleinen Kometenpagen heran. »Verbinde mich mit Aldebaran!« – Der trat an ein hohes Riedgras, kurbelte daran herum und siehe! ein Strahlenbündel schoß hoch in die Nacht hinaus. Der Luftkönig lauschte am Stengel.

»Hier Prinz Aldebaran!«

»Komm sofort! Richtung Süd-Südwest!«

»Kann nicht! Die Windsbräute sind nicht zu halten!«

»Laß sie zum Nordpol!«

»Schon gut. Auf Wiedersehen!«

Eine Minute danach stand der strahlende Prinz unter den Majestäten und beugte seine Knie.

»Mein Sohn,« sagte der Wichtelkönig der Erde, »der heilige Wille befiehlt dir durch uns, dieser hier schlummernden, jetzt elenden, aber auserwählten Menschenknospe getreu zu dienen. Sei ihr ein steter Begleiter und lehre sie alles in einer ihr verständlichen Sprache! Hörst du? Alles! Mache sie sehend mit unsern seligen Augen! Langsam und Schritt für Schritt führe sie in unsere Heimlichkeiten ein! Sei ein Sternenjahr, ein Erdenjahrzehnt ihr Freund, ihr Ritter, ihr Lehrer! Verwandle dich in den, nach dem sie eben ihre Seelenärmchen reckt. Sei ein Menschenjüngling, schön und wohlgestalt, kraft der Gewalt!

Bei Sternen, Mond- und Irrlichtschein Spinn dich in Menschenhülle ein! – Eins, drei und fünf und sieben – Die Sternenflitter stieben!«

Da war das Reich der Kleinen verschwunden, die dunkle Nacht verschluckte das bunte Bild. Elselein erwachte. Eben hatte sie von einem blauen Prinzen mit Schwanfederbarett geträumt, der sie zu erlösen kam – da stand er leibhaft vor ihr:

»Erschrick nicht!« sagte zu ihr, die Stirn lind streichelnd, Aldebaran. »Ich bin dein bester Freund. Du trittst von nun an auf den Pfad des Glückes. Vertraue mir ganz! Niemand darf wissen, daß ich immer bei dir bin, niemand außer dir kann mich sehen oder hören. Gib deine Hand! Wir schreiten zu deinen Eltern. Dein lieber Gott hat mich gesandt.«

Wie wurde Else so wunderbar warm ums Herz! Nie hatte ein Wesen mit so sanfter Stimme zu ihr gesprochen. Sie stand auf. Dann gingen sie Hand in Hand dem Försterhause zu.

II. Die Glockenläuter-Gesellen

Der Förster saß unwirsch am Tisch und starrte qualmend in den Lampenschein. Ihm war nicht behaglich zumute. Der neubereitete Punsch hatte die leise erwachte und beständig summende Stimme des Gewissens nicht zu betäuben vermocht. Immer von neuem kreisten die oft verscheuchten, aber wiederkehrenden unbestimmten Sorgen um einen Punkt seines Herzens wie ein Schwarm verflogener Tauben über dem vom Sturm jäh geschlossenen Schlag. »Laß sie ein, Förster, die lieblichen Boten einer zarteren Welt der Lüfte, die Sendlinge des Himmels, deren aller Brust zugleich aufleuchtet im Sonnenglanz, wenn sie wie auf Kommando schwenken gegen das Licht im seligen Fluge! Laß sie ein, Förster, in dein hartes Herz! Sie haben dir etwas zu gurren und zu surren!« – Immer lebhafter stürmten weichere Gedanken auf den harten Mann ein und umschwirrten ihn immer wieder auf's neue, wie er sich auch dagegen wehrte. Da war es ihm plötzlich, als riefe etwas ganz leise in seiner Brust den Namen seines verstoßenen Kindes. Er sprang auf. Der Taubenschwarm aller guten Geister stieg jubelnd auf und nieder. Er eilte zur Tür und schob eilig den Riegel zurück. Da kniete schon Elselein vor ihm und küßte ihm die Hand.

»Vater! vergib mir!« – Aldebaran aber, von ihm ungesehen, machte ein heiliges Zeichen über seinem Herzen und siehe! – dem Förster wurde absonderlich weich zumute. Er hob das Kind empor und drückte es an sich. »Es ist schon alles gut, Else,« sagte er mit einer von dem Kinde süß empfundenen Innigkeit seiner rauhen Stimme. Hinter der Türe aber stand die Mutter und wischte sich die Augen. Die beiden Eltern fühlten eine ihnen bis dahin ganz unbekannte Rührung. Sie haben es sich später oft gestanden, wie sonderbar sie der Augenblick durchschauerte, in dem zugleich mit Elselein das helle Mondlicht wie ein lebendiges Wesen voller Glanz in den Flur geflossen kam. Es sei gewesen, als hätten sie ganz deutlich in der Bahn des Strahles eine frohe Botschaft, eine Ankündigung von kommendem Glück und großer Freude gelesen. – Die Mutter küßte das Kind, streichelte es über Haar und Wangen und sah ihm immer wieder in die großen, blauen, verweinten Augen, aus denen es so sonderbar hell leuchtete, und wendete sein Köpfchen forschend hin und her, so lieblich umwehte ihr Kind der Glanz des Glückes, den Aldebarans Zauber spann. – »Nun geh, in dein Bettchen! Schlaf' dich aus, mein Kind!«

»Aber mit mir muß – –,« o weh! – fast hätte sie sich verraten und Aldebarans Name wäre ihr entschlüpft, wenn dieser nicht schnell ihr die Lippen geschlossen und ernst mit dem Finger gedroht hätte. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie die Treppe hinauf zu ihrem Bettchen. Seine Hand fest in die ihre schließend, lag sie still und nachsinnend. Aldebaran nickte dem Vorspiel ihrer Träume zu.

Seine neugierigen Sternenbrüder aber sahen schon die ganze Zeit über mit langgestielten Äuglein durch das kleine Fenster in die Bodenkammer hinein und wollten so gerne beobachten, was Aldebaran nun beginnen würde. Der zupfte auf ihren, wie silberne Saiten gesponnenen Strahlen ein leises Lied vom kommenden Glück. Dann machte er sich allerhand zu schaffen. Erst klopfte er auf das harte Stroh und den rauhen Bettsack aus Segeltuch. Da wurden sie weich und zart wie schaumige Wolkenballen, und Elselein war es im halben Traum, als trüge sie ein weißer Wanderwolkenkahn still über ein blaues Meer; dann schüttelte er leis ihr Kopfkissen und allsogleich flatterten unzählige weiße Schmetterlinge um ihr Köpfchen, die sagten mit Flüsterstimmchen alles, was sie wissen sollte, Zahlen, Namen, Religionsgeschichten und Gesangbuchverse, die sie niemals sonst behalten. Ihr war's, als flögen ihr die klugen Gedanken nur so zu wie kleine Falter und spielten in der blauen Luft Wechselspiel von Frage und Antwort. Da gab es nichts mehr, was sie nicht auch hätte beantworten und hersagen können. Nun machte sie plötzlich ein trauriges Gesicht. Gleich einem dunklen Vogel fiel in ihre lichten Reigen der schwere Gedanke, daß sie vergessen habe, wie allabendlich ihr bei Tag zerrissenes Gewand, ihre Strümpfe und die Schürze zu flicken. Fast wäre sie vor Schreck erwacht. Aldebaran aber, der in ihren Träumen las, drückte sie sanft in die Kissen zurück, nahm ihre zerfetzten Kleidchen und nähte alles langsam und bedächtig mit Sternenseide, setzte Flicken und Latzen aus blauem Himmelssammet und Rasengrün. Da lachte Elselein im Traum und schlief bis zum frühen Morgen.

Aldebaran weckte sie. Die Stunde war gekommen, der Mutter in der Wirtschaft zu helfen. Wie erstaunte sie, als sie ihre Sachen nahm. Kein Löchlein, kein loser Faden war daran. Und die Röckchen! wie sauber geflickt und fein gefaltet und alles so frisch und neu, wie eben aus der Stadt gekommen! »Das hast du gemacht, ich hab' es wohl gesehen, Alde – Alde – ja wie heißt du doch? Ach! ich habe deinen Namen vergessen!«

»Aldebaran« –

»Das ist furchtbar schwer zu behalten!«

»Nenne mich nach dem Liebsten, was du kennst!«

»Mein Liebstes heißt Peterchen!«

»Wer ist das?«

»Die schöne Katze!«

Aldebaran nickte –

»Darf ich dich mein Luftpeterchen nennen?«

»Mir ist es recht, Else. Ich bin und bleibe also dein Luftpeterchen. Sprich diesen Namen aber nie vor anderen aus! Kein Mensch darf ohne meinen Willen wissen, daß ich bei dir bin!«

»Luftpeterchen! Luftpeterchen! Liebes Luftpeterchen!« rief Else und klatschte in die Hände. »Ich muß jetzt hinab! O weh! wenn ich nur nichts zerbreche!« – »Laß mich nur machen, Else, ich gebe acht!« Da ging ihr alles von der Hand, und wenn sie ja einmal mit einer Tasse oder Kanne schwankte, oder ein Topf fast schon am Boden lag, griff ihr unsichtbarer Knappe schnell zu und rückte alles in die Reihe. So gewann sie schnell Zutrauen zu sich und ließ die Furcht vor ihrer Ungeschicklichkeit: das ist der halbe Weg zur Meisterschaft in allen Dingen. Wie sie die Mutter so hantieren sah, stieß sie den Förster heimlich an und sagte ein über das andere Mal: »Sieh nur die Else! Wie die schaltet und waltet! Das Kind ist ja wie ausgewechselt!« »Soll mir schon recht sein,« meinte der Förster. »Mir hat zudem geträumt, die Else bringt uns Ehr' und Gold ins Haus!«

Nun war es Zeit, zur Schule zu wandern. Eines schönen Herbsttages Sonnengold leuchtete durch den Wald; der Weg war gefleckt mit Lichtaugen und überstreut mit bronzenen Blätterscheiben. In den Gräsern und Halmen blitzten die Steinchen aus dem Diamantenschmuck der schönen, morgenjungen Erde auf, und die Blätterharfen sangen leise das Lied vom werdenden Tage. – Ihr Ränzlein auf dem Rücken, schritt Else dahin.

»Wie schön ist's heut!« sagte sie.

»Ja, Kind, des Tages Spinnstuben sind aufgemacht,« erwiderte Luftpeterchen. »Die Sonne hat viele goldene Schlüsselein! Sie schloß die Blütenkelche auf wie den Vöglein die Augen, sie rührte an schlafende Spinnen, Käfer und bunte Fliegen mit vielen, feinen, kleinen Fingern, nun summt es und surrt es in Luft und Boden. Jetzt pumpen die kleinen Pflanzengeisterchen die köstliche Feuchte in Gräser und Stämme empor, nun wandern Ameisen zur Arbeit, und die Vogelmütter fliegen auf Beute. Alles geht ans Werk. Nicht nur ihr Menschen, auch die Natur, auch alle Geister arbeiten! Die ganze Welt hat ein und dieselbe Morgenglocke: die Sonne!«

»Aber Peterchen! Die klingt doch nicht!«

»Du wirst sie schon noch einmal hören! Wart' nur!« –

Nun bogen sie aus dem Waldweg in die Chaussee ein, die sich weit vor ihnen ausdehnte wie ein weißes Band.

»Ich fürchte mich immer sehr vor der Schule, Luftpeterchen!« begann Else, in die Ferne blickend, wo sie weit, weit dahinten die Stätte ihrer größten Leiden gleichsam auf sich warten fühlte.

»Von nun an wirst du gerne zur Schule gehen!« erwiderte Aldebaran, »du wirst bald einsehen, welche Schätze das einfachste Wissen vor dir ausbreitet! Schau einmal her!«

Er setzte sich auf einen Chausseestein, nahm ein trockenes Reis und zeichnete etwas in den Sand. Das sah so aus:

»Sieh', Else! Mit diesen vier Linien ist es eine geheimnisvolle Sache. In ihnen ist jede Zahl und jedes Wort, jegliche Ordnung und jeglicher Sinn, jeder Name, jeder Satz, das Höchste und Herrlichste, das Schlimme wie das Gute enthalte«.«

Elselein machte ein verblüfftes Gesicht.

»Gleich wirst du es erkennen!« fuhr Luftpeterchen fort. Ich ziehe nur noch ein paar Querlinien in das Viereck, – schau her:

»Hier stehen alle Zahlen, die es gibt: von 1–9!«

»Wie das?« fragte Else.

Luftpeterchen zeichnete in den Sand:

»Sieh! Jede dieser Zahlen kannst du im Viereck finden und ihre Linien nachziehen, jede Zahl ist buchstäblich ein Teil des einfachen Vierecks.« Jetzt zog er jede Zahl in den gegebenen Strichen nach:

»Ach! Ist das nett! Aber wo ist die Null?« fragte schnell Else.

»Das ganze Viereck ist die Null. Das ist ja das Wunder, daß in der Null schon alles ist. Alle Geheimnisse stammen aus dem umgrenzten Nichts, wie hier die Zahlen aus der Null! Das wirst du aber erst später begreifen. Bleiben wir bei den Zahlen. Hier die Zehn:

Und so weiter!«

»Laß mich das auch mal schreiben!« rief Else. Sie tat's. – »Nun merke weiter auf, Elselein! Auch alle Namen sind in diesem Viereck!«

»Wie das? Auch ich und du?«

»Schau her! Was steht hier?« fragte er, indem er schrieb.

Else klatschte vor vergnügtem Erstaunen in die Hände.

»Laß mich nur noch einige Hilfslinien ziehen, so steht das ganze Alphabet in meinem Zauberkästchen. Schau einmal her! Du wirst jetzt jeden Buchstaben und folglich jeden Namen, Anfang, Ende, Welt, Gott, Tod und Leben in diesem Rahmen finden!«

Erst malte er sie nebeneinander in die weihe Chausseeerde, dann suchte er die Buchstaben einzeln im Quadrate auf.

Nun wollte Elselein alles in den Sand nachzeichnen. Luftpeterchen half ihr dabei und zeigte ihr, wie durch Abrundung und Verkürzung alle Zahlen und Buchstaben aus einfachsten Eckformen des Quadrates entstanden waren. Dabei gingen sie weiter. – »So, Elselein,« sagte er im Wandern, »jetzt haben wir ein kleines Guckloch aufgemacht, durch das du einen ersten Blick tun konntest in den Zusammenhang der Dinge. Wie dies kleine, anscheinend so leere Viereck, ist jedes Ding auf Erden ein kleines Schatzkästlein von Geheimnissen. Überall wirst du im letzten Grunde Sinn und Ordnung finden, Schönheit, Harmonie, Ideen und ihre Gestaltung. Wenn schon dies armselige Netz von vier Strichelein in sich Laute und Zahlen, alle Mittel des Ausdrucks und des Geistes enthält, was meinst du wohl, was alles in dieser kleinen Feldblume hier – er beugte sich zu einer Blume am Chausseerande – von Gedanken und Geheimnissen niedergelegt ist. O, glaube nur nicht, daß ihr Menschen allein das Schreiben und Rechnen gepachtet habt, auch die Natur selbst schreibt, zählt, dichtet, erfindet und träumt. Ach, sie hat eine viel erhabenere, herrlichere und wunderreichere Sprache als die Klügsten unter euch ahnen. Die Bäume, die Blumen, der Sternenhimmel, die Wellen, das Wolkenheer und die Welt der Geschöpfe sind ihre Schrift und tragen ihre unerschöpflichen Gedanken. All ihre Werke sind von einem Geist. Sieh seine wohlgeschwungenen Zeilen in Zweig um Zweig, im Kelch der Blumen, im Gefieder der Farne, im Wiesenrain, im Wolkenreigen, in den Schaumkronen am Strand, in den Windungen des silbernen Baches, im Sternenflimmern und Sonnenleuchten, ja in dir selbst und deinem Wunderbau! Du wirst durch mich schon lesen lernen in dieser stummen Welt wie in einem ungeheuren Buche, das die Natur schreibt und nimmer endet! Drum gib nur ruhig acht auch in der Schule! Ein ernster Sinn ist im Geringsten!

Und nun laß dir ein kleines Geschichtchen erzählen, während wir weiter wandern.

Es waren einmal drei Gesellen, der Buchstabe, der Laut und die Zahl. Die gingen zusammen auf die Weltwanderschaft. Lange konnten sie keinen Herren finden, der ihre Dienste hätte schätzen und nützen können. Da kamen sie eines Tags gesprungen und fanden einen Hirtenknaben, der an einer Weidenflöte mit seinem Steinmesserchen schnitzte. Sie boten ihm ihre Hilfe an, denn er mühte sich gerade vergeblich, für seine Freundin, das Gänsemädchen, Zeichen zu ersinnen, an welchem Ort, zu welcher Stunde sie ihn geheim vor anderen finden könnte. Flugs lehrten sie ihn in die Rinde eines Baumes, an dem sie des Abends ihre Herde vorübertrieb, ein Herz, den Mond und eine Flöte einzuschneiden. Das sollte heißen seine Liebe, die Stunde der Zusammenkunft und seinen Namen, denn er war berühmt wegen seines Flötenspiels. Nun wollte es aber das Unglück, daß sie von der bösen Zauberin des Dorfes belauscht wurden, und so erfuhr die Alte die Macht der Buchstaben und zwang die drei Gesellen durch geheime Sprüche in ihren Dienst. Da mußten sie Jahrhunderte lang Fronarbeit leisten für die vielen Zauberinnen in allen Völkern, die auf geheimen Wegen sich gegenseitig Kunde zutrugen von dem, was die Volksmannen und Krieger sich zuraunten, ohne daß die wissenden Frauen ein Wort miteinander zu sprechen brauchten. Eines Tages aber verriet solch eine weise Frau das Geheimnis einem mächtigen König. Der ließ seine Ratgeber kommen und diese nahmen von nun an die drei Gesellen in Fürsten- und in Priesterdienste. Da mußten sie allen Menschen fronen und sind allmählich zu immer größerer Macht gekommen und haben stets neue Wege gefunden, über Meer und Land zu fahren; sie haben die Menschen gelehrt, sie auf Steinen, Wachstafeln, Leder, Bast und Papyrosstreifen weithin zu verschicken; bald werden sie lernen, auf Drähten zu fliegen über den Erdball, durch das Meer, und es wird eine Zeit kommen, in der sie ohne alle Fäden und Drähte frei durch die Luft über Tausende von Meilen springen und mit unsichtbaren Wellen die ganze Erde überfluten. Es wird durch Arbeit und Gedanken dazu kommen, daß jeder Mann seine kleine sprechende Zauberdose wie eine Taschenuhr bei sich trägt, aus der er auch in weiter Ferne den trauten Stimmen der Heimat lauschen kann. Dann wird es erst wirklich lebendig in der Luft: unsichtbare Schwalben werden sie durchschwirren zu Millionen und mit ihrem Zwitschern Herz und Ohr der Menschen finden!

Sänger, Dichter und Gelehrte sind ewig in dem Dienst der drei Gesellen. Sie tragen die herrlichsten Gedanken durch ihre Reigen und bewahren das Schöne, das Befreiende, das Lied, das Wunder in pergamentenen Truhen. Schöne Bücher mit prächtigen Einbänden sind ihre Hütten, in Palästen sind sie zu Hause, und hochgeehrt ist, wer ihnen Hilfe leistet.

So sind sie bald zu einer gewaltigen Macht der geistigen Waffen geworden, die drei Königspagen der Gedanken, Laut, Zahl und Buchstabe!«

»Ist denn die Bibel auch von ihnen geschrieben?« fragte Else verstohlen. »Das ist ein Buch,« sagte Luftpeterchen, »von ihnen gesetzt in des großen Meisters Namen. Das wird wohl am längsten leben von allen Büchern der Erde!«

»Ist alles schön und gut,« meinte Else, »aber sag' mir, liebes Luftpeterchen, wie kann so ein armes, unwissendes Menschenkind wie ich nur alle die schönen Dinge, die sich die drei Gesellen ausgedacht haben, begreifen oder gar behalten? Mir macht die Fibel doch schon Schwierigkeiten!«

»Nun, die Fibel, Else, ist auch ein heiliges Buch, bei dem die drei Gesellen sich große Mühe gegeben haben. In ihm erzählen sie ihre eigene Geschichte, aber es kommt, wenn die drei Gesellen wollen, auch alles andere Schöne in dein kleines Köpfchen! Du mußt nur wissen, daß ihr Menschen eigentlich gar nichts behaltet, sondern alles, was euch einmal bewegte, jedes Wort, jedes Erlebnis – immer wieder von neuem entstehen lassen könnt. Und das geht so zu:

In jedem Köpfchen ist ein wunderbares, feines Glockenspiel von tausend und abertausend kleinen Silberklingelein, die so sind, daß ein Stecknadelkopf gegen jedes gehalten so groß ist wie die mächtige Kirchenglocke zu Köln am Rhein. Die Glöckchen sind frei schwebend, alle dicht beieinander aufgehängt, wie die Krönchen der Glockenblume. Viele solcher kleinsten Klingeldolden reihen sich dicht beieinander in Millionenzahl in lauter kleine Sternenbündel. Die drei Gesellen haben nun unzählige Strickchen in ihren Zauberhänden; damit können sie alle Glocken leise in der Halle deiner Seele spielen, wie euer Lehrer die Orgel in der Kirche. Wenn da »Liebe Mutter« erklingen soll, so greifen sie nach einem Bündelchen von seinen Fäden, die laufen dir gerade übers Herz, und dann läutet es mit wundersüßen Glocken kaum hörbar in dir, wie von Heimat, Himmel und Erde zusammen, so daß dir wohl und warm wird von dem schönen inneren Gesinge. Wenn sie aber »böse Hexe« klirren, dann gibt es einen scharfen Klang, und dir wird eiskalt, denn diese Stricklein zerren zugleich am Klingelzug deiner Angst; dann schrillt es wie eine Feuerglocke durch dein Seelchen, und deine Beinchen spüren Lust, davonzulaufen. Greifen aber die drei Glockenläutergesellen die feinsten Seilchen an, die dein ganzes Wesen durchziehen wie köstliche goldene Drähtchen ein schönes Gewand, dann tönt es heilig, weihevoll und du denkst: »Gott!«

So wissen sie, die kleinen Spielleute deiner Seele, all und jedes Ding in dir zum Läuten zu bringen. Ist aber erst einmal ein kleines Lied aus vielen Klängen fertig gesungen, dann lernst du, es schließlich aus eigener Kraft tönen zu lassen, dann brauchst du keine Glockenschläger-Knaben mehr, dann tun es die Heinzelmännchen in dir ganz allein, immer fort und immer wieder von neuem. Das ist Erinnerung und Gedächtnis, Traum und die kleine Spielorgel des Wissens, das ist das Glockenspiel der Phantasie! Übung, Herzlein, ist alles! Die Sonne, die Steine, der Mond und alles, was du siehst, kann spielen auf der kleinen Silberharmonika in deiner Seele, jedes, auch das kleinste Ding findet sein Fädchen, mit dem es deine Herzensglöcklein zittern macht. Es weiß den Weg zu finden durch das Ohr, durch das Auge und durch alle Sinne. Aber, das ist das Wunderschöne daran, alles, was du einmal empfunden, gewußt, gedacht hast, das bleibt in dem Wunderkästchen deines Köpfchens aufbewahrt für immer und alle Zeiten: Du brauchst nur dieselben zitternden Glöckchen noch einmal tönen zu lassen, und es ist wieder da. Sie bringen ihn wieder zurück, den fernsten, flüchtigsten, versunkenen Augenblick, er taut von neuem auf wie ein gefrornes Lied! Nichts ist euch unvergessen. Da ist nichts zu behalten und zu verwahren, es kann zu jeder Zeit aufs neue in dir wach werden. Viel und oft werde ich dir noch erzählen von diesem Widerschein und Spiegelbild der Welt in deinem Seelchen, von deines Herzens Glockenspiel, mein Elselein!«

Aldebaran hatte sich bei diesem Aufrollen eines seiner Geheimnisse selbst in einige Erregung geredet und stand hoch aufgerichtet, hingerissen von den Wundern seines inneren Schauens, vollbeschienen von der leuchtenden Sonne vor der atemlos lauschenden Else.

In solche und ähnliche Gespräche vertieft, gelangten sie in die Nähe des Dorfes. Die kleine Kirche grüßte von Ferne mit ihrem grünen Kupferdach, das goldene Turmkreuz blitzte in der Sonne. Am Waldrand lugte ein Reh um die Ecke. Luftpeterchen winkte, und ohne Scheu kam es heran. Elselein bebte vor Freude, als sie das Tierchen so zutraulich herbeihüpfen sah, und legte die beiden Arme um den Nacken des furchtlosen Wildes. Das Reh schaute hellen Auges auf Aldebaran, schnupperte und bewegte unaufhörlich das Mäulchen hin und her! »Ach, Peterchen!« rief Else, »das sieht ganz so aus, als wollte es sprechen!«

»Es spricht auch,« sagte Luftpeterchen, »gib nur acht!« Er pflückte eine Lilie vom Wegrand und steckte sie Elslein heimlich ins Ohr. Sie wäre vor Staunen fast umgesunken: durch den kleinen Schalltrichter hörte sie das liebliche Tier mit feiner, meckernder Stimme folgendes sagen:

»Die Köhlerfrau, die Köhlerfrau Braut Enzian und Bärenklau, Mondstrahl und Irrlichtflammen Die ganze Nacht zusammen! Sinnt bis zum ersten Hahnenschrei Auf Hinterlist und Teufelei!«

»Schon gut! Hab' Dank für deine Warnung! Ich gebe acht,« rief Luftpeterchen. Da trollte das Reh mit munteren Sätzen in den Wald zurück. »Es hat recht,« meinte Elses Begleiter, »uns droht Gefahr, wir müssen auf der Hut sein. Die Alte weiß vieles. Es soll ihr aber nichts gelingen!«

Sie gingen weiter und standen endlich vor der Tür des kleinen Dorfschulhauses.

III. Heilig ist der Augenblick

Viele kleine Mädchen in groben Kleidchen und Holzpantoffeln waren schon in dem niedrigen, ein bißchen finsteren Klassenzimmer versammelt, schnitten sich ihre Federn – damals schrieben alle noch mit Gänsekielen – und sahen nach ihrer aus Lampenruß bereiteten Tinte, wischten ihre Schiefertafeln, rutschten auf den Bänken ausgelassen auf und ab, schwatzten und lachten durcheinander. Elselein, von wenigen kaum mit Kopfnicken begrüßt, nahm ihren Platz ein – natürlich den allerletzten auf der letzten Bank. Aldebaran kletterte auf die Rücklehne und harrte des für ihn ganz neuen Schauspieles, denn er war noch niemals in einer Mädchenschule gewesen. – Jetzt trat der Lehrer ein, und augenblicklich verstummte das vielstimmige Gesumme in diesem von der Behörde gebauten Käfig aller der kleinen Elstern, denen das freie Schnabelplappern zu wohlgesetzter Redeweise gewandelt werden sollte – und das mittels der Dressur des Herrn Schulmeisterleins und Kirchenkantors Johannes Piepkorn, eines kleinen, schmächtigen, bebrillten Männchens mit gutmütigem, aber pfiffigem Gesicht. Die damaligen Schullehrer sahen ganz anders aus wie die heutigen. Johannes Piepkorn war ein sehr würdiges Mitglied dieser Gärtnergilde der Pflanzer und Pfleger kleiner kindlicher Blumenseelen und trug stets bei sich zwei Zauberstäbe zum Erwecken aller geistigen Triebe innig gesellt unter dem linken Arm: den Fiedelbogen und den Rohrstock. Und er hatte eine merkwürdige Geschicklichkeit, je nach Bedürfnis das eine oder andere Zauberlockmittel in blitzschnelle Anwendung zu bringen. Er trug eine Perücke mit kurzem, steifem Zopf und ging mit Kniehosen und Schnallenschuhen.

Die Schulstunde begann.

»Also – Abraham – wir sind bei Abraham! Müllers Marthe! Wohin ging der Herr mit Abraham in voriger Religionsstunde, ich meine am vorigen Montag?«

»In den Hain Mamre!«

»Falsch, das war ja schon vor vier Wochen! Anne Krill!«

»Nach Sodom und Gomorrha!«

»Richtig. Was war Abraham von Lot? Rieke Polzow!«

»Der Bruder,« – »Der Vater,« – »Der Sohn,« – »Der Herr.«

Alle Aufgerufenen antworteten falsch.

Piepkorn fragte verzweifelt: »Wer weiß es?«

Da stand unsere Förster-Else auf und sagte mit klarer Stimme:

»Abraham war der Oheim Lots, denn Lot war das Kind seines Bruders Haran!«

Die Wirkung dieser Antwort, die natürlich Elselein von Aldebaran allen unhörbar vorgesagt wurde, war unbeschreiblich. Die Kinder drehten sich mit offenen Mäulchen nach der sonst immer stummen Sprecherin um, und Lehrer Piepkorn kam nach einer kurzen Pause der Verblüffung herbeigeschossen, um Elselein ganz erstaunt zu betrachten.

»Ei, ei! Richtig, Else. Richtig!« Ein fürchterlicher Verdacht stieg in ihm auf. »Richtig! Aber sag', mein kluges Kind« – dabei nahm er ihr das Religionsbuch fort –, »wenn du das so schön weißt: Wie hieß denn Abrahams Vater?« Else sagte prompt: »Tharan« und fügte getreu nach Luftpeterchens unhörbarer Anweisung hinzu: »Tharan lebte in Chaldäa und stammte aus Sems Geschlecht. Derselbe hatte drei Söhne: Abraham, Nahor und Haran. Haran starb vor seinem Vater und hinterließ einen Sohn namens Lot!« Piepkorn war fassungslos. Er sah unter die Bank, ob sie da vielleicht noch ein Buch versteckt habe, aus dem sie ihre Weisheit schöpfte, er blickte, in seiner Vermutung getäuscht, in die Luft, ob es irgendwo an der Decke oder an der Wand stünde – unglaublich! Das Kind wußte die ganze, so kniffliche Namensgeschichte. »Elselein! Jetzt paß aber auf! Jetzt kommt es ganz schwer! Wen versuchte Lot, von den Engeln gewarnt, vor dem Untergang von Sodom und Gomorrha noch außer seinen Kindern und seinem Weibe zu retten?« »Die Bräutigams seiner zwei Töchter!« sagte Else prompt. »Aber sie gingen nicht mit, denn es war ihnen lächerlich.« – »Lächerlich? Else? So ein Wort gibt es in der ganzen Bibel nicht.« Else wurde verwirrt. »Doch!« flüsterte Luftpeterchen. »Doch!« wiederholte Else mit großer Sicherheit. Piepkorn sprang auf das Katheder, legte Rohrstock und Fiedelbogen beiseite und blätterte im heiligen Buche. Wahrhaftig, da stand es, genau wie Else es gesagt hatte. »Setz' dich zehn hinauf, Else! Ei, ihr faulen Kinder, da nehmt euch ein Beispiel dran. Elselein hat schön und brav gelernt!« Aber es sollte noch toller kommen. Jede Frage beantwortete Else mit ihrem allwissenden Helfer im Rücken wörtlich nach dem Bibeltexte. In der folgenden Stunde aber gab sie so erstaunliche Proben einer nie dagewesenen Rechenkunst, daß der alte Piepkorn ein über das andere Mal sich an den Kopf faßte, mit den Händen in der Luft gestikulierte und vor Staunen hin und her rannte. Als aber Else vielstellige Zahlen aus dem Kopfe richtig addierte, multiplizierte und dividierte – Summen, die Piepkorn erst mühsam an der Tafel nachrechnen mußte – da war es aus mit seiner Fassung, er stürzte aus der Klasse und kam wieder mit seinem Eheweibe, einer würdigen und sehr rundlichen Haubendame, die die Röcke hochgeschürzt und um die Taille zu einer dicken Rolle gewulstet hatte und die nackten Arme herausfordernd in die Seite stemmte. Hinter ihr schritt der Pfarrer, ein hagerer, bartloser Mann.

»Höre einmal zu! Hören Sie, Herr Pfarrer!« rief eifrig mit vom Laufen gerötetem Angesicht der atemlose Piepkorn. Er fragte die Else kreuz und quer. Sie war nicht zu verwirren. »Nein, so was –,« sagte das Eheweib. »In der Tat! Ein Wunderkind!« meinte der Pfarrer. »Lassen Sie mich einmal fragen, Piepkorn,« sagte er. Er ließ sie das Glaubensbekenntnis, die zehn Gebote, die Schöpfungsgeschichte, Gesangbuchverse hersagen. Alles war richtig. »Sing' einmal, Else!« sagte Piepkorn und begann auf seiner Geige einen Choral zu spielen, zu dem Else mit einer so lieblichen Stimme harmonisch begleitete, daß allen Zuhörern ganz weich ums Herz wurde, denn es klang überirdisch schön. Else sang bald die Melodie und bald die begleitende Stimme. Nun war aber Piepkorn ein schwärmerischer Musikus und intonierte nacheinander Volkslieder und Arien und schließlich spielte er frei, was ihm gerade einfiel, und Else und schließlich auch Luftpeterchen fast unhörbar sangen so schön und rührend mit hinein, daß es ein förmliches Konzert wurde. Die gutmütige Lehrerfrau wischte sich die Augen und der Pfarrer faltete die Hände. Ganz entgeistert schritt endlich Piepkorn auf das Kind zu, streichelte ihm das weiche Haar und küßte es auf die Stirn. Das war ein Triumph für Else – die mißachtete, übersehene, zurückgesetzte – der sie völlig übermannte. Ihre Augen standen voll Tränen, und in Demut schritt sie aus der Tür und machte sich auf den Nachhauseweg.

»Warum bist du so traurig, Elselein?« fragte der sie begleitende Aldebaran. »Weil das ja alles nicht wahr ist!« schluchzte Else. »Wir betrügen ja die Leute! Von jetzt ab weiß ich alle die schönen Dinge nicht mehr!« »Doch, mein Kind!« sagte Luftpeterchen. »Zuvörderst denke, ich sei du selbst, dir zugehörig. Viele Leute haben so einen Luftpeter bei sich, wie du, sie sehen ihn nur nicht so vor sich und halten seine Stimme für die ihres Gewissens, ihrer bösen oder guten Doppelseele. Ich kenne welche, die sprechen über ihre Absichten ganz laut mit ihrem Luftpeter; ist er dagegen, so sind sie dafür, und umgekehrt, und so kommt vieles zum Ausruhen und zum Gleichgewicht der Seele. Es sollte jeder genau wissen, welcher Art sein geheimnisvoller Mitwanderer und Schrittmacher ist. – Was ich dir einmal gesagt habe, vergißt du nie wieder! Soll ich die Probe machen?«

Und da zeigte es sich zu maßloser Freude des Kindes, daß sie alles getreu behalten hatte, die Rechenexempel, die Religionsgeschichten, die Verse, die Lieder. Da wurde sie froh und heiter und schritt rüstig aus auf der Chaussee, die sie schon längst erreicht hatten.

Der Himmel war verfinstert, die Natur lag still und verschüchtert, kein Blatt regte sich in den Birken, die den Chausseeweg umsäumten. Auch der angrenzende Wald lag wie im Bann, als halte er den Atem an. Als Elselein sich einmal wie zufällig umdrehte, gewahrte sie in der Ferne eine hohe Staubwolke, wie wenn eine Reiterschar heranjagte. Sie achtete dessen nicht weiter und war daher um so erstaunter, als unmittelbar danach unter lautem Getöse von klappenden Hufen und schnaubenden Pferden ein sonderbares Gefährt blitzschnell herankam und mit einem plötzlichen Ruck just neben ihnen anhielt. Es war eine große, mit Gold und Silber reich verzierte, altmodische Equipage, gezogen von vier feuersprühenden Rappen. Ein kohlschwarzer, riesiger Mohr im Turban lenkte die schnell geöffnete Karosse. Als dem Kutschenschlag ein sehr blasser, vornehmer Kavalier mit Glanzhut, Frack und gespornten Stulpenstiefeln entstieg, erblaßte Aldebaran und sah ihm starr ins Gesicht. Elselein hörte deutlich wie er murmelte: »O weh! Du arbeitest schnell und sicher, alte Hexe! Das ist das Werk der Köhlerfrau!«

Der elegante Herr warf einen drohenden und triumphierenden Blick auf den tief Erschrockenen und sprach: »Heute hast du verspielt, Aldebaran!« Dann sagte er zu Elselein gewandt, mit einschmeichelnder Stimme: »Mein liebes Kind, steig' in diesen Wagen! Für kurze Zeit sollst du meiner schönen, aber kranken Tochter Gesellschaft leisten; du nur kannst sie gesund machen. Laß meines Sohnes Bitte die meine unterstützen!« – Aus dem Wagen sprang jetzt ein etwa zwölfjähriger, bildschöner Knabe mit Sammetjackett und Spitzenkragen. Elselein war wie gebannt von der Schönheit dieser tiefblauen Augen, aus denen sich etwas wie geheimes Leid flehend hervorzuringen schien. Der Knabe trat artig heran und nahm Else mit vollendetem Anstand eines kleinen Herrn von Welt bei der Hand.