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Dies ist die Autobiographie des deutschen Chirurgen und Erfinders der Infiltrationsanästhesie. Neben seinem Medizinerdasein betätigte Schleich sich schon früh als populärwissenschaftlicher Schriftsteller und Philosoph.
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Seitenzahl: 418
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Besonnte Vergangenheit
Karl Ludwig Schleich
Inhalt:
Karl Ludwig Schleich – Lexikalische Biografie
Besonnte Vergangenheit
Nest und Geburt
Schule und erste Abenteuer
Kalkofen und die Heimat meiner Mutter
Mein Vater
Onkel Boysen, der Prinz von Dänemark
Stettiner und Stralsunder Jugendzeit
Konrektor Freese
Zürich und Gottfried Keller
Studium beim Vater und das Physikum in Greifswald
Unter Bernhard von Langenbeck in der Ziegelstraße
Ernst von Bergmann
Erinnerungen an Rudolf Virchow
Der Arzt in statu nascendi
Das Staatsexamen und Sprung in die Chirurgie
Belle-Alliance
Strindberg-Erinnerungen
Werkstatt-Hämmern
Paul Ehrlich
Unersetzliche Verluste
Erinnerungen an Richard Dehmel
Schluß-Bemerkungen
Abbildungen
Bildanhang
Besonnte Vergangenheit, C. L. Schleich
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN:9783849635350
www.jazzybee-verlag.de
Mediziner, geb. 19. Juli 1859 in Stettin, verstorben am 7. März 1922 in Bad Saarow. Studierte in Zürich, Greifswald und Berlin, war Assistent bei Virchow, Helferich, Senator und Olshausen, errichtete 1889 in Berlin eine chirurgische Klinik und Poliklinik und wurde 1899 zum Professor ernannt. 1900 war er Leiter der chirurgischen Abteilung des Kreiskrankenhauses in Großlichterfelde. S. entdeckte die Infiltrationsanästhesie und tat sich auch auf dem Gebiete der Wundheilung mit weitgreifenden Reformen hervor. Er erfand das Glutol und andre Heilmittel und die atoxische Wundbehandlung mit Chloroform und Alkohol. Bemerkenswert sind seine mehr philosophischen Studien und Beiträge zur Mechanik seelischer Vorgänge. Er schrieb: »Schmerzlose Operationen. Örtliche Betäubung mit indifferenten Flüssigkeiten. Psychophysik des natürlichen und künstlichen Schlafes« (Berl. 1894, 5. Aufl. 1906); »Neue Methoden der Wundheilung« (2. Aufl., das. 1900); »Die Selbstnarkose der Verwundeten« (das. 1906).
Meinen Schwestern
Käthe und Gertrud
gewidmet
Einem frohen Wandersang
Bin ich nachgegangen,
Den am mächt'gen Strom entlang
Schilf und Wiesen klangen.
Ach! an manchen Ort vorbei
Trug mich früh mein Stecken!
Daß er mehr, als Heimat, sei,
Konnt' ich nicht entdecken.
Erste Jugend
In der alten Oderstadt Stettin, am 19. Juli 1859 mittags um 12 Uhr, an einem Sonntage, soll ich das Licht der Welt unter mächtigem und nachhaltigem Sträuben gegen meine Existenz erblickt und den Eintritt in dies Tal der Tränen, wie ich gestehe, völlig unbewußt vollzogen haben. Ich habe entsetzlich geschrien, und ich weiß mich des Grundes meines auffälligen Unbehagens wirklich nicht mehr zu entsinnen. Ich habe nur einen einzigen, aber wirklich zuverlässigen Zeugen für die Geschehnisse im Beginn meiner Lebensbahn, dessen Aussagen zu bezweifeln ich ein ganzes Leben hindurch keinen Grund gefunden habe, – meine Mutter. Sie hat die Sache so dargestellt, als habe ich mich von Beginn an höchst undankbar gegen das Lebensgeschenk und seine Spender benommen, zumal ich mit viel größerer Freude und Genugtuung begrüßt worden sei als meine beiden Vorläufer, meine Schwestern Anna und Käthe. Ja, in gewisser Weise war ich für meine Mutter sogar eine Art Erlösung und Entsühnung. Mein Großvater Schleich war nämlich so grausam, meine arme Mutter seit der Geburt meiner Schwestern kaum noch anzusehen; er verachtete sie, weil sie ja doch »nur Mädchen« zur Welt bringen könne. Diese Ungnade, in welche meine Erzeugerin, glaube ich, völlig schuldlos gefallen war, hob ich mit meinem Erscheinen glücklicherweise auf; ich gestehe aber, daß auch alle meine späteren, hier und da gerühmten Freudebereitungen sich im Grunde genau so unbewußt und verdienstlos, gewissermaßen automatisch, vollzogen haben wie diese erste. Was ist das aber eigentlich für eine barbarische Handlungsweise, einer Schwiegertochter seine väterliche Gunst so lange vorzuenthalten, bis sie einen Jungen zur Welt gebracht hat? Hat die ganze Welt, Mann und Frau, wirklich die stillschweigende Ueberzeugung von der höheren Wertigkeit des Männlichen? Meldet sich schon so früh die Sorge um ein rechtzeitiges Ringelein? Oder soll durchaus der Familienname erhalten bleiben? Genug, ich persönlich muß es also als einen hohen Glücksfall betrachten, daß ich ein Knabe war, als ich ventre à terre (Zeugnis meiner Mutter und meiner Hebeamme – mein Vater hatte sich angeblich anderer Berufspflichten wegen der Zeugenschaft entzogen) zur Welt kam, nur um zu versuchen, sie sofort unter Protest mit Händen und Füßen wieder von mir zu stoßen. Sie erwies sich als die stärkere von uns beiden. Und so blieb ich auf ihr zurück, wenngleich ich in meiner Jugend später noch vielfach alle möglichen Versuche machte, mich ihr auf dem Wege recht zahlreicher Kinderkrankheiten wieder stillschweigend zu entziehen. Meine Kronzeugin sagt aus, ich sei eigentlich immer krank und darum ein sehr schwächliches und zartes Kind gewesen bis zu den Flegeljahren, von wo ab es sich merkwürdigerweise rapide mit mir gebessert habe. Wie dauerhaft kann ein Organismus werden, der anfangs gleichsam nur mit Treibhauspflege zu einer gewissen Bodenständigkeit heraufgepäppelt werden muß. Denn ich habe eine zweite Kronzeugin, meine Gattin dafür, daß ich schließlich als mit einer Bombennatur begnadet mich erwiesen habe. Ich nehme an, daß hier die Mutterliebe allerdings in starker Konkurrenz mit der meiner alten Pflegerin aus unserem Heimatsdorf mütterlicherseits auf der Insel Wollin, die 13 Jahre meine Beschützerin gewesen ist (Berta Gehm hieß die Gute), dafür das meiste getan hat. Sicher kann die Mutterliebe außerordentlich dazu beitragen, die Konstruktionsfehler der Anlagen solcher gepäppelten kleinen Maschinchen zu kompensieren.
Freilich war ich ihr Sorgenkind und bin es leider auch bis in ihr sehr hohes Alter geblieben. Sie wurde 86 Jahre alt. Wie vieles muß ich ihr jetzt abbitten, wenn ich hinauswandle auf den Kirchhof zu Stahnsdorf bei Wannsee zu ihrem Grabe, um immer den gleichen, bekümmerten Schmerz vor dem Blumenhügel zu empfinden, wie alle Grabbesucher, nicht darüber allein so sehr, daß die Lieben nicht mehr sind, als vor allem darüber, daß noch keiner den Geschiedenen so viel Gutes getan hat, als sie es um uns verdienten. Erst wenn man jemand verloren hat, fühlt man ganz deutlich, wieviel an Liebestaten man versäumte.
Meine Familie stammt letzten Endes aus Bayern. Laut Mitteilung meines Vaters wanderte im 17. Jahrhundert ein merkwürdigerweise protestantischer Pfarrer, Christian Schleich, aus München nach Freienwalde an der Oder aus. Wir pommerschen Schleichs, seine Nachkommen, sind also mit den Münchener Malern Schleich verwandt, was mich angesichts der hohen Künstlerschaft eines Eduard, Ernst und Robert Schleich mit Stolz erfüllt, auch erklärt, warum das Malen- und Zeichnenmüssen mir und meinem Bruder, vor allem meinem Onkel Hans Schleich, dem bekannten, sehr bedeutenden Seemaler und Landschafter im Blute steckte. Die pommerschen Schleichs kamen dann in die Umgegend Stettins. Um 1780 herum gab es eine berühmte Kornspeicherei von »Goldammer und Schleich« bei Stettin, die einer meiner Vorfahren begründet hatte. Noch heute gibt es einen Volksliedvers, der darauf hindeutet. Er lautet:
Jo! Wer da wohnt up de Wyk (Vorstadt von Stettin),
De is so rik
As »Goldammer und Shlyk« (Schleich).
Dieser kaufmännische Sinn muß vollständig verkümmert sein. Mütterlicherseits sind wir ganz reine Niedersachsen. Die Familie Küster stammt aus Mecklenburg, der älteste aufspürbare Ahn war ein Dorfschulmeister in Malchin. Die folgenden Vorfahren mütterlicherseits waren Bauern, Fischer, Ansiedler um das Stettiner Haff und auf der Insel Wollin. Die Familie meiner mütterlichen Großmutter, Haushalter, war lange in der Stadt Wollin, in deren Umgebung die alte Stadt Vineta versunken sein soll, ansässig. Eine richtige Bürgermeisterfamilie.
Ehe ich mich an den Versuch, mein Elternhaus zu schildern, heranwage, möchte ich einiges über meine alte Vaterstadt selbst berichten, wie ja auch zu einer richtigen Naturbeschreibung eines Vogels zunächst der Baum oder Strauch gehört, auf dem er nistet, bevor die Struktur des Nestes erörtert zu werden pflegt. Aus Bau und Art beider kann manches auf die Lebensweise des Erbrüteten erschlossen werden.
Stettin, die alte Wendenfeste, ist eine echte Hafenstadt am Abhang des mit schwerem Laubwald tief umhüllten uralisch-baltischen Höhenzuges. Es liegt zu beiden Seiten der Oder, deren mehrere Arme Teile von ihm inselartig umfassen. Der breite, nur träge, grau und lässig dahinfließende Strom durchquert die Altstadt direkt nach Norden, links und rechts von Hafenanlagen, Werften, Villen und bergigen, schön bewaldeten Vororten umrahmt, die bald auf der rechten Seite von flachen Wiesen abgelöst werden. Der Strom erweitert sich dann in einen großen See, dem Dammschen, und das breite Papenwasser, um dann mächtig in das Haff auszuladen. Diesem Haff und seinen drei fächerartig gespreiteten Armen: Peene, Swine, Dievenow werfen sich die Inseln Wollin und Usedom dammartig entgegen und trennen das Haff von dem Meer der Pommern, Balten und Skandinavier, der Ostsee. Die Insel Wollin war die Heimat meiner Mutter, woselbst sie mit 12 Geschwistern eine auch mein Leben sonnig überstrahlende Jugend genoß, deren die ganze kinderreiche Sippe in dem Dorfe Kalkofen auf den Besitzungen meiner Großeltern und Onkels bis zu unserer Reise wie eines großen Glückes teilhaftig wurde. Meine ganze Jugend war eine Glückspendet-Bewegung zwischen Stettin und dieser herrlichen Insel Wollin, von der das sommerreisende Publikum ja nur ein kleines Stückchen um Misdroy herum lieben gelernt hat. Von den schönen Wundern ihres Innern werde ich noch vieles zu berichten haben. Sie ist mein Ithaka der Jugend, das die Erinnerung mit allen Zaubern des ständigen Heimwehs umwoben hat. Stettin ist bergig auf der Westhälfte und fällt ziemlich steil zum Hafen ab und trug in meiner Jugend noch vornehmlich das Gepräge einer echten Fischer- und Kommerzstadt. Die ganze blühende Entwicklung vom vorherrschenden Großsegel- und Vollschiff bis zum mächtigen Kauffahrteidampfer und den häuserhohen Ozeanriesen habe ich miterlebt. War doch der »Vulkan«, diese weltberühmte Werft, eine Hauptproduktionsstätte größter Dampfer und Kriegsfahrzeuge für aller Herren Länder. Eng waren wir Schleichs mit dem Vulkan verwachsen. Nicht nur, daß mein Vater Augenarzt an diesem Institut war, in dem Tausende von Arbeitern den Stahl zu Schiffsrippen, Rumpfgliedern und Maschinenkesseln umschmolzen, ihn weißglühten, hämmerten und nieteten, was wir Jungen alles eifrig mit ansahen, auch die leitenden Persönlichkeiten waren uns verwandt oder wenigstens eng befreundet. So meine Oheime Schneppe und Koppen, von denen der erstere Aufsichtsrat und der andere ein Jahrzehnt und länger der erste Direktor der Werft war, so Albert Schlutow, der Liebling Kaiser Wilhelms II. (er hieß im Schloß nur »Onkel Schlutow«, genau wie bei uns). In welche naive Zeit meine erwachende Jugend noch hinausreicht, beweist ein von mir in jungen Jahren belauschtes und bewahrtes Gespräch, das zum Streit anschwoll, zwischen meinem Vater und Onkel Schneppe, einem Vatermörderkragen-Original von eigentümlichster Römerkopfprägung, wie es dazumal in Stettin viele gab, urwüchsig, derb, rückständig bis in die Puppen, aber lebetoll und ein Schwerenöter. Ich höre ihn noch über den strittigen Schiffsbau also sprechen: »Karl, dat is ja 'n Unsinn mit den Eisenschiffen! Dat weiß doch jedes Kind: Holz schwimmt woll, Eisen versinkt. Et is unmöglich, dat sich eiserne Schiffe über Wasser halten!« Sonderbar. Er hat in gewissem Sinne für seinen beschränkt stettinischen Standpunkt recht behalten! Denn Stettin hatte wahrlich damals kein Glück mit seinen großen heimatlichen Eisenschiffen. In meiner Jugend bildete sich eine Stettin–New-Yorker Passagierdampfer-Verbindung, der »Baltische Lloyd« genannt. Drei prachtvolle, große Ozeandampfer dieser Gesellschaft, alles Schiffe des Vulkan, versanken hintereinander, zwei davon ohne jede Kunde, eins, an die norwegische Küste verschlagen, mit Mann und Maus! Wieviel Hunderte der schönsten und berühmtesten Seekolosse liefen später auf der Vulkanwerft vom Stapel, diese drei heimischen Riesen erwürgte die Flut! O, wie viele Großfeste haben wir als Kinder mitgemacht, die Stapelläufe der berühmtesten Amerikafahrer der Welt und die herrlichen Stammesriesen unserer aufblühenden, wappenstolzen Marine, die nun jetzt am Grunde der See oder in fremden Häfen entehrt und entfahnt trauern. Diesen Trümmerbruch einer Jugendhoffnung unseres Vaterlandes, die ich wachsen und blühen sah mit eigenen Augen wie mein eigenes junges Leben –, diesen Schmerz eines echten Hafenkindes werde ich niemals verwinden. Ja, glühend, staunend haben unsere Kinderaugen gehangen an dem einen kurzen Tau, nach dessen Kappung, wenn die Champagnerflasche aus königlicher Hand gegen den Schiffsbug geschleudert, schäumend barst1, der Koloß zu zittern begann, furchtbar drohend kaum merklich ein wenig seitlich hin- und herschwankte und nun wie ein Seeungeheuer rückwärts hineinglitt in die Flut, aus deren Geist und Wesen ihn Menschengeist erschaffen! Wie stolz fühlten unsere Kinderherzen hier dutzendfach Reich und Heimat sich gleichsam hineinbohren in die große Welt zur Ebenbürtigkeit der Nationen – und nun? Wann wird der deutsche Siegfried ein solches Schwert wieder schmieden können, wie es die schöne deutsche Flotte war, für deren Bau die Hände meiner Landsleute so viele Jahrzehnte Schwielen trugen?
Natürlich lagen wir Jungen ständig auf dem Wasser oder trieben uns im Hafen, am Bollwerk in nicht immer holdester Eintracht mit den eingeborenen Bollwerksbrüdern umher, da es überall etwas an Ueberseewaren zu bestaunen, studieren, stibitzen und zu naschen gab. Da galt es Johannisbrot, Mandeln, Apfelsinen, Zuckerkand, Rohrzucker, Lakritzen und allerhand Gewürze zu mausen. So verlief meine erste Jugend ziemlich kriegerisch in Gemeinschaft von Räubergenossenschaften und Bummlergesindel, da meine Eltern meiner Erinnerung nach bis in meine bewußten Jahre auch nicht den leisesten Versuch gemacht haben, mich standesgemäß zu erziehen, wofür ich ihnen von Herzen danke, denn ich habe mir aus dieser Zeit des Verkehrs mit Schnapphähnen, Bowkies und Latschenträgern, deren futuristisch-kubistisch geflickte Hosen eine sonderbare Neigung besaßen, ständig abwärts zu rutschen, eine gewisse Vorurteilslosigkeit gegen Standesunterschiede und eine gewisse Vorliebe für die Enterbten der Nation bewahrt, nebst der humoristisch-fatalistischen Neigung, irgendein herannahendes Schicksal ruhig auf mich zukommen zu lassen wie den Schutzmann des Bollwerks. Aus zahlreichen Bollwerks- und Straßengefechten, namentlich auf den Abhängen der »Grünen Schanze«, wurden strategisch sorgsam vorbereitete Straßenschlachten mit Besenstielen und Faßreifen, die prächtige runde Husarensäbel abgaben, entwickelt; aus vielen solcher Renkontres, bei denen es häufiger Zahn um Zahn als Auge um Auge ging, habe ich mir eine gewisse Zuversicht in allen Kampflagen erworben, aber auch eine deutliche respektvolle Hinneigung zu meinen Feinden; denn wenn wir uns auch prügelten, wir hatten uns doch ganz gerne, und so habe ich auch meinen zahlreichen und manchmal nicht sehr zarten Gegnern im Lebenskampfe nie so recht bös sein können. Von den Jugendkampfspielen her wußte ich, man vertrug sich ja doch schließlich wieder, und es kam immer eine Zeit, in der »alles nicht gewesen sein mußte!« Vielleicht wissen wir Männer gar nicht, wie lange wir eigentlich »Jungens« bleiben und mit den ernstesten Dingen ein leider viel zu wichtig genommenes Spiel treiben. Nur wenn man die Wissenschaft allzu ernst nimmt, wird man bös. Bewußtsein der Lustigkeit des Gedankenspiels macht gütig und tolerant. Auch blieben natürlich zur Milderung unserer Sitten romantische Aventüren mit den nicht immer appetitlichen Schwesterchen unserer Feinde keineswegs aus, und ich entsinne mich mancher Wanderungen in den alten, streng gesperrten Festungswällen und über die Kasematten der Garnison mit Beutegeschenken, Räuber- und Pfänderspielen, Blumenpflücken und Liebkosungen aller Art auf diesen Zügen in Scharen und zu Paaren.
Ein gütiges Geschick hat mir diesen Zug ins Romantische bewahrt und mir bis in mein hohes Alter dieses echt deutsche Schweben durch die Dinge und über ihnen nicht verleidet, ein deutliches Gefühl, als sei dies Leben und seine Erscheinungen nicht das allein Erreichbare, sondern als gehe noch etwas Unerkennbares da mit und nebenher, ja, als sei alles gar nicht so wirklich, wie es scheine. Ich erinnere mich, daß wir darüber schon früh nachdenkliche Reden, im Grase sitzend, führten, daß man doch eigentlich gar nicht wissen könne, ob nicht immer »Wer« mit einem gehe, eine Vorstellung, die sich dann in meinem lieben Freunde und späteren Schwager Paul Oelschlaeger schon früh in der drolligen Vorstellung eines ihn ständig begleitenden »Luftroberts« verdichteten und die ich in meinem Traumroman, »Es läuten die Glocken« zu seinem Gedächtnis poetisch auszuwerten versucht habe. In unsern Spielen blühte überhaupt bisweilen eine gewisse Geistigkeit und Frühreife, eine Art spöttischen Kritizismus und eine Naseweisheit auf, die ich mir nicht anders erklären kann, als mit dem Ab- und Nachglanz einer Art geistiger Klassizität Stettins, die um das Jahr 1840 dort einsetzte und über 20 Jahre eine Hochspannung geistig-künstlerischen Lebens erzeugte, die mich aus den Erzählungen meiner Eltern und älteren Verwandten stets angemutet hat, als habe sie etwas von Weimarer Luft ausgestrahlt. Diese Periode in Stettins Entwicklung verdient einmal beleuchtet zu werden, zumal ich glaube, daß diese Blütezeit meiner Vaterstadt auf uns »jüngeren Stettiner« damals von einem sehr erheblichen Einfluß gewesen ist. Nicht, als ob um eine geistige Persönlichkeit vom überragenden Schlage eines Goethe sich die intellektuellen Kreise konzentriert hätten oder als ob eines Fürsten Mediceertum die Geister besonders angezogen hätte, aber es war damals in Stettin eine Schar hochbedeutender Männer und Frauen vereinigt durch die Gunst der Zeit, deren Namen auch weit in die Lande hinausleuchteten. Der Balladen-Komponist Carl Löwe, Organist an der St. Jakobi-Kirche, in deren Orgel, in der Höhlung der großen C-Flöte, in goldener Kapsel sein Herz laut testamentarischer Bestimmung eingemauert ist; der Komponist herrlicher gemischter Chöre, Ferdinand Oelschlaeger, der Großvater meiner Frau, dessen in der Musikliteratur einzigartige Meisterquartette einst in Pommern und in der Mark populärer waren als die Mendelsohns und sie an Feinheit und Originalität der Stimmführung weit überragen. Der Historiker Schmidt, der Dichter Ludwig Giesebrecht, ein Lyriker und Epiker ersten Ranges, dem Franz Kern eine prachtvolle ästhetische Würdigung in einem vergriffenen Werke zuteil werden ließ, ein Mann, der – man lese ihn nur – wahrhaft Goethesche Töne hatte und der Carl Löwe unzählige Texte zu Liedern, Balladen und Oratorien lieferte. Dann war da ein Universalgenie, Robert Graßmann, der, eine Autorität im Sanskrit, zugleich ein perfekter Musiker und ein weltberühmter Physiker, Mathematiker und Philosoph war, den die französische Akademie zu ihrem Ehrenmitgliede ernannte. Leider war er beim Empfang der Ehrung schon tot. Da war der hochgeistige Gymnasialprofessor Calo, ein förmlich mystischer Mann, den, groß, schlank, blaß, mit schneeweißem, hutlosen Haupt in eigentümlich griechisch wallendem Faltenmantel ich noch oft in seiner imponierenden Erscheinung über den Roßmarkt wandeln gesehen habe. Calo hatte Weltreisen gemacht, war ein Mysterium-Sucher, hatte einen sonderbar faszinierenden Einfluß laut Schilderungen meines Vaters und anderer auf die Stettiner Gymnasialjugend, die für ihn begeistert war und von ihm etwas wie griechisches Weinlaub um die Stirne gewunden und einige Tropfen vom Safte des Dionys ins Blut geträufelt erhielt. Calo hat sonderbare Novellen und tiefinnige Sonette verfaßt, die ich unter dem Einfluß der Schwärmereien meines Vaters und meiner Oheime verschlang und von denen ich noch heute nicht begreife, daß sie nicht ihren Siegeszug durch die Welt genommen haben. Eine Stadt mit merkwürdiger Physiognomie war Stettin. Sie tat von je nie etwas für ihre großen Söhne, sie ließ ihren Ruhm in ihren Mauern eingeschlossen, tat, als ob es gar nichts wäre, einen Löwe, einen Giesebrecht den ihren zu nennen, ließ ihre Sterne aber nicht über ihre Vorwerke hinausleuchten, besaß aber zugleich einen so hohen Stolz über ihre Geistigkeit, daß ihr von außen, von Berlin schon gar nichts recht imponieren konnte, wodurch sie lange Zeit für produzierende Künstler ein verhaßter und gefürchteter Boden war. Der Ton in Stettin war »überkiekig«, snobbistisch noch bis in meine Jünglingsjahre hinein. Nur nichts Fremdes anerkennen! Das hatten wir ja Gott sei Dank alles bei uns selbst. Es war erstaunlich für uns Jüngere zu hören, daß den richtigen Stettiner Logenbrüdern es gar nicht besonders imponierte, daß allsonnabendlich in der Loge ein gewisser Carl Löwe mit einem neuen Manuskript angezogen kam und den Brüdern eine frisch gesetzte Ballade so »Nach Tisch« vortrug, die sie auch wirklich »recht hübsch« zu finden geruhten, und es paßt ganz gut zu diesem selbstbewußt stettinisch kühlen Ton des Ansichherankommenlassens, daß viele alte Stettiner noch spät verwundert waren, daß »unser Carl Löwe« so etwas wie ein klassischer Genius gewesen sein solle. »Is woll nich möglich? Das kleine Männchen? Na, ja.« usw. Es paßt ganz gut dazu, daß die damaligen Väter der Stadt diesem Heros der Ballade glatt den Abschied gaben, als er nach mehr als fünfzig Dienstjahren, krank bis ins Mark, um einen Erholungsurlaub bat, noch dazu mit schäbiger Pension. Mögen sie sich im Grabe umdrehen vor Schmach und Schande! Mögen sie es verantworten, daß der Komponist ganz unsterblicher Gesänge, Ferd. Oelschläger, im Winter mit seinen Söhnen das Eis der Waschschüsseln mit dem Stiefelknecht aufschlagen mußte. weil sie zu arm waren, um sich Heizholz halten zu können, und mögen sie es rechtfertigen, daß derselbe Mann, der von seinem Könige für ein herrliches Hohenzollern-Quartett goldene Dosen erhielt, fast Hungers starb und doch in stiller Größe himmlische Weisen der Orgel der kleinen Schloßkirche am Königstor entlockte! Sie haben es nicht gesehen, welch ein echter deutscher Meister er war, eine dankbare Nachwelt wird ihn neu entdecken. Sie haben nicht gewahrt, daß ein komplettes Genie, der alte Dohrn, der Vater des weltberühmten Neapeler Zoologen Anton Dohrn, unter ihnen dichtete, komponierte, entdeckte. Er hat mehrere Bände spanischer Dramen herausgegeben und eigene gedichtet, Volksliedersammlungen aller Herren Länder veranstaltet, unzählige naturwissenschaftliche Originalarbeiten geschrieben und wie ein echter Musensohn gesiedelt, gesungen und die Welt durchwandert: überall froh begrüßt und geehrt. Nur Stettin, seine Vaterstadt, hat nicht gewußt, wie genial er war, nur daß er ein schnurriger Kauz schien. Ein Trotzkopf von Stadt. Alles selbstverständlich und »na! so doll ist's doch woll nich!« Die Goldammer, eine feinsinnige Dichterfrau, gab Oelschlaeger Lieder, die man in jeder Hütte, auf dem Wasser, im Walde überall vierstimmig in reinem Satz noch in meiner Jugendzeit erschallen hören konnte. Die Zitelmanns, einer immer geistiger, klüger und musikalischer als der oder die andere, deren Sproß, Conrad Telmann, ein selbst in Stettin anerkannter Dichter war, von denen heute noch Käthe und Valerie Zitelmann in Berlin leben und weithin wirken als Schriftstellerinnen und Gesangspädagoginnen. Ferner der Komponist Heinrich Triest, dessen schöne, ein-und mehrstimmige Gesänge, kaum verlegt, tausend Herzen in Pommern höher schlagen ließen. Robert Prutz, der Dichter Kugler (»An der Saale hellem Strande« und »Gregor am Stein«) und einer der Herrlichsten, der alte Glagau, ein Lehrer der weiblichen Jugend, den Tausende von Stettiner Müttern im Herzen getragen wie ein Kleinod ihrer geistigen Heimat. Da war der alte Mahnke, ein Repräsentant des ehrenfesten Bürgertums, ein klassischer Junggeselle von höchster geistiger Feinheit, ein schlichter Weinhändler, der aber komponierte, mit einem wundervollen Sarastrobaß, ein alter treuer Ekkehard der Jugend Stettins in meiner Kindheit, der Typus von Biederkeit und Herzensgüte, der den besten Charakteren in »Soll und Haben« oder in den »Buddenbrocks« völlig ebenbürtig zur Seite steht. Noch oft schauen wir dankbar verehrend zu seinem schönen Porträt auf, das wir besitzen, denn er war der Patenonkel meiner Frau. Da waren die »Ivers«, eine Musikfamilie, deren acht Mitglieder ich noch das Mendelsohnsche Oktett herunterfiedeln gehört habe. Schlutows, die sehr feingeistigen Geldaristokraten der Stadt, Grunows und Plüddemanns, deren Sproß Martin Plüddemann, der einzige ebenbürtige Erbe und Vermehrer Löwes, der von Richard Wagner als der bedeutendste seiner Schüler bezeichnet wurde, der in Stettin kaum bekannt, schließlich versunken und vergessen noch heute auf eine Nachblüte seiner unsterblichen, mehr als 5 Bände umfassenden Werke harrt. Sie wird kommen, so gewiß wie auch Löwe noch einst zu den größten Klassikern gerechnet werden wird. Von Adolf Lorenz, Löwes Nachfolger im Amte, hätte ich noch besonders zu sprechen; auch ihn haben sie nicht ganz gewürdigt.2 Da waren die Kritiker Koßmaly, Nathusius, Robert Seidel, alle auch aktiv musikalisch. Da die Wilsnachs, Steffens, die Behms, deren Sprossin Rosa mein hier reproduziertes Kinderporträt gemalt hat, und von denen Eduard Behm einen hochgeachteten Namen in der Kunstwelt sich errungen hat.
Es gab hier trauliche Kunstneste in Familienkreisen von einem geistigen Kaliber, daß man in der Metropole mit Laternen suchen kann, ohne eine solche Fülle von Geistigkeit und künstlerischem Niveau zu finden.
Von dieser klassischen Epoche Stettins, der nachzuspüren sich auch kulturhistorisch wohl einmal lohnte, wehte noch ein vergoldender holder Hauch in meine Jugend hinein. Mein Vater sprach viel und mit einem gewissen Begeisterungsblick von dem Glanz jener Tage, und es mag wohl sein, daß die anbetende Verehrung, mit welcher er trotz eigener ungewöhnlicher Begabung aufsah zu seinen großen Lehrern und Zeitgenossen, von erheblichem Einfluß auf meine hochgespannten geistigen Sehnsuchten gewesen sind. Das war jedenfalls ein Kulturboden ganz erlesener Art, auf dem das Pflänzlein meiner Wichtigkeit wohl üppiger hätte gedeihen können. In unserem Besitz ist noch ein Dokument aus dieser Zeit, welches Bände spricht von dem Stil jener Blütentage Stettins: ein Opernbuch, in Stettin gefertigt, ein Erinnerungsalbum, welches eine freie Dilettantenvereinigung, »der Opernverein«, geschaffen hatte. In wundervollen Aquarellzeichnungen sind die einzelnen Opern und ihre Mitwirkenden initialenhaft festgehalten – die schönen Zeichnungen und Blätter erinnern an Menzels Adressen –, welche von den Sängern und Spielern im Familienkreise aufgeführt wurden. Darunter figurieren: »Die Zauberflöte«, »Don Juan«, »Jessonda«, »Templer und Jüdin«, »Fidelio«, die, wie die Altvorderen berichten, schöner als irgendwo auf der Bühne besetzt waren, ausschließlich von Mitgliedern dieser einzigartigen Vereinigung, welche als Dirigent Ferdinand Oelschlaeger zusammenhielt, der aus der Orchesterpartitur akkompagnierte, und dem neben ihm sitzenden Sohne, wenn er nicht rechtzeitig die Notenblätter umschlug, immer noch Zeit fand, trotz Partiturenlesen und Dirigieren, eine sanfte Ohrfeige zu applizieren. Auf welcher Höhe muß das Können dieser Dilettanten gestanden haben, wenn eines Tages bei der Erkrankung des Tenors am Stadttheater ein Mitglied derselben ohne Vorbereitung in Lortzings »Waffenschmied« mit vollem Erfolge einsprang. Hier sang auch als junger Mann mein Oheim Hans Schleich mit, der ein in ganz Deutschland hochberühmter Tenor wurde, nachdem er von dem Tenorkönig Roger in Paris auf Kosten meines Vaters ausgebildet war. Ich habe ihn noch als Kind als Raoul in den »Hugenotten«, als George Brown und als Joseph in Aegypten auf dem Stettiner sehr schönen Stadttheater singen hören. Ich erinnere mich noch deutlich des eigentümlichen Gefühls über das stolze Bewußtsein, daß der, der da so himmlisch schön sang, daß das Publikum aufsprang und zu rasen begann, mein Onkel sei. Ich fühlte mich völlig verantwortlich für seine gewaltigen Triumphe. Einst kam er mit dem gefeierten Champion des Gesanges, jenem weltberühmten Pariser Tenor Roger, von dem Albert Niemann mir sagte, daß er 100 Prozent besser als Caruso gewesen sei, nach Stettin. Dieser wollte seines Lieblingsschülers, der sein Freund geworden war, Heimat sehen. Er sang den Massaniello und den George Brown in Stettin. Es war ein unbeschreiblicher Jubel in der Stadt. Ich glaube, selbst Albert Niemanns Organ reichte nicht an die Fülle dieser Löwenstimme heran. Abends war Roger im Hause meines Vaters, und ich erinnere mich genau des kleinen Mannes mit dem künstlichen linken Arm. Roger war auf einer Jagd verstümmelt und danach amputiert worden. Er aß, während wir Jungens, mein Bruder Ernst und ich, verstohlen hinter seinem Stuhl herumspionierten, mit einer eingehakten künstlichen Hand, der er eine eigene goldene Gabel einfügte. Nach Tisch sang er einmal, meine Tante Therese Schleich begleitete ihn. Ich höre ihn noch: Schuberts »Erlkönig«. Ich weiß noch gut, daß wir beiden kleinen Kerle vor Angst hinter die Gardinen krochen, als der Stimmriese echt französisch das hohe A auf dem »brauch ich Gewalt!« herausschmetterte. Mein Onkel Hans, der bei uns wohnte, imitierte ihn zum Entsetzen meiner Kaffee trinkenden und ruhig frühstückenden Großmutter Schleich am nächsten Morgen, indem er, so wie ihn Gott geschaffen, den Tamino übend, ins Zimmer stürzte und herausbrüllend: »Zu Hilfe! Zu Hilfe! sonst bin ich verloren! Der gräßlichen Schlange zum Opfer erkoren!« sich der Länge nach auf den Teppich warf. Die alte Dame hätte bald vor Schreck Schaden gelitten, mein Vater und wir Kinder wollten uns nach der ersten Verblüffung totlachen über den tollen Einfall. Denn er erhob sich drolligernst und sagte: »Na, was ist denn los? Ich übe ja bloß und mache Roger nach!«
Doch ich greife meinen Erlebnissen vor.
Meine ersten Erinnerungen reichen deutlich bis zum Jahre 1864, also nur bis zu meinem 5. Kinderjahre. Das kann ich deshalb so sicher konstatieren, weil ich mich genau an die österreichischen Soldaten in weißen Mänteln und blauen Kappen erinnere, die damals auf dem Durchmarsch nach Schleswig-Holstein in Stettin Quartier nahmen. Manch einer hat mich an die Hand genommen und ich marschierte stolz neben der Kompagnie durch die Straßen. Das ist mir sehr deutlich als Bild im Gedächtnis. Dann weiß ich noch genau jede Stelle auf unserm Haushof zu bezeichnen, der ein ganzes Arsenal war von Weinhändlergerät, Riesentonnen, Flaschenständern, Weinkannen, Riesensiltriertrichtern und Glashebern, Küferschürzen, Winden und Holzrollen mit tief eingeschnürten Furchen, welche die mit vollen Tonnen schwer belasteten Taue, von vielen Arbeiterfäusten langsam abwärts in den Keller gelassen, eingerillt hatten. Dieser Hof mit seinen Speichern, Ställen, Spülräumen, Wendeltreppen war ein förmliches Paradies für unsere Kinderspiele. Die kleinen Wagen für Stückgut waren uns wahre Glücksgefährte. Die tiefen gewölbten Keller waren von mittelalterlicher dumpfer, unheimlicher Anziehungskraft. Hier wurde unter Führung von Georg Knaak, einem förmlich mysteriösen, schon älteren spinnbeinigen Geisterling à la E. T. A. Hoffmann uns versammelten Spielkameraden allerhand Hokuspokus beigebracht. Hier wurde Pulver fabriziert, Feuerwerk zusammengestellt und manche Explosion veranlaßt, Blei gegossen, Geräte eingeschmolzen, harmlose Falschmünzerei getrieben und in Retorten gesiedet und gebraut, so daß es ein Wunder ist, daß wir nicht die ganze Wollweberstraße 22 in die Luft gesprengt haben. Es scheint nachträglich erstaunlich, daß man uns so gewähren ließ. Der alte dicke Weinhändler Scheibert, unser Hauswirt, ließ uns aber nach Herzenslust schalten und walten und betrachtete uns, fürchte ich, bei seinen zahlreichen Obliegenheiten des Küperns, Weintaufens und -probens nur wie eine Art Kaninchen, die ihm wohl einmal zwischen die Beine kamen, aber seinen rollenden Trott nicht stören konnten.
Ich weiß mich noch ganz genau einer Stelle auf diesem paradiesischen Spielplatz kindlicher Romantik zu erinnern, und sehe mich noch dasitzen mit Stein auf Steinen eine Taschenuhr zerklopfend, die mir Fünfjährigem (o Vater-Geist!) mein Papa unverantwortlicherweise geschenkt hatte. Es war wohl Wissensdrang, der mich zwang, dem kleinen Vogel der Zeit die Flügel zu rupfen, wenigstens soll ich, von allen, auch vom Vater, arg beschimpft wegen dieser Missetat, weinend herausgeplärrt haben: »Jungens müssen doch wissen, wa da 'inn is!«
Fußnoten
1 Anatole France irrt, wenn er diese Sitte, am Steven des von Stapel laufenden Schiffes eine Champagnerflasche zu zertrümmern, eine alte barbarische List nennt, die Götter zu besänftigen etwa wie mit dem geopferten Ring des Polycrates. Wir seefahrenden Pommern haben dafür eine weit sinnvollere Erklärung:
Ich fragte einen alten Kapitain,
Warum an Schiffen, die von Stapel gehn
Man müsse die Flasche Champagner zerschellen?
Der sagte: »Süss versupen's in de Wellen!
De irste Schuum, de den Steven leckt,
Wenn de oll Buddel zerbreckt,
Die möt von de Sünn' geboren sin!
Die Sünn' moakt Water und moakt den Win;
Doch möt de Preister de Buddel segnen,
Süss künn den nigen Kahn doch wat begegnen.
Denn, müßt' hei ahn' Win in't Water krupen,
Möt hei versupen!«
2 Viele seiner Oratorien sind Meisterwerke, sein »Golgatha« ist von überwältigender Schönheit.
Es ist sonderbar, und für meine Leser ein Glück, daß ich von meinen ersten Schulstudien so gut wie gar keine Erinnerung mehr bewahrt habe. Ich weiß nur noch von einem Eintritt in eine Spielschule, und daß ich unter großer häuslicher Aufregung, ausgestattet mit einem karierten und gegürteten Kittel, um das Leibchen eine sehrschöneperlenbestickte Tasche gehängt, durch »unsere Berta« in irgendein muffiges Lokal gebracht wurde, von dem ein Liniensystem von Bänken in meinem Gedächtnis haften geblieben ist wie ein Gradierwerk, in das wir kleinen stullenbewaffneten Opferlämmer der Bildung eingepfercht wurden. Da gab's große Bildertafeln, Kartenstöcke, Sätze von mit Bildmosiken beklebten Würfeln und eine Faust voll grauen knetbaren Kittes, aus dem wir Schweinchen und kleine Tassen formen mußten. Ich ging ganz gern zu der freundlichen Lehrerin und zu meinen kleinen Spielgenossen, und ich glaube, wir waren alle sehr artig. Hier schon frühe griff ein Mysterium in mein Geschick. Da traf mich das Ereignis eines verlorengegangenen Tages, um den ein großer Detektivmechanismus mobil gemacht wurde, und doch sollte das Verbrechen dieses mir offenbar gestohlenen oder somnambulisch verhehlten Tages bis auf den heutigen Tag nicht aufgeklärt werden. Alle behaupteten, als ich eines Morgens in unsere Spielschule kam, ich hätte tags zuvor gefehlt; Lehrerin, Mitschüler, Klassenbedienerin. Nur ich und meine Begleiterin konnten beschwören, daß ich, wie stets ausgerüstet, im Schullokal angetreten, dann aber auf 24 Stunden für alle, auch zur großen Aufregung meiner Eltern, aus dem Leben eliminiert worden sei. Ich selbst weiß nur, daß ich ahnungslos an dem Verlöschen eines Tagesbewußtseins tags darauf mit mir völlig unverständlichen Fragen wie: »Carlchen! wo warst du denn?« überstürmt wurde. Ein für ewig versunkener Tag, den mir Gott noch schuldig ist. Ich schrieb das erste große Fragezeichen in mein Buch der Rechenschaftsberichte meines Lebens. Ach, wie viele solcher Runen-Genossen hat mir das Leben noch in meine Erinnerung eingraviert!
Sehr bald folgte dieser Spiel- und Klippschule der Eintritt in die Vorschule des berühmten Stettiner Marienstiftsgymnasiums. Hier wurde die Geschichte schon ernster, und es gab wirkliche Dressuren. So weiß ich noch vom »alten Stahr«, einem griesgrämlichen, von Schnupftabak förmlich wolkenhaft umhüllten kleinen schwarzen Manne, dem ich einst aus seiner nahegelegenen Wohnung die vergessene deckellose Zigarrenkiste voll Schnupftabak (darunter tat er es nicht, sie war seine Tagesdosis) holen mußte und aus der er dann über Katheder und Klassenboden den schwarzen Staub versprühte und wegknipste. Dabei schien er nichts anderes als »Richtung« mit uns zu exerzieren, denn unaufhörlich sauste ein von ihm eigens zu diesem Zwecke mit schlankem Rohr verlängerter Kartenstock zwischen die paradegemäß gerichteten Kolonnen der Schüler von der ersten bis zur letzten Bank. Wehe! wenn einer nicht genau Schulter hinter Schulter »Vordermann« hielt, unweigerlich hätte die in die Lücken niederklatschende Bohnenstange Kopf oder Rumpf gepeitscht. Die »Stahrs« waren übrigens auch eine sehr berühmte Stettiner Familie, ihr entstammte der bekannte Goetheforscher Adolf Stahr und zwei romanschreibende Schwestern, damals noch eine rare Spezies. Dann kam da aber ab und zu noch ein kleiner, aber sehr freundlicher und gütiger Mann, die Violine im Arm, den Bogen in der Hand, ein kleines Sammetkäppchen auf dem Kopf, zu uns und sang uns vor und siedelte und ließ uns kleine Liedchen zweistimmig piepsen. Es war Carl Löwe, der Genius. Mit der ungeheuren, so nie wieder in uns lebendigen Objektivität der Kinder nahmen wir diese eigentlich jetzt für meine Verehrung dieses Einzigen unerhörten historischen Momente ganz kühl und wie selbstverständlich hin. Ich weiß nur noch, daß der große Meister mir ab und zu im Takt auf den Kopf tippte mit seinem Violinbogen und fürchte, daß das meinem nicht allzu stark ausgeprägten Rhythmusgefühle galt (die Synkopen haben mir alle Zeit im Ensemblespiel einige Not bereitet). Ich weiß noch, daß mir diese Stunden viel Spaß machten und daß ich meine Mitschüler anstiftete, die eingeübten zweistimmigen Liedchen auch auf dem Nachhauseweg über den Dom- und Paradeplatz laut erschallen zu lassen.
In diese Periode, es war eigentlich noch nicht an der Zeit, mit meinem Junggesellenleben zu brechen – fällt auch mein fester Entschluß zur Ehe. »Diese oder keine!« beschloß, ich, als ich eines Wintermorgens ein allerliebstes kleines Mädchen, in weiß- und blaukariertem havelockähnlichem dichtem Kragenmantel gehüllt, mit kleinem Pelzkäppi auf dem reizenden, schleiergeschützten Köpfchen, weißbehandschuht, in arger Verlegenheit unter der Apothekentür an der Ecke der Grünen Schanze und den Linden stehend, ihre in den Schnee gepurzelten Schulbücher sein säuberlich aufhob und abgestäubt in die große Ledertasche zurückexpedierte, genau so in Reih und Glied, wie es die kleine Pedantin, die sie übrigens geblieben ist, verlangte. Sie hatte nur ein Löschblatt verloren im Schnee, ich aber mein Herz. Denn ich empfahl mich, sie zärtlich über die tränenfeuchten Wangen streichelnd mit dem festen Vorsatz, sie zu meiner Braut zu ernennen und später zu meiner Frau zu machen. Was sollte ich da viel überlegen, etwas Reizenderes konnte die Welt ja gar nicht bieten. Ich muß gestehen, daß mir meine hier bewiesene Konsequenz – denn dies kleine liebe Mädchen ist noch heute meine hoch über alles gestellte Frau, der gute Genius meines Lebens – bis zu diesem Tage um so gewaltiger imponiert, als ich mich sonst nicht erinnern kann, in irgendeiner Sache überhaupt jemals konsequent gewesen zu sein. Hier aber »Hab' ich nicht bereut, alle Zeit, alle Zeit!« Es war für mich in der Tat bis in meine Zeit der Reise, während der Pensionszeit in Stralsund, den Studienjahren, so oft ich nach Stettin zurückkam, eine ausgemachte Sache, daß ich Hedwig Oelschlaeger, die Tochter des Eisenbahndirektors Rudolf Oelschlaeger, eines entfernten Vetters meines Vaters und ihrer bildschönen Mutter Ria, die ungeheuer musikalisch war und die entzückendste Schwiegermutter der Welt wurde, einmal heiraten würde. Wie die eigentliche Hauptperson dieses Romans, das Mägdelein, der Backfisch und die erblühte Schönheit Stettins sich zu dieser Frage in den verschiedensten Phasen unseres Wiedersehens stellte. darf ich leider nicht berichten. Sie war schließlich die Klügere und gab nach.
Dann kam der Krieg 1866 und ich wohnte zum ersten Male einer Massenerregung bei, welche den Auszug der Streiter fürs Vaterland dreimal in meiner Lebenszeit 1866,1870 und 1914 voll höchster Begeisterung begleitete. Ach! hätte man auch das dritte Mal dies Jauchzen, diese Wonne, diesen Blumentaumel des siegreichen Einzuges erleben dürfen, wie ich ihn 1866 und 1871 mitanschauen konnte. Für alle Ewigkeit riß hier wohl das Jahr 1918 dem deutschen Herz und der deutschen Geschichte eine Lücke, die kein Ozean von Tränen oder Blut, nur Trauerflor um Trauerflor wieder ausfüllen kann. Mich hat der Zusammenbruch Deutschlands so tief bekümmert, daß ich diese letzte Periode hier nicht besprechen kann.
Noch sehe ich beide Male die Königsgrenadiere, taumelnd fast vor den sie pressenden, sich an sie hängenden Kindern und Frauen, Sträußchen auf Helmen, Ledergurten, Flintenläufen, Tornistern, Säbeln, Trommeln, Instrumenten die Schulzenstraße sich herauswälzen, Feuer im Blick, die Wangen rot vor Stolz und Glück! Vornan beide Male der dicke »Orlin«, der Kapellmeister, der Liebling der ganzen Stadt, förmlich in Guirlanden eingepackt, dicke Kränze wie Reisen um ein lebend Faß geschlungen, so daß der kleine Taktstock nur wie eine schmale Magnetnadel auf und nieder pendelte. Zweimal nur sah ich die Massen vor Wonne weinen und Freunde und Fremde sich jauchzend in die Arme sinken. 1866! 1871!
Die Wonne war 1866 um so gewaltiger, als kurz vorher eine furchtbar verheerende Choleraepidemie, wie ganz Deutschland, so auch Pommern durchwütete. Entsetzlich viele Menschen starben in Stettin, viele Verwandte fielen zum Opfer. Es war unheimlich für uns Kinder, die Versammlungen der Aerzte in meines Vaters großem Sprechzimmer zu belauschen. Dieses bedrückte Raunen der mutigen Kämpfer gegen den rasend gewordenen Tod! Nur Onkel Wißmann, Vaters besonderer Freund, war nicht aus der Laune zu bringen. Der geistvolle Mann, ein berühmter Uebersetzer des Aristophanes, sehr lustig und durch und durch musikalisch, setzte sich ans Klavier und begleitete sich kunst- und solopfeifend, lange Arien spielend, wie stets bei besonderen Gelegenheiten. Es konnte aber doch nicht ausbleiben, daß die Kollegen ihn etwa fragten: »Wie geht es dem oder der?« Dann warf er weiterspielend, mit dem Pfeifen kurz pausierend, den Kopf herum und stieß sein: »Kommt durch!« oder: »Schon tot!« unter Arpeggien hervor.
Eines Tages kam Vater tief bekümmert heim: seine Schwester Lotte war tot; Wrentsch, unser Tischler und Faktotum im Hause, und sein bester Freund und Kollege Schultze ebenfalls. Alle drei an einem Vormittag innerhalb weniger Stunden dahingerafft von der Seuche! Ich könnte die ganze Symptomatologie der Cholera nach den drastischen Schilderungen der scheußlichen Erkrankungsform noch heute nacherzählen, wie sie mein Vater meiner Mutter berichtet hat. Ich will nur als Kuriosum erzählen, daß er immer wieder behauptete, wenn die Patienten begönnen, plötzlich eine Art hysterischen Heißhungers auf irgend etwas »Eingemachtes« zu bekommen, so kämen sie durch. »Der alte Grischow hat wieder plötzlich geschmorte Preisselbeeren verlangt und 3 Liter davon verschlungen. Kommt sicher durch! Kanzow ein Fäßchen Blaubeeren verputzt. Kommt durch!« Natürlich bot man dazumal allen Erkrankten unaufhörlich gedünstete Preisselbeeren und Blaubeeren an.
Die Cholera war auch die Veranlassung, daß ich das erste und einzige Mal entsetzliche Prügel bekam. Ich hatte einen Straßenfreund Wilhelm Dinse, Sohn der Waschfrau Dinse von »Nebenan«, der einzige, der meine literarischen Ambitionen von damals zu würdigen wußte. Denn ich las ihm und seiner Mutter »veritable Dichtungen!« (daß ich doch noch etwas davon besäße!) vor. So hatten wir auch gemeinsam so eine Art Tragödie entworfen, die wir der biederen Priesterin der Seifen und Laugen gewidmet hatten und vorzulesen gedachten. Nun aber entzog sich unsere Protektorin dieser Prüfung durch den Tod. Sie starb plötzlich an Cholera. Wir berieten und sahen den Grund nicht ein, warum die Tote nicht doch noch hören solle, was ihr das Leben verweigert hatte. Wir beschlossen also, die Schauermär ihr an ihrem Totenbette doch noch zu versitzen. So saßen wir vor der weiß geschmückten Leiche, in geteilten Rollen aus einem Schreibhefte laut deklamierend, als die Tür aufsprang und herein, entsetzt, lautlos, mit fliegenden Haaren mein – Vater stürmte, mich bei dem Kragen packte und die Treppen hier herunter, bei uns nebenan nach oben riß und meine Mutter rief. Man entblößte mich, Mutter hielt und Vater ließ den Rohrstock sausen mit einer Grausamkeit, die ich ihm nie zugetraut hätte, zumal ich noch heute der Meinung bin, daß die Strafe für eine so edle Handlung, wie diese brave Vertragstreue auch einer Toten gegenüber eher Belohnung als Peinigung verdient hätte!
Freilich war uns bei strengster Strafe verboten, in jenen Choleratagen überhaupt auf die Straße zu gehen, nun gar in die Wohnung einer daran Verstorbenen. Von diesem Standpunkt aus hatte wieder mein Vater recht. Meine Mutter vermittelte. Ich höre sie noch mitleidig intervenieren: »Aber Carl, nun ist's wohl genug!«
Von hier an verlief mein Leben so absolut bewußt und ich habe alle seine vielgestaltigen Momente mit einer solchen Verläßlichkeit in der Erinnerung, daß ich mich getrauen würde, Tag für Tag in ziemlich kompletter Folge zu schildern, doch halte ich mich absichtlich nicht an eine streng chronologische Folge, sondern greife nur die Ereignisse und Situationen heraus, von denen ich annehmen darf, daß sie auch Fernerstehende einigermaßen zu interessieren geeignet sind. Wenn Goethe recht hat mit seinem schönen Satz, daß Gedächtnis Sache des Herzens sei, so muß ich ein eindrucksvolles Herz besessen haben, denn meine nächsten Verwandten haben viel von gemeinsamen Erinnerungen längst vergessen und gedenken ihrer erst wieder, wenn ich sie z.B. auf den »Küstertagen« (Zusammenkünften aller der der Familie meiner Mutter Zugehöriger) vor den zahlreichen Onkels, Tanten, Vettern und Basen wieder herauskramte. Wie oft habe ich da mein Gedächtnis mit erstauntem »Richtig! ja so war es!« rühmen hören. Mir will aber scheinen, als sei bei unserm Erinnern an Erlebtes der Grad der Dankbarkeit, deren wir fähig sind, stark mit beteiligt.
Zwei Diener hat das Gedächtnis:
Die Hoffnung und die Dankbarkeit,
Ihr Stern und ihr Vermächtnis
Vergolden alle Zeit.
Wahrlich, zur Dankbarkeit hatte ich alle Veranlassung in den sonnigen Tagen meiner Jugend, die überstrahlt wurde von der Liebe meiner Mutter und der Schönheit ihrer Heimat auf der Insel Wollin, von der ich jetzt erzählen will. Traurig um den Sohn, der nicht das Gefühl gehabt hat in seiner Kindheit, daß seine Mutter das beste Wesen der Welt sei. Nichts ist verhängnisvoller, als eine böse Mutter gehabt zu haben. Unsere ganze Gemütstiefe wird gefärbt durch die mütterliche Wesensart. Das ist besonders wichtig für den Mann, der meiner Meinung nach dem ganzen weiblichen Geschlecht so gegenüber steht zeit seines Lebens, wie er im tiefsten Innern von seiner Mutter Weiblichkeit Wissen und Durchschauen gewonnen hat. Man sieht in der Art der Mutter die ganze Weiblichkeit im Guten wie im Schlechten. Wer einmal die ganze Tiefe der Mutterliebe segnend über sich empfunden hat, wird auch (trotz alledem!) niemals über ein Weib ganz schlecht denken können, wie umgekehrt die Erlebnisse mit einer schlimmen Mutter stets einen unauslöschbaren Verdacht gegen das Weib als solches hinterlassen werden. Hier steckt sicher der Grund zu der Weiberfeindschaft (Misogynie) eines Schopenhauers, Nietzsches, Strindbergs und Weiningers. und hier die Kraft Goethes, Frauencharaktere durchgehends zwingend wahrer und hinreißender schildern zu können als männlich echte (vielleicht mit der alleinigen Ausnahme des Goetz und des Mephisto). Das trat denn später auch in den tausendundein-nächtigen Gesprächen zwischen Strindberg und mir über die Frau zu Tage, in denen ich stets den, einem Riesen gegenüber undankbaren Part des Heinrich Frauenlob zu vertreten hatte. Uebrigens gab Strindberg zu, daß er die Verachtung und die stetige Verdächtigung des Weibes an sich aus den offenbaren Schlechtigkeiten (Verleitung zur Lüge, innere Unwahrhaftigkeit) seiner Mutter in sein weiches Kinderherz eingesogen habe. Der Unglückliche! Bei seinen Erzählungen, oft viel gravierender noch als die herzzerreißenden Anklagen in dem »Sohn einer Magd«, rannen mir oft Schauer der Dankbarkeit gegen meine gute alte Mutter über den Rücken, von der ich nichts als Liebes weiß, die an nichts dachte als an unser Glück, auch selbst, wenn sie der Gram fast zu Boden drückte. Sie war 18 Jahre glücklich an der Seite meines Vaters, dann kam das Schicksal und warf ihr das einzige höchste Glück, die Liebe ihres unendlich hochgestellten Gatten, vor die Füße.