Es war einmal im Dunklen Wald - Anne Danck - E-Book

Es war einmal im Dunklen Wald E-Book

Anne Danck

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Beschreibung

Nach einer Begegnung mit einem Wolf wurde Jäger zur erfolgreichsten Bestienjägerin des Landes. Was niemand wissen soll: Menschen fürchtet sie mehr als Bestien. Doch ausgerechnet sie muss eine Gruppe von Soldaten tief hinein in den Dunklen Wald begleiten. Dort schläft, verborgen in einem Turm, eine Magierin, die einzige Hoffnung gegen den Vormarsch der Bestien. Dabei ist Jäger die Rettung der Welt eigentlich herzlich egal. Als eine Truppe für den Dunklen Wald zusammengestellt wird, ist Leutnant Crop der Erste, der sich freiwillig meldet. Denn er hat einen ganz persönlichen Grund, die Magierin zu wecken: Seine innere Bestie, von der niemand erfahren darf und gegen die er sich Hilfe von der Magierin erhofft. Gezwungenermaßen ziehen Jäger und Crop Seite an Seite in den Dunklen Wald. Doch wenn sie überleben wollen, müssen sie auch lernen, gemeinsam zu kämpfen und einander zu vertrauen.

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Es war einmal im Dunklen Wald

ANNE DANCK

Copyright © 2023 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan Bellem

Korrektorat: Michaela Retezki

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-586-1

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Inhaltswarnungen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Nachwort

Drachenpost

Inhaltswarnungen

Dieses Buch enthält Szenen, in denen Folgendes thematisiert oder dargestellt wird:

Panikattacken, Angst vor Berührungen, (Selbst-)Verletzung, Blut, Trauma,

psychische Gewalt, physische Gewalt,

(vorausgegangene) sexuelle Gewalt, Gewalt gegenüber Minderjährigen

Tod (u.a. von Angehörigen), Krieg

Diese Liste hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Bitte entscheide selbst, ob du

dieses Buch lesen möchtest oder dich durch diese Themen getriggert fühlen könntest.

Mut ist nicht die Unterdrückung von Angst.

Mut ist der Angriff trotz Angst, gegen die Angst.

Kapitel1

Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf,Rotkäppchen aber wusste nicht, was das für ein böses Tier war,

und fürchtete sich nicht vor ihm.

Rotkäppchen

Sie preschten die staubige Straße entlang und hielten auf den hohen Palisadenzaun von Kol zu, dessen Tor offen stand. Der einzelne Wachmann warf nur einen Blick auf die Abzeichen an ihrer Brust und ließ sie passieren. Crop gab seinen Männern ein Zeichen, abzusitzen und die Pferde anzubinden. Er wählte ein paar seiner Soldaten zur Begleitung aus, während er die anderen instruierte, bei den Pferden zu warten. Bei der Armut dieser Gegend musste er damit rechnen, dass man andernfalls versuchen würde, sie zu stehlen.

Zu sechst gingen sie die Dorfstraße entlang. Überall, wo sie vorbeikamen, wandten die Leute verstohlen die Köpfe zu ihnen, nur um augenblicklich wieder fortzusehen. Vermutlich fragten sie sich, was die Soldaten hier wollten. Niemand begab sich freiwillig so nah an den Dunklen Wald.

Pittaras hielt die erste Passantin an, die ihnen entgegenkam. »Der Jäger. Wo können wir ihn finden?«

Der Rock der Dorfbewohnerin war löchrig am Saum, die Füße schuhlos. Sie musterte hastig seine Gruppe: ihre Lederrüstungen, noch dunkler als das Braun der Haut, ihre abgehärteten Körper, die Schwerter. »Ich weiß nicht, von wem Ihr sprecht, Herr.«

»Ein Bestienjäger«, spezifizierte der Soldat. »Der beste des ganzen Landes, wenn man den Gerüchten glauben kann.«

Die Frau zog ihre Stirn in Falten. »Keine Ahnung, Herr.«

»Aber er treibt sich immer hier in der Nähe herum. Du musst doch –«

»Lass gut sein, Pittaras.« Crop trat neben ihn. Er hatte furchtlose Männer gewollt, solche, die mal selbst nachdachten und nicht nur stumpf auf Befehle hörten. Aber dieser hier schien regelmäßig mit dem Kopf durch die Wand zu wollen, statt sich nach einer Tür umzusehen. Kol war ein Dorf in einem meilenweiten Umfeld von Nichts. Keine Felder, keine Bauern, keine Viehzucht. Bloß endlose, leere Steppe. Laut Crops Informationen konnte zwar niemand den Wanderjäger leiden – sie nannten ihn nicht einmal beim Vornamen, er war stets nur Jäger –, aber angewiesen waren sie dennoch auf ihn. »Wir sind nicht hier, um ihn zu verhaften.«

Sie musterte ihn kritisch. »Wer garantiert uns das?«

»Du kennst ihn also doch!«, entfuhr es Pittaras.

»Pittaras«, knurrte Kripschnik kaum hörbar.

Crop wählte den kürzeren Weg. Er hielt der Frau eine Goldmünze hin. »Wo finden wir ihn?«

Sie ließ die Münze schneller verschwinden, als er blinzeln konnte. Vermutlich hatte er sie damit zur reichsten Person des Dorfes gemacht. »Auf dem Markt. Ist gerade zurück. Ihr solltet Euch allerdings beeilen, wenn Ihr was von der Beute haben wollt, Herr. Ist immer alles sofort weg.«

»Danke.« Crop nickte der Informantin zu, dann gingen sie weiter die Hauptstraße hinauf, in Richtung Dorfmittelpunkt.

Die Blicke der vereinzelten Leute folgten ihnen, als würden ihre Schritte unsichtbare Wellen schlagen und deren Ausläufer das alltägliche Leben zum Erliegen bringen. Die hell- und dunkelbraunen Gesichter drehten sich ihnen zu, sie waren abgehärmt und von Dreck verschmutzt. Selbst die wenigen Kinder, die sie hinter den Rockschößen ihrer Mütter hervor beobachteten, wirkten bereits so still und sorgenvoll wie die Erwachsenen. Crop wusste selbst nicht, was er erwartet hatte. Kol existierte nur, weil es hier schwarzes Holz aus dem Boden zu holen gab. Wer in diesem Dorf aufwuchs, kannte vermutlich nichts als ärmliche Verhältnisse und die allgegenwärtige Bedrohung des Dunklen Waldes. Es gab kein Spielen außerhalb des großen Zauns. Keinen Tag ohne Angst vor einem Angriff. Trotzdem war es eine Sache, dieses Wissen im Vorhinein zu haben, und eine ganze andere, die Realität mit eigenen Augen zu sehen.

Der Marktplatz, überragt von einem windschiefen Glockenturm, umfasste lediglich drei Stände, aber selbst die waren verlassen. Käufer – und offensichtlich auch Verkäufer – scharten sich alle laut diskutierend um etwas, das aussah wie ein Karren, auf den Pelzberge gestapelt waren.

Nein, erkannte Crop, als sie näher kamen. Nicht mehrere Pelze. Es war nur ein einziges Tier, aber dieses war so groß, dass die rauchgrauen Tatzen und der gescheckte Rücken weit über die Planken des Karrens hinausragten. Wie viele Männer mochten nötig sein, um so eine Bestie zu erlegen?

Das aufgeregte Geschrei erstarb jäh, als eine schlanke Gestalt auf eine freie Ecke des Karrens sprang. »Das reicht jetzt!«, erklang der barsche Befehl. Auf dem kleinen Markt wurde es totenstill.

Etwas an der Stimme … Sie klang nicht so tief, wie er erwartet hatte. Jünger, wesentlich jünger, wie ein Junge im Stimmbruch. Crop konnte das dazugehörige Gesicht nicht sehen, sondern nur den kurz geschorenen Hinterkopf. Stiefel, Wams und Hose waren ein Teppich aus den verschiedensten Lederflicken, unzählige tiefe Kratzer an der Wade verrieten bereits die nächste Stoffstelle, die überdeckt werden würde. Erde und Blätter klebten an der Kleidung, lediglich der auf den Rücken geschnallte Köcher war sauber, aber ebenso abgenutzt.

»Ich habe gesagt, ich will nichts damit zu tun haben, und das meine ich auch so, verstanden?«, knurrte Jäger die Umstehenden an. »Jeremy bekommt das verdammte Vieh und Schluss! Wenn ihr es auf eurem Tisch haben wollt, dann müsst ihr es ihm eben abkaufen.«

Niemand sah zu ihm auf, niemand erwiderte seinen Blick. Sie alle starrten nur begierig auf das zentnerschwere Fleisch zu seinen Füßen.

»Und jetzt: Trollt euch!«, fügte er hinzu und machte Bewegungen, als wollte er Gänse verscheuchen.

Einer der Männer spuckte aus. Die Umstehenden brummten Flüche. Doch einer nach dem anderen verdrückte sich.

»Na also.« Jäger sprang vom Karren vor einen stiernackigen, glatzköpfigen Mann und verhandelte mit ihm über den Preis. Crop entging dabei weder, dass der Mann – vermutlich Jeremy – seinem Gegenüber nicht ein einziges Mal ins Gesicht sah, noch dass der Preis, auf den sie sich einigten, viel zu gering war – selbst für normale Verhältnisse. Hier, wo sämtliches Vieh sofort von den Bestien gerissen wurde, hätte es ein Vermögen einbringen können. Anscheinend hatte der Handel für Jäger noch einen anderen Wert. Vielleicht als Tribut, damit er geduldet wurde, obwohl sie ihn nicht leiden konnten.

»Aber dass du mir ja meinen Karren wiederbringst, hörst du?«, rief Jäger dem Fleischer hinterher. »Sonst bist du der Nächste, der auf ihm landet!«

»’türlich«, knurrte der Mann, ohne sich umzudrehen.

Das Grinsen noch auf dem Gesicht, wandte sich Jäger zu ihnen um. »Ihr habt wirklich brav gewartet. Ihr gehört zu den wohlerzogenen Schoßhündchen. Was wollt ihr?«

Crop hörte, wie Kripschnik beim Anblick des Gesichts die Luft durch die Zähne einsog.

Er stockte ebenfalls. Anscheinend hatte Crops Informant sich einen Scherz erlaubt und ihn absichtlich glauben lassen, bei Jäger handele sich um einen Mann. Oder hatte er es selbst automatisch angenommen? Jedenfalls war das vor ihm eine Frau – noch dazu eine, die er kannte.

Ihre Haare waren so raspelkurz wie die eines Jungen, bei dem Läuse entdeckt worden waren. Die Augen, dunkel umschattet und tief liegend, besaßen einen unheimlichen Glanz, der Crop an Fieberwahn erinnerte. Und quer von einer Schläfe bis hinunter zum Kinn verlief eine dicke, schartige Narbe, die sich beinahe schwarz von ihrer dunkelbraunen Haut abhob und einen ihrer Mundwinkel permanent nach unten zog – trotz ihres gehässigen Grinsens. Es kostete Crop all seine Selbstbeherrschung, keine Miene zu verziehen und den Blick nicht abzuwenden.

»Elisabeth … Elisabeth Sreiner?«, fragte er verblüfft.

Ihre Belustigung erlosch, als hätte er sie ausgetreten. »Diesen Namen habe ich abgelegt. Jäger ist es jetzt.«

Ihre Stimme war so rau, als hätte sie in ihrem Leben schon zu viel geschrien. Hätte er es nicht gewusst, hätte er nicht geglaubt, dass sie erst knapp über zwanzig Jahre alt war. Aber er wusste es. Er kannte ihr Alter genauso gut wie das Haus, in dem sie aufgewachsen war, und die Spiele, die sie mit den anderen Kindern gespielt hatte.

Das hier war einer der seltenen Momente, in denen er froh war, so viel Übung darin zu haben, den eigenen inneren Aufruhr zu unterdrücken. Er zwang sich, ihr weiterhin ins Gesicht zu sehen, als gäbe es dort nichts, was ihn irritieren könnte. Als hätte sie die Narbe schon immer besessen.

Sie schien es nicht gewohnt zu sein, dass ihr jemand offen ins Gesicht sah. Mehrfach flackerte ihr Blick fort und dann wieder zu ihm zurück, bevor sie kaum merklich die Schultern versteifte und ihn musterte.

»Dich kenne ich doch«, stellte sie fest. »Bist du nicht der Welpe von diesem … Crop? Der ach so wichtige General, der sich nur alle paar Monate mal hat blicken lassen, um nach seinen Söhnen zu sehen? Theodemus, oder?«

Crop gab den Soldaten ein Zeichen. Augenblicklich formierten sie sich rings um die ledergewandete Gestalt. Die Männer waren immerhin professionell genug, um sie anzusehen – zumindest ihre Körperhaltung zu beobachten, von der die potenzielle Bedrohung ausging. Doch auch sie vermieden es, ihr direkt ins Gesicht zu sehen.

»Seine Majestät, der König, hat einen Auftrag für dich.«

»Und den unterbreitet man, indem man die Beauftragte umstellt wie eine Gefangene?«

»Solltest du ihn ablehnen, wirst du festgenommen wegen unerlaubter Wilderei in den Wäldern des Königs.«

Sie besaß genug Humor, um zu lachen. Doch es klang hämisch, freudlos. »So dankt er es einem also, wenn man die Bestien von seinem Volk fernhält.«

»Der Wald ist Eigentum der Krone. Entwendung von Besitz aus –«

»Ach, es sind seine Bestien? Kommen sie zu ihm, wenn er pfeift?«

»– kann mit Zwangsarbeit in den Minen bestraft werden. Mit dem Tod, wenn du dich uns widersetzt.«

»Wirklich sehr charmant.« Sie verengte die Augen und musterte Crop. »Dein Vater ist doch so ein hohes Tier, vermutlich kennst du unseren Beruhigungsmittel-abhängigen König Calaith den Zweiten sogar persönlich. Droht er immer, bevor er bittet?«

Sie stolperte nach vorn, als Pittaras’ Hieb sie in den Rücken traf. »Mehr Respekt –«

Sie war schneller zu ihm herumgewirbelt, als Crop es für möglich gehalten hätte, mit einem Dolch in der Hand. »Red du nicht von Respekt!«, fauchte sie. »Macht es dir Spaß, Frauen zu schlagen?«

»Eine Frau?« Pittaras schaffte es irgendwie, sie zu verhöhnen, ohne ihr einen direkten Blick zuzuwerfen. »Was an dir ist denn überhaupt noch weiblich? Sieh dich doch mal an: keine Haare und in Hosen. Das, was du bist, ist widernatürlich!«

»Pittaras, halt den Mund.« Crops Tonfall war ruhig genug, bedrohlich genug, um Pittaras augenblicklich in seine Soldatenrolle zurückkehren zu lassen. Seine Haltung wurde steif, auch wenn seine Miene weiterhin Verachtung ausdrückte. Crop machte sich eine mentale Notiz. Pittaras würde die Gruppe verlassen müssen. Er brauchte eine perfekt funktionierende Einheit, keinen Kindergarten.

Jäger pfiff durch die Zähne. »Wirklich erstaunlich gut dressierte Schoßhündchen«, bemerkte sie und steckte den Dolch weg, die Beleidigung anscheinend schon wieder vergessen. »Also, spuck’s aus, großer Anführer. Um was für einen Auftrag geht’s?« Sie wandte sich wieder zu Crop um.

Erneut traf ihn der Anblick dieser grauenhaften, fleischigen Narbe unvorbereitet. Vor einem halben Leben hatten sie zusammen in einem Dorf gelebt, viele Tagesreisen von hier entfernt, an den Ausläufern eines anderen, harmloseren Waldgebietes, des Grauen Waldes. Damals hatten sie alle für ein hübsches, bezauberndes Mädchen gehalten. Mit nach allen Seiten abstehenden dichten Locken, die bei jedem Schritt fröhlich wippten, wenn sie rannte. Mit kleinen, zarten Händen, die für das Finden von seltenen Heilkräutern bekannt waren. Und einem Lieblingskleid, das so rot gewesen war, dass es in den Augen brannte, und man gar nicht anders konnte, als ihr hinterherzustarren.

Irgendwann einmal.

Jetzt starrten die Leute nicht mehr. Jetzt sahen sie ihr überhaupt nicht mehr ins Gesicht, wenn sie ihr das Fleisch abkauften, das sie so bitter benötigten. Jetzt brachten die heilenden Hände den Tod.

»Es wurde eine Truppe zusammengestellt, um die schlafende Prinzessin im Dunklen Wald zu wecken. Du sollst Teil dieser Truppe werden.«

»Ah. Die schlafende Prinzessin in ihrem Turm, das große Mysterium. Welche armen Schlucker werden denn auf diese Todesmission geschickt?«

»Sie werden als Helden in die Geschichte eingehen. Sie könnten die Rettung bringen.« Worte, die fahl auf seiner Zunge schmeckten, weil er sie schon zu oft gesagt hatte.

»Gegen die Bestien? Sie werden die ersehnte Rettung nie erreichen, weil sie selbst auf dem Weg dorthin draufgehen werden. Es geht in das Herz des Dunklen Waldes!«

»Es nehmen nur die besten Soldaten mit besonderer Kampfausbildung teil.«

Sie lachte. »An was für Bestien wurden sie ausgebildet, dass sie dann immer noch leben und freiwillig in den Wald ziehen?«

Das Abstoßende an ihrem Gesicht war nicht unbedingt die Narbe, befand Crop. Es war mehr ihre Ausstrahlung, die Art, mit der sie die Narbe wie eine kostbare Trophäe zur Schau stellte. Und sicherlich hatte sie sich nicht aus Langeweile die Haare abrasiert und den Rock gegen Hosen getauscht. Nein, das alles war Teil einer bewussten Abschreckung, einer Warnung. Ein Blick in ihr Gesicht war, als würde sie einen anspucken: Ich halte mich nicht an Regeln. Bleib weg.

»Wie viele Soldaten?«

»Fünfundzwanzig.«

»Mehr würde ich auch nicht schicken, wenn ich davon ausgehen muss, dass niemand zurückkehrt.«

»Es soll eine unauffällige Mission bleiben. Wenn eine ganze Armee in den Wald marschiert, würde das auffallen.«

»Du meinst, es soll niemand wissen, wie verzweifelt die Lage ist, dass man die Hoffnung jetzt schon auf vage Legenden setzen muss«, korrigierte sie ihn. »Ich nehme an, ich soll mich sowohl um sämtliche Bestien als auch um den Drachen kümmern, der die liebliche Prinzessin bewacht?«

»Man sagt, du hättest Erfahrung mit Drachen.«

»Nicht nur mit den menschlichen, ja.«

»Du kommst mit und tötest ihn und die Bestien. Das sind deine einzigen Aufgaben, aus allem anderen hältst du dich heraus.«

»Fürchtet der Thronhocker etwa, ich könnte die Prinzessin mit einem Kuss erwecken wollen?«

»Wenn du den Auftrag wie abgemacht erfüllst, wirst du im Anschluss eine offizielle Genehmigung fürs Jagen erhalten.«

Er konnte sich genau an den Tag erinnern, an dem sie vollkommen aufgelöst aus dem Grauen Wald zurückgekommen war, wo sie den zerfetzten Körper ihrer Schwester Claire gefunden hatte. Später berichteten ihr Vater und ihr älterer Bruder, dass sie ab dem Tag der Wahnsinn überkommen hätte. Sie redete nur noch von einem Wolf mit gefährlichen Zähnen und hungrigem Atem, der sie und ihre Schwester angefallen hatte – obwohl alle wussten, dass sich ein einzelner Wolf selten an so große Beute wagte und es keine Wolfsspuren in der Nähe des Dorfes gab. Und dann war sie von einem Tag auf den anderen verschwunden und man munkelte, sie hätte nichts als ein Küchenmesser mitgenommen.

Dieser Wahnsinn funkelte auch jetzt noch in ihren Augen. »Dein König kann mich mal.«

»Was?«

Sie lächelte, doch es sah schmerzhaft aus. »Dein König ist ein Arschloch. Du weißt das. Und dennoch lässt du zu, dass er dich ebenfalls zu einem macht.«

Mehrere Hände wanderten an die Schwertgriffe. »Das ist Hochver–«

»Keiner zieht seine Waffen!«, befahl Crop. So weit würde es noch kommen, dass sie sich aufspießen ließ, bevor die Mission überhaupt begonnen hatte! »Du solltest besser lernen, deine Zunge zu hüten«, fügte er an Jäger gewandt hinzu.

»Oder ihr, weniger empfindlich zu sein! Dieser dumme Drachenkampf wird mich möglicherweise ohnehin das Leben kosten – wenn nicht schon die Reise dorthin, verdammt! Und was aus den Leuten hier in Kol oder den Nachbardörfern wird, wie die sich ernähren sollen, ist wohl auch scheißegal! Soll ich da etwa in Lobeshymnen auf diesen königlichen Spinner ausbrechen?«

»Also nimmst du den Auftrag an?«

»Ich habe nicht herausgehört, dass ich eine Wahl hätte!«, stieß sie hervor und marschierte, ohne zu zögern, aus dem Ring der Soldaten heraus, an Crop vorbei.

Er wusste nicht, was ihn dazu bewog, nach ihrem Arm zu greifen. Ebenso wenig, wie sie es schaffte, derartig schnell zu ihm herumzuwirbeln und ihm eine Dolchklinge an den Hals zu drücken. Falls er noch einen Beweis gebraucht hatte, dass sie wusste, was sie tat, war es dieser: Der Dolch presste sich genau gegen seine Halsschlagader.

»Fass mich nicht an!« Die Worte waren so gepresst, dass sie kaum verständlich waren. »Niemals!«

Ihre grausame Narbe war ihm unangenehm nah. Ebenso wie ihre Augen, die in den Schatten wie kleine Kohlestücke glommen.

Er ließ ihr Handgelenk los. Im gleichen Moment, in dem eine Faust ihre Schläfe traf und sie zu Boden warf. Der Dolch schlitterte aus ihrer Hand, doch sie kam sofort wieder auf die Knie, fluchend und kampfbereit. Die Männer umstellten sie, schienen ebenso gewillt, die Situation ausarten zu lassen. Einer von ihnen fischte provozierend langsam ihren Dolch vom Boden.

»Zurück!«, befahl Crop der Truppe. »Rührt sie nicht an! Wir brauchen sie.« Er konnte kaum sagen, auf wen er wütender war: auf diesen unfähigen Haufen oder auf sich selbst, weil er nicht hatte verhindern können, dass sie ihm eine Klinge an die Kehle gedrückt hatte.

Nur konnte er sich den aufwallenden Zorn nicht leisten. Er erstickte ihn sofort wieder, bevor dieser es mit ihm tun konnte.

Stattdessen trat er vor, streckte Jäger die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. »Tut mir leid. Ich entschuldige mich für mich und meine Männer.«

Doch sie spuckte lediglich rotes Blut in den Staub und ignorierte seine Hand. Lieber kam sie allein auf die Füße.

Natürlich. Fass mich nicht an, hatte sie gesagt.

Unwillkürlich fragte sich Crop, was sie wirklich fürchtete. Ob es überhaupt ein Wolf gewesen war, der sie damals im Wald angefallen hatte.

Kapitel2

Als sie sich abends wieder zum Essen niedersetzte, hörte sie ein Brüllen wie von einem wilden Tier, und sie zitterte, als das Biest erschien.

Die Schöne und das Biest

Diese verdammten Dummköpfe! Mit zusammengepressten Lippen sah Jäger den Männern zu, wie sie den Weinschlauch von einem zum anderen weiterreichten und das Fleisch aßen, das über dem Feuer briet. Zu laut, zu hell, zu geruchsintensiv. Es hätte kaum etwas Besseres geben können, um die Bestien aus der Nacht zu locken. Nur weil es einen Abend gut gegangen war, hieß das nicht, dass es das einen zweiten würde. Oder einen dritten.

Dummköpfe. Je weiter sie in den Dunklen Wald vordrangen, desto gefährlicher wurde es.

»Ich soll meiner Tochter eine der legendären Rosen rund um den Turm mitbringen.« Gallan, das Gesicht schmal und lang wie der Rest seines Körpers, reichte den Weinschlauch an den Mann rechts von ihm weiter. Kripschnik. Er war kleiner als Gallan – wie eigentlich jeder – und hatte die dichten Brauen immer zu einem düsteren Runzeln zusammengezogen. Natürlich auch jetzt.

»Frauen«, kommentierte er lediglich.

»Ja, nicht wahr?«

»Sie scheinen zu glauben, wir wären zum Vergnügen hier und nicht auf einer gefährlichen Geheimmission.«

»Hey – immerhin geht es um eine wunderschöne schlafende Prinzessin, die nur darauf wartet, durch einen Kuss erlöst zu werden! Was macht da schon der Drache, der sie bewacht?«

»Meine Frau hat gesagt, ich soll ihr eine Schuppe von ihm mitbringen«, brummte Bragg in seinen Bart. »Sie will sie als Brosche tragen. Als hätte ich nichts Besseres zu tun, wenn ich diesem Biest gegenüberstehe!«

»Wirklich? Das wollte meine Amelie auch!«

»Na toll. Und am Ende trägt sie keine von beiden, weil sie ja unmöglich das Gleiche tragen können!«

Alle lachten.

Als würden sie auch nur einen Finger gegen den Drachen krümmen. Als wäre das nicht der Grund, warum Jäger überhaupt zur Teilnahme gezwungen war. Die einzige Frau unter vierundzwanzig Männern. Die einzige unter diesen Dummköpfen mit einer Ahnung, was auf dem Spiel stand.

»Mindestens jeder zweite von euch wird nicht zurückkehren«, entfuhr es ihr. »Vielleicht solltet ihr lieber absprechen, was die Überlebenden von euren Leichen als Andenken mitnehmen sollen.«

Die Blicke schnellten zu ihr – und zuckten augenblicklich zurück. Wichen vor ihrem Aussehen zurück, schafften es nicht, sie länger als einen Herzschlag lang zu fixieren.

»Vielleicht solltest du uns sagen, was wir von dir mit zurückbringen sollen«, spottete Olver beiläufig, während er sich die dicht gelockten Haare zurückband. Von seinem Handrücken zog sich eine dicke, schimmernde Narbe den Arm hinauf, sein kleiner Finger schien steif zu sein. »Jeder Einzelne von uns hat in mehr Schlachten gekämpft, als du Jahre zählst!«

»Und wie viele davon gegen Bestien?«

»Aber du, ja?« Kripschnik spuckte aus. »Was willst du denn dem Drachen entgegensetzen? Dein Gesicht und hoffen, dass er vor Schock tot umfällt, oder was?«

»Etwa so, wie es dir jedes Mal bei meinem Anblick ergeht, du Held?«

»Wenn ich ein Gesicht hätte wie du, würde ich mich nicht einmal mehr auf die Straße wagen – geschweige denn, es noch zur Schau stellen!«

»Wenn ich einen Verstand hätte wie du, würde es mich wundern, wenn ich überhaupt die Straße fände!«

Mit wilden Flüchen sprangen fünf von ihnen auf. Griffen nach den Schwertern an ihren Gürteln und zogen sie doch nicht. Stattdessen wanderten ihre Blicke unruhig zum Zelt ihres Leutnants und dann zurück zu Jäger – beziehungsweise zu einem Punkt auf Höhe ihres Kragens.

»Ruhig Blut, Männer«, brummte Bragg. Er war der Einzige, der weiterhin unbeeindruckt an seinem Fleisch kaute. »Ihr wisst, was der Leutnant gesagt hat. Sie ist vom König selbst für diese Mission ausgewählt – oder besser gesagt: an die Kette gelegt. Lasst sie einfach fauchen, sie tut keinem was. Aber sobald wir Hand an das Raubkätzchen legen, sind wir es, die bestraft werden. Denkt an Pittaras.«

Sie hasste ihn für diesen Kommentar. Inbrünstig. So sehr, dass sie versucht war, zu Crops provisorischem Zelt jenseits des Feuerscheins hinüberzustapfen und ihn aus seinem friedlichen Schlaf zu reißen. Er glaubte also, sie bräuchte diese Art von Fürsprache, ja? Verdammt sollte er sein! Sie brauchte niemandes Hilfe!

Jäger konnte nichts tun, als hilflos zuzusehen, wie sie sich alle einer nach dem anderen wieder setzten. Verdammt. So bekam sie sie nicht genug gereizt – nicht so wie diesen Pittaras, den Crop noch vor Beginn der Mission aus der Gruppe geworfen hatte – und erhielt nicht den Kampf, die Warnung, die Zurschaustellung ihrer Fähigkeiten, die sie so dringend brauchte, um sie wirklich, wahrhaftig auf Abstand halten zu können.

Genervt bückte sie sich nach ihrem Köcher, streifte ihn sich über den Kopf und den Bogen über die Schulter und stand auf. Wandte dem Feuer den Rücken und dem nachtverhüllten Wald das Gesicht zu.

»Ey, was hast du vor?« Gallans Stimme.

»Das Raubkätzchen verabschiedet sich für ein paar Stunden zu einem Spaziergang.«

»Der Leutnant hat gesagt, wir dürfen uns unter keinen Umständen vom Lager entfernen.«

»Höre ich da etwa Panik? Ihr werdet doch wohl ohne mich zurechtkommen, so kampferprobte Leute wie ihr.« Sie zerrte das dünne Seil aus ihrer Hosentasche, befestigte es an der dafür vorgesehenen Schlaufe an ihrer Hüfte und kontrollierte die Klingen in ihren Stiefeln, ihren Ärmeln, an ihrem Gürtel. Dann, ohne auf eine Antwort zu warten, trat sie zwischen die hohen Bäume, wo das Zikadenorchester sie empfing und sich die Dunkelheit wie ein Mantel auf ihre Haut legte. Sie begann zu rennen.

* * *

Sie rannte, bis das Blut in ihren Adern prickelte und sie den kräftigen Herzschlag spürte. Rannte, bis sich ihre Füße vom Boden lösten und ihr Verstand mit dem Wald verschmolz. Rannte, bis sie nichts als die Herausforderung auf der Zunge schmeckte. Bis sich ihre Leere mit dem Rhythmus des Jagens füllte.

Dann erst wurde sie langsamer, passte ihren lauten Atem wieder dem Wispern der Blätter und den Geräuschen der Wildnis an. Hielt Ausschau nach einer von ihnen. Einer Bestie.

Die erste, die sie fand, hatte Maul und Vorderhuf in einen schmalen Bach getaucht. Gigantische Hörner wölbten sich aus ihrem Schädel, der Rücken war ungestalt, bucklig, zu mächtig für die Hinterbeine. Die meisten hatten Ähnlichkeit mit gewöhnlichen Tieren, doch irgendetwas an ihnen sah immer falsch aus, war zu viel oder schien zu einer anderen Tierart zu gehören. Früher, als die Ausbreitung der Bestien gerade begonnen hatte, hatte man versucht, sie in Kategorien zu sortieren und ihnen Namen zu geben. Ein Unterfangen, das man längst aufgegeben hatte. Es gab zu viele von ihnen und zu wenige Menschen, die eine Begegnung überlebten. Was zählte, war die Unterteilung in Fleisch- und Pflanzenfresser – und die würde Jäger erst treffen können, wenn sie einen Blick auf das Gebiss geworfen hatte.

Lautlos streifte Jäger Köcher und Bogen ab und hängte sie über den nächstbesten Ast. Nur das Seil, das Biest und sie. Für diese Nacht ging es nicht ums Töten, es ging nur um den Kampf, ums Siegen. Ja, es war gefährlich, Jäger hatte aufgehört zu zählen, wie oft ihr Leben schon am seidenen Faden gehangen hatte, sie hatte so ziemlich alles einmal durchgemacht. Gebrochene Knochen, eitrige Wunden, Gift, das sie tagelang im Delirium hielt. Lediglich die Unruhe hatte sie bisher verschont. Diese Krankheit, die manchmal bei einem Bestienangriff übertragen wurde und einen selbst vorübergehend zur Bestie mutieren ließ – zur Wer-Bestie –, wann immer einen heftige Emotionen überkamen. Dabei wusste Jäger nicht einmal, wie die Unruhe übertragen wurde, wie sie sich dagegen hätte schützen – oder es provozieren – können. O ja, jede Begegnung mit solch einer Kreatur war ein Spiel mit dem Feuer, ein Tanz mit dem Tod.

Und das Einzige, was Jäger am Leben hielt.

Sie prüfte die Windrichtung, bevor sie sich an das Biest heranpirschte, eins mit der Nacht und den Schatten. Moos und Farne gaben unter ihren Sohlen nach. Sorgsam achtete sie darauf, sich durch kein Geräusch zu verraten, nicht die tief hängenden Zweige zu streifen. Ein Schritt, noch einer. Vorsichtig bewegte sie sich die leicht abfallende Böschung hinab, hinunter zu dem träge fließenden Bach. Ein falsches Aufsetzen und sie würde abrutschen, sich verraten. Jäger machte sich kleiner, duckte sich, sodass der massige Körper des Ungeheuers sie vor seinem Sichtfeld abschirmte. Noch immer hatte es den Kopf zum Trinken gesenkt. Es würde gar nicht wissen, wie ihm geschah, bevor Jäger sich auf seinen Rücken geschwungen hatte und das Seil –

Das gigantische Biest hob den Kopf und lauschte. Auch Jäger erstarrte. Sie hatte es ebenfalls gehört. Ein Knacken, das nicht von ihr stammte. Ein Bereich hinter ihr, in dem der Zikadenchor verstummte.

Mit einem panischen Schnauben stob der Koloss vor ihr durch das flache Bachbett davon, verteilte Wasser in alle Richtungen. Instinktiv ließ sich Jäger flach auf den Boden fallen. Spürte den Aufprall vor Schreck kaum, denn nur einen Herzschlag später flogen scharfkrallige Pfoten über sie hinweg.

Davor war die andere Bestie also geflohen.

Sie war kaum rechtzeitig auf den Füßen, bevor der Angreifer zu ihr herumfuhr. Fuchsartige, große Ohren, zwei buschige Ruten und ein für die Größe widersinnig schlanker, filigraner Körper waren alles, was Jäger erfassen konnte, ehe sie erneut einem Sprung ausweichen musste und sich zur Seite warf. Nicht einmal ein Knurren, keine Vorwarnung! Zähne schnappten nach ihren Beinen. Sie rollte sich weg, rappelte sich auf, zog einen Dolch aus dem Stiefel – und die Pfotenkrallen schlitzten ihr die Seite auf.

Jäger schrie. Sie hieb mit dem Dolch nach dem Biest, erwischte es jedoch nicht und musste stattdessen den schnappenden Kiefern ausweichen. Keuchend krabbelte sie rückwärts, trat nach allem, was sie erreichen konnte. Vergeblich. Ein weiterer Satz und die Bestie war über ihr. Speichel tropfte Jäger ins Gesicht. Blind trieb sie den Dolch nach oben, versenkte ihn irgendwo zwischen Hals und Schulter.

Eine Sekunde. Mehr brachte es ihr nicht. Eine Sekunde, in der der Schmerz die Bestie zum Innehalten brachte – lautlos, auch jetzt noch. Jäger stieß sie mit aller Kraft von sich. Gleichzeitig rappelten sie sich auf, prallten erneut gegeneinander. Sie rollten über den Boden. Wurzeln und Äste schabten über Jägers Haut, bis sie endlich in seinen Rücken gelangte, den Arm um den Hals ihres tierischen Gegners schlang und mit den Fingern seine Kehle umklammerte. Er warf sich herum und Jäger stöhnte auf, als sie unter seinem Gewicht zu liegen kam. Doch sie ließ nicht los. Drückte. Und die Bestie kämpfte sich auf die Füße, versuchte sie abzuschleudern, sie zwischen sich und einem Baum zu zerquetschen. Jäger schnaufte. Bohrte auch noch die Finger der anderen Hand in das dichte Fell. Schaffte es, ein Bein über den Rücken zu bekommen.

Und dann saß sie, saß auf der Bestie. Sosehr diese sich auch wand und nach ihr schnappte, sie bekam sie nicht zu fassen.

Der Triumph, die Erleichterung trieb Jäger das Lachen auf die Lippen. Die lautlosen Raubtiere waren immer die gefährlichsten. Und doch hatte sie es geschafft. Hatte gesiegt.

Mit der einen Hand tastete sie umständlich nach dem Seil an ihrem Gürtel, löste es und schüttelte es aus, bis sie die vorgefertigte Schlaufe fand. Sie warf sie der Bestie um den Hals, während ihr Herzschlag ihr in den Ohren hämmerte und sie daran erinnerte, dass sie am Leben war. Immer noch.

Sie zog die Schlaufe fester und verharrte mehr liegend als sitzend auf der Bestie, lauschte deren heftigen Atem. Langsam, ganz langsam kam das Tier zur Ruhe, akzeptierte seinen vorübergehenden Reiter.

* * *

Mit einem Ruck zog sie den Pfeil aus dem Hals der letzten gedrungenen, affenartigen Bestie und starrte in die Schatten zwischen den hohen Bäumen. Dort, wohin die Mittagssonne nicht vordrang und wo noch immer das Echo des letzten panischen Wieherns festhing.

Jetzt war es still, gespenstisch still. Und sie hatten zwei Pferde weniger.

»Jäger?«

Crop stand neben ihr. Die anderen Männer hatten sich in einiger Entfernung zusammengeballt, diskutierten wild und warfen immer wieder wütende Blicke in Jägers Richtung. Die natürliche Reaktion auf einen Schock, auf die Ohnmacht gegenüber dem plötzlichen Angriff – die Erkenntnis, dass Jäger doch recht hatte und sie nicht.

»Das muss aufhören.« Die Wunde über dem Schlüsselbein, die Crop seit ein paar Tagen hatte, war wieder aufgegangen. Das Blut durchnässte sein Hemd, glitzerte bedrohlich rot. Trotzdem wirkte er im Gegensatz zu seiner Truppe ruhig und gefasst, als wäre lediglich ein stärkerer Luftzug über sie hinweggefegt.

»Es ist nicht meine Schuld, dass wir zwei Pferde verloren haben. Ich hatte euch gewarnt.«

»Das ist mir klar.«

»Ach.« Jäger wandte sich zu ihm um und grinste kalt, zeigte ihm die Zähne, wie es ein Raubtier getan hätte. »Und was zieht ihr für Konsequenzen daraus? Auch jetzt seid ihr wieder zu laut, zu nachlässig! Wer außer mir beobachtet die Umgebung? Wer sorgt dafür, dass wir möglichst schnell weiterkommen, bevor sie zurückkehren und sich Nachschub holen? Oder die Kadaver der Bestien noch andere, größere Bestien anlocken? Ich meine – schön, mein Problem ist es nicht. Wenn ihr alle draufgegangen seid, kann ich diese verdammte Mission wenigstens abbrechen und wieder zurückkehren.«

Wortlos drehte sich Crop um und gab den anderen Männern nacheinander mehrere Handzeichen: sammeln, weiterreiten. Sofort.

»Besser?«

»Wie wäre es mit einem Danke?«, schlug sie vor und wischte den blutigen Pfeil am Fell der Affen-Bestie ab. Während sie ihn zurück in den Köcher schob, ließ sie erneut den Blick über die Schatten zwischen den Bäumen streifen. Keine Spur von einer Bestie. Auch nicht von dem übergroßen fuchs- oder mähnenwolfähnlichem Exemplar, das sie seit dieser einen Nacht häufiger gesehen hatte.

»Wie wäre es mit weniger Arroganz? Ich bin dein Leutnant.«

»Und bist du zu diesem Posten gekommen, weil dein großer Generalpapi hoffte, du könntest dir auf diese Weise endlich Lorbeeren verdienen? Oder hoffte er, dich so loszuwerden?«

»Siehst du, genau darum geht es.« In seiner schmalen, von leichten Kratzern gezeichneten Miene regte sich nichts. Kein Muskel, keine Wimper zuckte. Er sah sie an, erwiderte wie jedes Mal ihren Blick so ungerührt, als gäbe es da keine Narbe quer über ihrem Gesicht. Wie jedes Mal musste Jäger gegen die Angst ankämpfen, die dieser Blick in kalten Wellen in ihr aufsteigen ließ. Musste sich daran erinnern, einfach weiterzuatmen. So zu tun, als wäre es nichts, als würde es ihr nichts ausmachen.

»Du musst mit diesen Provokationen aufhören«, erklärte er ruhig. »Wir werden nicht weit kommen, wenn wir so weitermachen. Nur als Einheit sind wir stark – und dass wir keine sind, war nie so deutlich zu sehen wie eben. Allerdings werden wir uns gegenseitig niemals genug vertrauen, wenn du ständig für Aufregung sorgst.«

»Aufregung?« Jäger lachte. »Wie nett. Umschreibst du damit die Beleidigungen, Unterstellungen und Obszönitäten? Du würdest sie kennen, wenn du dich nicht jeden zweiten Abend bei der ersten Gelegenheit in deinem Zelt verkriechen würdest. Aber was kannst du dafür, dass dir diese Truppe auf deine zarten Nerven schlägt, nicht wahr? Ich versteh schon.« Sie ging auf ihr Pferd zu und löste den lockeren Knoten, mit dem sie es festgebunden hatte. Dann schwang sie sich in den Sattel.

Crop folgte ihr, blieb neben ihren Füßen stehen. »Ich weiß, warum du das tust.«

»Ich versuche, die Gruppe zu sabotieren. Ich dachte, jeder wüsste das.«

»Du versuchst, sie von dir fernzuhalten. Du versuchst, jeden von dir fernzuhalten.«

»Und für diese Erkenntnis hast du so lange gebraucht? Ich gratuliere –«

»Du fürchtest dich vor Nähe.«

Etwas in ihr zog sich schmerzhaft zusammen. Ihr Herz? Sie hatte kein Herz mehr.

»Was ist dir widerfahren? Wer hat dir das angetan, dass du zu dem wurdest, was du jetzt bist?«

Nicht denken. Nicht erinnern. »Niemand. Nur ich selbst.« Sie hatte doch gewusst, dass er gefährlich war. Die stillen Bestien waren immer die gefährlichsten. »Ich war schon immer ein Aas, Leutnant, und ich werde es auch bleiben. Versuch nicht, mir tiefgründige Motive anzuhängen. Es ist –«

Die Ohren des Pferdes zuckten.

Sofort hatte Jäger den Pfeil gezogen und angelegt, zielte blind in den Wald. Ein Schwarm Vögel stieg mit hämischem Kreischen über den Baumwipfeln auf.

»Wir sollten hier schleunigst verschwinden.«

Sie wagte es nicht, den Blick von den Bäumen abzuwenden, doch sie hörte Crops Schritte, die sich entfernten. Wenige Herzschläge später ritten die anderen Männer an ihr vorbei. Jäger folgte ihnen, als Letztes. Ließ ihrem Pferd die Zügel frei, sodass es instinktiv den anderen folgte. Während sie selbst weiterhin den Wald nach hinten sicherte, den Kadaver der Affenbestie nicht aus dem Blick ließ, bevor er in der Entfernung verschwand.

* * *

Sie konnte es nicht ewig hinauszögern. Irgendwann war zu viel Zeit und Strecke verstrichen, sodass ihr niemand mehr glauben konnte, sie würde die Truppe gegen Verfolger nach hinten absichern. Also schloss sie zu den anderen auf. Sie verabscheute es trotzdem. Wie die Männer zu ihr sahen, wann immer sie selbst in eine andere Richtung blickte. Ja, sie hatten gesehen, wie schnell sie war. Wie gut sie war. Aber es änderte nicht das Geringste an deren nervösen Furcht, dem Zorn und dem Hass angesichts dieser ganzen hilflosen Situation. Jäger fragte sich, wie viel Zeit ihr blieb, bevor die anderen all diese Gefühle auf sie projizieren würden. Ob sie nicht verschwinden sollte, bevor es dazu kam.

Vierundzwanzig gegen eins.

Crop ließ sein Pferd hinter die der anderen zurückfallen, bis er erneut neben ihr war. »Was ich vorhin sagen wollte …«

»Spar es dir.«

»Nein. Mir ist es wichtig, dass du weißt, dass ich als Anführer für den Schutz meiner Truppenmitglieder zuständig bin. Jedes einzelnen Mitglieds. Wenn du dich also von jemandem bedrängt fühlst –«

Sie hob den Bogen, den Pfeil an der Sehne, zielte jedoch jetzt auf ihn, nicht auf den Wald.

»Was soll das werden?«

»Ich fühle mich bedrängt, und das ist meine Methode, damit umzugehen: Noch eine weitere Andeutung bezüglich meines ach so weichen inneren Kerns und ich beweise dir seine Weichheit, indem ich dir hier und jetzt einen Pfeil durch den Körper jage. Mich widert dieses Thema an!«

»Du bedrohst deinen Vorgesetzten«, wies er sie ruhig hin.

»Ich bedrohe denjenigen, der mich zwingt, an dieser Mission überhaupt teilzunehmen.«

»Du bedrohst den Einzigen, der dir eventuell beistehen würde, wenn sie sich gegen dich zusammenschließen. Du weißt, dass das passieren wird, wenn du deine Strategie nicht änderst. Du könntest –«

»Ist es so schwer, das in deinen Dickschädel zu bekommen? Ich bin so! Daran gibt es nichts zu ändern!«

»Nein, das bist du nicht. Zufällig weiß ich –«

Er zuckte zusammen, als der Pfeil direkt vor seinem Gesicht die Luft durchschnitt. Es verschaffte ihr eine gewisse Befriedigung, ihn wenigstens einmal, dieses einzige Mal aus der Fassung gebracht zu haben.

»Schön«, sagte er barsch, und scharfe Falten durchschnitten nun die Haut zwischen seinen Brauen. »Du willst also um jeden Preis verbergen, dass du gar nicht so hart bist, wie du vorgibst. Zu deiner Information: Das kommt zu spät. Warum sonst treibt sich gelegentlich eine rostbraune Bestie ungestraft in der Nähe unseres Lagers herum?«

Wie zum Henker – »Das ist dir aufgefallen?«

»Du willst es demnach nicht abstreiten.«

Verdammt. Verdammt! Sie hätte diese verfluchte Bestie umbringen sollen!

Aber sie tötete nie, wenn es nicht nötig war. Nur wenn die Dorfbewohner hungerten oder es um ihr eigenes Leben ging. Jetzt war es nicht nötig gewesen. Wie hätte sie wissen sollen, dass dieses Vieh ihr folgen – und es noch dazu jemandem auffallen würde? Sicher, es gab intelligente und weniger intelligente Bestien. Aber sie hatte nie zuvor davon gehört, dass eine Bestie einem entkommenen Opfer gefolgt wäre.

»Ich kann unmöglich auf alles schießen, was sich bewegt«, gab sie abfällig zurück. »Das heißt, solange sie uns nicht angreift, werde ich nichts dergleichen tun.«

»Ich sag es doch: Mitgefühl. Rücksichtnahme.«

Sie hätte sie töten sollen.

»Und das, obwohl sie dich schon angegriffen hat. Ist es nicht so? Die Nacht, nach der du voller Kratzer warst? Die Bestie hat eine Wunde an der Schulter.«

»Falsch. Nicht sie, sondern ich habe angegriffen.«

Crop sah Jäger von der Seite an, als würde er die Lüge hinter ihren Worten wittern. Und sie dafür verachten. »Die Bestien überfallen inzwischen sogar in Scharen die Dörfer, wo sie alles niedermetzeln, was sie finden können. Du bist einzig und allein um diese Monster zu töten überhaupt Teil dieser Mission geworden. Und dann willst du mir erzählen, dass du aus Langeweile in den Wald gehst, um mit ihnen zu spielen?«

»Wo ist das Problem? Bist du neidisch, weil du nicht mitspielen kannst?« Sie hatte das lautlose, schnelle Biest bezwungen. Würde es wieder bezwingen können, wenn es darauf ankam.

»Ich werde dir jetzt mal was erzählen«, setzte er neu an. »Vor drei Jahren hat eine Bestie meine Verlobte umgebracht. Zerfleischt, bis die Reste kaum zu identifizieren waren.«

»Damit bist du nicht der Einzige. Stell dich hinten an, wenn du Mitleid willst.«

»Das ist nicht –«

Schön, so wurde sie ihn nicht los. »Zu deiner Erinnerung: Nicht alle Bestien sind gleich. Manche sind in ihrem Kern menschlich, werden nur vorübergehend zu Bestien, und es gibt keine Möglichkeit, die Wer-Bestien von den tierischen zu unterscheiden. Ich töte Bestien, wenn es nötig ist, ja. Aber ich laufe nicht durch die Gegend und metzele nieder, was mir in den Weg kommt. Ich bin kein Soldat.«

»Du hast mich nicht ausreden lassen«, presste Crop hervor. »Ich habe dir noch nicht das Schlimmste von der Geschichte erzählt. Diese Bestie war eine solche Wer-Bestie, sie war ein Mensch. Nur dass nichts an ihm nach der Verwandlung noch menschlich war. Hast du schon einmal gesehen, was mit diesen Infizierten passiert? Es beginnt ganz harmlos, mit einer winzig kleinen Aufregung, die sie durcheinanderbringt. Man sieht nicht viel von außen, lediglich dass die Hände anfangen zu zittern. Bis das Zittern sich über den ganzen Körper ausbreitet und dann … Es bleibt nichts mehr von diesem Menschen übrig, sobald er zur Wer-Bestie wird. Keine Vernunft, keine Erinnerung. Keine Rücksicht, kein Erbarmen. Also spar dir das nächste Mal gefälligst dein Mitgefühl, denn jedes Zögern kann ein echtes Menschenleben kosten!«

Die letzten Worte spuckte er beinahe.

Sie hatte nicht gewusst, dass er zu solch heftigen Reaktionen in der Lage war. Sie hatte tatsächlich angefangen zu glauben, dass er einfach keine Gefühle besaß. Anscheinend … war er bloß besser darin, sie zu beherrschen und zu verbergen. Und anscheinend gehörte er zu den Leuten, die insgeheim allen mit der Unruhe Infizierten den Tod wünschten. Es wurden allmählich immer mehr.

»Du gibst dir die Schuld am Tod deiner Verlobten.«

Sie glaubte ihn blinzeln zu sehen, als wäre er über seinen eigenen Ausbruch betroffen. Dann sah er hinab, auf seine Finger. Ballte sie zur Faust und öffnete sie wieder. Als würde er erwarten, sie demnächst steif und unbeweglich vorzufinden. »Ich gebe sie mir nicht nur, ich habe sie.«

Und trotzdem lief er ungestraft herum. Vermutlich ebenso wie der Infizierte, schließlich konnte er nicht für etwas schuldig gesprochen werden, was seine Wer-Bestie getan hatte.

»Ich mache dir einen Vorschlag.«

Der abrupte Themenwechsel ließ Crops Mimik wieder zu einer gleichgültigen Maske zerfließen. »Ja?«

»Tritt gegen mich an. Mit dem Schwert, wenn du möchtest, ich werde bei meinen Dolchen bleiben. Wenn ich gewinne, mache ich weiter wie bisher. Wenn du gewinnst, schieße ich von jetzt an auf jede Bestie, die ich sehe. Ohne zu zögern.«

»Warum willst du das?«, wollte er wissen.

Er hatte nicht gesagt, das sei lächerlich. Sie wäre eine Frau und er erhebe keine Hand gegen sie. Er hatte auch nicht gesagt, er würde sich auf einen derart ungleichen Kampf nicht einlassen – denn anscheinend beging er nicht den Fehler, sie zu unterschätzen.

»Ich brauche den Kampf. Deswegen gehe ich schließlich in den Wald zu den Bestien.«

»Die Begründung nehme ich dir nicht ab. Du fürchtest dich vor körperlicher Nähe, warum solltest du freiwillig …« Sein Blick war so eindringlich, als müsste er sie nur genau genug studieren, um hinter all ihre Gedanken zu kommen.

Jäger stellten sich sämtliche Nackenhaare auf. Sie musste sich zwingen, nicht wegzusehen.

»Du brauchst diesen Kampf«, begriff er, »weil du hoffst, die Männer damit abschrecken zu können. Ihnen zu zeigen, wie es ihnen ergeht, falls sie dich bedrängen.«

Sie hätte ihn für diese Theorie gern ausgelacht, doch die Luft war zu dünn in ihrer Lunge. »Denk dir, was du willst. Der Vorschlag bleibt derselbe. Nimmst du ihn an?«

»Ja.«

»Ja?« Sie musste sich verhört haben.

»Unter einer weiteren Bedingung: Wenn ich gewinne, gibst du außerdem deine Provokationen auf.«

Sie war atemlos, brachte nur heraus: »Einverstanden.«

Sie durfte um keinen Preis verlieren.

* * *

Die Anfeuerungsrufe, das Geklatsche und Gejohle nahm Jäger nur am Rande wahr. Angst und Aufruhr brodelten kurz unter ihrer Hautoberfläche, all ihre Sinne waren auf ihr Gegenüber ausgerichtet. Sie hasste es, von allen angesehen, begutachtet zu werden. Und sie hasste noch mehr, dasselbe mit ihrem Gegner tun zu müssen. Die versetzt stehenden Stiefel. Die leicht gebeugten Beine und angespannte Haltung seines Oberkörpers, dessen schwere Muskeln sich durch den Stoff abzeichneten. Die Schrammen und Kratzer an seinen Unterarmen, den sehnigen Händen, am Hals und den schmalen, glatt rasierten Wangen. Der aufmerksame, unnachgiebige Blick. Allein an purer Muskelkraft und Gewicht war er ihr weit überlegen. Sie konnte lediglich hoffen, dass die Wunde an seiner Schulter noch immer empfindlich war.

Sie würde ihn an sich heranlassen müssen. Ihr war bereits jetzt schon übel, kalter Schweiß saß ihr im Nacken.

Echte Schläge und oberflächliche Schnitte waren erlaubt, Stichwunden verboten. Zumindest für harmlose Verletzungen waren sie noch weit genug von ihrem Ziel – dem Drachen – entfernt, um sich rechtzeitig zu erholen. Crop hatte Lederrüstung und Schwert abgelegt, er wollte gleiche Bedingungen. Dabei würde das schwindende Tageslicht ihr Vorteil sein. Sie hatte oft genug in der Dunkelheit des Waldes gekämpft. Sie musste gewinnen. Musste. Denn falls sie verlor …

Nicht denken.

Jäger begann, Crop zu umkreisen. Augenblicklich verstummte der Lärm ringsum, es war wie ein kollektives angespanntes Einatmen. Crop versetzte nur die Füße, passte seine Ausrichtung der ihren an. Er ließ leicht die Schultern rotieren, versuchte damit gleichzeitig seinen sichtbar steifen Nacken zu lockern und Jäger einzuschüchtern.

Doch dann, mitten in der Bewegung, griff er sie an. Jäger parierte, doch sofort setzte er nach und sie wich ihm hastig aus, glitt zur Seite. Er war schneller, als sie gedacht hatte. Aber zu diszipliniert. Zu sehr an den Kampf mit Menschen gewöhnt, an bestimmte, immer wiederkehrende Muster. Sie dagegen hatte an Bestien gelernt.

Also stieß sie zu, zog sich zurück, stieß zu und zog sich zurück. Umkreiste ihn, umkreiste ihn wie ein Wolf. Griff an und hielt verbissen auf die Schwachstellen, die sie fand. Forderte seine Arme, seine Konzentration – und hebelte ihm das Standbein aus. Mit einem Aufstöhnen der Menge ging er zu Boden.

Bekam jedoch ihren Knöchel zu fassen, bevor sie ihm ausweichen konnte.

Sie fiel, hieb augenblicklich nach ihm, doch ihr Unterarm wurde weggeschlagen. Sie trat nach ihm, rollte sich weg, versuchte sich aufzurappeln – doch er brachte sie erneut zu Fall. Verweigerte ihr den Ausweg.

Es war das, wozu es nicht hätte kommen dürfen. Hände auf ihrer Hüfte. Arme um ihre Beine. Durch das dumpfe Hämmern in ihren Ohren hörte sie die Rufe ihres Publikums. Die Welt schrumpfte in sich zusammen. Ihr Blut wurde kalt, eiskalt. Sie spürte die kalten Fangzähne der Erinnerung in ihrem Nacken, spürte, wie sie ihr die Luft abdrückten. Sie konnte nicht atmen. Atmen.

Plötzlich war es gleichgültig, welche Situation, welcher Ort, welche Person es war. Sie wollte nur überleben. Musste das Eis abschütteln, bevor es ihren Verstand zersplitterte. Sie fuhr herum und kämpfte, kämpfte um jeden weiteren Atemzug, jeden weiteren Hieb und Schnitt. Wildes Knurren schlug ihr entgegen, Schmerz grub sich in ihren Körper, etwas schnitt ihr in die Stirn. Doch das war unwichtig. Nur die Angst, die Kälte …

Es war ein gellendes, unnatürliches Kreischen, das sie zur Besinnung kommen und durch die Eisfläche zurück in die Realität brechen ließ. Ihre Sicht verschob sich. Das auf dem Boden neben ihr war Crop, niemand anderes. Lädiert und anscheinend kaum selbst Herr seiner Sinne. Und das, was da aus dem Wald kam, die langbeinigen Vögel … das war die wahre Bedrohung.

Sie bekam einen Schlag gegen die Schulter, wurde schmerzhaft zur Seite gerissen. Doch ihre Instinkte blieben diesmal hellwach, ihr Kopf klar. »Crop! Hör auf!« Entschlossen versuchte sie, ihre Beine freizukämpfen und gleichzeitig, trotz des Blutes, das ihr von dem Schnitt über ihrer Braue in die Augen lief, die Vögel im Blick zu behalten.

Es war ein Gemetzel. Keiner der Männer hatte auf die Pferde geachtet. Jetzt taten sie es, zu spät. Die ersten waren bereits unter Bestien begraben, und als die Soldaten mit ihren Schwertern auf die Angreifer stürzten, wurden sie selbst zu Zielscheiben. Sie hackten und stießen zu, aber die Vögel waren schnell, viel zu schnell. Bewegten sich zudem in einer beunruhigenden Einheit, wie Jäger es nie zuvor gesehen hatte. Als wären sie über unsichtbare Fäden verbunden, als wären sie ein Wesen. Keuchend, der ganze Körper brennend, kam Jäger auf die Füße. Stolperte zu ihrem Köcher neben Crops abgelegtem Schwert. Zielte. Schoss. Zielte. Schoss. Sie verlor den Überblick, verlor Crop aus den Augen und Gallan und Bragg und Olver und Kripschnik …

Einer der Vögel wurde gegen sie gestoßen und sie verlor ihren Bogen. Rappelte sich auf, griff stattdessen nach einem herumliegenden Schwert, warf sich dem Vieh an den Hals. Schlitzte. Stach. Trat. Hieb zu. Tötete. Tötete. Tötete.

Bis es endlich still wurde um sie herum und auch das letzte trommelfellzerfetzende Kreischen verstummte.

Verrenkte Körper bedeckten den Boden. Blut. Federn. Jäger stieg über gefiederte Hälse und ledrig graue Beine hinweg. Zerrte eine der schweren Vogelleichen von einem röchelnden Kripschnik und versicherte sich, dass er genug bei Bewusstsein war, um seine Blutung selbst zu stillen. Sammelte die Waffen ein, wo immer sie welche fand, denn sie würden jede brauchen, die ihnen zur Verfügung stand. Gab einem Pferd, dessen ganze Flanke aufgerissen war, den Gnadenstoß.

Sie fand Crop mit dem Rücken zu ihr, halb über Bragg gebeugt, wie er sich dessen letzte rasselnde Atemzüge anhörte und leise antwortete. Wieder ganz der geduldige, ruhige Anführer. Kein Anzeichen von dem knurrenden Raubtier, zu dem er vorübergehend in ihrem Zweikampf geworden war. Doch sie wartete nicht ab, bis sich Braggs Lider geschlossen hatten. »Wir müssen hier weg, Crop. Schnell«, erklärte sie. »Wir haben keine Zeit, uns um die Toten oder die im Sterben Liegenden zu kümmern. Dieses Spektakel wird innerhalb von Sekunden weitere Bestien anlocken. Wenn wir nicht sofort aufbrechen, dann werden auch die Überlebenden –«

»Ich weiß.« Crop ließ Bragg los und erhob sich.

Etwas in seiner Miene stimmte nicht. Es sah aus, als würde es unter der Oberfläche brodeln. Als wäre allein seine anerzogene Beherrschung der Schleier, der noch eben verbergen konnte, was tatsächlich in ihm vorging. Seine Hände zitterten.

Nein, nein, das durfte nicht … Aber sie kannte die Vorzeichen zu gut, um sie zu leugnen.

Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke.

»Lauf«, flüsterte sie. »Sofort.«

Er zögerte. Dieser verfluchte Kerl zögerte!

»Lauf!«, stieß sie fassungslos hervor. »Ich werde die Männer allein weiterführen, aber verschwinde gefälligst, bevor es ausbricht!«

Mit einem Geräusch, das erschreckend nach einem Aufjaulen klang, warf er sich herum und floh in die undurchdringliche Dunkelheit des Waldes. Zu seinesgleichen. Jäger brauchte es nicht zu sehen, um zu wissen, dass er rostbraunes Fell und zwei Fuchsschwänze bekommen würde.

Es war nicht irgendeine Wer-Bestie gewesen, die seine Verlobte getötet hatte. Es war diese Wer-Bestie gewesen.

Kapitel3

Wie’s nun Abend ward, dass sie wollten schlafen gehen, da fürchtete sie sich sehr vor seinen Stacheln,

er aber sprach, sie solle sich nicht fürchten,

es geschehe ihr kein Leid.

Hans mein Igel

Drei Jahre zuvor

Crop öffnete die Tür. Der Geruch von altem Papier, Leder und Staub schwappte ihm entgegen, so vollkommen anders als im Ausbildungslager, aus dem er kam. Er atmete tief ein. Es roch nach Wissen und unendlichen Möglichkeiten. Und wie vor über zehn Jahren, als er als grüner Junge vom Dorf das erste Mal eine Bibliothek betreten hatte, fühlte er auch jetzt, wie die Bücher ihn zu sich riefen. Als hätten sie seitdem auf ihn gewartet.

Lautlos schloss Crop die Tür hinter sich, ohne den Blick von den Regalen abzuwenden. Buchrücken an Buchrücken, eng gedrängt bis unter die hohe Decke. Er trat vor und legte eine Hand flach auf die Einbände, tastete über das steife, brüchige Leder. Ja, das hier war Wirklichkeit. Er war tatsächlich hier.

Die Bibliothek war größer als die, in der er als Kind gewesen war, aber bei Weitem nicht die größte des Königreiches. Er hatte einen Kompromiss eingehen müssen zwischen Erreichbarkeit und Größe und seine Wahl war auf Byrne gefallen. Und sie enttäuschte ihn nicht. Bedächtig schritt er die Regale entlang, bog in einen Gang ein, dann in noch einen. So viele Bücher. Er wollte jedes einzelne Buch aus dem Regal holen und lesen, sein verborgenes Wissen inhalieren, bis sein Verstand zu summen begann. Himmel, es war viel zu lange her, dass er das das letzte Mal getan hatte. Hätte er mit sechzehn einen stärkeren Willen gehabt, dann wäre er jetzt vielleicht einer derjenigen gewesen, die in den Seitennischen unter den hohen Fenstern saßen, tief über ihre Lektüre gebeugt, während die Bücherstapel bedrohlich schief neben ihnen aufragten.

Aufgeblasener Unsinn und hohles Geschwafel, hatte sein Onkel die Bücher genannt. Und wenn seine Tante ihn dabei erwischt hatte, wie er an einem dieser Dinger klebte, hatte sie es ihm vor der Nase zugeklappt und ihn aufgefordert, besser seinem Onkel beim Holzhacken zu helfen. Die beiden hatten ihn und seinen Bruder notgedrungen aufgezogen, während sein Vater ständig an irgendeiner Front kämpfte – oder für ebendiese ausgebildet wurde. Vielleicht hätte seine Mutter Crops Interesse verstanden, aber seine Mutter war so früh gestorben, dass er nur vage Erinnerungen an sie hatte.

Jetzt war er trotzdem hier, wenigstens für ein paar Tage.

Eine der Personen an den Seitentischen hob unerwartet den Kopf und drehte sich zu ihm um. Die junge Frau musterte ihn neugierig, als würde sie sofort erkennen, dass er nicht hierhergehörte. Er brauchte kein Schwert oder eine Lederrüstung, vermutlich verriet sein ganzer Körperbau, dass seine Welt aus Stahl und Blut statt Papier und Tinte bestand.

»Kann ich helfen?«, fragte sie und erhob sich. Die Frau war gut zwei Köpfe kleiner als er, trug ein unauffälliges, ordentlich gebügeltes Kleid und eine aufwendige Hochsteckfrisur, aus der sich einige schwarze, krause Haarsträhnen gelöst hatten. Ihre Gesichtszüge waren so scharf geschnitten, dass sie beinahe wie geschnitzt wirkten. Crop schätzte sie ein paar Jahre älter als sich selbst.

»Gut möglich.« Er ließ den Blick über die unzähligen Regale schweifen. »Ich recherchiere über die Bestien und die Krankheit, die sie verbreiten.«

»Die Unruhe?«

»Ich suche Hinweise darauf, ob es so etwas schon einmal gab. Und ob es eine Heilung gibt. Einer meiner Kameraden ist befallen.«

Sein Bruder, wie er nach der Rückkehr von der Front mit geschlossenen Augen auf der schmalen Pritsche lag, der Verband in grellem Weiß um seinen dunklen Brustkorb – weiß und rot vom Blut. Das Besteck, das danach beim Abendessen mit seinem Vater und seinen Zieheltern in Crops Händen so sehr bebte, dass das Klirren alle aufsehen ließ. Wie Crop hinausstolperte, wie sein Atem in seiner Lunge pfiff, während er durch die Dunkelheit hetzte. Nur weg, weit weg. Bevor –

Er wischte die Bilder fort, kehrte in die Bibliothek zurück.

»Dann wäre die Abteilung über Krankheiten und Gebrechen vermutlich der beste Ausgangspunkt«, erklärte die Frau ruhig. Kein Anzeichen davon, wie sie selbst Infizierten gegenüberstand, ob mit Angst oder gar Hass. »Die Abteilung ist …« Sie brach ab. »Ich führe dich besser hin. Ich bin Tanita Perez, so nebenbei.«

»Theodemus Crop.«

Sie ging ihm voraus, steuerte zielstrebig durch das Labyrinth an Büchern. Links, rechts, wieder links … Sie humpelte bei jedem zweiten Schritt, der rechte Fuß war nach innen gedreht und schien nicht voll belastbar zu sein. Crop hatte bereits den Mund geöffnet, um nachzufragen, schloss ihn dann jedoch wieder. Das war keine Kriegsverletzung, sie kein gestandener Veteran, der stolz die Geschichte dazu zum Besten gab. Vielleicht wollte sie nicht darüber reden. Stattdessen sah Crop sich um. Er fand kleine, unauffällige Hinweisschilder an den Regalenden, in welcher Sektion sie sich befanden. Sprachkunde, Geografie, Alte Völker und …

»Es gibt Aufzeichnungen über Magie?«, fragte er überrascht. »Ich dachte, die Fae hätten so etwas nicht geführt.«

»Haben sie auch nicht. Alles, was es gibt, ist von Homin-Seite festgehalten worden und daher auch nur begrenzt glaubwürdig. Vieles basiert auf Hörensagen, nicht auf Fakten.«

»Das geben die Autoren selbst zu?«

»Nein, natürlich nicht. Aber das ist bekannt.«

»Bekannt.« Als hätte er es ebenfalls wissen müssen.

»Oh, nicht unbedingt allgemein bekannt. Aber mein Vater ist der Oberste Bibliothekar hier, er weiß so etwas.«

»Und du auch.«

»Ich bin hier sozusagen aufgewachsen.«

Sie sagte es so nebenbei, als würde sie über die fehlende frische Luft hier drinnen reden. Dabei wäre es kaum weniger unglaublich gewesen, wenn sie ihm eröffnet hätte, sie wäre eine Königstochter und in einem Schloss groß geworden! Sie war hier aufgewachsen? Zwischen all dem Wissen?

»Hier.« Tanita wies mit einer Hand den Gang entlang. »Alles zum Thema Krankheiten.«

»Danke.« Er trat vor das entsprechende Regal und besah sich die Buchrücken. Die Titel waren so speziell, dass sie eine Fremdsprache hätten sein können. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich die Bibliothekarstochter zum Gehen wandte.

»Warte bitte«, sagte er, obwohl er das Gefühl hatte, damit sein Glück unnötig auf die Probe zu stellen. Eigentlich wollte er nicht, dass ihn irgendjemand hier in Erinnerung behielt. Oder das Thema, das er recherchierte. »Könntest du mir vielleicht ein Buch empfehlen?«

Sie legte den Kopf schief, runzelte die Stirn. Dann schritt sie das Regal ab, griff scheinbar wahllos nach einem Band und zog ihn heraus. Sie zeigte ihm den Titel: Einführung in die Pathophysiologie. »Das sollte dir helfen, die weitere Lektüre einzugrenzen.« Sie hielt ihm das Buch entgegen und er streckte die Hand danach aus.

Sie sahen es beide, das Zittern in seinen Fingern.

Er wusste nicht, worüber er betroffener war: darüber, dass sie es gesehen hatte, oder darüber, dass es überhaupt da war. Vor Aufregung, zwischen so vielen Büchern zu stehen, hatte er vollkommen vergessen, auf die Zeichen zu achten.

Vor Aufregung. Das war schon der entscheidende Fehler gewesen. Für diese Art Gefühle gab es keinen Platz. Er war nicht mehr der Junge von früher, er war nicht einmal mehr der Mann, der er vor zwei Jahren gewesen war.

Er presste die Kiefer zusammen, atmete langsam und konzentriert durch die Nase ein und aus. Stellte sich vor, dass mit der Atemluft die Nervosität aus seinem Magen, das Kribbeln aus seinen Fingern entweichen würde. Er wurde wieder ruhig, vollkommen ruhig und fokussiert. Kontrolle war die wichtigste, die oberste Regel. Sein Körper war ein Werkzeug, und Crop musste ihn sich unterwerfen, ihn perfekt beherrschen, sonst wurde er zu einer tödlichen Gefahr – manchmal sofort, manchmal erst Stunden später. Wie vor drei Wochen. Durch seine Flucht aus Haus und Dorf hatte er Schlimmeres verhindern können, aber es hätte etwas passieren können. Jede Verwandlung war ein Risiko. Das durfte nicht wieder passieren.

Es würde nicht wieder passieren.

Als Crop endlich nach dem Buch griff, befanden sich seine Finger wieder unter Kontrolle, nicht das leiseste Beben war übrig.

Tanita begegnete seinem Blick. Eine Sekunde lang hielten sie beide das Buch, als würden sie ein Geheimnis teilen.

Dann gab sie es frei. »Ich bin wieder vorn, falls du weitere Hilfe benötigst«, sagte sie und ließ ihn dann mit seinen Fragen allein.

* * *

Jemand tippte ihm auf die Schulter und er fuhr auf. Blinzelte. Konnte für einen Moment nicht einordnen, wo er sich befand. Er saß an einem Tisch, schummriges Kerzenlicht erhellte das aufgeklappte Buch vor ihm. Ein Buch …

»Die Bibliothek schließt jetzt.«

Er drehte sich um. Richtig, die Bibliothek, sein Zuhause der letzten Wochen. Und Tanita, die Bibliothekarstochter. Er musterte ihre Hochsteckfrisur und stellte fest, dass sie sich in einem größeren Auflösungszustand befand, als er sich erinnern konnte. Verdammt, wie viele Stunden hatte er verschlafen? So viel verschwendete Zeit.

»Warum hast du mich nicht früher geweckt?« Fahrig fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht, wischte die Überreste seiner Träume voll Krieg und Blut fort.

»Du schienst den Schlaf nötig zu haben.«

»Ich habe es nötiger, eine Lösung für das Problem zu finden!«, stieß er hervor – und bereute es sofort, schluckte den Zorn hinunter, löschte ihn aus. »Tut mir leid. Du kannst nichts dafür.« Er hatte sie immer wieder mit seinen Fragen belagert. Er hatte mit ihr mehrfach über den Inhalt einiger Bücher im Flüsterton diskutiert, weil sie beinahe jedes hier auswendig kannte. Er wäre ohne sie in den zwei Wochen nicht einmal halb so weit gekommen.

Er rappelte sich aus dem Stuhl auf, der ganze Körper steif vom ungewohnt langen Sitzen, und stapelte die Bücher ordentlich übereinander. »Soll ich sie wieder einsortieren oder –«

»Das mache ich morgen früh. Leg sie einfach in den Handkarren neben dem Ausgang.« Sie zögerte. »Ich nehme an, die heute waren dann auch nicht hilfreich?«

Nein, wenn er ehrlich war. Er wusste jetzt, wie die Unruhe übertragen wurde – über Kontakt von Menschenblut mit Bestienblut –, dass die früheste Bestiensichtung bei den Kristallfarmen der Hohlen Bäume im Dunklen Wald vor fünfzehn Jahren gewesen war und die Sedierung eines Infizierten zum Aufschieben der Verwandlung führte. Was eventuell nützlich gewesen wäre, wenn Betäubungsmittel nicht schwer zu beschaffen gewesen wären und so teuer aus Elveneno importiert wurden, dass selbst die Armeeheiler Operationen ohne sie durchführten. Von einem echten Gegenmittel für die Unruhe wiederum hatte er bisher in keinem der Bücher auch nur eine Andeutung gefunden – und um selbst eines zu finden, müsste er vermutlich eine ganze Heilerausbildung machen. Schon die Einführung in Krankheit und Heilung brachte seinen Kopf zum Rauchen, ganz zu schweigen von Theorien, die radikale spontane Veränderungen hätten erklären können, wie sie die Unruhe mit sich brachte.

Möglicherweise gab es überhaupt keine logischen Erklärungen und deswegen auch kein logisches Gegenmittel. Womöglich suchte er in der vollkommen falschen Abteilung und die Infektion hatte einen magischenUrsprung, hatte sich irgendwo in den Tiefen des Dunklen Waldes zwischen Traumpilzen und Goldfröschen ausgebrütet.

»Meine Güte, du schläfst ja noch halb«, meinte Tanita.

»Was?«

Sie machte ein glucksendes Geräusch und versuchte es hinter ihren Fingern zurückzuhalten. »Mach, dass du hier raus- und in ein Bett kommst. Meine Fragen können auch bis morgen warten.« Sie drehte sich um und humpelte in Richtung der Regale.

»Ich komme morgen nicht«, rief er ihr verspätet hinterher. Zu laut für eine Bibliothek, aber es war ihm wichtig, dass sie es wusste.

Sie wandte sich zu ihm um, die Augenbrauen gehoben.

»Ich komme die nächsten Monate nicht mehr«, ergänzte er. »Ich bin Soldat, ich … Das war mein Urlaub.«

Etwas huschte über ihr Gesicht. »Das hier ist kein offizieller Auftrag?«