Etwas ist faul - Agatha Christie - E-Book

Etwas ist faul E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

 "Perfekt für kurzweilige halbe Stunden."  The Scotsman     Ein Autor geht ans Telefon und plötzlich hängt ihm ein Mord an. Ein gewisser James Bond steigt nach dem Baden in der Umkleide versehentlich in die Hose eines anderen – und ist mit einem Mal ein Juwelendieb. Einem jungen Mann wird gekündigt und er droht den gesellschaftlichen Anschluss zu verlieren, bis ihn eine reiche junge Frau in ihrem Sportwagen entführt.  Etwas ist faul  in all den hier versammelten, vergnüglichen und spannenden Erzählungen für zwischendurch.   

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Seitenzahl: 319

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Agatha Christie

Etwas ist faul

Kurzgeschichten

Erzählungen

Aus dem Englischen von Pieke Biermann, Hella von Brackel, Günter Eichel, Maria Meinert, Felix von Poellheim, Karl H. Schneider, Edith Walter und Renate Weigl

Atlantik

Etwas ist faul

Mrs St. Vincent rechnete. Ein- oder zweimal seufzte sie, und ihre Hand stahl sich zu ihrer schmerzenden Stirn. Zahlen zu addieren hatte sie immer gehasst. Unglücklicherweise schien ihr Leben im Augenblick nur aus einer bestimmten Art von Zahlen zu bestehen. Das Zusammenzählen kleiner notwendiger Ausgabenposten ergab jedes Mal eine Gesamtsumme, die sie immer wieder überraschte und entsetzte.

Sicherlich konnte sie nicht so hoch sein! Sie begann noch einmal von vorne. Sie hatte sich bei einem Pfennigbetrag geirrt, sonst stimmte alles.

Mrs St. Vincent seufzte wieder. Ihr Kopfweh war jetzt wirklich sehr schlimm. Dann blickte sie auf. Ihre Tochter Barbara war ins Zimmer gekommen. Sie war ein außergewöhnlich hübsches Mädchen, hatte das zarte Gesicht ihrer Mutter und auch die gleiche stolze Kopfhaltung, aber ihre Augen waren dunkel statt blau, und sie hatte einen anderen Mund, einen trotzigen roten Mund, der nicht ohne Reiz war.

»Ach, Mutter!«, rief sie. »Kämpfst du immer noch mit diesen schrecklichen alten Rechnungen? Wirf sie doch ins Feuer!«

»Wir müssen wissen, woran wir sind«, antwortete Mrs St. Vincent unsicher.

Das Mädchen hob die Schultern.

»Wir sitzen immer in derselben Klemme«, sagte sie trocken. »Verdammt knapp bei Kasse. Abgebrannt bis auf den letzten Penny, wie gewöhnlich.«

Mrs St. Vincent seufzte.

»Ich wünschte …«, begann sie und schwieg dann.

»Ich muss mir Arbeit suchen«, sagte Barbara in energischem Ton. »Und zwar schnell. Schließlich habe ich einen Steno- und Schreibmaschinenkurs absolviert. Aber wie ich merke, hat das eine Million Mädchen auch getan. ›Was für Erfahrungen haben Sie?‹ Dann stottere ich: ›Nun, eigentlich …‹ Und schon heißt es: ›Vielen Dank, guten Tag. Wir geben Ihnen Bescheid.‹ Aber sie geben einem nie Bescheid! Ich muss etwas anderes finden. Irgendetwas!«

»Nicht jetzt, meine Liebe«, bat ihre Mutter. »Warten wir noch etwas.«

Barbara trat ans Fenster und blickte hinaus, ohne die schäbigen Häuser gegenüber wahrzunehmen.

»Manchmal bedaure ich es«, sagte sie langsam, »dass Amy mich letzten Winter mit nach Ägypten nahm. O ja, ich weiß, es hat mir großen Spaß gemacht – das einzige Mal, dass ich so etwas erlebt habe. Und es wird wohl auch das einzige Mal bleiben. Ich habe es genossen – richtig genossen. Aber es hat mich auch aus der Bahn geworfen. Ich meine – hierher zurückzukommen …«

Sie deutete mit einer alles umfassenden Geste durch das Zimmer. Mrs St. Vincent folgte ihrer Hand mit den Augen und zuckte zusammen. Es war ein typisches billiges möbliertes Zimmer. Eine staubige Aspidistra, pompöse Möbel, eine geschmacklose Tapete, die an manchen Stellen verschossen war. Es gab Anzeichen dafür, dass sich der Geschmack der Mieter gegen den der Vermieterin durchzusetzen versucht hatte. Ein oder zwei Porzellanfiguren standen da, mit Sprüngen und geklebten Stellen, sodass ihr Wert gleich null war, jemand hatte ein Stück Stickerei über die Sofalehne geworfen, und ein Aquarell hing da, das ein junges Mädchen in der Mode von vor zwanzig Jahren zeigte und dem Mrs St. Vincent auch heute noch ähnlich sah.

»Es wäre nicht so schlimm«, fuhr Barbara fort, »wenn wir nichts anderes gewohnt wären. Aber die Erinnerung an ›Ansteys‹ …«

Sie brach ab, weil sie nicht den Mut hatte, über das geliebte Haus zu sprechen, das den St. Vincents Jahrhunderte gehört hatte und jetzt im Besitz von fremden Leuten war.

»Wenn Vater nicht … wenn er nicht spekuliert … wenn er sich nicht Geld geliehen hätte …«

»Meine Liebe«, sagte Mrs St. Vincent. »Dein Vater war in keinem Sinne des Wortes ein Geschäftsmann.«

Sie sagte es in einer freundlichen, endgültigen Art, und Barbara ging zu ihr und gab ihr einen flüchtigen Kuss. »Meine liebe alte Mama«, murmelte sie. »Ich sage nichts mehr.«

Mrs St. Vincent nahm ihren Stift wieder auf und beugte sich über ihren Schreibtisch. Barbara kehrte zum Fenster zurück.

»Mutter«, sagte sie, »ich habe heute Morgen von Jim Masterton gehört. Er möchte mich besuchen kommen.«

Mrs St. Vincent legte den Stift hin und blickte auf. »Hier?«, fragte sie.

»Na ja, wir können ihn wohl kaum zum Abendessen ins ›Ritz‹ einladen«, spottete Barbara.

Ihre Mutter machte ein unglückliches Gesicht. Wieder blickte sie angeekelt durch das Zimmer.

»Ja, du hast recht«, sagte Barbara. »Es ist schrecklich hier. Verarmter Adel! Klingt alles ganz hübsch – ein kleines weiß getünchtes Haus auf dem Land, schäbiger Chintz, aber mit schönem Muster, Vasen voll Rosen, hauchdünnes Teegeschirr, das man selbst abwäscht. So liest man es in Romanen. Im wahren Leben – wenn der Sohn ganz unten auf der Leiter des Geschäftslebens anfangen muss – bedeutet es London. Schmuddelige Vermieterinnen, schmutzige Kinder im Treppenhaus, Mitbewohner, die immer Mischlinge zu sein scheinen, Bückling zum Frühstück, der nicht mehr ganz – ganz … und so weiter.«

»Wenn nur …«, begann Mrs St. Vincent. »Wirklich, ich fange allmählich an zu fürchten, dass wir uns bald auch so ein Zimmer nicht mehr leisten können.«

»Das würde heißen, wir schlafen und wohnen zusammen in einem Raum!«, sagte Barbara. »Einfach schrecklich! Und ein Klappbett für Rupert. Und wenn Jim mich besucht, muss ich ihn unten in dieser scheußlichen Halle empfangen, wo die alten Jungfern herumsitzen und stricken und uns beobachten und ständig so einen würgenden Husten haben.«

Es entstand eine Pause.

»Barbara«, sagte Mrs St. Vincent schließlich. »Willst du – ich meine – würdest du …«

Sie errötete etwas und schwieg.

»Du brauchst nicht taktvoll zu sein, Mutter«, antwortete Barbara. »Das ist heute kein Mensch mehr. Du meinst, ob ich Jim heiraten würde? Mein Ja käme wie aus der Pistole geschossen, wenn er mich fragt. Aber ich habe schreckliche Angst, dass er es nicht tut.«

»Ach, liebste Barbara!«

»Nun, es ist etwas anderes, wenn er mich mit Kusine Amy trifft, irgendwo in der feinen Gesellschaft, wie es in Romanen heißt. Da verliebte er sich nämlich tatsächlich in mich. Jetzt möchte er herkommen und erlebt mich hier, in dieser Umgebung. Er ist ein komischer Kerl, weißt du, anspruchsvoll und altmodisch. Mir – mir gefällt das eigentlich an ihm. Es erinnert mich an ›Ansteys‹ und das Dorf – so hundert Jahre hinter der Zeit, aber auch … ich weiß nicht, so duftend! Wie Lavendel!«

Sie lachte, etwas beschämt über ihre Begeisterung.

»Mir würde es gefallen, wenn du Jim Masterton heiratest«, sagte Mrs St. Vincent ernst und direkt. »Er gehört zu uns. Er ist sehr vermögend, das auch, aber ich finde es nicht so wichtig.«

»Ich schon«, antwortete Barbara. »Ich habe es satt, immer knapp bei Kasse zu sein.«

»Aber, Barbara, es ist nicht alles …«

»Du glaubst, nur deshalb möchte ich … nein, das stimmt nicht. Ich – ach, Mutter, spürst du es denn nicht?«

Mrs St. Vincent sah sehr unglücklich aus.

»Ich wünschte, er könnte dich in der richtigen Umgebung erleben, mein Liebling«, sagte sie betrübt.

»Ach, warum sich Sorgen machen!«, rief Barbara. »Wir können genauso gut versuchen, die Dinge positiv zu sehen. Tut mir leid, dass ich so schlechte Laune hatte. Sei wieder fröhlich, Mutter.«

Sie neigte sich über sie, küsste sie leicht auf die Stirn und ging hinaus. Mrs St. Vincent gab alle Versuche, Ordnung in ihre Finanzen zu bringen, auf und setzte sich auf das unbequeme Sofa. Ihre Gedanken liefen im Kreis, wie Eichhörnchen in einem Käfig.

Man kann sagen, was man will, überlegte sie, aber Männer geben was auf Äußerlichkeiten. Später nicht mehr, wenn sie erst verlobt sind. Dann wird er schon begreifen, was für ein süßes, liebes Mädchen sie ist. Junge Leute passen sich so schnell ihrer Umgebung an. Rupert hat sich so verändert. Er ist ganz anders als früher. Natürlich sollen meine Kinder nicht arrogant sein. Das möchte ich selbstverständlich nicht. Aber es würde mir nicht besonders gefallen, wenn sich Rupert mit dem schrecklichen Mädchen aus dem Tabakladen verlobt. Na ja, sie ist ein ganz reizendes Kind, aber sie gehört nicht zu uns. Es ist alles so schwierig. Die arme kleine Barbara. Wenn ich ihr doch helfen könnte – irgendwie. Nur – woher soll ich das Geld nehmen? Wir haben alles verkauft, damit Rupert einen guten Start hat. Und eigentlich könnten wir uns nicht einmal das leisten.

Um sich abzulenken, nahm sie die Morning Post und las die Anzeigen auf der ersten Seite. Die meisten kannte sie auswendig. Leute, die Kapital suchten, Leute, die welches hatten und es anlegen wollten, Leute, die Zähne kaufen wollten – sie fragte sich jedes Mal erneut, warum –, Leute, die Pelze und Kleider verkaufen wollten und bezüglich der Preise optimistische Vorstellungen hatten.

Plötzlich wurde sie hellwach. Wieder und wieder las sie den Text der Anzeige.

»Für Anspruchsvolle! Kleines Haus in Westminster, reizend eingerichtet, an Liebhaber gegen kostendeckende Miete. Keine Makler.«

Eine ganz gewöhnliche Annonce. Sie hatte eine Menge dieser Art gelesen – zumindest ähnliche. Kostendeckende Miete – das war meistens der Haken an der Geschichte.

Doch da sie so unruhig war und ihren Gedanken entfliehen wollte, setzte sie den Hut auf und nahm den Bus, der in die Richtung der genannten Adresse fuhr. Wie sich herausstellte, war es ein Maklerbüro, keine moderne große Firma, eher schäbig und altmodisch. Etwas verlegen holte sie die Anzeige heraus, die sie aus der Zeitung herausgerissen hatte, und fragte nach näheren Einzelheiten.

Der weißhaarige alte Gentleman, der sie empfangen hatte, strich sich nachdenklich das Kinn.

»Perfekt! Ja, perfekt, Madam. Es handelt sich um das Haus am Cheviot Place 7. Möchten Sie es mieten?«

»Ich hätte vorher gern gewusst, wie hoch die Miete ist«, antwortete Mrs St. Vincent.

»Ach, die Miete! Die genaue Höhe steht noch nicht fest, aber ich kann Ihnen versichern, sie soll nur die Kosten decken.«

»Darüber, was kostendeckend ist, gehen die Meinungen ziemlich auseinander«, sagte Mrs St. Vincent.

Der alte Gentleman gestattete sich ein leises Kichern.

»Ja, das ist ein alter Trick – ein sehr alter Trick. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, dass er in diesem Fall nicht zutrifft. Zwei oder drei Guineas die Woche vielleicht, nicht mehr.«

Mrs St. Vincent beschloss, sich eine Besichtigungserlaubnis geben zu lassen. Natürlich war es höchst unwahrscheinlich, dass sie sich das Haus leisten konnte. Aber ansehen konnte sie es sich schließlich. Wenn man es so billig hergab, musste es irgendwelche Nachteile haben.

Als sie vor Cheviot Place 7 stand, machte ihr Herz einen Satz. Ein Schmuckstück von einem Haus! Im Queen-Anne-Stil erbaut und sehr gepflegt. Ein Butler öffnete. Er hatte graues Haar und kleine Koteletten und strahlte die Ruhe und Würde eines Erzbischofs aus. Mit gütigem Gesicht nahm er den Erlaubnisschein in Empfang.

»Selbstverständlich, Madam, führe ich Sie herum. Sie könnten sofort einziehen.«

Er schritt ihr voraus, öffnete Türen, erklärte die Räumlichkeiten.

»Dies ist das Wohnzimmer, dies das weiße Arbeitszimmer, dann eine Toilette, bitte, hier durch, Madam.«

Es war vollkommen – ein Traum, alles Stilmöbel, jedes Stück verriet, dass es oft gebraucht worden war, liebevoll gepflegt und gewachst. Die Teppiche hatten gedämpfte alte Farben. In jedem Raum standen Vasen mit frischen Blumen. Die Rückseite des Hauses ging auf den Green Park hinaus. Das Ganze strahlte einen altmodischen Charme aus.

Mrs St. Vincent traten die Tränen in die Augen, die sie nur mit Mühe zurückhalten konnte. So hatte »Ansteys« ausgesehen, »Ansteys« …

Sie fragte sich, ob der Butler ihre Rührung bemerkt hatte. Falls ja, war er zu gut erzogen, um es zu zeigen. Sie mochte diese alten Diener, man fühlte sich so geborgen bei ihnen, so sicher. Sie waren wie gute Freunde.

»Ein schönes Haus«, sagte sie leise. »Sehr schön. Ich habe mich gefreut, es ansehen zu dürfen.«

»Ist es für Sie allein, Madam?«

»Für meinen Sohn und meine Tochter und für mich. Nur fürchte ich …«

Sie schwieg. Sie hätte es so gern gemietet – so schrecklich gern! Sie spürte instinktiv, dass der Butler sie verstand. Ohne sie anzusehen, sagte er in seiner kühlen, unpersönlichen Art: »Zufällig weiß ich, Madam, dass dem Besitzer vor allem an den richtigen Mietern gelegen ist. Die Miete spielt für ihn keine Rolle. Er möchte, dass in dem Haus jemand wohnt, der es wirklich liebt und sich um alles ordentlich kümmert.«

»Das würde ich tun«, sagte Mrs St. Vincent. Dann fügte sie, schon zum Gehen gewandt, hinzu: »Vielen Dank, dass Sie mich herumgeführt haben.«

»Es war mir ein Vergnügen, Madam.«

Er stand unter der Haustür, sehr korrekt und aufrecht, während sie die Straße hinunterging. Er weiß Bescheid, überlegte sie. Ich tue ihm leid. Er gehört auch noch zur alten Garde. Er hätte gern, dass ich dort wohne und nicht ein Abgeordneter der Arbeiterpartei oder ein Knopffabrikant. Unsere Art stirbt aus, aber wir halten zusammen.

 

Am nächsten Morgen lag ein Brief neben ihrem Teller. Er stammte von der Maklerfirma. Man machte ihr das Angebot, Cheviot Place 7 auf sechs Monate für zwei Guineas in der Woche zu mieten, und dann hieß es weiter: »Sicherlich haben Sie den Umstand bedacht, dass die Angestellten weiterhin vom Eigentümer bezahlt werden? Es ist ein einmaliges Angebot.«

Das war es wirklich. Sie war so aufgeregt, dass sie den Brief sofort laut vorlas. Ein Feuerwerk von Fragen folgte, und sie erzählte von ihrem gestrigen Besuch.

»Was für eine Heimlichtuerin du bist!«, rief Barbara. »Ist es wirklich so entzückend?«

Rupert räusperte sich und begann ein richtiges Kreuzverhör. Dann meinte er: »Dahinter steckt noch etwas anderes. Es stinkt, wenn ihr mich fragt. Bestimmt ist was faul daran.«

»Ach, Unsinn«, sagte Barbara und rümpfte die Nase. »Warum soll was dahinterstecken? Das sieht dir ähnlich, Rupert, immer witterst du Geheimnisse, wo gar keine sind. Die schrecklichen Kriminalromane sind schuld, die du immer liest.«

»Die Miete ist ein Witz«, erklärte Rupert. »Wenn man in der Stadt arbeitet«, fügte er gewichtig hinzu, »erlebt man die seltsamsten Sachen. Ich kann euch nur sagen, dass das Angebot mehr als faul ist.«

»Das glaube ich nicht«, meinte Barbara. »Das Haus gehört eben einem Mann mit viel Geld, er liebt es und möchte, dass nette Leute drin wohnen, während er verreist ist. Irgend sowas. Geld ist vermutlich für ihn völlig unwichtig.«

»Wie war noch die Adresse?«, fragte Rupert seine Mutter. »Cheviot Place 7.«

»Hu, wie aufregend!« Er schob seinen Stuhl zurück. »Der verschwundene Lord Listerdale wohnte dort.«

»Bist du sicher?«, fragte Mrs St. Vincent zweifelnd.

»Völlig. Er hat noch eine Menge anderer Häuser, überall in London, aber in dem dort wohnte er. Eines Abends erklärte er, er ginge jetzt in seinen Klub, und seitdem hat ihn kein Mensch mehr gesehen. Angeblich ist er nach Ostafrika oder so abgehauen, aber niemand weiß, warum. Vielleicht ist er in dem Haus auch ermordet worden. Sagtest du nicht, dass es viel Täfelung gibt?«

»Ja, schon«, antwortete Mrs St. Vincent hilflos, »aber …« Rupert ließ sie nicht aussprechen.

»Die Wandtäfelung!«, rief er fasziniert. »Na also! Bestimmt gibt es irgendwo einen verborgenen Alkoven. Die Leiche wurde dort versteckt und ist immer noch da. Vielleicht hat man sie vorher einbalsamiert.«

»Rupert, mein Lieber, rede keinen Unsinn!«, sagte seine Mutter.

»Sei kein Idiot!«, rief Barbara. »Du bist mit deiner Wasserstoffblondine zu oft im Kino gewesen.«

Rupert erhob sich würdevoll – jedenfalls mit so viel Würde, wie sein schlaksiges und ungelenkes Alter es zuließ – und sprach ein Ultimatum.

»Du mietest das Haus, Mama, und ich erforsche das Geheimnis. Du wirst schon sehen!«

Rupert verabschiedete sich eilig, weil er Angst hatte, zu spät ins Büro zu kommen.

Die Blicke von Mutter und Tochter trafen sich.

»Wäre es möglich, Mutter?«, fragte Barbara ängstlich. »Ach, wenn wir es doch mieten könnten.«

»Die Angestellten müssen essen«, sagte Mrs St. Vincent betrübt. »Nicht, dass sie das nicht sollten, nur – das ist ein Nachteil, finde ich. Man kann so gut ohne gewisse Dinge auskommen – wenn man allein ist.«

Mitleidig sah sie Barbara an. Barbara nickte.

»Wir müssen noch einmal darüber nachdenken«, sagte ihre Mutter.

Aber in Wirklichkeit hatte sie sich schon entschlossen. Sie hatte das Leuchten in den Augen ihrer Tochter gesehen. Jim Masterton muss sie in der richtigen Umgebung treffen, überlegte sie. Das ist eine Chance – eine großartige Chance. Ich darf sie uns nicht entgehen lassen. Sie setzte sich und schrieb dem Maklerbüro, dass sie das Angebot annehmen würde.

 

»Woher kommen die Lilien, Quentin? Ich kann wirklich keine teuren Blumen kaufen.«

»Sie wurden von ›King’s Cheviot‹ geschickt, Madam. Das ist so üblich.«

Der Butler zog sich zurück. Mrs St. Vincent stieß einen erleichterten Seufzer aus. Was würde sie nur ohne Quentin tun? Er machte alles so leicht und einfach. Es kann nicht lange dauern, dachte sie, es ist zu schön, um wahr zu sein. Irgendwann wache ich auf, ich weiß es, und stelle fest, dass alles nur ein Traum war. Ich bin hier so glücklich – schon zwei Monate, und sie sind vergangen wie im Flug.

Das Leben war wirklich erstaunlich angenehm gewesen. Quentin, der Butler, hatte sich zum Herrscher von Cheviot Place 7 entwickelt. »Überlassen Sie alles mir, Madam«, hatte er respektvoll gesagt. »Sie werden sehen, dass es so am besten ist.«

Jede Woche brachte er ihr das Haushaltsbuch. Die Ausgaben waren erfreulich niedrig. Es gab nur noch zwei andere Angestellte, eine Köchin und ein Hausmädchen. Sie waren freundlich und tüchtig, aber es war Quentin, der den Haushalt führte. Wild und Geflügel erschienen manchmal auf dem Tisch, was Mrs St. Vincent Sorgen bereitete. Doch Quentin beruhigte sie. Es sei von Lord Listerdales Landsitz »King’s Cheviot« geschickt worden, oder von seiner Jagd in Yorkshire.

»So war es immer üblich, Madam«, pflegte er zu sagen. Insgeheim bezweifelte Mrs St. Vincent, dass der abwesende Lord Listerdale mit dieser Behauptung einverstanden sein würde. Sie hatte vielmehr den Verdacht, dass Quentin sich Befugnisse seines Herrn anmaßte. Es war klar, dass er Gefallen an ihr und den Kindern fand und für sie in seinen Augen nichts gut genug war.

Durch Ruperts Bemerkung war damals ihre Neugier erwacht, und bei ihrem nächsten Besuch im Maklerbüro hatte sie vorsichtig die Sprache auf Lord Listerdale gebracht. Der weißhaarige Gentleman hatte sich sofort dazu geäußert.

Ja, Lord Listerdale sei in Ostafrika, schon seit achtzehn Monaten.

»Unser Klient ist ein ziemlich exzentrischer Mann«, sagte er und lächelte breit. »Er verließ London auf höchst unkonventionelle Art, wie Sie vielleicht wissen. Er sagte zu niemand ein Wort. Die Zeitungen bekamen Wind davon. Sogar Scotland Yard interessierte sich für die Sache. Glücklicherweise kam von Lord Listerdale selbst Nachricht, aus Ostafrika. Er erteilte seinem Vetter, Oberst Carfax, Handlungsvollmacht. Oberst Carfax ist es auch, der jetzt für Lord Listerdale alle Geschäfte führt. Ja, ziemlich exzentrisch, fürchte ich. Er ist immer viel in der Wildnis herumgereist – möglich, dass er für lange Zeit nicht nach England zurückkehrt, obwohl er auch schon in die Jahre kommt.«

»Sicherlich ist er noch nicht sehr alt«, sagte Mrs St. Vincent, die sich plötzlich einbildete, sein gutmütiges bärtiges Gesicht einmal in einer Illustrierten gesehen zu haben. Das Bild hatte sie an einen mittelalterlichen Seemann erinnert.

»Im besten Alter«, antwortete der weißhaarige Gentleman. »Im Debrett steht, dass er dreiundfünfzig ist.«

Von dieser Unterhaltung hatte Mrs St. Vincent Rupert erzählt, weil sie dem jungen Mann einen Dämpfer geben wollte.

Doch Rupert blieb unbeeindruckt.

»Ich finde, die Sache sieht noch viel fauler aus, als ich dachte«, sagte er. »Wer ist dieser Oberst Carfax eigentlich? Vermutlich erbt er den Titel, wenn Listerdale was zustößt. Der Brief aus Ostafrika war sicher gefälscht. In drei Jahren oder so wird dieser Carfax ihn für tot erklären lassen und sich seinen Titel aneignen. Inzwischen verwaltet er den ganzen Besitz. Na, wenn das nicht zum Himmel stinkt!«

Er hatte sich herabgelassen zuzugeben, dass das Haus ihm gefiel. In seiner Freizeit klopfte er manchmal eine Täfelung ab und maß die Wände genau nach, weil er hoffte, er könne ein Geheimzimmer finden, aber nach und nach ließ sein Interesse für den geheimnisvollen Lord Listerdale nach. Auch was die Tochter des Tabakhändlers anging, war er nicht mehr so begeistert. Atmosphäre spielt eben eine wichtige Rolle.

Für Barbara war das Haus ein großer Gewinn. Jim Masterton hatte die Familie besucht und war jetzt ein häufiger Gast. Er und Mrs St. Vincent verstanden sich prächtig. Eines Tages machte er eine Bemerkung zu Barbara, die diese verblüffte.

»Dieses Haus ist ein großartiger Rahmen für deine Mutter, findest du nicht?«

»Für meine Mutter?«

»Ja. Als wäre es für sie gebaut worden. Es passt zu ihr auf eine ganz seltsame Weise. Es hat eine komische Atmosphäre, irgendwie unheimlich, geisterhaft.«

»Du bist genau wie Rupert«, beschwerte sich Barbara. »Er glaubt felsenfest, dass der verrückte Oberst Carfax Lord Listerdale ermordete und die Leiche unter dem Fußboden versteckte.«

Masterton lachte.

»Ich bewundere Ruperts kriminalistische Phantasie. Nein, so was meinte ich nicht. Aber irgendetwas liegt in der Luft, eine rätselhafte Stimmung, die ich nicht genau erklären kann.«

 

Sie wohnten drei Monate in Cheviot Place 7, als Barbara ihrer Mutter mit glücklichem Gesicht erzählte: »Jim und ich – wir haben uns verlobt. Ja, gestern Abend! Ach, Mama, es ist wie im Märchen.«

»Meine Liebe! Ich freue mich so – so sehr.«

Mutter und Tochter umarmten sich.

»Weißt du eigentlich, dass Jim fast genauso heftig in dich verliebt ist wie in mich?«, fragte Barbara schließlich mit einem kleinen mutwilligen Lachen.

Mrs St. Vincent errötete, was ihr sehr gut stand.

»Wirklich, es stimmt«, beharrte Barbara. »Du dachtest, das Haus würde die richtige Umgebung für mich sein, und dabei passt es viel besser zu dir. Rupert und ich – wir gehören nicht richtig hierher. Du schon.«

»Rede keinen Unsinn, Liebling.«

»Es ist kein Unsinn. Es hat etwas von einem verzauberten Schloss, und du bist die verzauberte Prinzessin, und Quentin – ja, er ist der gute Zauberer.«

Mrs St. Vincent lachte und gab zu, dass sie mit ihrer Bemerkung über Quentin recht habe.

Rupert nahm die Neuigkeit, dass Barbara sich verlobt hatte, gelassen auf.

»Ich dachte schon, dass so was im Busch ist«, bemerkte er weise.

Er und seine Mutter aßen allein zu Abend, Barbara war mit Jim ausgegangen.

Quentin stellte das Glas Portwein vor ihn hin und zog sich geräuschlos zurück.

»Ein komischer alter Knabe«, sagte Rupert und nickte in Richtung der geschlossenen Tür. »Er hat was Verdächtiges an sich, weißt du, irgendwas ist …«

»… ist faul?«, fragte Mrs St. Vincent dazwischen und lächelte leicht.

»Nanu, wieso wusstest du, was ich sagen wollte?«, fragte Rupert erstaunt.

»Weil es ein Lieblingswort von dir ist. Du entdeckst sehr häufig etwas, das faul ist. Vermutlich glaubst du jetzt, dass Quentin Lord Listerdale umbrachte und ihn unter dem Fußboden versteckte?«

»Hinter der Täfelung«, verbesserte Rupert. »Du bringst immer alles durcheinander, Mutter. Nein, ich habe mich erkundigt. Quentin war damals in ›King’s Cheviot‹.«

Mrs St. Vincent lächelte ihm zu, stand auf und ging in ihr Wohnzimmer hinauf. In mancher Hinsicht brauchte Rupert lange, bis er erwachsen wurde.

Trotzdem dachte sie dann darüber nach, warum Lord Listerdale England so plötzlich verlassen hatte. Für diesen überstürzten Entschluss musste es doch einen Grund geben. Sie grübelte immer noch darüber nach, als Quentin mit dem Kaffeetablett eintrat.

»Sie sind lange bei Lord Listerdale gewesen, nicht wahr?«, fragte sie direkt.

»Ja, Madam. Seit ich ein Bursche von einundzwanzig war. Da lebte sein Vater noch. Ich fing als dritter Diener an.«

»Sie müssen Lord Listerdale sehr gut kennen. Was für ein Mann ist er?«

Der Butler verschob das Tablett etwas, damit sie den Zucker besser erreichen konnte, und antwortete in leidenschaftslosem Ton: »Lord Listerdale war ein sehr selbstsüchtiger Mann, Madam. Er dachte nie an andere.«

Er nahm das Tablett und trug es aus dem Zimmer. Mrs St. Vincent saß mit der Kaffeetasse in der Hand da und runzelte erstaunt die Stirn. Irgendetwas war seltsam an dieser Antwort gewesen, abgesehen vom Inhalt selbst. Ein paar Sekunden später wurde es ihr blitzartig klar.

Quentin hatte »war« gesagt, nicht »ist«. Aber dann musste er glauben … dann dachte er … sie riss sich zusammen. Sie war schon so schlimm wie Rupert! Sie fühlte sich äußerst unbehaglich. Später glaubte sie immer, dass sie in jenem Augenblick den ersten Verdacht gehabt hatte.

Barbaras Glück und Zukunft waren gesichert, und sie hatte Zeit, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, und gegen ihren Willen begannen sie sich immer mehr mit dem geheimnisvollen Lord Listerdale zu beschäftigen. Was steckte wirklich dahinter? Was es auch sein mochte, Quentin wusste etwas. Jene seltsamen Worte, die er gesagt hatte … »ein sehr selbstsüchtiger Mann, er dachte nie an andere«. Was meinte er damit? Er hatte es gesagt, wie ein Richter reden würde, sachlich und unparteiisch.

Hatte Quentin mit Lord Listerdales Verschwinden etwas zu tun? Falls es zu einer Tragödie gekommen war – hatte er seine Finger im Spiel gehabt? Ruperts Vermutungen hatten zwar zu Anfang lächerlich geklungen, aber schließlich war nur ein Brief mit der Handlungsvollmacht aus Ostafrika gekommen, was eigentlich ziemlich verdächtig war.

So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht glauben, dass Quentin zu einer schlechten Tat fähig war. Quentin, sagte sie sich wieder und wieder, war ein guter Mensch. Sie benützte das Wort im einfachsten Sinn, wie ein Kind es tun würde. Quentin war gut. Und doch – er wusste etwas.

Sie unterhielt sich nie wieder mit ihm über seinen Herrn. Das Thema geriet anscheinend in Vergessenheit. Rupert und Barbara hatten andere Dinge im Kopf, es gab keine weiteren Diskussionen über Lord Listerdale.

Gegen Ende August änderten sich die Dinge. Ihr vager Verdacht wurde Wirklichkeit. Rupert machte mit einem Freund, der ein Motorrad besaß, vierzehn Tage Ferien. Etwa zehn Tage nach seiner Abreise stürmte er zu ihrem Erstaunen in das Zimmer, in dem sie saß und schrieb.

»Rupert!«, rief sie verblüfft.

»Ja ja, Mutter, du erwartest mich frühestens in drei Tagen zurück. Aber es ist etwas passiert. Anderson – du weißt schon, mein Freund –, also Anderson war es egal, wohin wir fuhren, und da schlug ich vor, ›King’s Cheviot‹ zu besuchen …«

»›King’s Cheviot‹? Warum denn …«

»Du weißt ganz genau, Mutter, ich dachte immer, dass hier was faul ist. Na, da habe ich mir den alten Kasten angesehen. Übrigens ist er vermietet. Nichts Verdächtiges zu finden. Hatte ich auch nicht erwartet. Ich habe nur ein wenig herumgeschnüffelt, wie man so schön sagt.«

Ja, dachte sie, Rupert war manchmal genau wie ein Hund. Er jagte im Kreis hinter irgendetwas Vagem, Undefinierbarem her, geleitet von seinem Instinkt, und war dabei glücklich.

»Als wir durch ein Dorf ungefähr acht oder neun Meilen entfernt fuhren, da passierte es – ich meine, da sah ich ihn.«

»Wen?«

»Quentin. Er ging gerade in ein kleines Haus. ›Da ist doch was faul‹, sagte ich mir, und wir hielten an, und ich ging hin. Ich klopfte an die Haustür, und er öffnete.«

»Ich verstehe gar nichts mehr. Quentin war immer hier …« »Dazu komme ich gleich, Mutter. Wenn du doch nur zuhören und mich nicht unterbrechen würdest. Es war Quentin, und er war es wieder nicht, wenn du verstehst, was ich meine.«

Mrs St. Vincent verstand absolut nicht, was er meinte, und deshalb erläuterte er die Sache etwas näher.

»Es war Quentin, jawohl, nur war es nicht unser Quentin. Es war der richtige Quentin.«

»Rupert, ich bitte dich!«

»Hör mir doch zu! Zuerst war ich auch verwirrt. ›Sie sind doch Quentin, nicht wahr?‹, fragte ich. Und der alte Knabe antwortete: ›Ja, stimmt, Sir, so heiße ich. Was kann ich für Sie tun?‹ Da erkannte ich, dass er nicht unser Mann war, obwohl alles sehr ähnlich war, Stimme und so. Ich stellte ein paar Fragen, und die Wahrheit kam ans Licht. Der alte Knabe hatte keine Ahnung, dass irgendetwas faul war. Er war Lord Listerdales Butler gewesen, das stimmte. Man hatte ihn in Pension geschickt und ihm das kleine Haus gegeben, ungefähr zu der Zeit, als Lord Listerdale angeblich nach Afrika reiste. Begreifst du, was das bedeutet? Unser Mann ist ein Betrüger – er spielt Quentins Rolle nicht ohne Grund. Nach meiner Theorie kam er an jenem Abend nach London, tat, als sei er der Butler aus ›King’s Cheviot‹, sprach mit Lord Listerdale, tötete ihn und versteckte die Leiche hinter der Täfelung. Es ist ein altes Haus, bestimmt gibt es hier Geheimkammern …«

»Oh, fang nicht schon wieder damit an«, unterbrach ihn Mrs St. Vincent wütend. »Ich ertrage es nicht. Warum hätte er ihn umbringen sollen, das würde ich gern wissen, warum? Wenn er es getan hat – und das glaube ich keine Minute lang, hörst du –, was für einen Grund hatte er?«

»Du hast recht«, antwortete Rupert. »Das Motiv – das Motiv ist wichtig. Deshalb habe ich Nachforschungen angestellt. Lord Listerdale hat viel Hausbesitz. In den vergangenen beiden Tagen entdeckte ich, dass praktisch alle seine Häuser in den letzten achtzehn Monaten an Leute wie uns vermietet wurden, zu einer niedrigen Miete und mit der Auflage, dass alle Angestellten bleiben müssten. Und in allen diesen Fällen war Quentin selbst – der Mann, der sich Quentin nennt – einige Zeit als Butler dort.

Mir sieht es so aus, als ob irgendetwas – Schmuck, wichtige Papiere – in einem von Lord Listerdales Häusern versteckt ist und die Verbrecherbande nicht weiß, in welchem. Es ist nur eine Vermutung, dass eine Bande im Spiel ist, natürlich könnte Quentin auch ein Einzelgänger sein. Es …«

»Rupert!«, unterbrach ihn Mrs St. Vincent mit ziemlicher Entschiedenheit. »Hör mal eine Minute auf zu reden. Mir wird schon ganz schwindlig. Außerdem – was du da erzählst, ist alles Unsinn – Verbrecherbanden, versteckte Papiere …«

»Ich habe noch eine andere Theorie«, gestand Rupert. »Quentin könnte auch jemand sein, dem Lord Listerdale Unrecht getan hat. Der echte Butler erzählte mir eine lange Geschichte über einen Mann namens Samuel Lowe, einen Untergärtner, ungefähr so groß und von ähnlicher Statur wie Quentin. Er hatte was gegen Listerdale …«

Mrs Vincent schreckte zusammen.

»Er dachte nie an andere.« Die Worte des Butlers fielen ihr wieder ein und der sachliche, unbeteiligte Ton, in dem er sie gesagt hatte. Was für dürftige Worte. Worum ging es in Wirklichkeit?

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie Rupert kaum zuhörte. Er erklärte ihr hastig etwas, das sie nicht verstand, und lief aus dem Zimmer.

Dann tauchte sie aus ihren Grübeleien auf. Wo war Rupert? Was würde er tun? Sie hatte seinen letzten Worten nicht richtig zugehört. Vielleicht lief er zur Polizei. In diesem Fall …

Sie stand abrupt auf und drückte die Klingel. Wie üblich erschien Quentin sofort.

»Sie haben geläutet, Madam?«

»Ja. Bitte, kommen Sie herein und schließen Sie die Tür!« Der Butler gehorchte. Mrs St. Vincent schwieg einen Augenblick und musterte ihn mit ernsten Augen.

Er war so freundlich zu mir, dachte sie. Keiner ahnt, wie freundlich er war. Die Kinder können es nicht verstehen. Ruperts Geschichte ist bestimmt völliger Unsinn. Andrerseits könnte aber … ja, vielleicht ist doch etwas dran. Warum sollte ich ihn verurteilen? Man weiß nie. Ich meine, was richtig und was falsch an so einer Sache ist … ich würde mein Leben verwetten – ja, mein Leben –, dass er ein guter Mensch ist.

»Mr Rupert ist gerade zurückgekommen, Quentin«, sagte sie errötend mit unsicherer Stimme. »Er war in ›King’s Cheviot‹ und in einem Dorf in der Nähe …«

Sie schwieg, weil sie bemerkte, dass er gegen seinen Willen zusammengezuckt war.

»Er ist jemand – er ist jemand begegnet«, fuhr sie vorsichtig fort.

So, jetzt ist er gewarnt, dachte sie. Auf jeden Fall ist er gewarnt.

Nach der kurzen Reaktion von eben hatte Quentin seine Gelassenheit wiedergefunden. Seine Augen sahen sie wachsam und forschend an. Ein Ausdruck lag in ihnen, den sie bisher noch nicht an ihm bemerkt hatte. Zum ersten Mal blickte er sie mit den Augen eines Mannes an und nicht mit denen eines Dieners.

Er zögerte einen Augenblick, dann fragte er in einem Ton, der sich ebenfalls etwas verändert hatte: »Warum erzählen Sie mir das, Mrs St. Vincent?«

Ehe sie antworten konnte, flog die Tür auf und Rupert kam herein. Ihm folgte ein würdevoller Mann mit kleinen Koteletten und der Miene eines gütigen Erzbischofs. Es musste Quentin sein.

»Hier ist er«, sagte Rupert. »Der echte! Er wartete draußen in einem Taxi. Also, Quentin, sehen Sie sich diesen Mann mal an und sagen Sie mir, ob er Samuel Lowe ist!«

Es war Ruperts großer Augenblick. Doch er war nur kurz, denn er erkannte fast sofort, dass etwas nicht stimmte. Eine Zeitlang sah der echte Quentin verlegen und ziemlich unsicher aus, der zweite Quentin lächelte, ein breites Lächeln voll ehrlichen Vergnügens.

Er klopfte seinem verwirrten Doppelgänger freundlich auf den Rücken.

»Es ist schon in Ordnung, Quentin. Irgendwann musste ich ja mal die Katze aus dem Sack lassen. Sie können ihnen erzählen, wer ich bin.«

Der würdevolle Fremde straffte sich.

»Dies, Sir«, verkündete er in vorwurfsvollem Ton, »ist mein Herr, Lord Listerdale, Sir.«

In den nächsten Minuten geschahen viele Dinge. Zuerst brach Ruperts Selbstsicherheit völlig in sich zusammen. Ehe er wusste, wie ihm geschah, wurde er freundlich zur Tür manövriert. Der Mund stand ihm vor Verblüffung immer noch offen, eine freundliche Stimme, die ihm vertraut klang und doch wieder nicht, sagte an seinem Ohr: »Es ist alles in Ordnung, mein Junge. Es gab keine Scherben. Gute Arbeit hast du geleistet. Mich einfach so aufzustöbern.«

Dann stand er draußen auf dem Treppenabsatz und sah auf die geschlossene Tür. Der echte Quentin stand neben ihm. Ein freundlicher Strom von Erklärungen floss von seinen Lippen. Drinnen im Zimmer sagte Lord Listerdale zu Mrs St. Vincent.

»Ich möchte es Ihnen gern erklären – falls ich es kann. Mein Leben lang war ich ein egoistischer Teufel gewesen, und eines Tages merkte ich es. Ich dachte, ich sollte es mal mit der Nächstenliebe versuchen, und da ich ein verrückter Kerl bin, fing ich das auch ziemlich verrückt an. Ich wollte in bestimmte Organisationen Geld stecken, irgend so etwas, doch dann hatte ich das Gefühl, es müsste etwas Persönlicheres sein. Mir taten die Leute schon immer leid, die nicht bitten können, die schweigend leiden – der verarmte Adel zum Beispiel. Ich besitze eine Menge Häuser. Da kam mir die Idee, diese Häuser an Menschen zu vermieten, die – nun, die es nötig hatten und es zu schätzen wussten. Junge Ehepaare auf dem Weg nach oben, Witwen mit Söhnen und Töchtern, die ihre ersten Schritte ins Leben machten. Quentin ist mehr als nur ein Butler. Er ist mein Freund. Mit seinem Einverständnis und seiner Hilfe lieh ich mir seine Persönlichkeit. Ich hatte immer schon ein schauspielerisches Talent. Die Idee zu all dem kam mir, als ich eines Abends unterwegs zum Klub war, und ich fuhr sofort zu Quentin, um sie mit ihm zu besprechen. Als ich entdeckte, dass es um mein Verschwinden eine so große Aufregung gab, arrangierte ich es so, dass aus Ostafrika ein Brief von mir eintraf. Darin gab ich meinem Vetter Maurice Carfax alle Vollmachten. Und – nun, das ist die ganze Geschichte.«

Er schwieg hilflos und warf Mrs St. Vincent einen bittenden Blick zu. Sie stand sehr aufrecht da und sah ihn ruhig an.

»Es war ein freundlicher Plan«, sagte sie, »und ein sehr ungewöhnlicher, und man muss Ihnen die ganze Sache hoch anrechnen. Ich bin – ich bin Ihnen äußerst dankbar. Nur, Sie werden natürlich verstehen, dass wir jetzt nicht mehr bleiben können.«

»Das habe ich erwartet«, antwortete er. »Ihr Stolz wird nicht zulassen, dass Sie etwas annehmen, was in Ihren Augen eine milde Gabe ist.«

»Stimmt das denn nicht?«, fragte sie ruhig.

»Nein«, antwortete er. »Denn ich verlange dafür etwas.« »Und das wäre?«

»Alles.« Seine Stimme klang fordernd, wie die Stimme eines Menschen, der gewohnt ist, andere zu beherrschen.

»Als ich dreiundzwanzig war«, fuhr er fort, »heiratete ich das Mädchen, das ich liebte. Ein Jahr später starb sie. Seit damals bin ich sehr einsam. Ich habe mir immer so gewünscht, eine bestimmte Frau zu finden – die Frau meiner Träume …«

»Und das bin ich?«, fragte sie leise. »Ich bin zu alt – verblüht …«

Er lachte.

»Alt? Sie sind jünger als Ihre Kinder. Aber ich bin alt, wenn Sie so wollen.«

Da musste auch sie lachen, es war ein sanftes, vergnügtes Lachen.

»Du? Du bist immer noch ein kleiner Junge. Ein kleiner Junge, der sich gern verkleidet.«

Sie streckte ihm die Hände entgegen, und er nahm sie.

Haus Nachtigall

Auf Wiedersehen, Liebling!«

»Auf Wiedersehen, mein Schatz!«

Alix Martin lehnte sich über das schmale Gartentor und sah ihrem Mann nach, der den Weg zum Dorf hinunterging. Kleiner und kleiner wurde die Gestalt, jetzt war sie in einer Kurve verschwunden, aber Alix verharrte immer noch in der gleichen Stellung. In Gedanken versunken, strich sie eine Locke ihres dichten braunen Haares aus ihrem Gesicht. Ihre Augen blickten träumerisch in die Ferne.

Alix Martin war nicht schön, streng genommen nicht einmal hübsch. Ihr Gesicht war das einer Frau, die nicht mehr in den besten Jahren ist. Trotzdem war es strahlend und weich, und ihre früheren Kollegen aus dem Büro hätten sie wahrscheinlich kaum wiedererkannt.

Miss Alix King war eine ordentliche, geschäftstüchtige junge Frau gewesen, etwas forsch in ihrem Verhalten, aber sie stand offensichtlich mit beiden Füßen auf der Erde.

Alix war durch eine harte Schule gegangen. Fünfzehn Jahre lang, von ihrem achtzehnten Lebensjahr an, bis sie dreiunddreißig war, hatte sie für sich selbst gesorgt, sieben Jahre davon auch noch für ihre kranke Mutter. Den Unterhalt hatte sie durch ihre Arbeit als Stenotypistin verdient. Dieser Existenzkampf hatte die weichen Linien ihres Gesichtes gehärtet.

Sicher, es hatte auch Liebe gegeben – so eine Art. Dick Windyford, ein Büroangestellter und Kollege. Ohne es sich je anmerken zu lassen, hatte Alix natürlich gewusst, was er für sie empfand. Nach außen hin waren sie Freunde gewesen, mehr nicht. Mit seinem spärlichen Gehalt konnte Dick im Moment noch nicht ans Heiraten denken. Er musste für die Schulkosten eines jüngeren Bruders aufkommen.

Unerwartet war es dann plötzlich mit der täglichen Plackerei zu Ende. Eine entfernte Kusine war gestorben und hatte Alix ihr Geld hinterlassen. Es waren ein paar Tausend Pfund, genug, um ein paar Hundert im Jahr einzubringen. Für Alix bedeutete es Freiheit, Leben, Unabhängigkeit. Nun brauchten Dick und sie nicht länger zu warten.

Aber Dick reagierte eigenartig. Er hatte niemals offen zu Alix über seine Liebe gesprochen, und jetzt schien er es weniger denn je zu beabsichtigen. Er ging ihr aus dem Wege, wurde mürrisch und verschlossen.

Alix erkannte den Grund schnell. Dick war zu feinfühlend und stolz, um ausgerechnet jetzt, da sie Geld hatte, um ihre Hand anzuhalten. Sie liebte ihn dafür noch mehr und hatte sich schon vorgenommen, selbst den ersten Schritt zu tun, als zum zweiten Mal das Unerwartete in ihr Leben trat.

Im Hause einer Freundin lernte sie Gerald Martin kennen. Er verliebte sich stürmisch in sie, und eine Woche später waren sie bereits verlobt. Alix, die von sich selbst überzeugt gewesen war, dass ihr so etwas nie passieren könne, war im siebten Himmel.

Damit hatte sie unwissentlich den Weg gefunden, um Dick Windyford wachzurütteln. In Rage und voller Empörung war er zu ihr gekommen.

»Dieser Mann ist ein völlig Fremder für dich. Du weißt überhaupt nichts über ihn«, hatte er ihr vorgehalten.

»Ich weiß, dass ich ihn liebe.«

»Wie kannst du das nach einer Woche?«

»Nicht jeder braucht elf Jahre, um herauszufinden, dass er in ein Mädchen verliebt ist«, hatte sie ihn ärgerlich angeschrien.

Sein Gesicht war weiß.

»Ich habe dich geliebt, seit ich dich zum ersten Mal sah. Ich dachte, du liebst mich auch.«

Alix war ehrlich. »Ich glaubte das auch«, gab sie zu. »Aber das war, weil ich nicht wusste, was Liebe ist.«

Dick war außer sich. Bitten, Flehen, sogar Drohungen – Drohungen gegen den Mann, der ihn verdrängt hatte –, stieß er aus. Alix war erstaunt, als sie den Vulkan erlebte, der unter dem reservierten Äußeren des Mannes steckte, von dem sie glaubte, ihn so gut zu kennen.