Es wird so unbemerkt zu spät - Ulla Coulin-Riegger - E-Book

Es wird so unbemerkt zu spät E-Book

Ulla Coulin-Riegger

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Beschreibung

Was hat Sie krank gemacht? Was brauchen Sie von mir? Was für ein Mensch möchten Sie sein? Mit diesen drei Fragen erforscht Psychotherapeut Rafael Lenz das Innenleben seiner Patienten. Sie alle fühlen sich ausgebrannt. Viel zu spät bemerkt er, dass er sich selbst infiziert hat. "Die Neue Krankheit ist da. Wir wissen es alle. Und sehen es nicht. Schleichend breitet sie sich aus wie ein heimtückisches Virus. Kaum merklich befällt sie leistungsfähige und arbeitsbegeisterte, ja opferbereite Menschen. Nach und nach werden sie müde, fühlen sich bleiern, überfordert. Und dann wollen sie nicht mehr. Sie haben den Sinn ihres Lebens verloren. Ulla Coulin-Riegger ist ein wunderbarer, lebensintensiver Roman gelungen zu einem Thema, das unsere Gegenwart prägt." Angelika Overath

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Seitenzahl: 262

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Es wird so unbemerkt zu spät

Auch wo die Autorin sezierend kritisch ist, schreibt sie mit Empathie. Man spürt die Herzensgeste der Gnade. Und weil Ulla Coulin-Riegger durch ihr genaues, witziges, traurig- und lachenmachendes Erzählen uns zum Nachdenken bringt, könnte dieser kluge Text eine Chance bieten, etwas an unserem Leben zu ändern

Angelika Overath

ULLA COULIN-RIEGGER

Es wird so unbemerkt zu spät

Roman

»Wer es könntedie Welthochwerfendass der Windhindurchfährt.«

Hilde Domin

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Die Autorin

1

Chefarzt Dr. August Helfrich, Leiter der Psychiatrischen Abteilung des städtischen Klinikums, schaute ratlos auf die Liste der Neuzugänge: Es wurden wöchentlich mehr, bald würde er kein einziges Bett mehr freihaben. Die Diagnose war unklar: Die von ihren Hausärzten überwiesenen Kranken zeigten sich wortkarg, manche regelrecht stumm, und fanden sie eine vage Beschreibung ihrer Beschwerden, lautete sie bei allen ähnlich: »Ich kann einfach nicht mehr«, sagten sie, und: »Ich erkenne mich nicht wieder.«

Das Schlimmste war, dass die verfügbaren Arzneistoffe nicht auf die Symptome ansprachen, dass es kein Gegenmittel gab gegen eine Krankheit, von der keiner wusste, woher sie kam und wie sie übertragen wurde.

Dr. Helfrich, der sich gerne in Metaphern auszudrücken pflegte, lieh sich auch diesmal ein Bild aus der Natur: »Gleich der weißbeerigen Mistel«, erklärte er seinen Assistenzärzten, »deren Samen im Frühling durch Wind und Vogelkot in die Kronen unserer Obstbäume gelangt, wo der Keimling dann im Herbst deren Säfte anzapft und sich allmählich nach außen in verzweigten Kugeln offenbart, genauso nistet sich der unbekannte Erreger im limbischen System des Menschen ein, mitten im Zentrum unseres Fühlens und Bewertens.«

»Spät«, fuhr Dr. Helfrich fort, »manchmal nach Jahren, treten die vernichtenden Symptome in Erscheinung und man blickt auf Menschen, bei denen jegliche Lebenskraft, jegliches Selbstbewusstsein und jeder innere Antrieb erloschen scheint. Wir müssen, liebe Kollegen, die Kranken befragen, sie genau beobachten, uns ihnen mit ganzer Aufmerksamkeit zuwenden, um herauszufinden, was dieses schlimme Leiden verursacht.«

Assistenzarzt Dr. Lenz, der sich bei Helfrich in Weiterbildung zum Psychiater und Psychotherapeut befand, schien am besten für diese Aufgabe geeignet. Allen auf Station Tätigen war das außerordentliche Talent des jungen Arztes im Umgang mit seelisch Kranken schon aufgefallen – die zarte Behutsamkeit, mit der er die Dünnhäutigen ansprach, mit der er sie sanft an der Schulter berührte: Er war es, der ihnen die richtigen Fragen stellen konnte.

Dr. Helfrich hatte Rafael Lenz auf den ersten Blick gemocht. Manchmal springt ein Funke von einem Menschen auf einen anderen über, und man glaubt, etwas Besonderes, Einmaliges in ihm zu erkennen, und genau so war es ihm mit dem jungen Mann ergangen, dem einzigen Nachkömmling des erfolgreichen Fabrikanten Heinrich Lenz, Textilunternehmer mit Werk in der Stadt. Ein einziges Mal hatte August Helfrich den Unternehmer zu Gesicht bekommen, das war vor vielen Jahren, als Frau Lenz ihn mitten in der Nacht an dessen Krankenbett gerufen hatte. Helfrich erinnerte sich genau, wie unangenehm es dem Mann gewesen war, als er ihn bat, sein Schlafanzugoberteil auszuziehen, damit er sein Herz abhören konnte. Ein scheuer, hinter all seiner Macht unsicherer Mensch.

Die tiefe Enttäuschung darüber, dass der Sohn Arzt und nicht sein Firmennachfolger hatte werden wollen, sprach sich damals schnell in der Kleinstadt herum, und genau diesen Mut, diese Entschiedenheit, sich gegen alle Erwartungen für den eigenen Weg zu entscheiden, rechnete Chefarzt Helfrich dem jungen Lenz hoch an. Im Übrigen sah er Rafael Lenz nicht im Wettbewerb zwischen Angebot und Nachfrage, dafür war der Junge zu sensibel. »Dr. Lenz, ich weise Ihnen drei Patienten zu, zwei von ihnen haben eine klare Diagnose; wenn Sie herausbekommen, welcher von ihnen unter der Neuen Krankheit leidet, rechne ich Ihnen die Studie auf Ihre Facharztprüfung an. Sind Sie bereit?«, fragte Dr. Helfrich.

Rafael war bereit. Er wusste schnell, wie er am besten mit den drei ausgewählten Kranken ins Gespräch kommen könnte. Am Morgen des übernächsten Tages stellten sich ihm zwei Frauen und ein Mann vor. Alle drei mochten den jungen Assistenzarzt mit dem dichten schwarzen Haar und dem gütigen Blick schon beim ersten Handschlag, sie wussten, dass er getestet wurde, und sie wollten es ihm so leicht wie möglich machen. »Ich möchte gerne«, sagte Dr. Lenz, »auf eine mentale Reise durch die inneren Landschaften eurer derzeitigen Befindlichkeiten mit euch gehen und euch dabei einige Fragen stellen. Darf ich?« Die drei Kranken nickten.

Am Vorabend der drei seelischen Wanderungen war Rafael so aufgeregt, dass er nur schwer einschlafen konnte. Er hatte sich drei einfache Fragen ausgedacht, die ihm dabei helfen würden, die unbekannte Krankheit von den bekannten zu unterscheiden.

Wahrscheinlich, vermutete er, würde seine eigenwillige Herangehensweise unter den Kollegen zu Diskussionen führen, und Rafael konnte sich jetzt schon vorstellen, wie vor allem Dr. Andrej Zwetkov, Facharzt für Psychiatrie in Helfrichs Klinik seit fast fünfzehn Jahren, abfällig mit dem Kopf schüttelte: Ein derart intuitiver Zugang zu wissenschaftlichen Daten hielt dieser Mann ganz sicherlich für wenig zuverlässig, wenn nicht sogar für unzulässig. »Ich will es trotzdem versuchen«, sprach Rafael sich selbst Mut zu, und am nächsten Morgen war es so weit. Rafaels erste Begleiterin war eine kleinwüchsige Frau von fünfzig Jahren.

Gemächlichen Schrittes … Nein, das war das falsche Bild: Schleppenden Schrittes zwang sie sich vorwärts, als würde jede ihrer Bewegungen von einem unsichtbaren Band zurückgezerrt und als müsse jeder weitere Schritt sich gegen diesen Widerstand behaupten, was die arme Frau in eine vornüber geneigte Körperhaltung zwang, bei der sie nichts als ihre Fußspitzen sehen konnte.

»Was hat dich krank gemacht?«, versuchte es Rafael behutsam mit seiner ersten Frage.

Herta, wie die Frau angesprochen werden wollte, überlegte lange, als habe sie sich das unzählige Male selbst gefragt, und bis heute keine einleuchtende Erklärung für ihr erstarrtes und nachtfinsteres Gemüt gefunden. »Ich weiß nicht«, erwiderte sie schließlich, den Blick auf die Erde geheftet, »es kommt und geht wie die Gezeiten der Meere. Ich wache eines Morgens auf und spüre sofort, dass es wieder da ist …« Sie kamen an eine schmale Brücke, die über einen kleinen Fluss führte, und als Rafael darüber wollte, weigerte sich Herta, sagte, sie könne das nicht, habe vergessen, über Höhen zu gehen. »Früher, murmelte sie, da bin ich ganz anders gewesen, da hättest du mich sehen sollen: mutig, abenteuerlustig – und jetzt bin ich nichts als ein Klotz am Bein meines Mannes.«

»Was fühlst du?«, fragte Rafael und Herta verbarg ihr Gesicht in den Händen, als schäme sie sich.

»Nichts«, murmelte sie leise, »ich fühle nichts – weder Freude noch Schmerz, und mein Verstand schilt mich dafür.«

Rafael bat sie, noch ein paar Schritte weiterzugehen, aber Herta nahm ein halbdurchsichtiges Tuch aus ihrer Tasche und verband Rafael damit die Augen, nahm zwei Kugeln Watte und verschloss damit beide Ohren, und dann führte sie den halb blinden, halb tauben Begleiter an ihrer schlaffen Hand ein Stückchen des Weges.

Wo zuvor noch blühende Gärten lagen, wo Morgentau auf den Wiesen geglitzert hatte, und Amseln sangen, nahm Rafael nun nichts mehr wahr als stummes, stumpfes Grau.

»Verstehst du nun?«, fragte Herta. Rafael nickte still, und noch lange, nachdem er Herta wieder nach Hause gebracht hatte, lastete das Gewicht ihrer Schwermut wie Blei auf seinem eigenen Herzen: Hertas Krankheit, das war einfach zu entschlüsseln, war nicht neu, sondern so alt wie die Menschheit. Keine halbe Stunde später machte sich Rafael mit Isabella auf den Weg. Wimmernd lief sie neben ihm her, schlug immer wieder beide Hände vors Gesicht und rief: »Warum ich? Warum gerade ich?« Aus ihren staksig-wankenden Schritten schloss Rafael, dass Isabella aus dem Tritt geraten war, von etwas Unvorhergesehenem und Schrecklichem aus der Bahn geworfen: Kreuz und quer und vor und zurück lief sie, ohne Ziel und ohne Orientierung.

»Isabella, was hat dich krank gemacht?«

»Was mich krank gemacht hat, willst du wissen?«, echote sie und lachte böse auf. »Nun, das kann ich dir sagen: Vor zwei Monaten ist meine vierjährige Tochter tödlich verunglückt, von einem Raser auf dem Zebrastreifen überfahren – Zack, zu Tode geschleift, vor meinen Augen … Was meinst du, Herr Doktor: Hat mich das vielleicht krank gemacht?« Feindselig setzte sich Isabella mitten auf den Weg, und noch bevor Rafael etwas sagen konnte, fing sie ganz fürchterlich an zu schreien, so laut, so verzweifelt, dass es Himmel und Erde zum Beben hätte bringen können. Die Unglückliche beschimpfte Gott, der sie verlassen hatte, und sie hegte tiefen Groll gegen Menschen, die mehr Glück hatten als sie. »Ich bin wütend, Doktor, dann wieder verzweifelt, manchmal todmüde und manchmal, vor allem in der Nacht, möchte ich am liebsten auch sterben.«

Rafael half der Kranken auf die Beine: »Lass uns umkehren«, sagte er milde, »es ist noch zu früh, noch gibt es für dich keinen Weg, den du gehen kannst.«

Bertram war zuletzt an der Reihe. In ungesunder Hast galoppierte er seines Weges, seinem Begleiter immer zwei Schritte voraus.

»Wovor rennst du weg?«, fragte Rafael, selbst außer Atem gekommen.

»Ich laufe nicht weg«, keuchte Bertram, »ich will nur den Anschluss nicht verlieren.« Aber auch der trainierteste Mensch hält solch ein Tempo auf Dauer nicht durch, und nach einer Weile machte der Kranke ein paar stolpernde Schritte nach vorn und blieb dann, beide Hände auf seinen zitternden Knien abgestützt, schweißnass stehen. Sein Gesicht glühte feuerrot und Rafael fürchtete, Bertram würde gleich zusammenbrechen und lange nicht mehr aufstehen können. »Weißt du, Doc«, japste er, »heutzutage ist man entweder der Erste oder der Letzte. In der Mitte bist du quasi unsichtbar. Hältst du nicht mit, fällst du sofort zurück und findest dich unter den Schlusslichtern wieder – und dort, Gott erbarme, willst du in dieser Welt nicht sein, das ist fast dasselbe wie tot.«

»Ist es das, was die dich krank gemacht hat?«, fragte Rafael. Bertram stand nun wieder gerade und schien verärgert: »Ich habe immer mein Bestes gegeben, o.k.? und bin dabei ziemlich weit oben angekommen, aber als mein Herzmuskel dann vor drei Monaten NIET sagte, und ich an einem Infarkt fast draufgegangen wäre, da haben mich die, die noch weiter oben waren als ich, einfach abgeschrieben: Was ist los, bedrängten sie mich, weshalb machst du neuerdings so viele Fehler! Kein Mitleid, Doc, keinerlei Verständnis, nur Kälte um mich herum, das hat mir vollends den Rest gegeben, und jetzt geht gar nichts mehr. Zack. Aus. Feierabend.« Bertram wollte noch nicht umkehren, er habe noch viel zu sagen, also rasteten die beiden Wanderer am Ufer eines kleinen Flusses, wo sie bleiben wollten, bis der Kranke sein Gemüt etwas beruhigt hätte.

Aber schon nach wenigen Minuten empfand Bertram das Nichtstun als unangenehm. »Nutzlos herumsitzen ist nicht meins, Doc. Ich bin ein Macher, muss etwas voranbringen, das verleiht meinen Tagen Sinn, verstehst du? In meiner knappen Freizeit habe ich die höchsten Berge erklommen«, rief er, und breitete weit seine Arme aus, als gehöre ihm der Fluss, die Wiesen, die untergehende Sonne und sogar der kleine blauschwarze Käfer, der gerade über seinen Fuß kroch. »Doc, bist du schon mal durch unberührten Neuschnee von einem Dreitausender abgefahren?«

»Nein«, erwiderte Rafael ruhig.

»Manchmal«, fuhr Bertram nun etwas nachdenklicher fort, »sehne ich mich nach einem anderen, nach einem einfacheren Leben, verstehst du?«

»Was brauchst du von mir?«, stellte Rafael seine zweite Frage.

»Ach herrje, ich bin mir nicht sicher, ob ein Therapeut oder Arzt mir geben können, was ich bräuchte.«

»Versuch es trotzdem«, bat Rafael.

Bertram lachte gekünstelt auf: »Da müsstest du schon am ganz großen Rad drehen, ich fürchte fast, du müsstest die ganze Welt verändern. Die Zeit verlangsamen, Wünsche streichen, Erwartungen runterschrauben … Gerechtigkeit schaffen, Gleichheit und … und … und … versuch es erst gar nicht, Doc! Ich warte auf ein Medikament, dass meinem Leiden den Garaus macht.«

»Bertram, eine letzte Frage: Was für ein Mensch möchtest du sein?«

»Du meinst, wenn ich wirklich die Wahl hätte?«, erwiderte Bertram; er war ruhiger geworden, hatten das die Fragen bewirkt?

»In meiner Jugend hatte ich den Traum, Musiker in einem Orchester zu werden. Geige, ich konnte recht gut Geige spielen. Mein Vater wollte mir die Ausbildung nicht bezahlen, der übliche Vorbehalt gegen die brotlose Kunst, du weißt schon. Ich habe mich damals gegen meinen Lebenstraum und für die Sicherheit entschieden – es hat mich nicht wirklich glücklich gemacht, Doc, aber dafür brauchte ich mich nie um die Existenz meiner Familie zu sorgen, mehr noch, ich wollte, dass es ihnen an nichts fehlte. Vor meinem Herzinfarkt war ich jeden Abend halb tot vor Erschöpfung, konnte nicht richtig schlafen, schlug die Bitte meiner Frau in den Wind, mich zu schonen. Nur keine Schwäche zeigen, befahl ich mir, dann bleibst du oben.«

»Du hast recht Bertram«, sagte Rafael, »wer den Mut aufbringt, eine neue Türe in seinem Leben aufzustoßen, muss gleichzeitig akzeptieren, dass sich eine andere dafür schließt.«

Noch bis spät in die Nacht saß Dr. Lenz über seinen Notizen: Die Neue Krankheit unter den anderen beiden zu erkennen, war einfach gewesen, und Dr. Helfrich hatte ihn dafür gelobt. »Aber was habe ich gefühlt und gesehen, was habe ich verstanden?«, fragte er sich. Wollte Bertram gelobt werden, wollte er die Menschen um sich herum stolz machen, wollte er Geld, wollte er Macht? Was war es, was diesen Mann antrieb? »Und habe ich mich nicht selbst schon als kleines Kind bemüht,« dachte Rafael, »meinen Vater mit kleinen Basteleien, mutigen Kunststückchen oder mit guten Schulnoten auf mich stolz zu machen? Nichts war mir wichtiger und wertvoller, nichts konnte mich glücklicher und selbstgewisser machen als ein kleines Lob von meinem starken, mächtigen Vater.«

Rafael rieb sich gähnend die Augen. Dr. Helfrich hatte ihm angeboten, mit den neuinfizierten Patienten Gruppengespräche zu führen, um noch mehr von ihrer ungeheuren Mattigkeit und Erschöpfung zu verstehen: »Finden Sie heraus, Dr. Lenz, wie diesen Schwerkranken ohne effektive Gegenmittel zu helfen ist.«

Rafael hatte keinerlei Erfahrung mit Gruppensitzungen, aber, sagte er sich, so schwer kann das ja nicht sein. Er würde Teile der Gespräche aufzeichnen und sie dann in einem Fachartikel mit den Erkenntnissen verbinden, die er während der mentalen Reisen gesammelt hatte. Er konnte es kaum abwarten, sich endlich Psychiater und Psychotherapeut nennen zu dürfen.

Optimistisch fröhlich, berichteten die Krankenschwestern Andrej Zwetkov, habe Dr. Lenz seinen Gruppenraum gestaltet, und als Zwetkov kurz darauf zufällig dort hineingeriet, sah er bunte, mit Gas gefüllte Luftballons im Zimmer umherschweben, bereit, sich die Sorgen der Patienten mit einer Schnur anzubinden, um sie dann hinaus durchs offene Fenster in die Lüfte zu tragen. »Loslassen, nennt unser Therapeut dieses schöne Ritual, ist das nicht wunderbar?«, flüsterte eine von Schwäche gebeugte Patientin.

Anstelle einer Antwort starrte Dr. Zwetkov ungläubig auf ein Plakat an der Wand, auf dem mit bunten Farben Nicht die Arbeit macht uns krank, sondern unser Umgang mit ihr! geschrieben stand.

Schon war die Patientin wieder neben ihm, und erklärte feierlich: »Dr. Lenz meint, es käme darauf an, wie man die Dinge betrachtet …« Zwetkov eilte aus dem Raum und rannte im Flur fast eine Krankenschwester um. »Hoppla Doktor!«, lachte sie, »so beeindruckt von den Ideen unseres smarten Facharztes? Ist es nicht erstaunlich, wie leicht es dem Lenz gelingt, das Vertrauen der Kranken für sich zu gewinnen? Dieser junge Mann ist ein Naturtalent, aus dem wird einmal etwas Großes, warten Sie ab, Dr. Zwetkov!«

Dr. Helfrich hatte ihn gewarnt. So einfach war es nicht, eine ganze Gruppe Kranker zu führen, von der man nicht wusste, worunter sie genau litten und wie der Schädling, der sie befallen hatte, eigentlich aussah.

Er würde sie einfach reden lassen, wenig fragen und die wichtigsten Aussagen aus den Mitschnitten herausfischen.

Marianne, Oberstufengymnasiallehrerin für Französisch und Deutsch, gingen gleich in der allerersten Sitzung Herz und Mund auf: »Ich bin Tag für Tag mit dem brennenden Wunsch vor meine Klasse getreten, den jungen Menschen etwas Wertvolles mit auf den Weg zu geben, und habe von sehr vielen nur Gleichgültigkeit und Langeweile zurückbekommen.«

Kathrin, Kinderkrankenschwester in der Onkologie, rief weinerlich in den Raum: »Habt ihr jemals am Bett eines sterbenden Kindes gesessen und zuschauen müssen, wie dessen kleine Sonne untergeht? DAS, liebe Leute, macht einen wirklich auf Dauer selber krank, wenn du Null Zeit hast, dich um die kleinen Würmer zu kümmern, weil dir die Stationsschwester im Nacken sitzt.«

Rafael hörte aufmerksam zu: Leid will sich mitteilen, es wiegt zu schwer, um alleine getragen zu werden. Pfarrer Armbruster meldete sich mit erhobener Hand: »Ich fühle mich einfach extrem ausgelaugt …« Aber dann versank er wieder stumm in sich selbst, verbarg sein Gesicht in den Händen, erinnerte sich an jene traumatische Nacht, in der er sich vor dem Kruzifix auf den Boden geworfen hatte und um Antwort flehte, und zu seinem Grauen nichts als kalte Leere in sich fühlte.

Rafael stand auf und legte seine Hand sacht auf die Schulter des Pfarrers und es war, als berühre er ihn tief dort drinnen, wo sich die unsägliche Not wie ein Fötus zusammengekauert hatte, und nun konnte er reden.

»Was hilft es, geweiht zu sein, wenn auf halb erzwungene Sündenbekenntnisse keine Reue mehr folgt, wenn meine Lossprechung von jungen Menschen mit halbersticktem Gelächter quittiert wird? Die Krankheit kam schleichend, saugte mir die Kraft aus dem Leib und säte Zweifel in meinen Glauben – dieser unbekannte Schädling will den Menschen von innen zerstören, er macht mir Angst.«

Spätabends kehrte Rafael in seine kleine Wohnung zurück; bei einer Tasse heißer Schokolade hörte er sich die Gesprächsmitschnitte nochmals an: Der unbekannte Krankheitserreger, hatte er erst einmal seinen Weg in den Organismus gefunden, schwächte seinen Wirt über lange Zeit im Verborgenen und trieb ihn dabei auf grausame Weise zu seiner Bestleistung an, bis zu dem Tag, an dem er dem Befallenen schließlich alle Lebensenergie ausgesogen hatte.

Die Kranken, und das war das Schlimme, verloren das Interesse an ihren Mitmenschen, sie wurden sich in ihrer kranken Hast selbst zum Nächsten und Rafael beobachtete, dass innerhalb seiner Gesprächsgruppe ein – wie sollte er sagen – ein Wettbewerb im Leiden entstand: Jeder der Infizierten schien überzeugt, dass sein Schicksal das schwerste war und jeder wollte – wenn schon nicht im Leben – so doch im Schmerz der Größte sein.

Marianne und Gertrud hatten mit ihrem pädagogisch geschulten Blick rasch erkannt, dass der junge Assistenzarzt Lenz besser mitfühlen als führen konnte, und versuchten, während der folgenden Sitzungen das Kommando zu übernehmen; sie wollten durchsetzen, dass vor Beginn der Gesprächsrunde eine Kerze entzündet und deren langsames Abbrennen mit einigen Qi Gong-Übungen begleitet wurde, was Ciara, eine Erzieherin, vehement ablehnte und stattdessen anregte, sich zum Auftakt an den Händen zu halten und ein Mantra zu sprechen, woraufhin Mario, der Sozialarbeiter, müde abwinkte: Er hielt es für heilsam, mittels progressiver Muskelentspannung das Tor zu seinem wahren Selbst zu öffnen und erst dann zu reden.

»Das ist Psychotherapie«, dachte Rafael Lenz zufrieden: Er würde den Kranken Raum geben, um ihre Abwehrkräfte zu mobilisieren, und dazu mussten sie erst einmal erkennen, was sie wollten und nicht wollten, was sie wirklich brauchten und was sie loslassen konnten. Er wollte nicht nur ein guter, sondern ein sehr guter Therapeut werden; wollte nicht nur Daten sammeln und analysieren, sondern etwas bewirken, und dazu musste er noch mehr verstehen von jener fortschreitenden inneren Zersetzung seiner völlig abgeschlagenen Patienten.

»Lass sie auf eine innere Reise in ihre Kindheit gehen«, riet ihm ein älterer Kollege, »dort findest du gemeinsam mit ihnen den Ursprung ihrer Anfälligkeiten.«

Ein anderer, pragmatisch vorgehender Seelenkundiger, empfahl den Einsatz von Rollenspielen, mit deren Hilfe die Infizierten lernen sollten, sich gegen den Krankheitserreger zur Wehr zu setzen: »Lass sie das Wort Nein üben. Stärke ihren Widerstand!«

Das waren wertvolle Hinweise. Aber wenn Rafael bis spät in die Nacht über seinem Facharztartikel brütete, dem er den Titel Drei heilsame Fragen auf der Spur einer rätselhaften Erkrankung gab, dann trieben ihn ganz eigene Überlegungen um:

Die Kranken scheinen alle der Meinung, dass sie über lange Zeit zu viel gegeben hatten; könnte es sein, dass sie vielleicht selbst zu viel haben wollten? Zu viel Anerkennung, zu viel Geld, zu viel … Das späte Läuten des Telefons riss Rafael aus seinen Gedanken: Lisbeth! Das konnte nur Lissi sein, sie allein wusste, dass er noch wach war und wollte ihm zu später Stunde gute Nacht sagen – eine zärtliche Geste, die stets von ihrem Bedauern begleitet wurde, dass neben seiner Arbeit so wenig Zeit für die Liebe blieb. »Tut mir leid, Lissi … sagte er dann immer, sei mir bitte nicht böse!«

Nein, war sie nicht, und falls doch, so ließ es sich die junge Krankenschwester nicht anmerken, denn sie war entschlossen, auf ihren Rafael zu warten, koste es, was es wolle.

Endlich im Bett und fast schon die Grenze zum Traum überschritten, kreisten Rafaels Gedanken immer noch um die Frage, welcher Art der Schädling war, der die Menschen in ihren eigenen Zusammenbruch trieb. Es blieben ihm nur noch wenige Stunden Schlaf, bevor sein neuer Arbeitstag begann.

Dr. Helfrich hatte sich zur Inspektion von Rafaels Gruppenraum angekündigt, in seinem Gefolge erschien Dr. Zwetkov. Staunend standen die beiden vor den verschiedenfarbig bemalten Stühlen und Dr. Lenz erklärte seinem Chef den Sinn dieser kreativen therapeutischen Intervention: »Jeder Patient darf sich zu Beginn der Sitzung auf die Farbe setzen, welche seine momentane Stimmung am besten wiedergibt – das hilft den Patienten, sich den Gesprächen zu öffnen.«

Chefarzt Helfrich fand die Idee großartig. »Bravo Lenz«, rief er, ganz gegen seine sonstige Zurückhaltung und setzte sich auf einen sonnengelben Stuhl. »Da fühle ich mich doch gleich munterer … Kommen Sie, Dr. Zwetkov, setzen Sie sich in den rosaroten dort drüben, Sie schauen so bedenklich drein!«

Natürlich wusste Rafael, dass Andrej Zwetkov kreativen Behandlungsmethoden äußerst kritisch gegenüberstand. Der gebürtige Russe hielt noch immer eisern an den Lehren des Behaviorismus fest, was bedeutete, dass er das Verhalten der Menschen ohne Innenschau und Einfühlung erklärt haben wollte. »Verhalten«, wiederholte er oft und mit überraschender Leidenschaft, »kann gelernt und auch wieder verlernt werden, daran sollten wir denken, wenn wir therapieren!«

Zwetkov war, seit er einem Tierarzt dessen plötzlich auftretende panische Angst vor Pferden abtrainiert hatte, in der Klinik die Nummer eins bei der Behandlung von Phobien, und wurde von den Kollegen heimlich der »Schwarze Husar« genannt, was er wusste. Ob er sich den Spitznamen wegen seines schmalen, ansatzweise nach oben geschwungenen Oberlippenbartes eingefangen hatte, oder wegen jener Verwegenheit, mit der er den zitternden Tierarzt zu sich in den Sattel eines schwarzen Hengstes gehoben hatte, wusste niemand mehr.

Rafael würde ihn heute eine kleine Weile mit in sein Boot nehmen; er bat die Patienten, ihre bunten Stühle zur Seite zu rücken und sich locker im Raum zu verteilen. Dann hielt er Dr. Zwetkov aufmunternd nickend seine Hand entgegen, die dieser zögerlich und düster ergriff, und führte ihn zu den wartenden Kranken in die Mitte des Raumes.

»Und nun bitte ich Sie alle«, sagte Dr. Lenz, »dass Sie in Zeitlupe rückwärts einmal quer durch den Raum gehen.«

Rafael hatte diese Übung selbst erfunden. Durch das Einen-Gang-Zurückschalten-Ritual sollten die ermatteten und ausgelaugten Kranken ein Gespür für Entschleunigung bekommen. Zwetkov setzte sich unwillig mit den anderen rückwärts in Gang. »Du liebe Zeit!«, dachte er, aber als er sah, mit welch heiligem Ernst die Patienten (manche hatten ihre Arme ausgebreitet, als hofften sie, heilende Energie einzufangen) sich der Übung hingaben, da ließ auch der Husar innerlich los, was wiederum Rafael derart berührte, dass ihm die Augen feucht wurden. »Es ist ein so unbeschreiblich schönes Gefühl, wenn einem die Dinge gelingen«, dachte er stolz.

In solch glücklichen Momenten kam ihm immer seine tote Mutter in den Sinn. Sie Anteil nehmen zu lassen an seiner Freude, das war schon als Kind und noch als Jugendlicher immer wichtig für ihn: »Du streust funkelnde Sterne in die Finsternis meiner Tage«, hatte sie ihm einmal poetisch auf eine Geburtstagskarte geschrieben, was ihn mit heißem Stolz erfüllte.

Für Anna, seine Mutter, war er der Mittelpunkt der Welt gewesen und diese Gewissheit half ihm, auch jene dunklen Tage zu überstehen, an denen die Schwermütige sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, und er vor ihrer Türe ohne Antwort geblieben war, voller Angst, er könne ihr gleichgültig geworden sein oder sie würde ihn womöglich nicht mehr brauchen.

Immer erinnerte er sich an sie als eine stille Frau. »Ich kann nicht sagen«, dachte er, »ob ich Mutter jemals wütend erlebt habe und wenn doch, dann musste sie auch hierbei völlig still geblieben sein.«

»Ich habe sowieso keine Wahl«, hatte sie oft vor sich hingemurmelt, und wahrscheinlich stimmte das auch: Anna war dem um viele Jahre älteren Heinrich nicht nur an Lebenskraft und Temperament, sondern an finanziellen Möglichkeiten weit unterlegen gewesen, was natürlich kein ausreichender Grund war, niemals Freude zu empfinden, und ebenso wenig für eine Erklärung taugte, weshalb sie an ihrer Schwermut zugrunde gehen musste. Gelegentlich war es ihm, dem einzigen Sohn, durch einen Scherz gelungen, Anna Lenz hell und mädchenhaft auflachen zu lassen.

Das waren frohe Momente, da ging im Hause Lenz ganz kurz die Sonne auf! Und wer weiß: Vielleicht hatte die ständige Sorge um das Wohl der Mutter etwas mit seinem späteren Wunsch zu tun, ein guter Therapeut zu werden, der hilft und heilt, und der versteht, woran die Menschen kranken?

»Seelenklempner, du lieber Himmel!«, hatte sein Vater verächtlich ausgerufen und dabei mit seinem krummen Finger auf ihn gezeigt. Aber Rafael war fest entschlossen, wenn ihn auch noch Jahre danach jene tollkühne Verweigerung aus furchtbaren Alpträumen hochschrecken ließ – dem Willen des mächtigen Vaters zu widersprechen.

Drei heilsame Fragen auf der Spur einer rätselhaften Krankheit: Das Manuskript war endlich druckreif und keine zwei Wochen später war es schon gebunden, so dass Rafael es Dr. Helfrich aufgeregt überreichen konnte.

Dann hieß es, noch ein paar weitere Tage zu hoffen und zu bangen – und endlich die Erlösung: Chefarzt Helfrich lobte ihn ganz außerordentlich vor allen Kollegen, stolz sei er auf seinen Zögling, der mit Eifer und Intuition der Neuen Krankheit auf der Spur war.

Von diesem Tag an durfte sich Rafael ganz offiziell Psychiater und Psychotherapeut nennen.

Aus dem Briefkasten fischte Dr. Lenz bei seiner späten Heimkehr einen pastellgrünen Briefumschlag: Auf der Vorderseite stand mit Lisbeths großer schöner Schrift An meinen Rafael!

Lissi war so ganz anders als seine tote Mutter; überhaupt nicht bange und wo es etwas zu sagen gab, nicht still. Das gefiel ihm besonders an ihr.

Bevor er den Brief öffnete, machte sich Rafael eine Tasse Schokolade warm – das erinnerte ihn an seine Kindheit und an Krankheitstage, wenn ihn das Fieber tief in die Kissen zwang und seine Mutter sich dann mit der Tasse in der Hand an seine Bettkante setzte, und ihm mit einem kleinen Löffel die Schokolade in den Mund tröpfeln ließ: Das war so köstlich und tröstend, dass er sich manchmal sogar bei voller Gesundheit gewünscht hatte, ein bisschen krank zu werden.

Liebster Rafael,

nun, da Du Deine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hast und frischgebackener Psychiater und Psychotherapeut bist, möchte ich Dich nun ganz ehrlich fragen, ob auch Du den Wunsch hast, mich zu Deiner Frau zu nehmen so wie ich Dich zu meinem Mann nehmen möchte? Wäre es nicht wunderbar, wenn wir endlich eine Familie gründeten? Denk bitte schnell darüber nach und sag es mir gleich.

Kuss,

Deine Lissi

Rafael ließ den Brief auf den Tisch sinken und schenkte sich eine zweite Tasse Schokolade ein, die mittlerweile nur noch lauwarm war. Lissi hat mir einen Heiratsantrag gemacht, dachte er halb vergnügt, halb erschrocken.

Sie hatten einander vor einigen Jahren in der Neurologie des städtischen Klinikums kennengelernt. Ihm war die rothaarige Krankenschwester mit dem feschen Pagenschnitt gleich aufgefallen: Die Ärmel hochgekrempelt, huschte sie durch die Korridore, und kaum war sie hier, sah man sie schon wieder am Bett eines anderen Kranken. Er mochte ihr fröhliches und aufmunterndes Lachen, während sie einem Schlaganfallpatienten sicher unter den Arm griff und mit ihm die ersten mühsamen Schritte den Flur auf und ab ging.

»Von Schwester Lisbeth geht so viel Freude und Hoffnung aus«, sagten die Kranken.

Eines Tages konnten alle beobachten, wie sich die junge Frau gegenüber dem ernsten Dr. Lenz auffallend hilfsbereit zeigte; irgendwann, wurde getuschelt, während eines gemeinsamen Nachtdienstes sei es dann zu jenem Blick aus Schwester Lisbeths blaugrünen Augen gekommen, der den jungen Arzt mitten ins Herz getroffen habe.

Rafael lächelte und nahm einen kleinen Schluck aus seiner Tasse: So hatte mich noch nie zuvor eine Frau angesehen – mit dieser prickelnden Mischung aus fürsorglicher Zuneigung und erotischer Gier. Natürlich war es Lisbeth zu verdanken (er selbst wäre zu scheu gewesen), dass sie kurz danach eng umschlungen in jenem schmalen Bett des Schwesternwohnheims zusammen aufgewacht waren, und von da an auf Station als Liebespaar galten.

Danach, erinnerte sich Rafael, und strich zärtlich über Lissis Zeilen, hatte er sich das erste Mal als richtiger Mann gefühlt, so wie er sich jetzt als richtiger Psychiater und Psychotherapeut fühlte.

Rafael, todmüde, nahm den Brief mit ins Bett, löschte das Licht, verschränkte die Arme unter dem Kopf und starrte an die Decke, auf der die Straßenleuchte vor seinem Fenster einen zittrigen Schimmer warf.

»Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen?«, fragte er laut in die Stille hinein. »Lisbeth Lenz. Krankenschwester und Virtuosin auf der E-Gitarre, Sie sollten sie sehen, wenn sie abrockt!« Ein paar Mal wiederholte Rafael dieses »meine Frau« mit unterschiedlichen Betonungen, ihm war, als könne damit nun endgültig seine Männlichkeit bewiesen werden, und er allen anderen Männern, auch seinem Vater, ebenbürtig werden.

Aber etwas beunruhigte ihn; Rafael trat mit beiden Beinen die Decke von sich, stand wieder auf, um einen Schluck Wasser zu trinken. Wie sollte er Lisbeth dem Vater vorstellen? Die beiden waren sich noch nie begegnet, Lissi hatte Heinrich Lenz nur auf Fotos gesehen oder in der Zeitung etwas über ihn gelesen, und Herr Kühnhaupt, Rafaels Schwiegervater in spe, hatte seiner Tochter einst voller Respekt erzählt, dass Lenz Senior mit großem Fleiß und Disziplin die Weberei seines Vaters übernommen und weitergeführt hatte: Entwerfen, Weben, Färben und Veredeln - alles unter einem Dach, Lisbethchen, das ist schon eine tolle Leistung von dem Lenz!

»Ach«, seufzte Rafael, er hatte es so oft gehört: »Textil«, hatte der Vater zur Mutter mit seinem hochgehaltenen krummen Zeigefinger gesagt, macht man vor allem mit dem Herzen.«

Vielleicht war es die Müdigkeit, aber Rafael konnte sich nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern, mit dem er damals Heinrich Lenz seine Entscheidung, Arzt und Psychiater werden zu wollen, mitteilte. Aber an das zynische Auflachen und das gemeine Wort Seelenklempner würde er sich ewig erinnern, denn es hatte sich als spitzer Stachel in sein Herz gebohrt. Warum dachte er gerade jetzt daran? Weshalb dachte er jetzt an den Tag, als während eines einsamen Waldspaziergangs ein lautes, zügelloses Schluchzen aus ihm hervorgebrochen war, das lange zwei oder drei Minuten anhielt und ihn hinunter auf den feuchten Waldboden zwang? Der Schmerz war so heftig gewesen, dass Rafael sich heute noch gelegentlich fragte, ob in jenen Minuten nicht etwas in ihm erkaltet war, was er dringend gebraucht hätte, um auf rechte Weise lieben zu können.

Rafael kehrte in sein Bett zurück und zog die Decke bis unter die Nase hoch. Vater wird Lisbeth wiegen und zu leicht befinden, dachte er noch, dann schlief er ein.

Die zukünftige Frau Lenz war zuversichtlich, hatte sie doch schon schwierigere Menschen mit ihrer natürlichen Freundlichkeit für sich eingenommen, und so betrat sie das Elternhaus ihres Bräutigams mit dessen schweren Möbeln aus feinstem Leder, den weißen Marmorfußböden, dem Gold und Silber und venezianischem hauchdünnem Glas auf den breiten Simsen – betrat es in der gütigen Absicht, beide Männer in ihr Herz zu schließen; denn ebenso sehr wie sie die Stärke und Entschlossenheit eines Heinrich Lenz bewunderte, so sehr liebte sie auch die Sensibilität und das Einfühlungsvermögen ihres Engels Rafael.