Europa im Schwitzkasten - Thomas Zehetner - E-Book

Europa im Schwitzkasten E-Book

Thomas Zehetner

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Beschreibung

Europa steht ebenso im Bann der immer stärker spürbaren Folgen der Erderhitzung wie der Rückkehr des Krieges an seine Grenzen. Thomas Zehetner beleuchtet das bislang kaum untersuchte Zusammenspiel zwischen Klima- und Energiewende und internationaler Politik. Die Klimakrise wird im Laufe des 21. Jahrhunderts zweifellos alle anderen Themen zunehmend überlagern, umso dringlicher ist es, ihre Auswirkungen auf die internationale Zusammenarbeit zu begreifen. Die Bekämpfung der Klimakrise fällt in eine Phase der Weltunordnung, in der sich der Wettbewerb zwischen den verschiedenen Weltgegenden verschärft, wobei sich Europa zunehmend im Kreuzfeuer zwischen den Vereinigten Staaten und China im Rennen um die globale Vormachtstellung befindet. Klimatechnologien sind dabei die neue Arena im globalen Wettstreit, bei dem es für Europa gilt, im anlaufenden Grünen Kalten Krieg nicht auf der Strecke zu bleiben. Thomas Zehetner, langjähriger Klimasprecher des WWF, geht der Frage nach, inwieweit die europäische Klimadiplomatie den Widerspruch zwischen der machtpolitisch ausgerichteten Staatenwelt und der Notwendigkeit nach planetarer Verantwortung auflösen kann.

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Seitenzahl: 211

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Copyright © 2024 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Buntspecht, Wien

Umschlagabbildung: © Pridannikov/iStockphoto

ISBN 978-3-7117-2151-8

eISBN 978-3-7117-5520-9

Informationen über das aktuelle Programm

des Picus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

THOMAS ZEHETNER

EUROPAIMSCHWITZKASTEN

IN DEN STÜRMEN VONKLIMAKRISE UNDWELTPOLITIK

PICUS VERLAG WIEN

Für meine Söhne David und Alexander

INHALT

EINLEITUNG

TEIL IEUROPAS HARTER WEG ZUR GRÜNEN MACHT

1. Europa im Schwitzkasten

2. Die drohende Klimakluft in Europa

3. Willkommen in der neuen Ära des Klimarealismus

4. Der Grüne Deal als neues politisches Projekt

5. Europäischer Klimaschutz in der Sparfalle

6. Klimaschutz auf gefährlichem Terrain

7. Die Klimawende wird sozial sein – oder wird gar nicht sein

8. Mehr Klimademokratie wagen

9. Klimaschutz x 27

TEIL IIEUROPA IM ZEITALTER DER ENERGIEUNSICHERHEIT

10. Den Blick über die Grenzen Europas richten

11. Auf dem Sprung in eine neue Ära

12. Gewinner und Verlierer der Energiewende

13. Die fatale Abhängigkeit von Russland

14. Machtfaktor kritische Rohstoffe

15. Auf dem Weg zu einem Grünen Kalten Krieg

16. Europas Suche nach dem Masterplan

17. Der EU-Klimazoll als diplomatisches Minenfeld

18. Europa und der Feuerring rund um seine Grenzen

19. Neuausrichtung des alten Kontinents

TEIL IIIDIE KLIMAKRISE UND DIE NEUE WELTUNORDNUNG

20. Wir Schlafwandler

21. Good COP, Bad COP – die Weltklimakonferenzen im Spiegel der Zeit

22. Der Zorn des Südens

23. Eine Frage der Gerechtigkeit

24. Klimaschutz zwischen Multilateralismus und Geopolitik

25. Die Klimakrise als Brandbeschleuniger

26. Europäische Klimaaußenpolitik in einer unbequemen Welt

AUSBLICK: EUROPE FOR FUTURE

Literatur

Der Autor

Du hast keine Chance, aber nutze sie!

HERBERT ACHTERNBUSCH,

Die Atlantikschwimmer

EINLEITUNG

Als ich am 24. Februar 2022 vor dem Fernsehgerät die Bilder des russischen Einmarsches in die Ukraine verfolgte, war schnell klar, dass dieser Tag Europa von Grund auf verändern würde. Russische Raketen bombardierten ukrainische Städte, Millionen Menschen flüchteten in Richtung Westen und die Gefahr einer militärischen Eskalation schwebte über Europa. Gleichzeitig stellte der Krieg die weltweiten Energiemärkte auf den Kopf, die Preise für Öl und Gas schossen in die Höhe und das umstrittene Pipelineprojekt Nord Stream 2 wurde gestoppt. Verunsicherung machte sich breit, wie lange noch russisches Erdgas fließen würde und wie Europa durch den nächsten Winter kommen sollte. Der ohnehin geplante Ausstieg aus Erdgas wurde auf einmal zu einer moralischen Frage, und wir Europäer waren damit konfrontiert, wie lange wir noch das russische Regime mit unseren Devisen unterstützen wollten. Die lange gehegte Formel vom »Wandel durch Handel«, mit dem Russland enger an den Westen gebunden werden sollte, erschien über Nacht wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Kurzum, der Ukraine-Krieg legte offen, dass das fossile Wohlstandsmodell Europas an sein Ende gelangt war. Innerhalb weniger Tage wurde das eingeläutet, was wir heute unter der »Zeitenwende« verstehen.

Etwas mehr als ein Jahr später, am 20. März 2023, stellte der Weltklimarat seinen neuesten Bericht vor, den Tausende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über einen Zeitraum von acht Jahren erstellt hatten.1 Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, bezeichnete die Ergebnisse des Weltklimarats als »Akte der Schande«, als eine Auflistung leerer Versprechen der Weltgemeinschaft, die uns auf den Weg in eine unbewohnbare Welt führen. Guterres nutzte seinen eindringlichen Appell dazu, klare Forderungen an die Industrieländer zu stellen. Diese sollten schon bis 2040 ihre Emissionen auf Netto-Null reduzieren. Für neue Öl- und Gasprojekte dürfe es keine Genehmigungen mehr geben und existierende Öl- und Gasprojekte dürften nicht ausgeweitet werden. Andernfalls wären laut Weltklimarat die Folgen für Europa verheerend: häufigere und intensivere Hitzewellen, vermehrte Trockenheit und Wasserknappheit. Es wären auch Regionen in Zentraleuropa betroffen, wo derartige Ereignisse bisher unbekannt waren. Und die bereits jetzt sichtbaren Auswirkungen der Erhitzung wie Überschwemmungen, Murenabgänge oder Ernteausfälle würden weiter zunehmen – auch bei uns.

Diese beiden Ereignisse sind Kristallisationspunkte für die Lage, in der sich Europa derzeit befindet, und Ausgangspunkt für dieses Buch: »Europa im Schwitzkasten«. Damit sind zunächst die sich zuspitzenden Folgen der Erderhitzung auf Europa und die wachsende Klimaangst in weiten Teilen der Bevölkerung gemeint. »Europa im Schwitzkasten« dient auch als Schlagwort für die Rückkehr des Krieges nach Europa und die damit einhergehende Herkulesaufgabe, nicht nur vom russischen Gas, sondern auch von fossilen Energiequellen insgesamt unabhängig zu werden. Kann die Energiekrise in Folge des Ukraine-Kriegs ein Katalysator für mehr Klimaschutz sein oder verliert Klimaschutz mehr und mehr an Rückhalt in breiten Teilen der Bevölkerung, die sich von Klimaprotesten genervt zeigt und sich mit den Folgen der Teuerung herumschlagen muss? Nicht zuletzt geht es in »Europa im Schwitzkasten« um die geopolitischen Spannungen zwischen den USA und China und die schwierige Rolle Europas im Kreuzfeuer zwischen diesen beiden Großmächten im Rennen um die globale Vormachtstellung. Es ist ein Appell für ein Ende der Naivität in der EU und für ein Hinwenden zu einem stärkeren strategischen Denken.

Energie und Geopolitik sind eng miteinander verwoben. Die Versorgung mit Energie prägt seit Langem die Weltpolitik. Jede internationale Ordnung in der modernen Geschichte basierte auf einer Energieressource: Kohle war die Grundlage für das britische Weltreich im 19. Jahrhundert, Öl stand im Mittelpunkt des darauffolgenden »amerikanischen Jahrhunderts«, und heute erwarten viele, dass China im 21. Jahrhundert die Supermacht der erneuerbaren Energien wird. Auch die globale Energiewende wird nicht zum Ende des Ringens um Macht und Einfluss führen, sondern vielmehr zu einer grundlegenden Umgestaltung. In der neuen Ära der Energieunsicherheit werden alle Staaten versuchen, politische und wirtschaftliche Vorteile aus diesem Umbruch für sich herauszuschlagen. Auf der einen Seite können gerade die europäischen Staaten, die derzeit auf die Einfuhr von Öl und Gas angewiesen sind, ihre Energiesicherheit stärken und die frei gewordenen Mittel in die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen investieren. Auf der anderen Seite wird für die öl- und erdgasexportierenden Länder eine Phase der Instabilität folgen, durch die sie gezwungen sind, sich neu zu erfinden, um in der Umbruchszeit nicht auf der Strecke zu bleiben. Diese Entwicklungen werden alles andere als geradlinig sein. So führen für Europa die Bemühungen, weniger abhängig von Öl und Gas zu werden, zu einer steigenden Abhängigkeit von China, dem wichtigsten Produzenten von Solarpaneelen, Batterien und den für die Energiewende nötigen kritischen Rohstoffen. Gerade Klimatechnologien werden in den nächsten Jahren zu einer neuen Arena im globalen Wettstreit, bei dem es für Europa gilt, in diesem sich abzeichnenden »Grünen Kalten Krieg« nicht auf der Strecke zu bleiben.

Die »Geopolitik der Energiewende« wird die internationale Politik auf absehbare Zeit bestimmen. Wir befinden uns in einer Phase der Weltunordnung, in der der Wettbewerb zwischen den verschiedenen Weltgegenden immer schärfer wird. Die Veränderungen durch die Klimakrise wirken wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger und können bestehende Spannungen und Konflikte weiter verstärken. Besonders verwundbar gegenüber diesen Klimarisiken sind viele Staaten des Südens. Dazu gehören große Teile Afrikas, die Inseln im Pazifik oder die Staaten Südostasiens. Das sind gleichzeitig jene Regionen, die historisch gesehen am wenigsten Treibhausgase ausgestoßen haben, jetzt am stärksten von der Klimakrise betroffen sind und nicht über ausreichende Mittel verfügen, sich gegen die drohenden Folgen zu wappnen. Aus europäischer Perspektive ist es nur zu einfach, den Zorn des Südens auf die im Vergleich reichen Länder des Nordens zu unterschätzen. Diskussionen um die Bedeutung von Klimagerechtigkeit werden daher zunehmend eine Rolle spielen. Europa wird dem Globalen Süden in einer heißer werdenden Welt ein besseres Angebot machen müssen, um etwas gegen diesen Mangel an Vertrauen zu tun.

Mehr als dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer steht Europa damit erneut vor einem massiven Systemwandel. Die immer dringlicher werdende Klimakrise macht eine Abkehr von unserer Wirtschaftsweise und unserem gewohnten Lebensstil nötig. Ein solcher Wandel umfasst alle Lebensbereiche: den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern Kohle, Öl und Gas, den massiven Ausbau von Solarenergie und Windkraft bis hin zu einem veränderten Mobilitätsverhalten. Die Liste ist ebenso lang, wie die Aufgabe komplex ist.

Klima, Energie und Ressourcen sind die dominierenden Themen unserer Zeit. Viele entscheidende Fragen – von Demokratie bis Ungleichheit oder Migration – sind damit eng verknüpft. Es mag pathetisch klingen, aber ob es die Weltgemeinschaft schafft, eine nachhaltige Ökologisierung zu entwickeln, davon hängt ganz wesentlich die Zukunft der Menschheit ab. Wir befinden uns demnach in einer historischen Phase, in der klar ist, dass wir nicht weitermachen können wie bisher, aber das Bild unserer Zukunft noch nicht klar gezeichnet ist. Die Argumente der alten Welt haben ihre Strahlkraft eingebüßt, die Vorstellung der neuen ist verschwommen. Zugleich erscheinen unsere Strukturen ebenso festgefahren wie zerbrechlich. Viele Lösungsansätze liegen auf dem Tisch, aber es ist offen, ob wir als Gesellschaft den Umbau hinbekommen.

Umbrüche gab es auch in der Vergangenheit. Bei der jetzigen Energiewende stehen wir durch die Klimakrise unter besonderem Zeitdruck. Es ist eine industrielle Revolution im Schnelldurchlauf. Das macht diesen Umbruch zum größten Systemwandel in unserer Wirtschaft seit 1989. Das Ausmaß des erforderlichen Wandels mag in der Tat entmutigend erscheinen. Dabei sollten wir allerdings nicht vergessen, dass in der Vergangenheit das Tempo des Wandels oft unterschätzt wurde. Das Weltwirtschaftsforum in Davos hat darauf hingewiesen, dass sich die Vorhersagen für die Fortschritte bei den wichtigsten Technologien der Energiewende immer wieder als viel zu konservativ erwiesen haben. Gerade das Wachstum der Solarbranche wurde in den letzten beiden Jahrzehnten dramatisch unterschätzt, Prognosen mussten laufend nach oben korrigiert werden. Diese Dynamik des sich gegenseitig verstärkenden technologischen Fortschritts und der Kostensenkung, die in vielen Ländern vorangetrieben wird, ist immer wieder zu beobachten.

Die Welt hat auch bisher bewiesen, dass sie mit gemeinsamem Handeln schwierige Aufgaben schnell bewältigen kann. Im Jahr 1987 wurde ein internationaler Vertrag zwischen allen UNO-Staaten, das Montrealer Protokoll, verabschiedet, um das ozonschädigende FCKW (Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoff) zu verbieten. Im Jahr 2014, also weniger als dreißig Jahre später, sind die ozonabbauenden Stoffe um etwa 99 Prozent zurückgegangen. Natürlich ist die Verminderung von Kohlendioxid ungleich komplexer. Die Einigung beim Verbot von FCKW kann uns aber heute insofern ein Vorbild sein, als dass es eine echte Teamleistung war: Die Wissenschaft hat die Fakten geliefert, die Zivilgesellschaft und die Medien haben eine wichtige Rolle bei der Bewusstseinsbildung gespielt, die Wirtschaft hat innovative Lösungen entwickelt, um weniger schädliche Chemikalien zu verwenden, und vor allem hat die Politik die nötigen Entscheidungen getroffen. Aus Beispielen wie diesem speist sich die Vision, dass wir in dreißig Jahren zurückschauen werden und dann die fossilen Energieträger – also Kohle, Öl und Gas – genauso der Vergangenheit angehören werden wie heute FCKW. Die Wissenschaft ist klar, alle Lösungen liegen auf dem Tisch. Zurückblickend vergisst man allzu schnell, dass es auch damals Widerstände gab. Die notorischen Bremser meinten, dass sich so schnell nichts machen lasse, und vonseiten der Industrie hieß es, dass man ohne FCKW keine Kühlschränke bauen könne. Genauso wie heute gab es auch damals Neinsager – und trotzdem war ein Umstieg möglich.

Eine ähnliche Erfolgsgeschichte ist die Entwicklung eines effektiven Impfstoffes im Jahr 2020 gegen die grassierende Covid-Pandemie. In weniger als zwölf Monaten konnte ein sicherer und wirksamer Impfstoff auf den Markt gebracht werden. Der Impfstoff, der zuvor am schnellsten von der Entwicklung bis zum Einsatz kam, war der Mumps-Impfstoff in den sechziger Jahren, der etwa vier Jahre benötigte. All das zeigt, was möglich ist, wenn wir die Herausforderung mit der nötigen Dringlichkeit angehen.

Mit dem »European Green Deal« liegt nun auf europäischer Ebene der groß angelegte Plan vor, den angestrebten ökologischen Wandel in Politik zu gießen. Als einziger großer Wirtschaftsraum hat die EU damit einen Plan entworfen, um jene drastischen Senkungen von Schadstoffen vorzunehmen, die nach Einschätzung des Weltklimarats für die Eindämmung der Erderhitzung notwendig sind. Denn als drittgrößter Emittent weltweit ist die EU – trotz aller Schwächen – nach wie vor ein globaler Ankerpunkt. Der Green Deal tritt nun mit dem Versprechen an, die europäische Wirtschaft und Politik grundlegend zu verändern, die Zukunft der nächsten Generation zu bestimmen und Europas Rolle in der Welt neu zu formen. Damit ist er eine strategische Vision, um eine europäische Antwort auf die drängendste Frage unserer Zeit zu geben. Die große Frage lautet, wie diese Vision zum Leben erweckt werden kann. »Europa im Schwitzkasten« will dazu einen Beitrag leisten.

Klar ist, dass die EU keine grüne Insel in einer braunen Welt sein kann. Der European Green Deal wird nur dann erfolgreich sein, wenn die EU es schafft, global zu denken und die Klimapolitik besser in die Außenpolitik zu integrieren. Derzeit ist die EU für circa sieben Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich, mit fallender Tendenz. Ohne Partnerschaften mit dem Rest der Welt werden die Klimaziele des Pariser Übereinkommens nicht erreicht werden können. Angesichts der zunehmenden geopolitischen Spannungen wird es nur schwer gelingen, die globale Klimapolitik komplett von der allgemeinen Politik zu isolieren und eine Oase der Zusammenarbeit in Klimafragen zu schaffen. Das Ziel für die nächsten Jahre und Jahrzehnte muss vielmehr sein, aus der derzeitigen Abwärtsspirale von Rivalität und Wettstreit in ein positives Zusammenspiel aus Klimaschutz und Politik zu gelangen. Hier gibt es einen eindeutigen Bedarf nach einer Führungsrolle der EU bei der internationalen Klimapolitik – nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis.

Europa war die Wiege der fossilen Revolution im 18. Jahrhundert. Jetzt macht sich der Kontinent auf, das Ende jener fossilen Energien – also Kohle, Öl und Gas – zu beschleunigen, die unsere moderne Geschichte geprägt haben. Ob der European Green Deal erfolgreich sein wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch offen. Falls Europa wie geplant bis 2050 klimaneutral wird, wäre das eine herausragende Errungenschaft. Falls nicht, stellen wir die Grundlagen unserer Zivilisation infrage. Es steht also viel auf dem Spiel. Rückschläge werden folgen, so viel ist sicher. Der aufkeimende Widerstand konservativer Parteien, von Teilen der Landwirtschaft und der Wirtschaft gegen den Grünen Deal gibt mehr als einen Vorgeschmack auf die kommenden politischen Auseinandersetzungen in Europa. Rechtspopulisten haben Klimaschutz gar als neues Kampffeld entdeckt, um gegen die »Eliten« zu mobilisieren, und versuchen, alle Klimaschutzmaßnahmen in einen Kulturkampf zu verwickeln.

Zwei Schritte nach vorne, einer zurück – so lautete die Sequenz bisher. Das kann sich auch umdrehen, ein Schritt nach vorne, zwei zurück. Selbst die bisherigen klimapolitischen Etappensiege sind nicht davor gefeit, wieder rückabgewickelt zu werden. Europa wird einen langen Atem für den ökologischen Wandel brauchen. Gleichzeitig lässt sich bereits sagen: Der Einstieg in den Umstieg ist erfolgt. Wir sind dabei, unser europäisches Schiff umzubauen, während wir auf hoher See sind – und die See wird zunehmend rauer werden.

1IPCC, AR6 Synthesis Report Climate Change 2023, https://www.ipcc.ch/report/ar6/syr/.

TEIL IEUROPAS HARTER WEGZUR GRÜNEN MACHT

It’s not climate change – it’s everything change.

MARGARET ATWOOD

1

EUROPA IM SCHWITZKASTEN

Europa ist keine Insel der Seligen. Wenn es dafür einen Beweis gebraucht hätte, dann wurde er spätestens durch die Temperaturrekorde und Extremwetterereignisse der letzten Jahre erbracht. Die Erhitzung der Erde hat als langsame Krise begonnen, heute sind wir mit dem Beginn der Beschleunigung extremer Ereignisse konfrontiert, die auch unsere Breitengrade erfasst hat. Ausgedehnte Hitzewellen, Dürreperioden, Überflutungen, Gletscherschwund und schneearme Winter gehören mittlerweile zur »neuen Normalität«. Für diejenigen, die sich eingehend mit der Klimakrise beschäftigt haben, kommt dies nicht weiter überraschend – außer vielleicht die Geschwindigkeit und Intensität der aktuellen und uns bevorstehenden Veränderungen. Wir sind auf dem Sprung in die Heißzeit.

Die Klimakrise prägt nicht nur das Leben in der Arktis oder auf den Inseln im Pazifik, sie ist auch bei uns angekommen. In jedem der letzten vier Jahrzehnte wurden in Europa Hitzerekorde gebrochen. Dabei ist das, was wir bislang gesehen haben, nur ein kleiner Teil der Entwicklungen, mit denen die europäischen Gesellschaften in den nächsten Jahrzehnten konfrontiert sein werden. Auch wenn die Bevölkerung hier weniger leidet als in Bangladesch oder in der Sahelzone, bleiben auch die Europäerinnen und Europäer von den Folgen der Klimakrise nicht verschont.

Das Jahr 2023 sticht besonders heraus und geht als das heißeste Jahr in die Messgeschichte seit Beginn der Datenreihe im 19. Jahrhundert ein. Im Durchschnitt waren die weltweiten Temperaturen um 1,48 Grad Celsius über dem vorindustriellen Zeitalter – und kratzen damit bereits an der 1,5-Grad-Schwelle, die im Pariser Klimaübereinkommen als jene Grenze festgelegt wurde, die möglichst nicht überschritten werden soll. Es gilt als wahrscheinlich, dass es in den vergangenen 100.000 Jahren kein heißeres Jahr gab. Laut dem Direktor des EU-Erdbeobachtungs-programms Copernicus ist das »ein dramatisches Zeugnis dafür, wie weit wir uns von dem Klima entfernt haben, in dem unsere Zivilisation bisher florierte«. Die Waldbrände auf Rhodos gelten mittlerweile als die schlimmsten in der Geschichte der Insel. Auf das Feuer folgte die Flut und an drei Tagen regnete es in Griechenland so viel wie sonst in drei Jahren. Am Schauplatz Slowenien standen bis zu zwei Drittel des Landes unter Wasser, mit nie da gewesenen Schäden durch die nicht aufhören wollenden Regenfälle. Gerade in den Sommermonaten schien Europa gefangen zwischen extremer Trockenheit und nicht enden wollenden Niederschlägen. Einzelne Reiseveranstalter überlegen bereits, ob der Sommerurlaub im Mittelmeerraum in Zukunft noch ein rentables Geschäftsmodell sein kann. Die Sommer in Europa sind – so viel steht fest – nicht mehr wie damals. Frühling, Herbst und Winter allerdings auch nicht.

Das alles lässt sich wissenschaftlich belegen: Während der weltweite Temperaturanstieg durchschnittlich 1,1 bis 1,2 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau liegt, ist in Europa in den vergangenen drei Jahrzehnten das Temperaturniveau mehr als doppelt so schnell wie im weltweiten Mittel gestiegen. Laut dem Klimabericht der Weltwetterorganisation und von Copernicus stiegen die Temperaturen in Europa im Schnitt um 2,2 Grad an.2 Das bedeutet, dass Europa den höchsten Wert aller Kontinente aufweist. Lediglich in der Arktis ist die Erhitzung mit drei Grad plus im Vergleich zur Zeit vor der Industrialisierung noch größer ausgefallen. Dies gilt auch für die Meere. Die Erwärmung in der Ostsee, im östlichen Mittelmeer und im Schwarzen Meer war mehr als dreimal so groß wie im weltweiten Durchschnitt. Der Grund für diesen überdurchschnittlichen Anstieg liegt darin, dass Europa hauptsächlich aus Landmasse besteht, die sich schneller erwärmt als die Meere. Darüber hinaus bestehen zahlreiche Rückkopplungen zwischen der Arktis und Europa.3

Der Weltklimarat, das Gremium der Vereinten Nationen, das den aktuellen Stand der Klimaforschung zusammenfasst, benennt die vier Hauptrisiken für Europa: erstens die Hitze, die die menschliche Gesundheit und Ökosysteme belastet. Zweitens Überflutungen, sowohl entlang der Küsten als auch nach Starkregenfällen und entlang von Flussläufen. Das dritte Risiko ist eine Reduktion der Erträge aus der Landwirtschaft durch die Kombination aus Hitze und Dürre. Das vierte Risiko liegt in der zunehmenden Wasserknappheit, die nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch Haushalte und die Industrie betrifft. Der Risikobericht des Weltwirtschaftsforums in Davos beurteilt die Lage ähnlich und sieht in seinem jährlichen Ausblick auf einen Zehn-Jahres-Horizont gesehen mittlerweile sechs der zehn größten Risiken in den Bereichen Klima, extreme Wetterereignisse und Ressourcenknappheit.

Das bringt erhebliche ökologische, wirtschaftliche und soziale Folgen mit sich. Seit einem Jahrtausend haben sich die Gletscher nicht so schnell zurückgezogen wie gegenwärtig. Durch geringe Schneemengen im Winter und warme Sommer haben die Gletscher mit großen Masseverlusten zu kämpfen. Seit 1997 haben die Alpengletscher mehr als 30 Meter ihrer Eisdecke verloren. Auch der grönländische Eisschild schmilzt rasant ab und beschleunigt den Anstieg des Meeresspiegels. Im Sommer 2021 kam es in Grönland zu einer nie da gewesenen Eisschmelze und dem ersten jemals aufgezeichneten Regenfall auf Grönlands höchster Erhebung. Das zusätzliche Wasser aus schmelzenden Gletschern und Eisschilden und die durch den Temperaturanstieg verursachte Ausdehnung des Meerwassers haben den Meeresspiegel seit 1900 um 20 Zentimeter ansteigen lassen.4

Die sich verändernden Niederschlagsmuster haben bereits dazu geführt, dass sich der Golfstrom, der warmes Wasser aus dem Golf von Mexiko in den Nordatlantik transportiert, im »schwächsten Zustand seit über einem Jahrtausend befindet«, so Forscher der Universität Utrecht. Ein sich dramatisch abschwächender Golfstrom hätte verheerende Folgen für das Klima in Europa. Die Winter würden deutlich kälter werden, während die Sommerhitze nur geringfügig zurückgehen würde.

Rund ein Drittel des Kontinents ist bereits jetzt potenziell von Dürren betroffen. Durch die zunehmende Trockenheit steigt auch die Gefahr von Waldbränden, denn die Feuer breiten sich durch die trockenen Böden schneller aus und können dadurch intensiver werden. Während sich in der Wissenschaft gerade erst der Begriff des »Anthropozän« für das neue Erdzeitalter durchsetzt, in dem der Mensch der wichtigste Faktor für die Veränderungen der biologischen und atmosphärischen Parameter auf unserem Planeten ist, haben Ökologen bereits das »Pyrozän«, also das Zeitalter des Feuers ausgerufen. Es ist davon auszugehen, dass wir mit unkontrolliertem Feuer in Zukunft leben werden müssen und dass Waldbrände in Zukunft häufiger und zerstörerischer werden. Das bedeutet, dass durch mehr Großbrände und weniger Wald auch mehr CO2 frei wird und damit eine stärkere Erhitzung einhergeht. Für Österreich drohen laut Geosphere Austria ohne Trendumkehr bis Ende des Jahrhunderts mindestens fünf Grad mehr.5 Die Zahlen für Deutschland sind vergleichbar. Die Anzahl der Hitzetage pro Jahr mit mehr als 30 Grad würde dann im Durchschnitt auf 40 steigen und in besonders heißen Jahren sogar auf 60 bis 80 zunehmen. Auch die Gefahr von Dürren würde zunehmen. Für den Generalsekretär der Vereinten Nationen António Guterres ein Grund mehr, »Alarmstufe Rot« auszurufen: »Die Glocken tönen ohrenbetäubend.«

2Copernicus Climate Change Service, European State of the Climate 2022, 2023.

3Ebenda.

4WWF Österreich, Die Verbündete unseres Klimas: Die Rolle der Natur im Sechsten IPCC-Sachstandsbericht, März 2023.

5Österreich drohen bis zu fünf Grad mehr, https://science.orf.at/stories/3208038/.

2

DIE DROHENDE KLIMAKLUFT IN EUROPA

Die beschriebenen Klimarisiken sind über den gesamten Kontinent anzutreffen. Sie stellen sich aber von Region zu Region anders dar. Für den Norden Europas ist mit mehr Niederschlägen und Überschwemmungen zu rechnen. Dort werden Flutkatastrophen in Zukunft an Orten auftreten, an denen sie bisher nicht zu sehen waren. Küstengebiete sind als Folge des sich hebenden Meeresspiegels durch häufigere und schwerere Überschwemmungen bedroht. Der Anstieg der Temperaturen in Europa hat bereits den Wasserkreislauf verändert. Dies führt zu sehr nassen, aber wiederholt auch sehr trockenen Jahreszeiten. In vielen Regionen bedeutet dies eine geringere und schwer vorhersagbare Verfügbarkeit von Süßwasser.

Die Länder Südeuropas hingegen sind besonders stark von Hitzewellen, Dürren und Waldbränden betroffen. In Summe dürften die Folgen eines wärmeren Klimas in Bezug auf Sterblichkeit, Verluste in der Landwirtschaft und Stromerzeugung daher in der Mittelmeerregion am größten sein. Generell nimmt die Anzahl der Tage mit sehr hohem Hitzestress kontinuierlich zu. Sehr schwerer Hitzestress wird als gefühlte Temperatur zwischen 38 und 46 Grad Celsius definiert. In Italien, Spanien und den Balkanländern wurden bereits bis zu 90 solcher Tage pro Jahr verzeichnet. Höhere Temperaturen haben auch Auswirkungen auf das langfristige Wirtschaftswachstum. Das Risiko von Hitze verringert die Arbeitsproduktivität, insbesondere dort, wo draußen gearbeitet werden muss. All dies könnte zu einer neuen Kluft in Europa führen, die die bestehenden wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Nord- und Südeuropa sowie zwischen Ost- und Westeuropa weiter verschärft. Die Kluft zwischen reicheren und ärmeren Regionen innerhalb Europas würde aufgrund der Klimakrise weiter zunehmen.

Die Auswirkungen der Hitze auf die Gesundheit der europäischen Bevölkerung werden immer noch unterschätzt. Die Zahl der Todesfälle wird erheblich steigen, wenn keine Anpassungsmaßnahmen ergriffen werden. Hohe Temperaturen und lange Sonnenscheindauer tragen dazu bei, dass die bodennahen Ozonkonzentrationen in vielen Regionen Europas für die Gesundheit schädliche Werte erreichen. Infektionskrankheiten breiten sich weiter nach Norden aus, was zu einer Zunahme an Krankheiten in Europa führt. Sich ändernde klimatische Verhältnisse begünstigen »das Auftreten und die Übertragung von durch das Klima beeinflussbaren Infektionskrankheiten wie Dengue-Fieber, Malaria oder West-Nil-Fieber«.6 Zudem wird die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung in bislang nicht betroffenen Regionen des Kontinents größer.

Die Europäische Umweltagentur schätzt, dass die wirtschaftlichen Schäden durch extreme Wetter- und Klimaereignisse in den Jahren 2021 und 2022 insgesamt 59,4 beziehungsweise 52,3 Milliarden Euro betrugen. In den dreißig Jahren davor machten diese Schäden im Durchschnitt noch 12 Milliarden Euro aus.7 Damit ist selbst ein relativ wohlhabender und gut vorbereiteter Kontinent wie Europa nicht immun gegen die Auswirkungen extremer Wetterereignisse in einer sich erhitzenden Welt. Dies stellt uns vor noch nie da gewesene Schwierigkeiten. Dazu gehört auch, dass sich die europäischen Gesellschaften besser an das anpassen müssen, was sich nicht vermeiden lässt. Trotz erheblicher Anstrengungen ist die Anpassung nach wie vor so etwas wie das vernachlässigte Stiefkind der Klimapolitik und steht im Schatten jener Politik, die sich um die Minderung der Treibhausgase bemüht. Zwar ist der Zivilschutz in Europa gut organisiert, die bestehenden Anpassungsmaßnahmen reichen aber nicht aus, um die rasch wachsenden Folgen zu bewältigen. Dabei ist mittlerweile gut dokumentiert, dass sich Investitionen in die Anpassung deutlich auszahlen. Die Liste der Notwendigkeiten ist lang. Dazu gehören eine Verbesserung des Schutzes gegen Überschwemmungen, die Anpassung der Bewirtschaftung der Land- und Forstwirtschaft an ein heißeres Klima oder die Schaffung kühlender städtischer Grünflächen. Die Bündelung von Ressourcen und Wissen aus verschiedenen Ländern ist besonders hilfreich, auch um jene Staaten, die in eine wetterbedingte Notlage geraten sind, zu unterstützen. Dazu gehören beispielsweise die Flugzeuge oder Feuerwehrleute, die im Sommer in Griechenland im Einsatz sind.

Mit dem European Green Deal möchte sich die EU bis zur Mitte des Jahrhunderts zu einer »widerstandsfähigen Gesellschaft« entwickeln und hat dazu eine eigene Anpassungsstrategie entwickelt, mit der die bestehenden Maßnahmen nachgeschärft werden sollen. Eine Politik der Anpassung, die europaweit konzipiert ist, wird auch deshalb erforderlich, da viele der extremen Ereignisse und damit auch ihre Vorbeugung sich nicht an nationalstaatliche Grenzen halten. So ist es sinnvoll, Flüsse, die durch mehrere Länder fließen, bei Dürren oder Überschwemmungen zusammen zu verwalten.8

Trotzdem sollten wir nicht vergessen, dass das heißeste Jahr der Gegenwart immer noch kühler sein wird als das, womit wir in Zukunft rechnen müssen. Was auf uns zukommt, wird auch in Europa ganz anders sein als das, was wir gewohnt waren. Das Klima der Enkelkinder wird in Zukunft wenig mit dem der Großeltern gemeinsam haben. Auch Anpassung stößt bald an ihre Grenzen. Die Wissenschaft sagt vorher, dass die Wetterextreme von heute nur ein Vorgeschmack darauf sind, was uns bevorsteht – selbst in dem günstigsten Fall, in dem Europa und der Rest der Welt es schaffen, die Erderhitzung stark abzubremsen.

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