Mutters Puppenspiel - Ulla Coulin-Riegger - E-Book

Mutters Puppenspiel E-Book

Ulla Coulin-Riegger

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Beschreibung

Ein psychologischer Roman, der ans Herz geht! Die Ärztin Lisette Dornbusch ist eine erfolgreiche und unabhängige Frau mit eigener Praxis. Doch ihr privater Beziehungsstatus: Es ist kompliziert. Sie führt eine Affäre mit einem verheirateten Mann. Jedes Wochenende besucht sie ihre narzisstische Mutter, die keine Nähe zulässt und Lisettes Bedürfnis nach Zuneigung noch nie erfüllen konnte. Und dann ist da plötzlich noch ein Kinderwunsch.

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Seitenzahl: 202

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Mutters Puppenspiel

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Coulin-Riegger, Ulla

Mutters Puppenspiel

Roman

ISBN 978-3-948696-61-0

eISBN 978-3-948696-67-2

Satz und Gestaltung: Molino Verlag GmbH

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

© 2023 Molino Verlag GmbH, Schwäbisch Hall und Sindelfingen

Alle Rechte vorbehalten.

ULLA COULIN-RIEGGER

Mutters Puppenspiel

Inhalt

Mutters Puppenspiel

Die Autorin

Nachdem mein Vater, ein erfolgreicher Unternehmer, verstorben war, verließ meine Mutter unser großes Elternhaus (genannt »die Villa«) und zog in eine nach ihren Worten »luxuriöse Eigentumswohnung«.

Jeden Sonntag, bis auf wenige Ausnahmen, besuche ich sie zur Kaffeestunde. Wir wohnen keine drei Straßen voneinander entfernt.

Heute möchte sie draußen auf ihrer Terrasse sitzen und wie immer ist ihr Kaffeetisch karg gedeckt, womit ich sagen will, dass kein Sträußchen, keine Kerze oder ein paar nette Servietten den Tisch zieren: Es fehlte ihr schon immer die Freude am Gast.

Durch aufgesetzt fröhliches Verhalten versuche ich auch heute, unserer Zweisamkeit etwas Gemütliches abzuringen. Es hilft, dass die gelbe Jalousie ausgefahren ist, sie taucht die Szenerie in ein duldsames Licht. Unsere Gespräche verlaufen von jeher schleppend. Als müsste jedes Wort zwischen Mutter und Tochter daraufhin geprüft werden, ob es nicht ein Untertönchen zu sehr davon abweicht, was die Mutter als »zu persönlich« werten könnte, sprich jedwede Gefühlszustände oder Erinnerungen an frühere Zeiten.

Zudem stand ihre Erwartung an unsere Beziehung niemals zur Diskussion: Sie möchte von ihrem einzigen Kind nicht nur geehrt, sondern verehrt werden. Dies mischte sie ihrer Muttermilch bei, ich konnte gar nicht anders, als zu ihrer braven und zuvorkommenden Tochter heranzuwachsen. Neben ihr blieb ich klein.

»Der Herbst geht zu Ende«, sagt meine Mutter und ich stimme ihr zu. Dann essen wir unseren Kuchen.

Es kommt vor, wenn auch sehr selten, dass ich einen unausweichlichen Termin am Sonntagnachmittag habe und also nicht bei meiner Mutter vorbeischauen kann; dann ist sie den ganzen Montag über sehr kurz angebunden und »merkt sich das gut«.

Bevor ich mich sonntags auf den Weg zu ihr begebe, achte ich darauf, wie ich nach außen wirke: Ich kämme meine Haare etwas nachlässiger als sonst, lege kein oder sehr dezentes Make-up auf, eine einfache Hose und einen älteren Pullover, nichts Edles. Denn ich möchte höchstens ausreichend gut aussehen. Ich könnte nämlich auch anders.

Vor allem prüfe ich akribisch, kein Kleidungsstück zu tragen, das meine Mutter noch nicht kennt, und ausschließlich solchen Schmuck anzulegen, den ich durch die weitgeöffnete Hand meiner Mutter empfangen hatte – als »Vorauserbe«, wie sie dabei immer gerne betonte: Schmuck also, der meinen Hals schnürt, meine Ohrläppchen durchsticht und meine Finger drosselt.

Auf keinen Fall hohe Schuhe. Idealerweise streife ich mir den sehr teuren Ring über, den meine großzügige Mutter vor zehn Jahren aus einem losen Brillanten aus ihrem Besitz hat anfertigen lassen. Ein Geschenk zu meinem neunundzwanzigsten Geburtstag. Damals ließ ich mich gerade als frischgebackene HNO-Ärztin nieder.

Zunächst in einer Praxisgemeinschaft mit dem Senior-Arzt, der zusicherte, mir bei seinem Eintritt in die Rente seinen Arztsitz zu verkaufen. Nach vier Jahren harmonischer Zusammenarbeit war es so weit. Er wollte eine ansehnliche Summe. Ich äußerte mein Bedauern darüber in Gegenwart meines Vaters. Bei meinem nächsten Besuch im Haus meiner Eltern, schob er mir ein Bündel Geldscheine über den Tisch. »Hier mein Anteil an deiner beruflichen Zukunft«, hatte er mit einem Lächeln gesagt, welches Ironie und unverhohlene Selbstliebe spiegelte. Ich sah auf das Geld und wusste, dass meine Praxisübernahme nun zu seinem Werk geworden war. Ohne ihn war ich nichts.

Unter Tränen der Rührung stammelte ich mein Dankeschön. Auf dem Tisch lag der volle Kaufpreis für meine zukünftige Praxis. »Bist du nicht ein Glückskind?«, stichelte meine Mutter. Drei Monate später starb mein Vater an plötzlichem Herzversagen.

Als ich von seinem Tod erfuhr, erschreckte mich der Gedanke, dass ich nun ohne doppelten Boden auf dem Seil werde balancieren müssen, das meine Mutter zwischen mir und sich gespannt hatte.

Wenn Mutter fragt: »Wann habe ich dir denn diesen teuren Ring geschenkt?«, muss ich antworten: »Zu meinem neunundzwanzigsten Geburtstag!« Dabei drehe ich meinen Ringfinger hin und her, um den Stein prächtig zum Funkeln zu bringen, damit meine Mutter dorthin schauen möge und nicht in meine Augen, in denen die Scham über unzählige demütigende Abhängigkeiten aufglimmt.

Auch während meines heutigen Besuches kommt es ab und an zu unangenehmen Gesprächspausen: Mutter scheint nicht zufrieden, noch stimmt die Verteilung der Kräfte nicht an diesem Nachmittag, es verunsichern sie einige aufrührerische Freiheitsgrade in den Worten ihrer Tochter; also muss ich mich noch kleiner machen, um ihr das Gefühl zu geben, dass sie mir auf allen, aber wirklich auf allen Gebieten das Wasser reichen kann. Denn hätten ihre Eltern das Geld dafür gehabt, ihr eine so lange Ausbildung, wie ich sie hatte, zu finanzieren, wäre sie wohl auch Ärztin geworden.

Aber so viel Glück wie ich haben eben nicht viele. »Es ist doch schon sehr kühl hier draußen«, meint Mutter, zieht sich ihre Jacke über die Brust und verschränkt die Arme darüber wie einen Schutzwall. Dann trifft mich ihr abschätziger Blick: »Hast du jetzt einen anderen Friseur?« Ich war schon auf diese Frage gefasst, denn tatsächlich hatte ich mir vor wenigen Tagen einen neuen Schnitt machen lassen. Einen, von dem ich glaubte, dass er mich etwas jünger und flotter aussehen lassen würde, zumal ich seit genau vier Monaten unsterblich verliebt bin. In Emil.

Aber darüber habe ich mit meiner Mutter noch nicht gesprochen. »Ja, es ist jetzt ein bisschen kürzer«, antworte ich sehr beiläufig. Doch nun fragt Mutter nach der Adresse dieses Friseurs, denn nun möchte sie auch einmal dort hingehen. Genauso ergeht es mir mit neuen Pullovern und neuen Schuhen: Alles, was ich habe, will Frau Dornbusch auch.

Zwischen uns liegen nur knappe zwanzig Jahre. Als ich fünfzehn war, wurde meine Mutter des Öfteren flirtend von Männern gefragt, ob wir beide denn Schwestern seien, was meiner Mutter großes Vergnügen bereitete, mich selbst jedoch auf stille Weise beschämte und verunsicherte. Schaute Mutter zu jener Zeit in den Spiegel, so hörte ich sie manchmal sagen: »Frau Dornbusch ist heute wieder wunderschön!«

Ich selbst war damals ziemlich pummelig, an völlig unberechenbaren Stellen schlugen leuchtendrote Feuerbälle in meine Gesichtshaut ein, wobei die größten unter ihnen nach ihrem zögerlichen Erlöschen in tiefen Kratern jahrelange Selbstzweifel und hartnäckige Selbstabwertung hinterließen.

Zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag wünschte ich mir eine Laserbehandlung dieser »Sternwunden«, zu der mich Mutter begleitete, beziehungsweise mich anlieferte wie einen beschädigten Spiegel, in dem sie sich nicht mehr vorteilhaft abgebildet sah.

Zu Frauen im Allgemeinen vertrat meine Mutter eine sehr klare Meinung: Sie teilten sich auf in Mütter und in falsche Schlangen, letztere auch gerne »Flittchen« oder »Weiber« genannt. Mütter konnten unter günstigen Umständen auch gleichzeitig Damen sein. Wie die Callas oder die Kennedy oder eben wie sie selbst. Eine Dame hatte immer einen wohlhabenden, einflussreichen Mann an ihrer Seite und stets ein tragisches Schicksal zu erdulden: Sie musste – obgleich von ihrem Mann dank zahlreicher Flittchen auf das Widerlichste hintergangen oder gar verstoßen – nach außen hin stets gefasst und würdevoll erscheinen. Damen lebten in der Vorstellung von Frau Dornbusch im Land des Lächelns.

Unter die Kategorie »Mütter« fielen zum Beispiel die Friseurin meiner Mutter, der sie nach jedem Besuch einen Zwanziger extra zusteckte, da die arme Frau einen noch ärmeren Mann geheiratet hatte und sie nun hart für ihr tägliches Brot arbeiten musste; darunter fiel desgleichen ihre langjährige und treu zu Diensten stehende Kosmetikerin, die als sitzengelassene Frau eine Tochter zu versorgen hatte, weil sich »das Schwein von einem Mann mit einer Jüngeren eingelassen hatte.«

Und schließlich die Bankangestellte, von Mutter liebevoll »meine Bänkerin« genannt, mit der sie alle finanziellen Fragen seit dem Tod von Vater bespricht. Diese Bankangestellte schenkt ihrer lieben Frau Dornbusch aus Dankbarkeit für so viel entgegengebrachtes, – ja freundschaftliches – Vertrauen zu jedem Geburtstag einen ausladenden Strauß dunkelroter Rosen, wofür sie für einen Wimpernschlag lang in den Stand einer Dame gelangt.

Die Bänkerin selbst hat zwar keine Kinder, nicht einmal einen Ehemann, doch die über viele Jahre nicht ermattende Sorge um das Wohl ihrer (»besten«) Kundin, verlieh ihr in den Augen von Frau Dornbusch etwas eindeutig Mütterliches.

Alle anderen Frauen, ob bekannt oder unbekannt, sind in Mutters Augen »Schlangen«.

Sie wird nicht müde, jene mit ihrem abgrundtiefen Misstrauen zu verfolgen, die durch ihr jugendliches Aussehen oder ihre unverhohlene Lebensfreude etwas sehr tief in ihr Schlummerndes und unerklärlich Bedrohliches berühren.

Ich möchte an dieser Stelle nochmals darauf hinweisen, dass mein Vater ein sehr wohlhabender und einflussreicher Mann war; selbst im Tode war er nach den Worten meiner tränenlosen Mutter »eine ganz große Leiche«, denn die Aussegnungshalle war zu klein für die vielen Menschen, die ihm die letzte Ehre erweisen wollten.

Am Abend zuvor ging ich hinauf zum Friedhof und betrat wachsam und auf Zehenspitzen den Raum, wo Vater aufgebahrt war: Man kann ja nie wissen …

Ich ging alleine, obwohl meine Mutter mich unbedingt begleiten wollte, aber für mich kam nur alleine in Frage. Gekleidet in ein weißes, seidenes Nachthemd, zugedeckt bis über den Bauch mit einer dünnen, fließenden Spitzendecke, lag Vater in seinem Kirschbaumsarg, welcher im Schulterbereich breiter als zum Kopf- und Fußende hin war.

Sein Haupt ruhte tief in einem an den Rändern verzierten Seidenkissen, seine Hände lagen auf seiner knöchernen Brust, die Finger etwas verdreht zum Gebet gefaltet, als hätte er sich bis zum Ende gegen diese Geste gewehrt. In seinem starren Gesicht konnte auch die Schminke die eingegrabenen Züge von Verachtung und Abscheu nicht übertünchen, denn niemals hätte er sich mir oder einem anderen lebenden Wesen im Nachthemd gezeigt. Dieser letzte Anblick meines Vaters war das Werk von Frau Dornbusch, seiner Frau.

Ich entschuldigte mich bei ihm für diese Schmach, aber ich hätte ihn nicht berühren sollen: Er war hart wie ein Brett und eiskalt von der Kühlung. Ein letzter Kuss war mir dadurch unmöglich geworden und auch dafür bat ich um Verzeihung.

Erst auf dem Heimweg über die Felder ließ ich die Tränen los.

Die Ansprachen an seinem reich geschmückten Sarge zogen sich über zwei Stunden, jeder wollte ihm im Nachhinein am nahesten gestanden haben, sogar der Koch der Firmenkantine hielt sich posthum für einen seiner besten Freunde.

Und ja: Hätte Vater sich je mit einem anderen Menschen freundschaftlich verbunden gefühlt, so wäre dieser unter seinen Angestellten zu finden gewesen. Verbundenheit mit einem, wie mein Vater zu betonen pflegte, »der für ihn durchs Feuer« gehen würde. Loyal und aufopferungsvoll bis weit über das Rentenalter hinaus.

Mutter war heftig eifersüchtig auf diese Leute, während ich dann und wann dachte, dass es als seine Tochter schwieriger war, sein Vertrauen zu gewinnen, auch wenn ich oft für ihn brannte: Zum Beispiel hatte ich mich anlässlich einer Betriebsfeier trotz meines pubertierenden und also ungünstigen Aussehens vorne ans Rednerpult gestellt und eine vor Stolz triefende Lobrede auf meinen Vater gehalten, vor mindestens hundertfünfzig Angestellten und Gästen! Sogar den lieben Gott hatte ich mit eingewoben, der liebe Gott als Freund meines erfolgreichen Vaters. Doch da Herr Dornbusch solcherlei Anbetungen in meinem Falle als naturgegeben hinnahm, waren sie verständlicherweise für ihn als Beweis seiner Großartigkeit nutzlos.

Vaters Frauenbild war ebenfalls sehr eingängig: Es gab Heilige – worunter vor allem Mütter zu zählen waren – und Dirnen.

Während Mutter von der blutjungen zur reifen und dann zur älteren Heiligen an seiner Seite heranreifte, wurden die anderen Frauen, mit denen Herr Dornbusch sich gerne umgab, immer jünger. Mich schmerzte oft, wie Mutters Wangen sich im hoffnungslosen Kampf gegen die »Flittchen« vor Wut röteten.

Was mich betraf, einziges Kind und weiblich, so war ich meinem Vater immer fremd geblieben.

Später, als selbstständige, ledige und kinderlose Ärztin, wusste er schlichtweg nicht, in welche Kategorie er mich einteilen sollte. Das spürte ich an seinen flüchtigen Blicken bei Tisch, die sich anfühlten, als hätte er sekundenschnell in mich hineingegriffen und alles ausgeräumt, was ich dort als Vorstellung meiner selbst hütete.

Mutter und ich haben unseren Kuchen gegessen und unsere Tasse Kaffee getrunken. Ich beginne, den Tisch abzuräumen. Meine Mutter bleibt sitzen, ihr ist, wie häufig, im Kopf nicht ganz wohl, sie will das noch mal beim Neurologen untersuchen lassen, nicht, dass da ein Tumor wächst.

Das wertvolle Porzellan darf nicht in die Spülmaschine; aber auch das weniger wertvolle spült sie von Hand, sie benutzt also ihre Spülmaschine praktisch nicht. Das Abspülen und Abtrocknen der Tassen und Teller verschafft mir eine Verschnaufpause.

Mutter ruft, ich solle das Porzellan zurück in die Vitrine stellen, als machte ich das nicht schon Jahre so. Nachdem alles ordentlich an seinen Platz zurückgefunden hat, bittet meine Mutter mich, den von ihr am Vorabend kühl gestellten Sekt aus dem Kühlschrank zu holen, zwei ihrer teuren Sektschalen aus besagter Vitrine zu entnehmen, sie auf den Tisch zu stellen, den Korken aus der Flasche zu drehen (Vorsicht, die Lampe!), und dann sorgsam einzuschenken (Vorsicht, dass nichts auf die Tischdecke tropft!). Danach stoßen wir an und Mutter sagt: »Ich bin so froh, dass ich dich habe, versprich mir, dass du immer da sein wirst, wenn ich dich brauche.« Das ist ihr Trinkspruch.

Und ich blicke auf den Ring an meinem Finger, nicht in ihre Augen, und sage schnell: »Ja, das weißt Du doch.«

Heute trinke ich ganz gegen meine Gewohnheit nur ein oder zwei Schlückchen, meine Mutter nippt nur an ihrem Glas, sie verträgt keinen Alkohol. Sie beäugt mich wachsam, während ich den edlen, versilberten Verschluss fest über die Flasche stülpe und sie in den Kühlschank zurückstelle.

Mein Handy klingelt. Herzklopfen. Ich gehe zu meiner Tasche, hole es heraus und lese »Emil ruft an«. Rasch gehe ich auf die Toilette und nehme dort ab: »Ich bin bei meiner Mutter, kann jetzt nicht reden. Wann kann ich dich heute zurückrufen?«

»Heute gar nicht«, meint er. Das enttäuscht mich sehr, denn seit vier Monaten sehne ich mich danach, mit Emil zu reden und in seiner Nähe zu sein. Ein rascher, prüfender Blick läßt noch immer keinen Tropfen Blut sehen, obgleich meine Periode schon seit zwei Wochen über der Zeit ist. Bin ich schwanger, ist das möglich? Ich lasse diesen Gedanken nur ganz kurz zu.

Ich bin achtunddreißig Jahre alt.

Damals, mit siebenundzwanzig Jahren, gegen Ende meines Studiums, als ich hoffte, dass es mit Paul zu einem gemeinsamen Leben kommen – sprich, wir eine Familie gründen würden, – vertröstete er mich von Jahr zu Jahr: noch nicht, erst das und dann das, und deine Praxispläne und meine Karriere. Bis ich ihm schließlich nicht mehr glaubte und mich nur noch benutzt fühlte.

Meiner Meinung nach gibt es nicht die »richtige Zeit« für ein Kind. Aber es gibt einen unbändigen Wunsch danach.

Es war Mutter, die damals den letzten Ausschlag dafür gegeben hatte, dass ich Paul von heute auf morgen vor die Türe setzte. »Das ist doch kein Mann. Ein Mann möchte Kinder, sofern er die Frau liebt.« Vielleicht hatte meine Mutter recht, vielleicht liebte er mich einfach nicht genug? Verletzt hatte mich damals jedoch vor allem ihre Frage zwischen den Zeilen: Wie kann es sein, dass du einen Mann nicht dazu bringst, dass er Kinder von dir möchte?

Mutters offene Abneigung gegenüber Paul wurde noch von einem weiteren Grund genährt: Er hatte sich niemals um ihre Anerkennung bemüht, es war ihm einfach gleichgültig, was sie von ihm hielt und vor allem – er war nicht zum Schmeicheln geboren und auch Zärtlichkeit war nicht seine Sache.

Ich war einunddreißig Jahre alt geworden, bis ich endlich verstanden hatte, dass er nicht der Richtige war, woraufhin ich mich mit ganzer Kraft meinem Beruf hingab.

Nach einem Jahr des Alleinseins besuchte ich mit meiner Freundin Angelika eine Vernissage und begann von heute auf morgen eine leidenschaftliche Beziehung mit Henri, dem ausstellenden Künstler, von dem ich an jenem Abend ein Gemälde gekauft hatte.

Henri war drei Jahre jünger als ich und mir im analytischen Denken etwas unterlegen, aber im Bett machte er das wieder gut und so schliefen wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit miteinander, einmal sogar im Beichtstuhl einer Kirche.

Nachdem wir ungefähr ein halbes Jahr ein Liebespaar gewesen waren, hatte ich eines Tages keine Maßnahmen mehr zur Verhütung getroffen, ohne es Henri zu sagen.

Dabei war es keineswegs so, dass ich mir diesen Mann als begeisterten Vater hätte vorstellen können, dafür liebte und brauchte er seine Freiheit viel zu sehr. So wie unsere Beziehung war, so gefiel sie ihm.

Meine Mutter indessen mochte auch Henri nicht, sie hielt ihn schlichtweg für einen Lebemann, der sich von ihrer Tochter aushalten ließ. Aber meine Mutter war zwanzig Jahre alt, als ich geboren wurde, und hat folglich keine Ahnung davon, wie es sich anfühlt, wenn eine Frau ihre biologische Uhr in den ruhigeren Stunden ticken hört.

Sie war neunzehn damals und mein Vater fünfundvierzig; er war bei ihrem Kennenlernen noch verheiratet, seine damalige Ehefrau konnte zu ihrem und meines Vaters Leidwesen keine Kinder bekommen und er konnte sie seinerseits in ihrer Rolle als Ehefrau weder in den Heiligenstand erheben noch eignete sie sich nach zehn Jahren des Zusammenseins für das Gegenteil.

Und eben deshalb habe Vater, nachdem er ein paar Wochen mit Mutter intim gewesen war, sich »riesig gefreut«, als sie ihm gestand, dass sie schwanger sei, obwohl die beiden sich damals gegen massive Vorurteile und offene Häme wegen ihres Altersunterschieds zur Wehr setzen mussten.

Vaters beklagenswerte, betrogene erste Ehefrau indessen war sich sicher, dass lediglich ihre Kinderlosigkeit, ihr vermaledeiter unfruchtbarer Leib, dazu geführt hatte, dass ihr Ehemann eine Affäre mit meiner »blutjungen« Mutter begonnen hatte und sie dann von heute auf morgen für dieses schwangere Flittchen verlassen worden war: Nicht etwa aus Mangel an Liebe ließ er sie zurück, sondern aus verständlicher Sorge heraus, keinen Nachfolger für seine Firma gezeugt zu haben. Auf diese Erklärung bestand die arme Frau Zeit ihres Lebens und stellte sich damit in eine Reihe mit Soraya von Persien.

Ich vermute, meine ständige Sorge, keine Kinder bekommen zu können, entspringt aus diesem Schicksal, welches bedeutet, als Unfruchtbare verlassen und verstoßen zu werden. Seit meinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr begleitet mich dieser Schreckensgedanke und ist womöglich auch der Grund dafür, dass ich mich während des Geschlechtsverkehrs nur schwer entspannen kann.

Wer keine Kinder gebären kann, so lautet mein bedrohliches Fazit, ist keine richtige Frau und für einen richtigen Mann unbrauchbar. Auf der anderen Seite rede ich mir ein, dass wenn eine Frau ein Kind von einem Mann möchte, er jedoch keines von ihr, dies zweifellos ein Mangel an Liebe von seiner Seite aus verrät.

Genau deshalb glaubte meine Mutter damals und schwört bis heute, dass mein Vater sie liebte, weil der mich wollte. Eigentlich lieber einen Sohn, aber auf jeden Fall einen Nachkommen.

Wenn ich jedoch bedenke, wie oft meine Mutter später über meinen Vater geklagt hatte, so bezweifle ich, dass sie diese Liebe wirklich gefühlt hat und nicht nur erdachte als Begründung für ihre eigene Geschichte.

Und so wurde die Vorstellung eines Lebens ohne Kinder für mich zum größten Schrecken, sprich die Möglichkeit, mit einer unfruchtbaren, unnützen Gebärmutter ausgestattet zu sein.

Zumal – ich muss acht Jahre alt gewesen sein – sich die Frau eines Freundes meiner Eltern mit Schlaftabletten das Leben nahm, weil sie unfreiwillig kinderlos geblieben war und ihr Mann sich immer ungenierter anderen Frauen zugewandt hatte. Mutter munkelte damals, der untreue Kerl habe die Bedauernswerte in schmerzverkrümmter Haltung tot im Ehebett gefunden.

Auch dieses Drama nährte fortan meine Überzeugung, dass einer Ehe ohne Kinder Berechtigung und Sinn fehlt, und dass Kinder der einzige Grund sind, weshalb zwei Menschen bis zum Lebensende beieinander bleiben können.

Belastet von derlei düsteren Annahmen, hätte ich zu meiner Beruhigung spätestens ab meinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr die Garantie gebraucht, schwanger werden zu können.

Bis ich sechsundzwanzig Jahre alt war, hatte ich zwar zwei oder drei Liebschaften, aber zu jener Zeit war ich verhütungsmäßig – sagen wir – unaufmerksam vorsichtig, denn auch jene Männer kamen für mich als potenzieller Vater nicht wirklich in Betracht.

Bei Henri jedoch, wie gesagt, wollte ich es dann angesichts meines vorgerückten Alters endlich wissen.

Nicht, ob er mich wirklich liebt, sondern ob ich fruchtbar bin.

Aber es hatte nicht geklappt, obwohl ich alles Mögliche versucht hatte. So bewegte ich mich nach dem Geschlechtsverkehr nur noch ganz vorsichtig, manchmal legte ich danach meine Beine hoch, um den Spermien den Weg zu meiner Eizelle zu erleichtern.

Natürlich könnte es auch an ihm gelegen haben, es gibt ja auch unfruchtbare Männer, nicht wahr? Doch wie hätte ich das prüfen können?

Wir blieben fast vier Jahre ein Paar, ein Bett-Paar, denn unter Tag war ich mit dem Aufbau meiner Praxis voll beschäftigt, hatte nicht wirklich Zeit für einen Mann in meinem Leben. Aber alle vier Wochen, wenn ich des ersten Tropfens meiner einsetzenden Mensis gewahr wurde, brach meine Welt zusammen.

Eines Abends, ich hatte ohne große Lust an meinen unfruchtbaren Tagen mit Henri geschlafen, eröffnete er mir, dass er sich in eine junge Kunststudentin verliebt habe und er sich von mir trennen würde. Ich war sechsunddreißig Jahre alt.

Meine Mutter reagierte unsensibel auf die Nachricht: »Mal sehen, wie lange es dauert, bis die von ihm schwanger wird!« Ahnte sie etwas von meinem Vorhaben? Meine Arbeit lenkte mich tagsüber von wachsender Beunruhigung ab und bewahrte mich vor der weiteren Eintrübung meines Selbstbildes als vollwertige Frau. Es quälte mich kein bisschen die Sorge, den Rest meines Lebens ohne Partner verbringen zu müssen, aber ich stellte mich nach Henri unter den quälenden Verdacht, unfruchtbar zu sein.

In den darauffolgenden beiden Jahren hatte ich die Hoffnung auf eigene Kinder zwar noch nicht gänzlich aufgegeben, dachte jedoch dann und wann schon über Alternativen nach: eine Adoption oder ein Pflegekind. Warum nicht?

Solche Überlegungen behielt ich jedoch für mich, wenn auch Mutter von sich aus niemals direkt auf das Thema Kinder zu sprechen kam. Allenfalls kam es zu Bemerkungen wie: »Die Tochter von Frau soundso hat jetzt ihr zweites Kind bekommen!« Oder: »Meine Friseurin ist jetzt vierfache Oma.«

Regelrecht traurig erscheint mir meine Mutter jedenfalls nicht über die Tatsache zu sein, keine eigenen Enkel zu haben.

Nach dem enttäuschenden Telefonat mit Emil komme ich aus der Toilette zu meiner Mutter ins Wohnzimmer zurück.

»Wer war das?«, fragt sie. »Meine Arzthelferin«, antworte ich, »sie kann morgen erst zehn Minuten später kommen.«

»Hast du eigentlich genügend Patienten?«, höre ich meine Mutter von weit her fragen, »es gibt doch heute HNO-Ärzte wie Sand am Meer!«

Obwohl ich wirklich hart arbeite, gibt es offenbar unzählige andere Kolleginnen, die in den Augen meiner Mutter härter arbeiteten als ihre durch die finanziellen Möglichkeiten des Vaters und den mütterlicherseits geerbten Begabungen gesegnete Tochter. Das verunsichert mich immer wieder derart, dass ich meine täglichen ärztlichen Bemühungen gelegentlich selbst für reinen Zeitvertreib halte.

Mittlerweile habe ich drei Arzthelferinnen eingestellt, eine ausschließlich für die Annahme der Patienten und die Terminvergabe sowie die Quartalsabrechnung. Es läuft richtig gut, ich habe mir einen treuen Patientenstamm aufgebaut, bin sogar aus Zeitnot gezwungen, neue Patienten abzuweisen. Aber auch darüber spreche ich niemals mit Mutter. Ich würde ihr nie ein Lob abringen.

Der Sekt ist getrunken, die Gläser sind wieder in der Vitrine und nun beginnt der dritte Teil unserer sonntäglichen Kaffeestunde.

Mit knappen Worten bekomme ich die Anweisung, Mutters Tasche im Flur zu holen. Ich stelle mich dumm und frage, was sie damit will, bekomme aber nur die wiederholte Anweisung als Antwort. Das ist unser Spiel und keine von uns beiden darf die Regeln verletzen oder den Ablauf verändern.

Ihre Tasche aus feinstem Leder steht immer an genau derselben Stelle auf der Kommode im Flur.

Wie bereits erwähnt, hatte meine Mutter kurz nach dem Tod meines Vaters unsere Villa an einen reichen Immobilienmakler verkauft und sich eine luxuriöse Eigentumswohnung gekauft: Die schönsten Möbel, Teppiche und Antiquitäten nahm sie mit, die mittelschönen schmücken heute meine eigene Wohnung und allen Rest verschenkte sie an unsere entfernte Verwandtschaft wie auch an ihre Friseurin und Kosmetikerin. Ich habe sehr wohl bemerkt, dass sie ihrer Bänkerin das Schachbrett mit den Elfenbeinfiguren geschenkt hat; meine Mutter hasste Schachspielen und ließ sich höchst selten von Vater zu einem Spiel überreden, das sie stets nach drei oder vier Zügen verlor.

Mutter fühlt sich sehr wohl in ihrem neuen Reich. Niemand tritt über ihre Schwelle ohne sich vorher angemeldet oder ihre Erlaubnis eingeholt zu haben; der Pfarrer unserer Gemeinde versuchte es nach dem Tod von Vater einmal, aber sie hat ihn durch die Sprechanlage im wahrsten Sinne des Wortes draußen im Regen stehenlassen.