Europa in Arbeit - Günther Schmid - E-Book

Europa in Arbeit E-Book

Günther Schmid

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Beschreibung

Finanzkrise, Brexit, Migration und Populismus: Über die Krise der Europäischen Union wurde in den letzten Jahren viel geredet. Doch wie soll es in Zukunft weitergehen? Günther Schmid entwirft in diesem Buch ein Konzept für eine neue europäische soziale Marktwirtschaft, die eine Vollbeschäftigung im digitalen Zeitalter zum Ziel hat. Er plädiert für flexiblere Arbeitsverhältnisse, schlägt aber zugleich vor, die Sozialrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu stärken. Die Zukunft liegt, so seine Überzeugung, in einer Vertiefung der europäischen Integration. Dieses Buch analysiert nicht nur klug die Lage, es bietet auch konkrete Vorschläge an, wie die Europäische Union zu reformieren ist.

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Günther Schmid

Europa in Arbeit

Plädoyer für eine neue Vollbeschäftigung durch inklusives Wachstum

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Finanzkrise, Brexit, Migration und Populismus: Über die Krise der Europäischen Union wurde in den letzten Jahren viel geredet. Doch wie soll es in Zukunft weitergehen? Günther Schmid entwirft in diesem Buch ein Konzept für eine neue europäische soziale Marktwirtschaft, die eine Vollbeschäftigung im digitalen Zeitalter zum Ziel hat. Er plädiert für flexiblere Arbeitsverhältnisse, schlägt aber zugleich vor, die Sozialrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu stärken. Die Zukunft liegt, so seine Überzeugung, in einer Vertiefung der europäischen Integration. Dieses Buch analysiert nicht nur klug die Lage, es bietet auch konkrete Vorschläge an, wie die Europäische Union zu reformieren ist.

Vita

Günther Schmid ist Politik- und Wirtschaftswissenschaftler und Professor a. D. an der FU Berlin. Bis 2008 war er Direktor der Abteilung Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Inhalt

1Europa in Arbeit: Die Herausforderung

2Die Zukunft der Arbeit in Europa

2.1Was sagen die Prognosen wirklich?

2.2Was folgt aus dem Stand der prognostischen Forschung?

3Der Wandel der Arbeitsverhältnisse in Europa

3.1Die Entwicklung atypischer Arbeitsverhältnisse

3.1.1Umfang und Struktur atypischer Arbeitsverhältnisse

3.1.2Mögliche Ursachen

3.1.3Arbeitsverhältnisse im Strukturwandel

3.1.4Karriere und Machtverhältnisse

3.1.5Altersbezogene Ursachen

3.1.6Beschäftigungsschutz und atypische Arbeitsverhältnisse

3.1.7Präferenzen atypischer Beschäftigung

3.2Die Folgen atypischer Arbeitsverhältnisse

3.2.1Ein Bezugsrahmen für die Messung der Folgen atypischer Arbeitsverhältnisse

3.2.2Atypische Beschäftigung und Inklusion am Arbeitsmarkt

3.2.3Atypische Arbeitsverhältnisse und Wirtschaftskraft oder Produktivität

3.2.4Atypische Beschäftigung und Arbeitsbedingungen

3.2.5Atypische Beschäftigung und Sozialschutz

4Europäisierung des Arbeitsmarkts: Divergenz oder Konvergenz?

4.1Die Entwicklung der europäischen Beschäftigungsstrategie

4.2Inklusives Wachstum: Wo stehen wir?

4.3Zur Weiterentwicklung des Europäischen Sozialmodells

4.4Der Zielkonflikt zwischen Kapazität und Flexibilität: Ein Modell

4.5Vier Strategien für ein inklusives Wachstum in Europa

4.5.1Investive Sozialtransfers

4.5.2Geschützte Flexibilität

4.5.3Investitionen in Menschen

4.5.4Effiziente Arbeitsmarktregulierung

5Wege zu einer neuen Vollbeschäftigung in Europa

5.1Mehr Flexibilität durch Sicherheit: Von der Arbeitslosen- zur Arbeitsversicherung?

5.1.1Der Bedarf der Absicherung neuer sozialer Risiken

5.1.2Das institutionelle Repertoire sozialer Sicherung

5.1.3Prinzipien des sozialen Risikomanagements

5.2Das soziale Risikomanagement atypischer Arbeitsverhältnisse

5.2.1Teilzeitarbeit

5.2.2Befristete Beschäftigung

5.2.3Selbstständige

6Auf dem Weg zu einer europäischen Arbeitsversicherung?

6.1Stand der Diskussion um eine europäische Arbeitslosenversicherung

6.2Das US-System der Arbeitslosenversicherung: Vorbild für Europa?

6.3Perspektiven einer europäischen Arbeitsversicherung

6.3.1Der Europäische Sozialfonds (ESF)

6.3.2Der Europäische Arbeits- und Sozialfonds (EASF)

6.4Resümee: Die Zukunft des Europäischen Sozialmodells

7Europa in Arbeit: Die Strategie

7.1Die »Welt der Arbeit« in Europa

7.2Ein inklusiver Arbeitsvertrag für die Vollbeschäftigung der Zukunft

7.2.1Die zwei Seiten des Verhaltens zu sozialen Risiken der Zukunft

7.2.2Leitlinien eines inklusiven Arbeitsvertrags für die Vollbeschäftigung der Zukunft

7.2.3Die Europäische Säule sozialer Rechte: Ein Hoffnungsschimmer

Anhang

Literatur

Anmerkungen

1Europa in Arbeit: Die Herausforderung

2Die Zukunft der Arbeit in Europa

3Der Wandel der Arbeitsverhältnisse in Europa

4Europäisierung des Arbeitsmarkts

5Wege zu einer neuen Vollbeschäftigung in Europa

6Auf dem Weg zu einer europäischen Arbeitsversicherung?

7Europa in Arbeit: Die Strategie

1Europa in Arbeit: Die Herausforderung

»Rettet Europa vor dem Euro!«

Fritz W. Scharpf (Berliner Republik, H. 2, 2012, S. 52)

Der Weckruf von Fritz Scharpf hat nicht nur den vielen Europa-Skeptikern Aufwind gegeben, sondern auch den Europa-Enthusiasten einen Schrecken eingejagt: Haben wir das nicht schon immer vorausgesagt? Wird Europa bald wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen? Ist der Ausstieg aus dem Euro die einzige Rettung?

Nein! Es gibt Alternativen. Die Europäische Zentralbank hat viel zur Rettung des Euro beigetragen, auch wenn sie erst spät gegen die drohende Deflation eingegriffen hat. Auf Dauer kann ihre Geldmaschine aber mangelnden politischen Willen zu einer Vertiefung der europäischen Idee nicht ersetzen. Von einer europäischen Fiskalpolitik konnte lange Zeit nicht die Rede sein. Die Fokussierung auf die Eindämmung der Schulden (Stabilitätspakt) hat das Wachstum der hohen Schuldnerstaaten (vor allem der Südstaaten) abgewürgt, sodass diese in einen Teufelskreis gerieten. Die Kontrolle der Finanzmärkte und der Banken (Bankenunion) ist zwar vorangekommen, aber in entscheidenden Punkten (etwa in der Einlagensicherung) noch nicht umgesetzt. Ein – vor allem von Gewerkschaften geforderter – Europäischer Marshallplan ist nicht in Sicht. Das 2014 von Juncker inszenierte Investitionsprogramm (Junckerplan) fängt erst langsam an zu greifen. Der Fonds für Strategische Investitionen (EFSI) hat bis September 2017 die Schaffung von circa 300.000 Arbeitsplätzen unterstützt, bis 2020 sollen es 700.000 sein.1 Bei 18 Millionen Arbeitslosen, davon 3,6 Millionen Jugendliche unter 25 (Januar 2018), erscheint das kaum mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Die materielle Infrastruktur Europas in den Bereichen Energie, Transport und Abwasser lassen noch sehr zu wünschen übrig, und von einer gemeinsamen Offensive in digitale Technologien kann nicht die Rede sein. Das Markenzeichen »Made in Europe« führt ein Schattendasein und belebt allenfalls die Welt der Kuriositäten.2

Schlimmer noch: Die Notwendigkeit, Anstrengungen der Makropolitik (Geld- und Fiskalpolitik) durch eine genuin europäische Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu unterfüttern, ist bisher kaum thematisiert worden. Ohne einen europäischen Arbeitsmarkt und ohne einen europäischen Sozialstaat ist die Euro- und Finanzkrise aber nicht zu lösen. Das wiederum setzt die Weiterentwicklung der europäischen Demokratie voraus. Die faktische oder erwünschte Zunahme grenzüberschreitender Mobilität und die Notwendigkeit solidarischer Ausgleichsmechanismen zwischen den EU-Mitgliedstaaten können nicht mehr allein durch Vertragswerke zwischen den europäischen Nationen (intergovernmentalism) geregelt werden. Das viel beschworene Europäische Sozialmodell hat nur Zukunft, wenn es auch europäisch, also transnational legitimiert ist. Darüber hinaus dürfen die substantiellen sozialen Rechte nicht weiter auseinanderdriften, sondern müssen – wenigstens in der Tendenz – angeglichen werden. Die im Vertrag zur Arbeitsweise der Europäischen Union verankerte Unionsbürgerschaft (Artikel 20 AEUV) wird nur dann volle Geltung entfalten, wenn das von ihr versprochene Recht auf Freizügigkeit (grenzüberschreitende Mobilität und Niederlassungsfreiheit) durch ein Mindestmaß an Gleichheit substantieller Einkommenssicherung unterfüttert wird. Während sich derzeit eine dänische Unionsbürgerin mit einer durchschnittlichen Jahresrente von circa 20.000 Euro sorglos in einer sonnigen Region Spaniens niederlassen kann, wird eine solche Freizügigkeit für einen bulgarischen Unionsbürger mit durchschnittlich circa 1.500 Euro Rentenanspruch im Jahr wohl kaum in Frage kommen;3 ähnliche Diskrepanzen gelten auch für europäische Arbeitnehmer.4 Ohne eine gewisse Angleichung (Konvergenz) der realen Lebensverhältnisse wird das Problem asymmetrischer Migration – mit all ihren hässlichen Konsequenzen – nicht zu lösen sein.

Die europäische Demokratie muss über den Schatten nationalstaatlicher Souveränität springen. Auch wenn Nationalstaaten für die Gewährleistung bürgerlicher Freiheiten und sozialer Sicherheit in absehbarer Zeit noch eine wichtige Rolle spielen werden, bedarf es zunehmend staatsübergreifender Akzeptanz und Durchsetzung von Normen, die im geduldigen Diskurs, bei fairem Interessenausgleich und freien Wahlen auf verschiedenen – auch transnationalen – politischen Ebenen bestimmt werden müssen. Das Europäische Parlament muss die Souveränität einer politischen Instanz erlangen, die eigenständig Gesetzesinitiativen in Gang setzen kann und die Budgethoheit einer wie auch immer gearteten europäischen Regierung besitzt. Ohne das Bekenntnis und den Willen zu einem – in politische Formen gegossenen – Sozialen Europa wird die europäische Idee nicht weiterblühen.

Diese Studie begründet empirisch, sozialphilosophisch und politisch-ökonomisch die Notwendigkeit und Möglichkeit einer neuen Vollbeschäftigung im digitalen Zeitalter als übergreifendes Ziel einer genuin Sozialen Marktwirtschaft in Europa. »Genuin« heißt, das »Soziale« nicht als Anhängsel zu betrachten, mit dem Exzesse des Marktes mehr oder weniger schlecht und recht kompensiert werden, sondern als institutionelle Voraussetzung für eine nachhaltige Marktwirtschaft. Der Sozialstaat und nicht das Kapital ist die entscheidende Produktivkraft im weitesten Sinne. Die Soziale Marktwirtschaft ist das Fundament für eine faire Risikoteilung nicht nur im Nachhinein (ex post Umverteilung), sondern auch und besonders im »Vorhinein« (ex ante Umverteilung). Sie gewährleistet sowohl Chancengleichheit als auch eine annähernd gleiche Lebensqualität für alle. Gewiss, wir brauchen den Markt, denn er entfaltet ungeheure Antriebskräfte der Innovation und Produktivität. Der Markt ist aber auch ein Lotteriespiel, in dem es (wenige) glückliche Gewinner und (viele) unverschuldete Verlierer gibt. Ohne vorab verabredete faire Ausgleichsmechanismen, die allen ein würdiges und dem technischen Fortschritt entsprechendes Lebenshaltungsniveau gewährleisten, verkommt die Marktwirtschaft zu einem brutalen darwinistischen Ausleseprozess.

Die Idee einer sozial gezähmten oder sozial eingebetteten Marktwirtschaft ist nicht neu. Karl Polanyi hat sie schon vor etwa 70 Jahren hellsichtig formuliert: »Die neuere historische und anthropologische Forschung brachte die große Erkenntnis, dass die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen in der Regel in seine Sozialbeziehungen eingebettet ist. Sein Tun gilt nicht der Sicherung seines individuellen Interesses an materiellem Besitz, sondern der Sicherung seines gesellschaftlichen Rangs, seiner gesellschaftlichen Ansprüche und seiner gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Er schätzt materielle Güter nur insoweit, als sie diesem Zweck dienen.«5 Diese Idee ist im Grunde auch im Europäischen Sozialmodell enthalten, das nicht nur ideell, sondern auch institutionell wiederbelebt werden muss. Sie könnte der Nukleus einer transnationalen europäischen Identität sein, die nicht nur die Kraft politischer Mobilisierungsfähigkeit, sondern auch die normative Überzeugung von Fairness und Gerechtigkeit ausstrahlt.

Wie realistisch ist diese Idee? Niemand weiß es, doch Hoffnungen auf eine positive Antwort lassen sich begründen. Die Frage ist keineswegs rhetorisch gemeint, denn gewichtige Argumente unterstützen einen eher skeptischen Blick. Empirisch ist die Existenz eines Europäischen Sozialmodells kaum, allenfalls in Form gemeinsamer Leitideen nachzuweisen.6 Spätestens seit dem Erscheinen der »Drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus«7 erkennt die tiefenscharf eingestellte Linse akademischer Forschung gänzlich unterschiedliche Fundamente des Sozialen Europas: ein liberales, sozial-demokratisches und konservatives (kontinentales) Europa. Im Zuge der wirtschaftlichen Integration war deshalb ein Konsens über eine gemeinsame europäische Sozialpolitik nicht zu erzielen. Sozialpolitik blieb eine Domäne der Mitgliedstaaten. Neben Großbritannien waren es nicht zuletzt die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten, die sich gegen eine Harmonisierung oder gar transnationale Sozialpolitik stemmten. Darüber hinaus erwies sich im Zuge der Erweiterung das klassische Dreiweltenmodell als ein zu enges analytisches Korsett: Die mediterranen und osteuropäischen Welten ließen sich nicht in dieses Schema pressen.8 Schließlich stellen neuere vergleichende Studien doch eine Konvergenz fest, allerdings in negativer Richtung: Nämlich den Trend zu einem gespaltenen Wohlfahrtsregime, das den Sozialschutz der arbeitenden Bevölkerung zunehmend auf Kernbelegschaften (Insider) konzentriert und damit eine steigende Zahl prekär Beschäftigter oder dauerhaft Arbeitsloser (Outsider) in Kauf nimmt. Kurz, das Narrativ der europäischen Sozialpolitik scheint eine Geschichte sich verstärkender Marktintegration bei gleichzeitiger Vertiefung der sozialen Differenzen und zunehmender sozialer Exklusion zu sein.9

Dagegen wird aus der weiten – vornehmlich transatlantischen – Perspektive oft ein einheitliches soziales Europa ausgemacht, allerdings in ganz unterschiedlicher Gestalt, sowohl in positiver als auch in negativer Karikatur. In positiver Sicht werden schon die Vereinigten Staaten von Europa als Modell beschworen, das Freiheit, soziale Gerechtigkeit (Gleichheit) und ökonomische Effizienz unter einen Hut zu bringen wisse.10 Der amerikanische Zukunftsforscher Jeremy Rifkin, der den medialen Wortblasen schon immer eine Dekade voraus war (z. B. die Blase vom »Ende der Arbeit« in den 1990er Jahren), beschrieb schon vor zehn Jahren seinen »europäischen Traum«, der nach und nach den »amerikanischen Traum« in den Schatten stelle. In vielerlei Hinsicht widerspiegele das europäische Modell das genaue Gegenteil des amerikanischen: Während der »amerikanische Traum« ökonomisches Wachstum, persönlichen Wohlstand und individuelle Unabhängigkeit betone, fokussiere der »europäische Traum« nachhaltige Entwicklung, Lebensqualität und Zusammengehörigkeit.11

Verbreiteter ist die Kehrseite, nämlich die negative Karikatur eines Gesellschaftssystems mit überhöhten Steuern, wuchernden Sozialleistungen und zur Sklerose führendem Beschäftigungsschutz – von manchmal bizarren Regulierungen12 ganz abgesehen. Dieses »soziale Modell«, so schrieb schon vor 20 Jahren der amerikanische Nobelpreisträger für Ökonomie, James Buchanan, hielten zwar viele Europäer gegenüber den schmalbrüstigen Wohlfahrtsstaaten in der liberalen Welt für überlegen, sei aber im 21. Jahrhundert weder ökonomisch lebensfähig noch demokratisch fundiert.13 Selbst neuere, etwa von der Weltbank vorgelegte Studien, sehen in »beispielloser Jobsicherheit, generösen Leistungen für Arbeitslose und leicht zugänglichen Renten« das Kennzeichen europäischer Sozialstaatlichkeit, die es zu überwinden gelte, wenn Europa wettbewerbsfähig bleiben und seinem Vollbeschäftigungsziel näher kommen wolle.14

Selbst normativ gibt es starke Bedenken, ein europäisches Sozialmodell – unabhängig von seiner Ausprägung – überhaupt anzustreben. Jede Absicht einer politischen Einheit Europas, so Ralf Dahrendorf in einem Debattenbeitrag im Juli 2005, hätte Schließungseffekte gegen andere Nationen oder Regimes zur Folge. Das widerspräche der Idee des universellen Weltbürgertums von Immanuel Kant: »Europa ist nicht als friedliches Wohlfahrtsparadies zu erstreben, sondern als Vorgriff und Modell für eine Ordnung, die grundsätzlich für die ganze Welt Geltung hat. Der europäische Imperativ lautet also: Handle so, dass alles, was du tust, auch als Prinzip einer universellen Ordnung gelten kann.«15

Es ist jedoch schwer zu erkennen, warum ein Europäisches Sozialmodell diesem Imperativ widersprechen sollte, wenn damit – worauf der Untertitel dieser Studie zielt – die Ideen einer Neuen Vollbeschäftigung und des Inklusiven Wachstums verknüpft werden. Neue Vollbeschäftigung zielt auf die Abkehr vom paternalistischen Normalarbeitsverhältnis, in dem der männliche Ernährer das Brot für die Familie verdient, während die weibliche Lebenspartnerin die Reproduktion der Familie gewährleistet und allenfalls etwas hinzuverdient, um den Mallorca-Urlaub mitzufinanzieren oder das Häuschen abzuzahlen. Die neue Vollbeschäftigung stützt sich auf die partnerschaftliche Familie, in der beide Lebenspartner (unabhängig vom Geschlecht) eine gleichwertige Rolle sowohl in der Familie als auch im Arbeitsleben spielen. Das erfordert nicht nur die Gleichberechtigung am Arbeitsmarkt, sondern auch die Anpassung der sozialen Sicherungssysteme (Rente und Krankenversicherung) an dieses neue Rollenmodell, vor allem aber eine Flexibilität der Arbeitszeit über den Lebensverlauf.16 Kurz: Neue Vollbeschäftigung basiert auf der Idee der souveränen Arbeitsmarktbürgerin und nicht des abhängigen Lohnarbeiters.

Während das Konzept der neuen Vollbeschäftigung schon in den 1970er und 1980er Jahren des letzten Jahrhunderts Einzug in die Debatte erhielt, sickerte das Konzept der Inklusion erst in den jüngsten Jahrzehnten – gleichsam als Gegenbegriff zur Exklusion – in den intellektuellen wie politischen Diskurs.17 Heute hat Inklusion einen hohen Stellenwert. Auch wenn der Begriff – zumindest im Alltag – oft nicht präzise definiert ist, kommt der damit verbundene Wertekanon dem von Dahrendorf beschworenen kantschen Imperativ nahe. In der deutschen Debatte dient der Begriff vor allem zur Benennung des strategischen Ziels, Menschen mit Behinderungen am alltäglichen Leben teilhaben zu lassen, vor allem die Inklusion von behinderten Kindern in Regelschulen statt in Sonderschulen. In den Sozialwissenschaften, vor allem in der Soziologie, ist der Begriff jedoch umfassender konzipiert und – insbesondere in Niklas Luhmanns funktionaler Systemtheorie – immer in Verbindung mit Exklusion gedacht. »Inklusion muss man […] als eine Form begreifen, deren Innenseite (Inklusion) als Chance der sozialen Berücksichtigung von Personen bezeichnet ist«; die Außenseite (Exklusion) bezeichnet die kommunikative Nicht-Berücksichtigung an der Funktionsweise gesellschaftlich ausdifferenzierter Teilsysteme wie Wirtschaft, Politik, Bildung, Justiz und Familie mit ihren Kommunikationsmedien Geld, Macht, Wissen, Recht und Liebe. Gemeint ist, dass die Gesellschaft alle Personen, unbeschadet ihrer ethnischen, religiösen oder sozialen Herkunft und persönlichen Differenzen an diesen Teilsystemen teilhaben lässt und ihnen »Plätze zuweist, in deren Rahmen sie erwartungskomplementär handeln können; etwas romantisch könnte man auch sagen: sich als Individuen heimisch fühlen können«.18

Wie könnten sich Individuen so diverser Herkunft – Badener, Basken, Bayern, Bretonen, Dänen, Elsässer, Griechen, Katalanen, Kroaten, Polen, Schweden, Slowenen und so weiter – in Europa heimisch fühlen? Gerade in einer Zeit, in der nationale Identitätsgefühle wieder stärker werden? Von großen Unterschieden in den Mitgliedstaaten abgesehen wurden sich die Europäer in den letzten drei Dekaden ihrer nationalen Identität nicht weniger sondern mehr bewusst: In den frühen 1980er Jahren antworteten im Durchschnitt noch 37 Prozent, dass sie stolz auf ihre Nation seien; um 2008/09 waren es schon fast 50 Prozent.19 Bei den letzten Bundestagswahlen erlangte der Begriff »Heimat« als positives Werbesymbol nicht nur bei der AfD oder der CSU, sondern sogar bei den Grünen einen hohen Stellenwert. In Bayern war der damalige Finanzminister Markus Söder seit 2013 auch Staatsminister für Landesentwicklung und Heimat. Die grüne Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt sagte beim kleinen Parteitag 2017: »Wir lieben dieses Land. Es ist unsere Heimat. Diese Heimat spaltet man nicht.« Die gerade etablierte Große Koalition hat nun auch dem Innenministerium »Heimat« auf die Flagge geschrieben. Auch wenn das Bekenntnis zur Heimat per se keine unfreundliche Abwendung gegen Nicht-Heimat einschließt, verbinden viele mit Heimat Deutschland, womit nicht deutschstämmige Bürgerinnen und Bürger sich ausgeschlossen (exkludiert) fühlen können. »Heimat« kann auch Nährstoff für nationalen Populismus sein, dessen extreme Formen im letzten Jahrhundert katastrophale Desaster vor allem in Gestalt zweier Weltkriege hinterlassen haben.

Der in Deutschland lebende, aber in Mazedonien-Herzegowina geborene Journalist Krsto Lazarevic nahm dies jüngst zum Anlass, vor dem Begriff Heimat zu warnen und auf eine Inklusionsformel hinzuweisen, die für ein europäisches Identitätsgefühl zukunftsträchtiger erscheint. Er schreibt:

»Ich lebe in Deutschland, seit ich denken kann. An die Zeit davor erinnere ich mich nicht. Trotzdem wurde Deutschland nicht zu meiner neuen Heimat. Es ist schwer, sich heimisch zu fühlen, wenn man von Abschiebung bedroht ist. Abschiebung in ein Land, das man nur aus dem Sommerurlaub kennt und dessen Sprache man nicht richtig spricht. Für die meisten meiner Freunde war der Führerschein das wichtigste Dokument, das sie zum 18. Geburtstag bekamen. Für mich war es die unbefristete Aufenthaltserlaubnis. […] Heute lebe ich in Berlin und bin Deutscher. Es ist nichts, worauf ich stolz bin oder wofür ich mich schäme. Es ist einfach das Land, in dem ich lebe. Der deutsche Pass hat mir keine neue Heimat gegeben, sondern Rechte. Das Recht zu Reisen und das Recht zu wählen. Das Recht ein politisches Subjekt innerhalb des Territoriums zu sein, in dem ich lebe. Das klingt nicht so nett wie Heimat, aber es ist mir wichtiger. Am Ende von Ernst Blochs ›Prinzip Hoffnung‹ steht der Satz: ›So entsteht in der Welt etwas, das allein in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.‹ Bloch verließ das deutsche Kaiserreich, weil er gegen den Ersten Weltkrieg war. Er floh vor den Nazis, weil er Jude war, und er emigrierte aus der DDR, nachdem er sich mit dem SED‑Regime angelegt hatte. Für Bloch war Heimat kein Ort, an dem man geboren wurde, oder die Nation, die einem zugeschrieben wird, sondern die Erinnerung und Sehnsucht an die Kindheit und die Hoffnung in eine Zukunft, die erst noch gewonnen werden muss. Eine Utopie, in der noch kein Mensch war. In meinen Ohren klingt das besser als Schweinshaxe, Gartenzwerg und Heimatministerium.«20

Es ist also das Recht, ein politisches Subjekt innerhalb des Territoriums zu sein, das Ausgangspunkt jeder weiteren politischen Vertiefung der EU sein muss. Es gleicht dem von Hannah Arendt angesprochenen übergeordneten Menschenrecht, das heißt dem Recht auf das Recht, einem politischen Gemeinwesen zuzugehören, das in demokratischen Verfahren verbindliche Rechtssicherheit schafft.21 Der Unionsbürger oder die Unionsbürgerin sehnt sich nicht nach einer europäischen Trachtenkleidung, sondern nach zuverlässiger und bewehrter Garantie von Freiheit, Solidarität und Chancengleichheit. Eine Inklusion, die über gewachsene nationale Identitäten hinausgeht, ist jedoch mit hohen Risiken verbunden. Luhmann, der den Begriff »heimisch« ja eher süffisant-ironisch meinte, hat auch dieses Risiko deutlich formuliert: »Denn die faktische Ausschließung aus einem Funktionssystem – keine Arbeit, kein Geldeinkommen, kein Ausweis, keine stabilen Intimbeziehungen, kein Zugang zu Verträgen und zu gerichtlichem Rechtsschutz, keine Möglichkeit, politische Wahlkampagnen von Karnevalsveranstaltungen zu unterscheiden, Analphabetentum und medizinische wie auch ernährungsmäßige Unterversorgung – beschränkt das, was in anderen Systemen erreichbar ist und definiert mehr oder weniger große Teile der Bevölkerung, die häufig dann auch wohnmäßig separiert und damit unsichtbar gemacht werden«.22 Luhmann spricht gar – die brasilianischen Favelas vor Augen – von einer »totalitären Logik« der Inklusion.

Für die Politik folgt daraus nicht nur ein deutliches Inklusionsgebot, sondern – und das ist von großer Tragweite – auch ein Gebot der sozialen Risikovorsorge. Das heißt, institutionelle Vorkehrungen zu treffen, um dem durch Inklusion drohenden Exklusionsdrift immer größerer Bevölkerungsteile vorzubeugen oder wenigstens das Risiko zu mildern und sozial abzusichern.23 Man kann – um ein Beispiel aus einem kleinen, aber nahegehenden Lebensbereich zu wählen – nicht behinderte Kinder in die Regelschule inkludieren, ohne institutionelle, personelle und finanzielle Vorkehrungen zu treffen, sie chancengleich an der Wissensvermittlung teilhaben zu lassen. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, »dann droht im ungünstigsten Fall die integrierte Klasse, die die inkludierende Exklusion der Sonderschulen ersetzt, zu einem Ort der exkludierenden Inklusion zu werden, an dem das formale Moment der Inklusion in ein und dieselbe Klasse faktisch durch zunehmende Exklusion überlagert wird, weil die Abstände innerhalb der Klasse von Jahr zu Jahr grösser werden und dann beim Übergang zur Sekundarschule das Schulsystem erneut auf Sonderschulen zurückgreifen muss, die dann möglicherweise unter ungünstigeren Bedingungen starten, als dies vor der Behindertenrechtskonvention der Fall war«.24

Um dieser totalitären Logik auszuweichen, bedarf es einer auf Max Weber zurückgehenden Unterscheidung von legitimer und illegitimer Exklusion. Exklusion kann unter Umständen eine die Entwicklung fördernde Übergangsphase sein, das heißt ein sinnvoller Schutz vor ruinöser Konkurrenz und ein befähigender Schritt in die Inklusion. So kann eine teilweise geschützte und subventionierte Werkstätte für Behinderte langfristig der Inklusion förderlicher sein als die Inklusion in einen regulären Produktionsbetrieb bei mangelnder Arbeitsplatzanpassung und Assistenz.25 Man kann nicht, um ein weiteres Beispiel zu nennen, alle erwachsenen Personen mit Kleinkindern – derzeit durch Tradition vor allem noch Frauen betreffend – in den Arbeitsmarkt inkludieren, ohne institutionelle, personelle und finanzielle Vorkehrungen zu treffen, die mit Kleinkindern verbundenen erwerbseinschränkenden sozialen Verpflichtungen zu kompensieren, die sonst die Chancengleichheit im Wettbewerb um gute Arbeitsplätze beeinträchtigen. Umfassende Inklusion in den Arbeitsmarkt kann darum nicht nur heißen, alle Menschen fit für den Arbeitsmarkt zu machen, sondern muss auch heißen, den Arbeitsmarkt fit für die Menschen zu machen, etwa durch Arbeitszeitflexibilität, behinderungsgerechte und lernförderliche Arbeitsplätze sowie umfassende und qualitativ hochwertige Kinderbetreuungseinrichtungen.26

Auch aus sozialphilosophischer Sicht ist Inklusion zentral für Gerechtigkeit. So sind sich zum Beispiel John Rawls, Richard Dworkin und Amartya Sen weitgehend einig, dass normativ betrachtet ökonomische Ungleichheit nur gerechtfertigt ist, wenn sie das Los der Ärmsten verbessert, also die soziale Inklusion verstärkt. Ihrer Meinung nach bedarf es auch eines Rechts auf gleichwertige Ressourcenkapazität, um allen ein selbst bestimmtes Leben zu ermöglichen.27 In der jüngsten deutschen Diskussion um das soziale Europa ergänzt Jürgen Habermas diese Reflexionen um das anregende Plädoyer für eine »europäische Solidarität«, die über die Verpflichtung moralischer und rechtlicher Art hinausgeht. Freilich entspricht dieses Ansinnen nicht mehr ganz dem kantschen Imperativ, denn streng genommen kann es infolge der deontologischen Begründung dieses Imperativs so etwas wie eine europäische Solidarität als ethische Forderung nicht geben, allenfalls als Aufforderung an die Bürger Europas, das universelle Prinzip der Solidarität anzuerkennen und in einer wie immer gearteten europäischen Politischen Union umzusetzen.28

Sozialpolitisch wie politökonomisch sind in jüngster Zeit – etwa von den englischen Sozialforschern Richard Wilkinson und Kate Pickett oder den amerikanischen Ökonomen Daron Acemoglu und James Robinson – bedeutende Belege vorgestellt worden, dass inklusive Institutionen sowohl Gleichheit als auch ökonomische Effizienz befördern; dass also zwischen beiden Zielen nicht notwendigerweise ein Konflikt besteht, wie neoliberale Ökonomen uns immer wieder weismachen wollen.29 In ihrer historisch fundierten und global umfassenden Studie definieren Acemoglu und Robinson die Voraussetzungen für ökonomische Institutionen, um als inklusiv zu gelten: sichere Eigentumsrechte, ein objektives Rechtssystem, offene Produktmärkte (z. B. für Unternehmensgründungen), offene Arbeitsmärkte (z. B. freie Berufswahl) sowie öffentliche Dienstleistungen und freie kollektive Interessenvertretungen, die gewährleisten, dass sich die marktwirtschaftlichen Vertragspartner auf gleicher Augenhöhe befinden. Die beiden wichtigsten Voraussetzungen für inklusive politische Institutionen sind Pluralität sowohl in der Meinungsbildung als auch in der Besetzung politischer Ämter und (in Anlehnung an Max Weber) ein starker zentraler Staat, der unangefochten über das Monopol der Gewalt herrscht.30

Im sozialtheoretischen wie sozialpolitischen Diskurs hat der Begriff Inklusion also eine Schlüsselposition eingenommen; welchen Stellenwert hat er in der europäischen Beschäftigungsstrategie? Der Europäische Rat beschloss im März 2010, seiner neuen Beschäftigungsstrategie das Prinzip der Inklusion zugrunde zu legen, wonach alle EU-Mitgliedstaaten bis zum Jahre 2020 drei übergeordnete Ziele verfolgen sollen: smartes, nachhaltiges und inklusives Wachstum zur Beförderung sozialer und territorialer Kohäsion.31 Unter anderem soll eine Beschäftigungsquote von 75 Prozent der 20- bis 64-Jährigen angestrebt werden; eine Schulabbrecherquote, die geringer als 10 Prozent ist, sowie eine Hochschulabschlussrate von wenigstens 40 Prozent für die Generation der 30- bis 34-Jährigen. Schließlich sollen – und das zielt mitten in das Inklusionsziel – wenigstens 20 Millionen Menschen weniger das Risiko von Armut tragen.32 Die Reduktion dieses Risikos soll – und dies wird in der öffentlichen Debatte vernachlässigt – auf drei Dimensionen der Armut gerichtet sein: Erstens auf das Armutsrisiko im engeren Sinne, das heißt das Risiko, nur über ein Einkommen von unter 60 Prozent des Medians zu verfügen; zweitens auf das Risiko materieller Armut, also das Risiko, nicht über notwendige Güter für eine anständige Lebensführung zu verfügen; und drittens auf das Autonomierisiko (meine Formulierung), das Risiko von Menschen im Alter von 0 bis 59 Jahren, in einem Haushalt mit geringer Beschäftigungsintensität zu leben.33 Allerdings können die Länder wählen, welchen der drei Indikatoren sie in ihrer Berichterstattung nutzen. Einige Mitgliedstaaten, wie die UK, haben in der Vergangenheit nicht einmal einen der drei Indikatoren gewählt, sondern stattdessen beispielsweise die Kinderarmut hervorgehoben. Deutschland nutzt ebenfalls keinen der drei Indikatoren in der nationalen Berichterstattung (NRP), sondern argumentiert mit der Verringerung der Langzeiterwerbslosigkeit als zentralen Treiber von Einkommensarmut. Schon von diesem laxen Regelsystem her betrachtet ist es unwahrscheinlich, dass das Gesamtarmutsreduktionsziel für 2020 erreicht wird.34

Mit den Stichworten »smart« und »nachhaltig« sind – neben produktivistischen (Innovation) und ökologischen Gesichtspunkten (Energieeffizienz) – auch Qualitätsmerkmale der Arbeit ins Visier zu nehmen. Allerdings hat sich die Europäische Beschäftigungsstrategie bisher sehr zurückgehalten, diese Qualität zu definieren. »Mehr und bessere« Arbeit, lautet in der Regel das Schlagwort, ohne in dieser entscheidenden Dimension klare Kriterien, geschweige denn quantifizierte Zielvorgaben zu machen. Dennoch stehen wir hier weder normativ noch empirisch betrachtet vor einem weißen und unbeschriebenen Blatt. Zahlreiche Konzepte und empirisch-vergleichende Arbeiten wetteifern hier.35 Bei aller Divergenz dieser Ansätze und empirischen Erkenntnisse lassen sich die anerkannt wichtigen Dimensionen »guter Arbeit« klar herausschälen und zusammenfassen: (1) Arbeitsschutz und Ethik der Beschäftigung; (2) Einkommen und Nutzen der Beschäftigung; (3) Arbeitszeit und Balance von Erwerbsarbeit und Leben; (4) Sicherheit der Beschäftigung und Sozialschutz; (5) Sozialer Dialog und Mitbestimmung; (6) Kompetenzentwicklung und Weiterbildung; (7) Arbeitsplatzbeziehungen und Arbeitsmotivation.36

In einer genuinen sozialen Marktwirtschaft kommen der Arbeit also zwei entscheidende Funktionen zu: Zum einen die einkommensstiftende Funktion, aus der sich quantitative Beschäftigungsziele ableiten lassen, zum anderen die identitätsstiftende Funktion, aus der sich die qualitativen Ziele guter Arbeit herleiten. Damit stellt sich die zentrale Doppelfrage für die Weiterentwicklung der sozialen Dimension Europas: Was sind die beschäftigungs- und sozialpolitischen Herausforderungen Europas im Hinblick auf den quantitativen und qualitativen Aspekt der Arbeit?

Kapitel 2 greift daher zunächst die arbeitspolitische Gretchenfrage auf: »Wie hältst Du’s mit der Zukunft der Arbeit?« Im gegenwärtigen Diskurs sind sich viele – insbesondere Intellektuelle und Reisende nach Davos – wieder einmal sicher, die Arbeit werde uns wegen Automatisierung und Robotisierung ausgehen. Einziger Ausweg aus dieser Misere sei ein bedingungsloses Grundeinkommen. Eine sorgfältige Sichtung der prognostischen Literatur kommt jedoch zum Ergebnis, dass diese Befürchtungen – wieder einmal – nicht ausreichend begründet sind. Wohlbegründet sind dagegen die Befürchtungen, den durch die Digitalisierung ausgelösten Strukturwandel der Arbeitswelt sozial nicht mehr ausreichend abfedern zu können und darüber hinaus die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu bremsen. Dieser Strukturwandel berührt vor allem die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse, die zentrale Merkmale »guter Arbeit« (wie anständige Bezahlung, Sicherheit des Arbeitsplatzes, Möglichkeiten des Aufstiegs, Sozialschutz bei Krankheit und Arbeitslosigkeit oder im Alter) stark mitbestimmen.

Kapitel 3 beschreibt daher zunächst einmal im Detail die Entwicklung der Arbeitsverhältnisse in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union für die Periode 1998 bis 2016. Der Schwerpunkt liegt auf den atypischen Formen, das heißt auf Beschäftigung in Teilzeit, Befristung und Selbstständigkeit. Im Gegensatz zu Kapitel 2, das sich auf räsonierende Rezeption originärer empirischer Studien beschränkt, entfaltet dieses Kapitel eigene originär-analytische Ambitionen. Sie beginnen mit einem simplen, aber aussagekräftigen Modell (Okuns Rasiermesser), warum wir es überhaupt mit unterschiedlichen Formen von Arbeitsverhältnissen zu tun haben und warum sich diese verändern. Die darauf aufbauende Analyse macht darauf aufmerksam, dass atypische Beschäftigungsformen nicht über einen Kamm geschert werden können und weder mit spekulativen Hoffnungen zu beladen (etwa Selbstständigkeit als Jobmaschine) noch pauschal mit dem inflationären Stichwort »prekär« zu verurteilen sind. Entscheidend bei allen drei atypischen Beschäftigungsformen ist, ob sie freiwillig oder gezwungenermaßen ausgeübt werden. Vor allem bei den unfreiwilligen Formen sind eindeutig negative Auswirkungen zu erkennen, die zum Teil zu einem neuen Prekariat in Europa führen. In der sozialwissenschaftlichen Literatur oft vernachlässigt sind die möglichen positiven Wirkungen auf ökonomische Effizienz (Produktivität) und Chancengleichheit in der Erwerbsbeteiligung (soziale Inklusion), die mit diesen Arbeitsverhältnissen potenziell verbunden sind. Als zentrales – und durchaus provozierendes – Ergebnis stellt sich zum Beispiel heraus, dass freiwillige Teilzeitarbeit – vor allem in Kombination mit einem Recht auf Rückkehr zur Vollzeit – das Potenzial hat, nicht nur die Beteiligung am Arbeitsmarkt über den Lebensverlauf für Männer wie für Frauen, für Junge wie für Alte, für Gesunde wie für Leistungsgeminderte zu erhöhen, sondern auch Innovation und Produktivität nachhaltig zu unterstützen.

Kapitel 4 stellt die Frage, ob die europäische Beschäftigungsstrategie diesem Strukturwandel gerecht wurde und zu einer wirtschaftlichen und sozialen Divergenz oder Konvergenz in Europa beigetragen hat: Sind die 2010 verabschiedeten Ziele der EU2020 Beschäftigungsstrategie erreicht worden? Worin sind die treibenden Kräfte zu sehen, die Konvergenz beschleunigen oder Divergenz vertiefen? Besondere Aufmerksamkeit gilt den Ländern der Eurozone, also der Frage, inwieweit die nominelle Konvergenz einer gemeinsamen Währung die reelle Konvergenz zentraler Parameter wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung (Wachstum, Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Einkommensverteilung, Reduzierung der Armut in allen ihren Dimensionen) befördert oder gar verhindert. Die enttäuschende Gesamtbilanz dieser Review veranlasst zu grundlegenden Überlegungen, auf welchen Fundamenten eine genuin europäische Soziale Marktwirtschaft gebaut sein müsste, wenn die Prämisse einer gemeinsamen Währung aufrechterhalten bleibt.37

Im zweiten Teil dieses Kapitels skizziere ich daher ein Modell, das die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen für eine funktionierende Währungsunion benennt. Diese basieren auf zwei Parametern: Erstens auf einem Mindestmaß vergleichbarer produktiver Kapazitäten (wie Kapital, Arbeit, natürliche Ressourcen und Infrastruktur), zweitens auf einem Mindestmaß an Flexibilität des Einsatzes dieser Ressourcen, um externe Schocks (wie Preisstürze, Inflation, demografische Strukturveränderungen oder Migrationswellen) aufzufangen. Hält man an einer gemeinsamen Währung fest, wofür es gute Gründe gibt, müssen funktionale Äquivalente für den Wegfall des Instruments von Auf- und Abwertungen gefunden werden. Aus dem Modell lassen sich vier grundlegende Strategien ableiten, die aussichtsreiche und realistische Wege zur Verwirklichung einer genuin Sozialen Marktwirtschaft in Europa aufzeigen. Diese Strategien werden mit guten Praktiken erläutert und konzeptionellen Überlegungen vertieft: Investive Sozialtransfers (insbesondere die Erweiterung der Strukturfonds durch einen Europäischen Fonds für Arbeit und Soziales, der auch Übergangsrisiken im Lebensverlauf absichert); geschützte Flexibilität (insbesondere verschiedene Formen der Arbeitszeitflexibilisierung über den Lebensverlauf); Investitionen in Menschen (insbesondere die europaweite Institutionalisierung lebensbegleitenden Lernens); effiziente Regulierung des Arbeitsmarkts zur Entfaltung eines genuin europäischen Arbeitsmarkts (insbesondere besserer Sozialschutz für flexible Arbeitsverhältnisse sowie eine europaweite Regelung der Festlegung und Überwachung nationaler Mindestlöhne).

In Kapitel 5 stelle ich Überlegungen an, welche Wege zu einer Vertiefung sozialer und demokratischer Entscheidungsstrukturen in Europa realistisch sind. Im Vordergrund steht die mögliche Weiterentwicklung sozialpolitischer Instrumente zum Sozialschutz flexibler Arbeitsverhältnisse wie Soloselbstständigkeit, befristete Arbeitsverträge und Teilzeitbeschäftigung. Dazu bedarf es zunächst der Überlegung, wie mit diesen neuen sozialen Risiken umzugehen ist. Ein neues Koordinatensystem ist erforderlich, das heißt – so die These – eine Erweiterung der Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung, die als Orientierung für das soziale Risikomanagement atypischer Arbeitsverhältnisse dient. Dieses Koordinatensystem besteht aus einem Set verschiedener Institutionen, die in einem komplizierten Wechselsystem stehen. Der Blick auf dieses System soll ausschließen, notwendige Reformen nur an bestimmten Stellen anzusetzen oder schlicht die gute Praxis anderer Länder zu kopieren: Zu einer funktionierenden Arbeitsversicherung gehören selbstverständlich ein anständiges und verlässliches Arbeitslosengeld in den ersten Monaten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit. Diese angeblich passive Leistung hat aber auch, so das zentrale Argument, investive, aktive Funktionen. Die übliche scharfe Trennung von aktiver und passiver Arbeitsmarktpolitik, meist noch mit der Bewertung von positiv und negativ verbunden, ist nicht haltbar. Zu einer erweiterten Arbeitsversicherung gehören aber auch ein effektives System von Arbeitsmarktdienstleistungen, effiziente Bildungs- und Weiterbildungsträger, wirksame arbeits- und sozialrechtliche Regulierungen, ein faires System der Lohnbildung, das nicht gleich wieder durch das Steuer- und Abgabensystem konterkariert wird, und schließlich – meist vernachlässigt – ein umfassendes Angebot öffentlicher Dienstleistungen.

Im zweiten Teil dieses Kapitels werden die Konsequenzen dieser Idee beispielhaft erläutert. Ausgangspunkt sind die drei gewichtigsten Abweichungen vom sogenannten Normalarbeitsverhältnis: Teilzeit, Befristung und Selbstständigkeit. Das theoretisch entwickelte institutionelle Koordinatensystem wird systematisch daraufhin geprüft, wo arbeitsmarktpolitischer Reformbedarf und Reformmöglichkeiten bestehen. Ein Blick in die laufenden arbeitsmarktpolitischen Reformen der EU-Mitglieder zeigt auch schon gute Praktiken, die sich in das Konzept der Arbeitsversicherung einordnen lassen. Neue substanzielle Rechte wie das Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit, das Recht auf den Übergang in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis und eine Mindesteinkommenssicherung für alle Arbeitsmarktbürger im Alter und anderes; all das wären Rechte, welche die Risiken von Teilzeit, Befristung und neuer Selbstständigkeit zumindest abmildern würden.

In Kapitel 6 geht es darum, welche Rolle die EU bei der Einkommenssicherung für neue Beschäftigungsrisiken im digitalen Zeitalter spielen könnte. Statt einer Europäischen Arbeitslosenversicherung, die in den letzten Jahren als Diskussionsvorschlag im Vordergrund stand, plädiere ich für einen Europäischen Arbeits- und Sozialfonds (EASF), der Elemente einer Arbeitsversicherung aufgreift. Diesem Vorschlag geht die Analyse zweier wichtiger arbeitsmarktpolitischer Institutionen voraus: Erstens, was haben die europäischen Strukturfonds, insbesondere der Europäische Sozialfonds, bisher zur sozialen und regionalen Kohäsion beigetragen? Und ist zweitens das System der Arbeitslosenversicherung in den Vereinigten Staaten von Amerika möglicherweise ein Vorbild für die Europäische Union (oder gar der Vereinigten Staaten von Europa)?

Das Ergebnis ist, dass eine uniforme europäische Arbeitslosenversicherung derzeit kaum Chancen auf Realisierung hat. Die nationalen Sozialsysteme sind dafür zu unterschiedlich, auch der europäische Arbeitsmarkt ist noch unterentwickelt. Darüber hinaus würde eine derartige Arbeitslosenversicherung nur einen eng begrenzten Ausschnitt von Arbeitsmarktrisiken ins Auge fassen. Deshalb sollte über den EASF mittelfristig der Aufbau institutioneller Kapazitäten für eine umfassendere Arbeitsmarktsicherheit im Vordergrund stehen. Dieser Fonds soll zum einen Mindeststandards beim Sozialschutz im Falle der Arbeitslosigkeit garantieren, und zum anderen für nationale Arbeitslosenversicherungen eine Art Rückversicherung auf europäischer Ebene bereitstellen. Der EASF kann darüber hinaus finanzielle Anreize setzen, damit sich der Sozialschutz nicht nur auf Einkommenssicherung bei Arbeitslosigkeit konzentriert, sondern vorbeugend auch auf Einkommenssicherung bei anderen Übergangsrisiken im Lebensverlauf, vor allem bei den Übergängen in neue Berufsfelder, in Selbstständigkeit oder Unternehmensgründungen und in intermediäre Teilzeit, um Berufsarbeit mit unbezahlter Sozialarbeit unter einen Hut zu kriegen.

Dieser Fonds, eine Erweiterung des bisherigen Sozialfonds (ESF), sollte aus Beiträgen der Mitgliedstaaten finanziert werden, die dem Prinzip der Risikoteilung folgen und deshalb auch ein solidarisches Umverteilungselement enthalten sollen: EU-Mitglieder mit extrem hohen Exportüberschüssen sollten einen höheren Beitrag leisten als Mitglieder mit hohen Defiziten, die wegen der Bindung an die gemeinsame Währung nicht (mehr) in der Lage sind, diese durch Abwertung, sondern nur noch durch grundlegende Strukturreformen und Investitionsoffensiven auszugleichen.

Kapitel 7 fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen und reflektiert diese im Licht der gegenwärtigen Diskussion um die Errichtung einer Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR). Die Realisierung dieser Säule verspricht nicht nur die schöpferischen Potenziale von Arbeit mit der digitalen Ökonomie in ein fruchtbares Verhältnis zu bringen, sondern auch der Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt einen neuen Schub zu geben. Damit das Versprechen dieser Säule nicht nur und wieder einmal – wie beispielsweise deutsche Gewerkschaften und viele Sozialwissenschaftler befürchten – bei einer symbolischen Geste steckenbleibt, stelle ich Überlegungen zur Diskussion, wie diese begrüßenswerte Initiative der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments politischen wie institutionellen Biss erhalten könnte. Eine konzeptionelle Voraussetzung dafür wäre, so die zentrale These, die Erweiterung des Konstrukts Normalarbeitsverhältnis durch das Konzept des inklusiven Arbeitsvertrags. Im Besonderen gilt es, die konventionelle Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung weiterzuentwickeln und die individuelle Autonomie durch substantielle und an die Arbeitsmarktbeteiligung anknüpfende Sozialrechte zu stärken. Die Folgerung ist nicht weniger als die Forderung nach einer paradigmatischen Neuorientierung des Arbeitsvertrags. Der inklusive Arbeitsvertrag muss sich von der Engführung der Arbeit auf Beschäftigung lösen und die souveräne Arbeitsmarktbürgerin ins Visier nehmen. In anderen Worten: Der bisher vorrangige Tausch von abhängiger Lohnarbeit gegen Arbeitsplatzsicherheit muss zu einem Tausch mitbestimmter und eigenbestimmter Arbeitsleistungen gegen Arbeitsmarktsicherheit werden.

Mit neuen Sozialrechten ausgestattet (etwa ein Ziehungsrecht für lebensbegleitende Weiterbildung, Anpassung von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen an die Lebensbedingungen im Erwerbsverlauf, oder ein – durch eine Sozialdividende finanziertes – Chancenkonto für Jugendliche, die in das Erwerbsleben eintreten) können und müssen diese Arbeitsmarktbürger dann auch mehr Verantwortung übernehmen, ihre Beschäftigungsfähigkeit über den Erwerbsverlauf den Realitäten des Arbeitsmarkts in der globalisierten und digitalen Welt anzupassen. Zu dieser Verantwortung gehört etwa die Bereitschaft zur verhandelten Konfliktaustragung: So tangiert beispielsweise ein individuelles Recht auf intermediäre Teilzeit und das reziproke Recht zur Rückkehr auf Vollzeit nicht nur die unternehmerische Autonomie, sondern auch die Autonomie anderer Arbeitsmarktbürgerinnen. Deshalb müssen Mechanismen des Interessenausgleichs gefunden werden, und deshalb erfordert die Umsetzung der neuen Sozialrechte und Sozialpflichten auch eine Aktivierung der Sozialpartnerschaft, die mögliche neue Interessenkonflikte vor Ort (im Betrieb, in der Kommune, Region oder Branche) zu fairen Kompromissen aushandelt. Diese oft verschwiegene Gegenseite neuer oder umfassenderer Sozialrechte, nämlich neue oder gar größere Sozialpflichten zu übernehmen, ist nicht minder wichtig, um eine nachhaltige Strategie für eine neue Vollbeschäftigung und für ein Soziales Europa zu schmieden.

Notwendig ist also ein Europa in Arbeit im doppelten Sinne: Nur inklusives Wachstum wird Europa wieder in die Nähe des hehren Ziels der Vollbeschäftigung bringen: Eine neue Vollbeschäftigung jedoch, die variable und sichere Arbeitsverhältnisse im Lebensverlauf verspricht und in der Frauen wie Männer auf gleicher Augenhöhe und in fairer Partnerschaft auch ihrer sozialen Verantwortung zu Hause und in der unmittelbaren Nachbarschaft nachkommen können.

Dazu ist aber auch Arbeit an den europäischen Institutionen notwendig. Die gegenwärtige Stimmung »nach uns die Sintflut« kann und muss gewendet werden. »Europa in der Falle«, konstatiert etwa der Soziologe Claus Offe in einem lesenswerten Essay und hebt mit Recht hervor, »dass die Bewältigung der Krise in der Eurozone […] ohne eine dramatische Umverteilung von Lasten und eine institutionelle Reform der Union, die diese erlaubt und legitimiert, nicht zu haben sein wird.«38 Doch was das für eine europäische Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bedeutet, ist bislang entweder nur in zaghaft angedeuteten Reformvorschlägen (etwa Europäische Arbeitslosenversicherung) oder in zwar kühnen, aber völlig unrealistischen und sozialethisch fragwürdigen Utopien (etwa bedingungsloses Grundeinkommen) erörtert worden.

Diese Studie bemüht sich sowohl um eine scharfe Analyse als auch um theoretisch wie normativ fundierte Reformvorschläge. Es geht – angesichts der schweren Krise Europas – um nichts weniger, als mit dem Mut der Verzweiflung um den Sieg und nicht um die Abwendung der Niederlage zu kämpfen: Die Zukunft Europas liegt in der politischen Vertiefung, an deren Ende eine handlungsfähige und demokratisch legitimierte europäische Regierung stehen muss, die sich einer transnationalen Sozialen Marktwirtschaft verpflichtet fühlt.39

2Die Zukunft der Arbeit in Europa

»Es ist schwer vorauszusagen, vor allem die Zukunft«

Nils Bohr

»Ich liege lieber ungefähr richtig als ganz genau falsch.«

Sir Maynard Keynes

Gegenwärtig herrscht wieder einmal die Sorge vor, Maschinen – heute Automaten und Roboter – ersetzten einen Großteil menschlicher Arbeit, sodass der einzige Ausweg des Sozialschutzes ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre. Geht uns tatsächlich die Arbeit aus, sodass sich das Soziale Europa auf einen gespaltenen Arbeitsmarkt einstellen muss? Sozusagen auf einen Arbeitsmarkt I der hoch qualifizierten und gesundheitlich durchtrainierten Menschen, die dem Globalisierungsdruck standhalten können, und auf einen Arbeitsmarkt II, auf dem die weniger gut qualifizierten und gesundheitlich angeschlagenen Menschen von einem bedingungslosen Grundeinkommen leben und sich allenfalls – so sie denn möchten – noch etwas hinzuverdienen können? Wenden wir uns also dieser sozialpolitischen Gretchenfrage zunächst mit nüchternen Blicken zu.

Die beiden Eingangszitate mahnen zur Vorsicht und Bescheidenheit, wenn es um unsere Fähigkeit geht, die Zukunft vorauszusagen: Der Physiker und Nobelpreisträger Nils Bohr (1885–1962) formulierte seine Einsicht, nachdem er und seine Kollegen die Entdeckung gemacht hatten, dass sich die Elektronen normalerweise in stabilen Umlaufbahnen um den atomaren Kern bewegen, aber nicht voraussehbar von einem Energielevel zum anderen springen können. Da er gerne philosophische Aphorismen prägte, schloss er aus dieser Einsicht der Quantenphysik, dass es auch im Leben solche unvorhersehbaren Sprünge gibt, und er wäre wohl über den heutigen Wirbel um die sogenannten disruptiven Innovationen erstaunt gewesen. Lord Maynard Keynes (1883–1946), unter anderem langjähriger Vorsitzender der britischen ökonometrischen Gesellschaft, also von professionellen Prognostikern, bewahrte sein Leben lang eine grundlegende Skepsis gegenüber genauen Zahlen. Natürlich müsse man Voraussagen machen, aber man solle sich den gesunden Menschenverstand bewahren und durchaus manchmal den Bauchgefühlen folgen.

Diese Einsicht enthält den Kern der Botschaft, die ich in diesem Abschnitt voranbringen möchte: Gewiss, es gibt viele und sogar überraschende Voraussagen über die Zukunft der Arbeit. Aber die Ungewissheit wird bleiben. Der derzeit weitverbreitete Glaube, beispielsweise, an die Zahl von 47 Prozent Arbeitsplätzen, die in den nächsten 10 bis 20 Jahren wegen der Automatisierung verschwinden sollen, klingt in Anbetracht von Lord Keynes’ Empfehlung absurd.1 Fügen wir die Einsicht von Nils Bohr hinzu, folgt daraus, uns bei den Schlussfolgerungen aus der Digitalisierung der Arbeitswelt auf die Gestaltung der Institutionen zu konzentrieren. Das heißt darauf, neue Regeln und Normen zu entwerfen, die flexible Antworten auf die gewisse Ungewissheit ermöglichen, um die Zukunft der Arbeit so zu gestalten, dass sie mit unseren Werten kompatibel ist.

Auch wenn also die Eingangszitate den Wert von Prognosen stark relativieren, muss sich jede Urteilsbildung zur Zukunft der Arbeit über den Stand der Forschung – insbesondere über die Zuverlässigkeit ihrer Annahmen, Methoden und Datenquellen – informieren. Damit wird sich der folgende Abschnitt dieses Kapitels beschäftigen.

2.1Was sagen die Prognosen wirklich?

Es besteht kein Mangel an guten Studien über die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt, und mehr dieser Art sind oder werden auf dem Weg sein.2 Der Dissens dreht sich vor allem um die quantitativen Beschäftigungswirkungen. Die Einschätzungen der Auswirkungen auf die Qualität der künftigen Arbeitswelt scheinen allerdings nur oberflächlich betrachtet homogen; in wichtigen Details variieren sie stark.

Quantitativ wird sowohl wieder das Gespenst technologischer Arbeitslosigkeit geweckt3 als auch die Utopie einer neuen Ära der Vollbeschäftigung, entweder eher in konventioneller Form4 oder – inspiriert von Lord Keynes – in Form einer drastisch reduzierten Arbeitszeit.5 Bei Inhalt und Qualität der Arbeit stimmen alle überein, dass beispielsweise mit der Entwicklung selbstfahrender Fahrzeuge Lastwagenfahrer ebenso verschwinden werden wie die Männer oder Frauen, die vor gut hundert Jahren in den Städten noch Gaslampen anzündeten oder auslöschten, als die Elektrizität eingeführt wurde. Dissens besteht jedoch darin, ob diese Jobs weiterbestehen, allerdings mit unterschiedlichen und digitalisierten Aufgabenprofilen (z. B. komplementäre Jobs zur Überwachung und Steuerung von Lastwagentransporten), oder ob sie ihren Inhalt komplett verändern und beispielsweise in den Pflege-, Gesundheits- oder Erziehungsbereich abwandern.

Die institutionellen Konsequenzen dieser unterschiedlichen Ansichten sind dramatisch. Wenn wir an das Narrativ vom Ende der Arbeit glauben, muss die Einkommenssicherheit ganz anderes organisiert werden als bisher. Die Verlierer wären dann in der Tat durch eine Art bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) zu kompensieren, oder das reduzierte Volumen der Arbeit wäre zu rationieren, das heißt, mehr oder weniger gleich umzuverteilen. Wenn das Narrativ jedoch Beginn einer neuen Arbeitswelt heißt, dann müssen die Institutionen sozialer Sicherheit so umarrangiert werden, dass sie den neuen Einkommensrisiken gerecht werden. Damit werden soziale Investitionen verschiedener Art erforderlich, etwa in Bildung, Weiterbildung, Arbeitszeitflexibilität, Mobilitätsanreize, inklusive Arbeitsorganisationen und digitale Infrastruktur. Der folgende Überblick über den Stand der Prognosen beabsichtigt keine Vollständigkeit, soll aber den gesamten Bereich interessanter Fragestellungen abdecken. Die Aufmerksamkeit richtet sich darüber hinaus auf methodologische Probleme, nicht zuletzt auch auf die europäische Dimension.

Eine der meist zitierten Studien – fast schon ein Klassiker – ist Die Zukunft der Beschäftigung von Frey und Osborne. Ihre einfache Frage lautete: Wie anfällig sind Jobs gegenüber der Computerisierung? Obwohl sich die Studie auf die USA beschränkt, nimmt sie wegen ihrer methodologischen Innovation und ihrer historischen Tiefe eine Pionierstellung ein. Die ausführliche Beschreibung vorausgehender technologischer Revolutionen nebst ihren Beschäftigungswirkungen ist lesenswert. Sie beginnt schon mit William Lee, der 1589 den ersten gut funktionierenden Webstuhl (den sogenannten Handkulierstuhl) für die Strumpfwirkerei vorführte. Dieser arbeitete sechsmal schneller als die Hand. Der studierte Theologe wollte damit zunächst einmal seine Frau entlasten, die mit ihren Strickereien den Lebensunterhalt der Familie bestritt. Die englische Königin verweigerte das Patent auf seine Erfindung mit einem heute wohlbekannten Argument: der Webstuhl vernichte die Arbeit vieler anständiger kleiner Leute. William Lee wandte sich deshalb nach Frankreich, wo ihm König Heinrich das Patent bewilligte. Dennoch endete die Geschichte unglücklich, weil sich die Konkurrenz nach dem Tode des Königs nicht mehr um das Patent scherte, sodass William Lee in Verzweiflung starb.

Welche wichtigen Botschaften hinterlässt diese Lektüre? Das Problem negativer Auswirkungen von technischen Neuerungen kann unter zwei Bedingungen auf friedlichem Wege gelöst werden: Erstens, wenn die Verlierer von den Gewinnern fair kompensiert werden; zweitens, wenn die Verlierer oder von der neuen Technologie bedrohten Menschen die reale Chance haben, an deren Einführung und Umsetzung teilzunehmen. Es stellt sich nämlich oft heraus, dass die Fähigkeiten und das Wissen der Verlierer willkommene Ergänzungen zu den von der Innovation verlangten neuen Fähigkeiten und Kompetenzen sind. Darüber hinaus braucht es lange Zeit, bis eine Erfindung – wenn überhaupt – zur massenhaften Anwendung gelangt. Wurde das erste Fließband schon im Jahr 1804 dokumentiert, so dauerte es doch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, um diese neue Technologie bei der Automobilherstellung auf breiter Basis anzuwenden.6

Aber warum hat dann die Aussage, dass 47 Prozent der Jobs von Computern gefährdet seien, einen solchen Anklang gefunden, dass sie in allen medialen Kanälen fast täglich präsent ist? Frey und Osborne liefern dafür ein starkes Argument. Die digitale Technologie ist – im Gegensatz zu früheren Wellen der Computerisierung – in der Lage, über maschinelles Lernen (ML) oder mobile Robotik (MR) nicht nur Routineaufgaben zu automatisieren, sondern auch manuelle und kognitive Nicht-Routineaufgaben zu übernehmen. Zwei generelle Strategien erlauben diesen revolutionären Schritt: Standardisierung der Umgebung und das weitere Herunterbrechen von komplexen in kleinere Aufgaben.

Zur Standardisierung der Umgebung gehören beispielsweise die Bereinigung, Begradigung und Ausweitung landwirtschaftlicher Kulturflächen. Es ist auch vorstellbar, dass künftig Postlieferungen, Catering oder andere Kurierdienste durch sich selbst steuernde Fahrzeuge geliefert werden, wenn nur die dazu erforderliche Verkehrsinfrastruktur (analog zu Eisen- und Autobahnen) eingerichtet wird.

Dagegen ist die Technik des 3D-Druckers das Paradebeispiel für die Reduzierung von Komplexität. »Anstelle von Schneiden, Drehen und Mahlen von Gegenständen, wie es in einer konventionellen Fabrik geschieht, um Material umzuwandeln, bis es die erwünschte Form hat, startet der 3D-Drucker mit nichts und fügt Schritt für Schritt das Material zur gewünschten Form zusammen. Dieser additive Prozess erfolgt nach Instruktionen durch ein Computerprogramm, das eine virtuelle Repräsentation des zu produzierenden Objekts enthält. Diese virtuelle Darstellung besteht in einer Serie von dünnen Schichten, die kontinuierlich reproduziert werden, bis die gewünschte Form komplett ist.«7 Darüber hinaus ist der 3D-Druck gegenüber spanenden Verfahren wie Fräsen oder Bohren nicht nur energetisch günstiger, sondern auch materialsparender. Er bietet auch die Möglichkeit, komplexere Formen aufzubauen als analoge Maschinen, die auf bestimmte Standards festgelegt sind.8

Ein anderes prototypisches Beispiel ist die Fähigkeit heutiger Computer, Massendaten von unvorstellbarem Umfang billig und schnell zu bearbeiten (Big Data), um beispielsweise aus einer Myriade von gespeicherten Übersetzungen Sprachprogramme zu konstruieren, mit deren Hilfe sich auch schwierigere Texte automatisch übersetzen lassen, für die früher spezialisierte oder professionelle Übersetzer notwendig waren. In ähnlicher Weise lassen sich Gesetzestexte oder richterliche Beschlüsse – zumindest teilweise – programmieren, die viele und durchaus hochprofessionelle Hilfs- oder gar Fachkräfte im Rechtswesen ersetzen können. Schließlich erlaubt die digitale Revolution nicht nur Ferndiagnosen, sondern auch Ferntherapien einschließlich komplizierter chirurgischer Eingriffe. Die folgende Matrix veranschaulicht diesen technologischen Quantensprung (Tabelle 1), wobei die Zuordnungen in vielen Fällen nicht eindeutig sind. Alle hier aufgeführten nicht-routinemäßigen Aufgaben enthalten Elemente von Routine, und umgekehrt ist etwa der Transport von Steinway-Flügeln keine bloße Routine.

Manuelle Aufgaben

Kognitive Aufgaben

Nicht-Routine

Lkw-Fahren, Gabel­stapeln, Kellnern, Reinigen

Lehren, Übersetzen, medi­zinische Diagnose, Rechtsauslegung

Routine

Nähen, ­Landarbeiten, ­Drehen, Sortieren, Transportieren

Kalkulieren, Buchhalten, Programmieren, Formu­lare ausfüllen

Tab. 1: Beispiele für menschliche Arbeit, die durch digitale Technologie ersetzbar wird

Quelle: G. Schmid, eigene Darstellung.

So weit, so gut. Wie steht es mit der Methodologie? In anderen Worten: Können wir uns auf die methodischen Grundlagen verlassen? Auf der Basis von US-Daten wählten Frey und Osborne 70 aus 903 Berufen aus (sechsstellige Klassifikation) und fragten Experten, inwieweit diese Berufe durch maschinelle und computergesteuerte Anlagen – also Automaten – übernommen werden könnten. Die Experten konnten ihre Meinung mit drei Wahrscheinlichkeiten zum Ausdruck bringen: niedrig, mittel, hoch. Die Resultate wurden auf alle Berufe übertragen, wobei Wahrscheinlichkeitsverfahren verwendet wurden, die für den Laien kaum verständlich und nachvollziehbar sind. Vermutlich verwendeten die Autoren bei der Übertragung auf andere Berufsfelder Ähnlichkeitsmaße, die mehr oder weniger auf Plausibilität (Alltagserfahrung) beruhen. Jedenfalls basiert die Methode auf Befragungen – letztlich also auf subjektiven Einschätzungen – und nicht auf empirischen Messungen vergangener Entwicklungen, die dann mit statistischen Wahrscheinlichkeitsverfahren auf die Zukunft projiziert werden.9

Nach dieser Operation konnten die Autoren alle Berufe zusammenfassen, die mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 70 Prozent automatisierbar sind. Dann brauchten sie nur noch die Zahl der Beschäftigten in diesen Berufen berechnen, um auf die ominöse Zahl von 47 Prozent zu kommen. Obwohl die Autoren selbst auf die unsicheren Grundlagen ihrer Methode verwiesen und ihre Schlussfolgerungen vorsichtig formulierten, blieb beim Publikum nur die zugespitzte Zahl hängen: Fast die Hälfte der Jobs (47 Prozent) könnte in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren verschwinden.

Die Autoren selbst machen auf wenigstens vier Vorbehalte zu ihren Ergebnissen aufmerksam: Erstens wurden nur die technischen Möglichkeiten eingeschätzt, aber nicht die ökonomische Machbarkeit, ganz abgesehen von der sozialen Akzeptanz. Auch wenn der Laufroboter »Atlas« mittlerweile einen Rückwärtssalto sicherer steht als Fabian Hambüchen, werden pflegebedürftige Omas oder Opas auf ihn verzichten. Zweitens gestehen sie, der Zeitraum von zehn bis 20 Jahren sei nur eine grobe Spekulation. Drittens wurden bei ihren Schätzungen makroökonomische Konsequenzen und Zusammenhänge (z. B. sinkende Preise durch höhere Produktivität und entsprechend höhere Nachfrage) nicht in Betracht gezogen. Schließlich, und viertens, weisen sie darauf hin, dass drei wichtige »Konstruktionsflaschenhälse« (engineering bottlenecks) zu überwinden wären, um die Potentiale der Computerisierung zu verwirklichen: Wahrnehmungs- und Bedienungsaufgaben; kreative Intelligenzaufgaben; soziale Intelligenzaufgaben.