Wünsche so schwarz wie Ebenholz - Anne Danck - E-Book

Wünsche so schwarz wie Ebenholz E-Book

Anne Danck

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Beschreibung

Sie hatte alles aufgegeben - für nichts. »Ich will Rache«, flüsterte sie. »Rache für all die Frauen, denen er sein Herz verspricht. Und du wirst mir dabei helfen.« Ein ehemaliger Wildhüter wird von Geisterratten verfolgt. Aus dem Keller des blaubärtigen Nachbarn dringen unheilvolle Schreie. Rumpelstilzchen trifft sich zum Kaffeeklatsch. Und Schneewittchen und ihr Prinz benötigen eine Paartherapie. Achtzehn Kurzgeschichten erwecken bekannte und weniger bekannte Märchenfiguren zu neuem Leben. Dabei haben alle, vom traumverlorenen Dornröschen bis hin zum mächtigen Dschinn, eines gemeinsam: ihre geheimen Wünsche. Hinweis: Es werden reale Themen verarbeitet, u.a. Krieg, Geflüchtete, Corona. Inhaltswarnungen siehe Ende des Buches.

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Seitenzahl: 225

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Wenn du intelligente Kinder willst, lies ihnen Märchen vor. Wenn du noch intelligentere Kinder willst, lies ihnen noch mehr Märchen vor.

VORWORT

Kaffee-Call

Das Geißlein aus dem Uhrenkasten

Die Unke

So schön die Nacht

Blau und rot

Der Heidelbeerzweig

Im Knast

Schuhliebe

Aura

Drei Bienen für Aschenputtel

Das blaue Licht

Glockenschläge

Elis

Paartherapie

Dornen und Glas

Plage

Über den Umgang mit Futtergebern

Für meine Oma

ANHANG

Danksagung

Märchenelemente

Dazugehörige Veröffentlichungen

Inhaltswarnungen

Über die Autorin

Viele sagen, dass Märchen zum Träumen verleiten. Mich haben sie schon immer zum Nachdenken gebracht. Mich herausgefordert, eine andere Perspektive zu finden, die Logik-Lücken zu schließen oder sie auf unsere Zeit zu übertragen.

Was passiert, wenn man sich seine:n Partner:in nur anhand der Schuhe auswählt, ganz wie bei Aschenputtel? Oder in der Zukunft vielleicht mit Hilfe des ökologischen Fußabdruckes ausfindig macht?

Müssten nicht sämtliche Märchenfiguren im Gefängnis landen, bei dem, was sie alles getan haben? Oder sind die Bösen gar nicht wirklich die Bösen und es handelt sich um ein Beispiel von »die Siegreichen diktieren die Geschichte«?

Aus diesen und anderen Gedanken sind achtzehn Texte entstanden: die meisten Kurzgeschichten, aber auch drei kurze Theaterstücke und ein Ratgeber. Sie nehmen die Märchen, ihre Figuren und Motive auseinander und setzen sie neu wieder zusammen. Manchmal unterhaltsam, manchmal auch düster und bedrückend wie die Originalmärchen. Da gerade die finsteren Seiten nicht für jede:n etwas sind – oder vielleicht die richtige Stimmung verlangen –, befindet sich am Ende des Buches eine Übersicht der Inhaltswarnungen (Seite → ) zu den einzelnen Texten.

Ich hoffe, dass die Geschichten auch Dich zum Nachdenken anregen. Oder zumindest gut unterhalten.

Auf lohnende Lesestunden,

Anne Danck

Ein schwarzer Bildschirm, nur das Wort »Kaffeeklatsch« steht am oberen Rand. Nach und nach ploppen immer mehr Rechtecke auf, in denen sich Personen bewegen. Eine Videokonferenz. Klein in der Ecke jedes Rechtecks leuchten die Namen: Rumpelstilzchen, Kleine Meerjungfrau, Prinzessin auf der Erbse und Gevatterin Tod. In einem Rechteck ist nur ein leerer Raum und eine dampfende Tasse zu sehen.

Begrüßungen gehen wild durcheinander, viele winken aus ihrem Rechteck und grinsen.

RUMPELSTILZCHEN: Wie schön, dass ihr es einrichten konntet, trotz der Situation. Mir fällt hier wirklich die Decke auf den Kopf.

KLEINE Meerjungfrau: Gevatterin Tod fehlt noch.

GEVATTERIN Tod: Bin da. Aber die Kamera kann meine Präsenz nicht abbilden.

KLEINE MEERJUNGFRAU: Sagst du. In Wahrheit sitzt du nur neben der Kamera, weil du zu faul warst, dir was anzuziehen.

Gevatterin Tod: Sagt die, die immer nur halb bekleidet herumläuft.

Kleine MEERJUNGFRAU: (Grinsend.) Bitte? Das ist Kulturgut.

RUMPELSTILZCHEN: Genau das. Genau das habe ich vermisst. Es tut verdammt gut, euch alle zu sehen. (Hebt seine Tasse.) Auf unsere Kaffeerunde!

Kleine MEERJUNGFRAU: Auf das Treffen der nicht so anonymen Koffein-Abhängigen!

Alle heben ihre Tassen. In dem Video von Gevatterin Tod bewegt sich die Tasse scheinbar schwerelos in die Luft. Alle trinken. Einzelne wohlige Seufzer.

GEVATTERIN TOD: Teufelszeug.

Prinzessin auf der ERBSE: Stimmt. Wir sollten weniger davon trinken. Ich habe deswegen ständig Schlafprobleme.

GEVATTERIN TOD: Weniger? Und wie soll ich dann meine Arbeit schaffen? Der Tod darf nicht schlafen, der Tod ist immer und jederzeit bereit.

KLEINE Meerjungfrau: ES sei denn Der-dessen-Nameniemand-wissen-darf lädt zum Kaffeekränzchen ein.

Gevatterin TOD: Kaffee muss sein.

RUMPELSTILZCHEN: Er ist der treue Retter in der Not. Hatte ich euch schon mal von dem einen Mädchen erzählt, dass mich vollkommen verzweifelt angerufen hatte, weil sie innerhalb eines Tages und einer Nacht –

Alle anderen GLEICHZEITIG: Eine Scheune voll Stroh zu Gold spinnen sollte.

RUMPELSTILZCHEN: Jaha. Aber habe ich euch auch erzählt, wie ich es geschafft habe, die ganze Nacht durchzuarbeiten? (Deutet auf seine Tasse.) Kaffee ist Magie.

Kleine Meerjungfrau prustet los.

RUMPELSTILZCHEN: Aber hallo! Was denkst du denn, was euch danach den Kopf prickeln lässt? Reine Magie! Ich bin nur der Einzige, der sie auch direkt wieder rauslassen kann. (Er macht eine Handbewegung, woraufhin sich das Video in einem goldenen Glitzerschauer auflöst.) Ach Mist. Schon wieder.

PRINZESSIN AUF DER ERBSE: (Belustigt.) Vielleicht solltest du auf weniger starken Kaffee umsteigen.

RUMPELSTILZCHEN: Wenigstens können wir diesmal deswegen nicht rausgeworfen werden. Wisst ihr noch letztes Mal im Café von Rotkäppchens Großmutter ...?

Alle starren für einen Moment sehnsüchtig in die Feme.

Gevatterin TOD: Ach ja, damals.

PRINZESSIN AUF der ERBSE: Als man noch in Cafés gehen konnte.

Kleine Meerjungfrau: Da tauscht man extra den Fisch' schwanz gegen Beine, um in ein Café gehen und vernünftigen Kaffee aus der Siebträgermaschine trinken zu können – nicht dieses von Meerwasser durchsuppte Zeug – und dann bricht eine Pandemie aus und sie machen alles dicht. Just my luck.

PRINZESSIN AUF DER ERBSE: Aber deswegen ja diese Runde hier. (Hebt wieder die Tasse, um allen zuzuprosten.)

RUMPELSTILZCHEN: (Springt auf.) Ich brauch mehr Kaffee. (Verschwindet aus dem Bild.)

Das laute Knirschen und Rattern eines Vollautomaten startet und sprengt für einige Minuten jegliche Unterhaltung.

Kleine Meerjungfrau: (Schreit.) Mach dein Mikro aus, du Depp!

Dann wird es still und Rumpelstilzchen erscheint wieder.

KLEINE MEERJUNGFRAU: Apropos Café: Die Großmutter hat sich vor ein paar Tagen einen Scherz erlaubt und statt einer normalen Mund-Nasen-Bedeckung gleich eine Vollmaske – so eine aus Silikon – übergezogen. Hat ihre Enkelin fast zu Tode erschreckt, als ihr ein Wolf geöffnet hat. (Sie kichert.)

Gevatterin TOD: Das hätte ich ihr gar nicht zuge-

Stille.

RUMPELSTILZCHEN: Gevatterin Tod?

Gevatterin TOD: Wieder da. Sorry. Das WLAN hier im Jenseits ist ständig überlastet.

KLEINE MEERJUNGFRAU: Wie wir alle.

Prinzessin AUF DER ERBSE: Manche drehen auch schon voll am Rad.

RUMPELSTILZCHEN: Mein Nachbar führt den ganzen Tag lang seine Ziege aus, weil das ein gültiger Grund ist, um das Haus zu verlassen. Er hat sie sogar darauf trainiert, bei einer Kontrolle zu behaupten, sie hätte noch nichts gefressen.

PRINZESSIN AUF DER ERBSE: Oder habt ihr von den zwölf Prinzessinnen gehört? Die haben sich wohl nächtelang mit Kaffee zugedröhnt und in ihrem Schlossflügel Party gemacht. Ihr Vater wollte erst gar nicht glauben, dass sie wirklich nur unter sich waren.

Kleine Meerjungfrau: Was gibt es denn bei euch Neues? Irgendwelche Partys?

Gevatterin TOD: Ich hab nur gearbeitet.

PRINZESSIN AUF der ERBSE: Bei mir passiert nichts, das ist ja das Problem. Ich habe vor Langeweile schon angefangen, meine Wohnung aufzuräumen. Ihr glaubt nicht, was ich alles unter meinem Bett gefunden habe ... Gruselig, sag ich euch.

RUMPELSTILZCHEN: Ich bin weiter in Kurzarbeit. Zu viel Freizeit. Heute back ich, morgen brau ich, ihr wisst schon.

Kleine MEERJUNGFRAU: Same here. Vielleicht sollte ich das mit dem Aufräumen auch mal versuchen.

RUMPELSTILZCHEN: Ich freu mich schon drauf, wenn wir uns wieder in echt sehen können.

Kleine Meerjungfrau: Wieder guten, echten Café-Kaffee trinken.

Gevatterin Tod: Dann werden wir hier drüber erzählen: Weißt du noch damals, als wir uns online treffen mussten, um zusammen Kaffee zu trinken?

Kleine MEERJUNGFRAU: Und Gevatterin Tod nackt am Rechner saß.

RUMPELSTILZCHEN: ES war einmal vor langer Zeit...

ALLEstarren für einen Moment sehnsüchtig in die Ferne.

GEVATTERIN TOD: So, mein Kaffee ist alle. Ich muss wieder los.

RUMPELSTILZCHEN: Na dann, bis nächste Woche. Gleicher Tag, gleiche Zeit?

Es hämmerte gegen die Tür. »Aufstehen!« Peter zählte die Sekunden. Fünf waren es, dann erklang das gleiche Pochen, der gleiche Ruf gedämpfter an der nächsten Tür. Wieder fünf Sekunden und noch einmal: »Aufstehen!«

Das Zimmer war so dunkel, dass der Lichtstreifen unter der Tür grell wirkte. Peter streckte sich und gähnte. Leises Rascheln und Stöhnen erfüllte das Zimmer, während sich die anderen drei Kinder aus ihren Betten schälten. Das Holz ächzte, als sich Peter vom Hochbett schwang und nach unten stieg.

»Au, das war mein Arm!«, jaulte Jonah auf.

Hastig trat er zur Seite – und rutschte fast auf Janets Matratze aus. »’Tschuldigung. Tut mir leid. Verzeihung.« Er stolperte zum Tisch und fand endlich die Streichhölzer, um eine Kerze zu entzünden.

»Danke, du Tollpatsch«, meckerte Jonah. »Jetzt muss ich die nächsten Stunden gegen die Verwandlung ankämpfen. Nur wegen dir.«

Er hatte Recht. Peter hätte nicht vergessen dürfen, dass zwei von ihnen seit gestern ihre Matratzen nebeneinander auf dem Boden hatten. Im Kerzenschein waren die Kratzer in der Wand nicht mehr zu übersehen – dort, wo tags zuvor noch das zweite Hochbett gestanden hatte. Bevor es einem der Erzieher gelungen war, Sarah nach draußen und in eine Verwandlungszelle zu bringen.

Peter kletterte zurück auf sein Bett und stopfte Bettlaken und Decke fest, bis sie faltenfrei waren. Dann strich er das Kissen glatt, stieg wieder hinab, schlüpfte in die Schuhe und reihte sich hinter den anderen ein – balancierte mit den Füßen hintereinander im schmalen Spalt zwischen den beiden Matratzen.

Hundertzehn Sekunden später ging die Tür auf. »Guten Morgen.« Erzieher West maß erst die Kinder, dann die ordentlichen Betten.

»Guten Morgen«, antworteten sie im Chor.

»Report«, befahl Erzieher West.

»Keine Vorkommnisse«, antwortete Janet ganz vorn.

»Keine Vorkommnisse«, wiederholte Timothy hinter ihm.

»Peter ist mir auf den Arm getreten.« Jonahs Stimme troff nur so vor Empörung.

»Und wie fühlst du dich deswegen?«

Eine Pause von drei Sekunden. Dann: »Ich bin der Stein, aus dem die Berge gemacht sind. Mich berührt nichts, mich verletzt nichts, ich bin stark und beständig und unerschütterlich.«

»Und was ist passiert, als Peter auf dich getreten ist?«

»Nichts. Ich bin vorher Stein und nachher Stein, egal, wer auf mich tritt.«

»Gut. Peter?«

»Es war ein Versehen. Es war dunkel.«

»Hast du Schuldgefühle deswegen?«

Peters Antwort war mehr an Jonah gerichtet als an irgendjemand anderen. »Ja«, sagte er und wusste, es war die falsche Antwort.

An Erzieher Wests Auge zuckte ein Muskel. »Hast du Schuldgefühle deswegen?«

»Nein, denn ich bin der Stein, aus dem die Berge gemacht sind«, sagte Peter diesmal, weil es der einzige Weg war, aus dieser Befragung wieder herauszukommen. Und weil er wusste, dass Erzieher West daran glaubte, sie alle dadurch schützen zu können.

»Mich berührt nichts, mich verletzt nichts, ich bin stark und beständig und unerschütterlich.«

»Selbst wenn du dich aus Schuldgefühlen verwandelst, ist es dennoch eine Verwandlung«, erinnerte Erzieher West sie streng. »Und danach werden die Schuldgefühle nur größer.«

»Der schämt sich nie für die Verwandlung«, murmelte Timothy.

»Höre ich da etwa einen Vorwurf?«

Timothys Schultern strafften sich. »Nein.«

Erzieher West musterte sie alle der Reihe nach. »Ich erwarte rechtzeitig Meldung.«

Sein üblicher Befehl. Was er tatsächlich damit meinte, war: Wenn bei einem von ihnen das Zittern losging, das erste Anzeichen, dass eine Verwandlung bevorstand, dann sollten sie Bescheid sagen. Dann würde man sie vorsorglich in eine der Zellen sperren, wo sie niemandem etwas anhaben konnten, während die Krankheit die Kontrolle übernahm und sie zur Bestie wurden.

Peters heimliche Vermutung war, dass diese Maßnahme den Beginn der Verwandlung beschleunigte. Denn was konnte schlimmer sein, als jemanden mit der Angst vor dem, was kam, allein zu lassen? Er hatte beschlossen, seine Krankheit nicht zu fürchten. Es war nur Angst vor der Angst. Und wenn er irgendetwas wollte, dann nie wieder Angst haben.

Peter nahm seinen Teller mit Rührei entgegen und steuerte auf die langen Tische zu. Sein Blick suchte zwischen den gesenkten Köpfen nach den zwei Zöpfen, die eigenwillig hüpften, wenn sie sich vorbeugte, um von ihrem Löffel zu essen. Doch er fand nur den Wuschelkopf von Janet.

»Ist Sarah immer noch nicht zurück?«, wollte er wissen und drängte Niklas zur Seite, um sich neben Janet zu setzen.

Janet verdrehte die Augen, als würde sie ihn für begriffsstutzig halten. »Wenn sie nicht hier ist...«

Also saß sie immer noch in der Zelle. »Ich bringe ihr Frühstück vorbei.«

Peter war gerade dabei, sich wieder zu erheben, da zog ihn Janet zurück auf die Bank. »Sie wird schon satt werden. Sie füttern die Bestien doch immer, wenn sie sich verwandeln.«

Ja, das taten sie, denn es beschleunigte die Rückverwandlung. Alles, was zum Wohlbefinden der Bestie beitrug, beschleunigte die Rückverwandlung. Aber wenn sie schon wieder menschlich war und sie sie vorsorglich dort behielten? Wenn sie die Nachricht vom zerstörten Hochbett und Timothys Beinahe-Verletzung so beunruhigt hatte, dass das Zittern erneut eingesetzt hatte? Dann bräuchte sie Gesellschaft, es könnte noch Stunden bis zur nächsten Verwandlung dauern. Man wusste nie genau, wie viel Zeit einem blieb.

»Mach bitte keinen Aufstand«, meinte Janet. »Sarah würde das nicht gefallen.«

Peter schnaufte. Vielleicht würde es ihr helfen, wenn er kam und sie sich darüber aufregte ... Es würde die Bestie schneller freisetzen. Schneller dafür sorgen, dass es vorbei war. Oder würde sie glauben, er wäre nur gekommen, um zu beweisen, dass ihm die Verwandlung keine Angst machte? Dann würde sie ihn womöglich wie bereits einige andere meiden.

Dabei stimmte das nicht, die Bestien machten ihm genauso viel Angst wie allen anderen. Auch er hatte einen Teil seiner Familie an sie verloren, auch er hasste es, infiziert zu sein. Es war sinnvoll, dass sie in diesem Heim waren, wo es ausgebildete Erzieher gab, die Tag und Nacht über sie wachten. Er fürchtete die Bestien ebenfalls, er fand es nur nicht so schlimm wie alle anderen, selbst eine zu werden.

Peter stocherte in seinem Rührei, vor seinem inneren Auge die hungrige Sarah in der kalten Steinzelle. Das war nicht fair! Waren sie mit der Krankheit an sich nicht schon genug gestraft?

Mich berührt nichts, mich verletzt nichts, ich bin stark und beständig und unerschütterlich, drängte es sich ungewollt in seine Gedanken.

Aber er fürchtete die Bestie nicht. Mechanisch schob er sich eine Gabel Ei in den Mund und kaute.

Draußen ertönte plötzlich Geschrei. Gepolter. Die Erzieher, die zwischen den Tischen auf und abgingen, warfen sich Blicke zu.

Dann wurde etwas durch das Fenster oben unter der Decke geworfen und landete nur wenige Meter neben Peter auf dem Tisch, Flammen züngelten daraus hervor. Mehrere Kinder schrien auf und stürzten fort von ihrem Essen. Peters Blick folgte einem weiteren Brandgeschoss, das Jonah nur um Haaresbreite verfehlte. Das Geschrei draußen wurde lauter. Peter konnte eine Art Schlachtruf ausmachen, er verstand nur die Worte nicht.

Die Vordertür knallte, splitterte. Jemand schrie. Mehrere Erzieher rannten los, zogen ihre Schwerter. Da schwappte ihnen bereits die erste Horde des wütenden Mobs entgegen. Wie gelähmt sah Peter zu, wie sie mit Spaten, Knüppeln und Mistgabeln auf die Erzieher eindroschen. Auf die Erzieher ... und dann auf die Kinder.

Einer der größeren Jungen versuchte, sich vom Tisch zum Fenster hinaufzuziehen, und schnitt sich die Finger an der zerbrochenen Scheibe blutig. Einige wenige waren geistesgegenwärtig genug, sich ein Messer zu schnappen, doch dann wussten sie nicht, was sie tun sollten. Timothy stand da wie gelähmt, die Klinge in seiner Hand kaum mehr als ein Spielzeug. Niklas blickte auf seine zitterten Finger und stürzte dann in die andere Richtung davon – brachte Abstand zwischen die Angreifer und die Bestie, die er eventuell werden würde. Janet verkroch sich unter dem Tisch, schlang die Arme um den Kopf und begann, sich vor und zurück zu wiegen.

Peters Herz klopfte wild in seinem Hals. Er sah, wie sie Timothy packten, an ihm zerrten und auf ihn einschlugen. Sah Jonah, der mit einem blutigen Fleck auf der Stirn zusammensackte. Einen der Erzieher mit einer Mistgabel im Unterleib.

»Ungeheuer!«, hörte er sie rufen. »Mörder! Bestie!«

Die eisigen Finger der Angst drückten Peter die Luft ab. Wie damals. Als sie über das Dorf hergefallen waren, sechs Bestien mit den Hörnern und Hufen einer Ziege, aber dem Gebiss eines Raubtieres. Es waren nur sechs gewesen, aber sie hatten getötet, was ihnen vor die Nase kam. Auch seine Mutter. Er versteckte sich im Uhrenkasten und vergaß vor Angst zu atmen. Eine von ihnen roch ihn trotzdem. Zehnmal tickte das Uhrenpendel von einer Seite zur anderen, dann zersplitterte die Tür und die Bestie zog ihn am Bein heraus, versenkte die Zähne tief in seinem Fleisch. Er schrie. Und schrie. Er schrie noch immer, als die Bestie blutend auf ihm zusammenbrach, sein Vater mit der erhobenen Axt dahinter.

Ein paar Tage später hatte sein Vater herausgefunden, dass Peter infiziert war. Er war wortlos aufgestanden und hatte die Axt geholt. Wäre seine Schwester nicht gewesen, hätte er nicht einmal dieses zweite Leben im Heim bekommen.

Peter hatte nie wieder solche Angst empfinden wollen. Nie mehr der Gejagte sein wollen, der Gehasste. Doch jetzt war alles wieder da. Die Angst. Das Blut. Das Geschrei. Das Sterben. Und es gab keinen Uhrenkasten, in dem er sich hätte verstecken können.

Er begrüßte das Zittern, als die Bestie in ihm seine Hände übernahm. Es war eine Erleichterung, eine Erlösung. Es breitete sich rasch in ihm aus, denn er leistete keinerlei Widerstand. Nur noch wenige Herzschläge und Erinnerungen und Angst würden von ihm abfallen, er würde nur noch sein. Nicht mehr Mensch, nicht mehr Peter, sondern nur noch ‒

Mary zuckte zusammen, als ihre beiden Söhne durch die Küche stürmten. »Henrik! Carsten! Langsam!«, rief sie über die Schulter, mit einer Hand im Teig für das nächste Fladenbrot.

Doch da waren sie schon aus der anderen Tür hinaus und in den Garten gefegt.

»Hoppla!«, hörte sie die Stimme ihrer Schwägerin Catleen von draußen, die beinahe umgerannt wurde.

Stöhnend fuhr sich Mary mit dem Unterarm über die Augen. Irgendwann würde ein Unglück geschehen mit diesen Raufbolden!

»Guten Morgen.« Catleen drückte die Tür auf, langsam und sanft, wie es sich gehörte. Nicht die Version, die ihre Kinder abgeliefert hatten.

»Guten Morgen, Catleen. Das ist ja eine Überraschung.« Mary lächelte. »Ich würde dich ja gerne richtig begrüßen, aber ...« Sie hob ihre mehligen Hände in die Höhe.

Catleen winkte ab. »Alles gut.« Sie stellte ihren Korb auf dem Tisch ab. »Unsere Tauben produzieren zur Zeit Eier, da könnte sich ein ganzes Dorf von ernähren. Ich dachte, ihr wollt vielleicht welche abhaben?«

»Klar, gerne. Da drin findest du Schüsseln.« Mary ruckte mit dem Kinn in Richtung des Küchenschranks neben dem Ofen. Sie durfte nicht vergessen, ihr später im Gegenzug das frische Fladenbrot mitzugeben, das gerade noch backte. »Wie geht es dir denn? «

»Ach, der Rücken macht schon wieder Probleme. Sitzen ist eine Qual, sag ich dir. Aber im Grunde ist das alles unwichtig gegenüber den Problemen, die andere haben, nicht wahr?«

»Ist etwas passiert?« Bisher war ihre Gegend von Bestienangriffen verschont geblieben, aber man hörte jeden Tag neue Meldungen von ihrem Vorrücken. Automatisch glitt ihr Blick zum Fenster, in Richtung des Geschreis ihrer Kinder. Sollte sie sie hereinrufen? War der Tag gekommen, an dem sie sie nicht mehr draußen spielen lassen durfte?

»Ich hab die Nachricht gerade auf dem Weg hierher aufgeschnappt«, meinte Catleen. Mit einem Seufzen schlug sie das Tuch vom Korb zurück. »Nun, dann wollen wir mal sehen, wie viele Eier noch heil geblieben sind, nachdem mich die beiden Rabauken angerempelt haben.«

»Was? Was ist denn passiert?«

»Sie haben das Kinderheim in Drought überfallen.«

Marys Hand flog an ihre Kehle. »Die Bestien?«

Catleen hob den Kopf. »Nein. Die Bewohner des Nachbardorfes.«

»Was?«

»Heute im Morgengrauen sind sie hinmarschiert mit Fackeln und Mistgabeln, haben die Tür eingetreten, alles niedergeprügelt, was ihnen vor die Füße lief, und am Ende das ganze Gebäude angezündet.«

Mary konnte nur starren. Was Catleen da erzählte, fühlte sich unwirklich an.

»Von den Angreifern wurden mehrere schwer verletzt, natürlieh haben sich einige von denen verwandelt. Keiner der Wächter hat überlebt. Aber von den Bestien – den Kindern – sind wohl drei entkommen.«

Im Morgengrauen. Während Mary seelenruhig die Ziegen gemolken und über den Ungehorsam des Bockes geschimpft hatte, hatte nur wenige Reisestunden entfernt die Nacht in einem Albtraum geendet. Und das Leben so vieler Unschuldiger auch. Wie viele waren dort untergebracht gewesen? Zwanzig? Fünfzig?

»Aber ... aber es sind doch nur Kinder«, stammelte sie. »Sie können nichts für das, was sie sind!« Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass die Spannung so dicht am Überbrodeln gewesen war. Da ... da musste etwas getan werden! Es würden immer neue Kinder infiziert werden und wenn sich die Meinung in der Bevölkerung nicht änderte ...

»Kinder, die schon Schreckliches erlebt haben«, stimmte Catleen zu. »Kinder, die möglicherweise auch schon Schreckliches getan haben.«

»Aber doch nicht sie selbst! Das ist nur die Krankheit, es ist die Bestie, in die sie sich verwandeln, die das tut. Doch nicht sie selbst!«

»Am Anfang auf jeden Fall.«

»Was willst du damit andeuten? «

»Nichts will ich damit andeuten. Aber so viel Gewalt und Grausamkeit ... das muss Spuren hinterlassen. Da wird man doch kaputt im Kopf. Und irgendwann ...«

»Irgendwann was?«, hakte Mary nach.

»Nun, ich sag nur, dass sie vermutlich eher selbst zu Gewalt greifen würden als ... zum Beispiel deine Kinder.«

»Ja, aber nur, weil sie nichts anderes erfahren! Da muss gezielt gegengearbeitet werden, sie müssen wieder Freundlichkeit und die Schönheit des Lebens erfahren! Man sollte sie verwöhnen, statt sie zu jagen!«

»Und wie stellst du dir das vor? Wer sollte das tun? Wenn man ständig in Sorge leben muss, dass sie im nächsten Moment die Hand abbeißen, die sie füttert?«

»Unsinn, so einfach geht das nicht! Es gibt doch Vorzeichen, bevor sie sich verwandeln.«

»Na dann, wenn du so ein großes Herz hast, dann nimm doch eins von den Kindern auf. Zieh es mit deinen Kindern groß.«

Marys Blick wanderte erneut zum Fenster. Sie konnte den tieferliegenden Haarschopf Henriks gerade so neben Carstens ausmachen.

Catleen lachte. »Willst dir selbst auch nicht die Finger daran verbrennen, was?«

Mary schnappte nach Luft. Verbrennen! Das letzte Brot war noch im Ofen! Hastig ließ sie den Teig liegen und öffnete die Klappe. Der Geruch, der ihr entgegenschlug, war unheilverkündend. Hastig griff sie nach einem Lappen und zog das Brot heraus, aber es war von unten bereits schwarz.

»Oh nein! Es tut mir so leid, Catleen! Ich wollte es dir eigentlich im Austausch gegen die Eier anbieten, aber in dem Zustand ...«

Catleen winkte ab. »Lass gut sein.«

»Nein, nein, stattdessen nimmst du ein paar Maiskolben mit, ja? Ich bestehe darauf!« Sie lief in die Vorratskammer.

Und während Mary im Dunkeln nach dem Sack tastete, wurde ihr klar, dass Catleen Recht hatte. Ein winziges bisschen zumindest. Sie war dieser Aufgabe nicht gewachsen, sie war nur eine einfache Bauersfrau und Mutter von zwei Söhnen. Es gab andere Leute, die sich um dieses Problem kümmern müssten. Leute, die mehr Macht und Einfluss besaßen als sie und bestimmt besser wussten, was zu tun war.

»Mama?« Henriks Stimme war durch die Entfernung gedämpft, aber dennoch konnte sie die Nervosität darin hören. Keine positive Nervosität.

Alarmiert stürzte Mary zurück in die Küche, die Maiskolben landeten im Vorbeigehen neben Catleen auf dem Tisch, während sie weiter zur Tür rannte. Wenn jetzt die Bestien ...

»Mama!« Henrik prallte mit ihr zusammen, sein Kopf auf Höhe ihres Bauches. In seiner Aufregung schien er es nicht einmal zu bemerken. »Mama, da ist...«

Über seinen Kopf hinweg konnte sie Carsten ausmachen, ebenfalls unverletzt. Doch dem Jungen, der ihm gegenüberstand, sickerte Blut aus Schnitten an Schultern und Beinen in die zerfetzte Kleidung. Er starrte Mary an, ohne zu blinzeln.

Mariella hastete über die Wiese, die leichte Böschung hinab. Stolperte halb über ihre Beine und kämpfte um ihr Gleichgewicht, bis sie schließlich, endlich, am Ufer ankam.

Der schläfrige See erstreckte sich bis zu den Bergen am Horizont. Die Nacht war still und klar und von einer Wärme, die das kühlende Nass nach Mariella rufen ließ. Doch sie widerstand. Sie wusste, würde sie auch nur einen Fuß hineintauchen, gäbe es kein Zurück mehr. Dann würde sie vollständig darin versinken.

Sie hatte eine andere Mission, ihre Rache war wichtiger.

Die unzähligen Stoffschichten des Kleides bauschten um ihre Knie, als sie sich ins Gras sinken ließ. Sterne saßen wie schimmernde Boote auf der dunklen Oberfläche. Eine Schönheit, die so friedlich war, als läge ein Zauber über ihr. Eine trügerische Schönheit. In einer Nacht wie dieser waren Wassergeister und Nymphen niemals weit weg.

Mariella schlug die Hände vors Gesicht und begann, leise zu schluchzen. Nur wenige Herzschläge später durchbrach ein Kopf die Wasseroberfläche vor ihr.

»Warum so traurig, meine Bezaubernde?« Die Stimme war tief, voll, männlich. Und zu vertraut.

Erschrocken hob Mariella den Kopf. Das Geschöpf, das vor ihr in der Dunkelheit des Sees schwamm, trug auch das Gesicht eines Mannes. Nasse, dunkle Haare klebten an einer hohen Stirn und schimmernde Rinnsale suchten sich ihren Weg über glatte, makellose Haut.

Das Wesen sah aus wie er. Als hätten sich die Gedanken über Rache, die in ihre Kopf kreisten, zu einer lebenden, atmenden Gestalt manifestiert. Um sie jetzt anzusehen, mit diesen bestechenden blauen Augen.

»Hab keine Angst. Ich tue dir nichts.«

Floskeln. Die gleichen Floskeln, die sie schon tausende Male zuvor gehört hatte. Von ihren eigenen Lippen.

Dieses Wesen war nicht er, war nicht Prinz Frederik. Die Linie der Brauen war zu gewölbt, das Kinn zu starr. Sie hatte in Gedanken diese Züge zu oft mit ihren Fingern nachgefahren, um nicht die Unterschiede zu erkennen. Nur ähnlich, nicht identisch. Lediglich ein Abbild der Schwingungen, die sie selbst aussandte. Eine Nachahmung dessen, was sie anzog. Wonach sie sich sehnte, was sie begehrte. Was sie zu vernichten plante.

»Ich bin hier, um dir zu helfen«, versprach der Mann im See. »Deine Tränen haben mich gerufen.«

Selbst der schiefe Zug um seine Mundwinkel war verstörend gut getroffen. Lippen, nach denen sie sich so sehr gesehnt hatte – und die sie doch nur ein einziges Mal geküsst hatten, bevor sie sich der nächsten Frau zuwandten. Was, wenn sie diese Lippen hier küsste, diese fast-perfekte Nachahmung? Würde es die Leere füllen, die in ihrer Brust hallte? Würde es den Schmerz weniger bitter machen?

Mariella blinzelte. »Spar dir die Tricks!«, befahl sie der Nixe. »Mich kannst du nicht um den Finger wickeln, ich kenne das Spiel genauso gut wie du.«

Ihr Besucher lächelte. »Du warst einst eine von uns, nicht wahr? Ich erkenne deinen Duft.« Die Hand, die er auf das Ufer legte, wirkte wie ein Freundschaftsangebot. Sternenlicht reflektierte sich in den Tropfen auf seinem Unterarm, der Fluss umschmeichelte träge seine nackten Schultern. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte, diese Macht zu besitzen. Jede erdenkliche Gestalt annehmen zu können, ganz wie es die Situation verlangte. Unwiderstehlich zu sein. Und auch selbst nicht widerstehen zu können. Wie ein Strom, der bergab läuft, so zog es die Nixen zu den Menschen, um sie an sich zu binden, zu bezirzen. Bis sie sich bereitwillig mit ihnen unter Wasser begaben und ihnen ihre Seele überließen.

»Wie kam es, dass du dich selbst aufgegeben hast ... um schwach zu werden?«, fragte der Wassermann.

»Du«, hörte Mariella sich sagen. »Du warst der Grund.«

»Ich?« Er sah auf seine Hände, als könnte er an ihnen sein vollständiges Aussehen ablesen. »Du hast dich in mich verliebt?«