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Das Buch vereint fünf Aufsätze von Mitgliedern der Studiengruppe „Frieden und Europäische Sicherheit“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler, die Informationen und Argumente liefern, um die Komplexität des gegenwärtigen Ukrainekrieges besser zu verstehen, die öffentliche Diskussion zu versachlichen und realistische Optionen für eine Beendigung des Krieges sowie für eine stabile Nachkriegsordnung vorzubereiten. Zu einer stabilitätsorientierten Friedenspolitik Europas gehören die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit in der NATO ebenso wie neue kooperative Sicherheitsansätze und vertragsbasierte Regelungen für ein künftiges Stabilitätsregime. Zudem werden die Sanktionspolitik des Westens und die globalen Konsequenzen und Herausforderungen für die Weltordnung kritisch betrachtet. Neben einem aktiven Konfliktmanagement und einer deeskalierenden Konfliktbewältigung darf das Ziel einer funktionierenden Sicherheits- und Friedensordnung in Europa durch ergänzende Regelungen zur UN-Charta nicht aus den Augen verloren werden. Abschließend werden Schlussfolgerungen für die künftige europäische und transatlantische Sicherheit und den Frieden vorgestellt. Mit Beiträge von Helmut W. Ganser (Brigadegeneral a.D., Diplom-Psychologe und -Politologe), Rüdiger Lüdeking (Botschafter a.D.), Hans-Jochen Luhmann (Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie), Wolfgang Richter (Oberst a.D. und Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik, GCSP), Jürgen Scheffran (em. Professor für Integrative Geographie der Universität Hamburg).
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Seitenzahl: 280
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Herausgegeben von Götz Neuneck (Vereinigung Deutscher Wissenschaftler), mit Beiträgen von Helmut Ganser, Rüdiger Lüdeking, Hans-Jochen Luhmann, Wolfgang Richter und Jürgen Scheffran.
Umschlagabbildung: rootstock (www.shutterstock.com)
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1. Auflage
© 2024 mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
www.mitteldeutscherverlag.de
Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
ISBN 978-3-96311-972-9
VORWORT
Ein Ende des furchtbaren Ukrainekrieges ist mehr als zwei Jahre nach Kriegsbeginn kaum absehbar – trotz internationaler Friedensbemühungen und zivilgesellschaftlicher Aufrufe an die Konfliktparteien. Konkrete Verhandlungen der direkten Kriegsparteien werden offiziell nicht geführt. Mit der Dauer des Krieges in Europa wachsen die Verluste und Kosten für die Konfliktparteien, für ein gemeinsames, friedliches Europa und die globale Sicherheit. Umso länger der Krieg dauert, umso mehr steigt auch die Gefahr einer unmittelbaren militärischen Auseinandersetzung zwischen Russland und den NATO-Staaten.
Das vorliegende Buch vereint fünf Aufsätze, die Informationen und Argumente für die interessierte Öffentlichkeit liefern, um die Komplexität des nicht nur für Europa erschütternden Konfliktes besser zu verstehen, die öffentliche Diskussion zu versachlichen, zu vertiefen, realistische Lösungsoptionen für eine Beendigung des Krieges vorzubereiten und langfristig den Rahmen für einen „umfassenden, gerechten und andauernden Frieden“ (VN-Resolution vom 16. Februar 2023) aufzuzeigen. Die Autoren dieses Sammelbandes zeichnen jeweils für ihren Beitrag verantwortlich.
Die Beiträge und die Schlussfolgerungen des Buches basieren auf einem intensiven Diskussionsprozess der Studiengruppe „Frieden und Europäische Sicherheit“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW). Die VDW wurde 1959 nach der Veröffentlichung der Göttinger Erklärung gegründet. Im Jahr 1957 hatten sich 18 prominente Atomwissenschaftler, darunter Nobelpreisträger wie Otto Hahn, Werner Heisenberg und Max von Laue, in einer gemeinsamen Erklärung gegen die Ausstattung der Bundeswehr mit atomaren Trägersystemen ausgesprochen. In einer Erklärung warnten die Wissenschaftler, die „Göttinger Achtzehn“, vor der unterschätzten katastrophalen Wirkung von Atomwaffen. Sie beriefen sich dabei auf ihre Verantwortung als Wissenschaftler für die Folgen ihrer Forschung. In dieser Tradition von verantwortlicher Wissenschaft steht die VDW bis heute.
Die öffentliche Debatte in Deutschland wird in erster Linie von eindimensionalen Forderungen nach einer militärischen Unterstützung der Ukraine dominiert. Danach ist der militärische Erfolg über Russland zwingend die Voraussetzung für eine dauerhafte Friedenslösung. Demgegenüber steht in der Öffentlichkeit eine Gruppe, die neben einer militärischen Unterstützung der Ukraine auch die Auslotung politisch-diplomatischer Wege zur zeitnahen Kriegsbeendigung für erforderlich hält. Diese Gruppe weist auch auf die anhaltend hohen Eskalationsrisiken des Konflikts und die möglichen damit verbundenen existenziellen Gefahren für ganz Europa hin. Die Autoren dieses Sammelbandes aus der VDW-Studiengruppe „Frieden und Europäische Sicherheit“ fühlen sich im realpolitischen Sinne eher diesem zweiten Ansatz verpflichtet, möchten aber durch sachliche Informationen zur öffentlichen Diskussion beitragen. Nur wer die tieferen Ursachen, die Vorgeschichte des Krieges und dessen Ablauf versteht, kann zu einer dauerhaften Lösung beitragen. Dies gilt sowohl für einen in jedem Fall nötigen Waffenstillstand als auch längerfristig für einen Vertrag, der die Grundlage für einen dauerhaften Frieden legt. Es sollte klar sein, dass der tiefgreifende Konflikt mit Russland nicht durch Waffenlieferungen und militärische Unterstützung allein gelöst werden kann. Insbesondere „die Zeit danach“ benötigt tragfähige Gedanken für eine neue Friedens- und Sicherheitsordnung, europäisch wie global.
Im ersten Beitrag von Botschafter a. D. Rüdiger Lüdeking wird die Vorgeschichte des russischen Angriffs auf die Ukraine beleuchtet. Selbst wenn aus dieser keine Legitimierung für den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine abgeleitet werden darf, so vermag sie doch in ihrer Vielschichtigkeit ein besseres Verständnis zu bestehenden Verantwortlichkeiten, Möglichkeiten einer Kriegsbeendigung sowie zur Gestaltung einer stabilen Nachkriegsordnung fördern. In dem Beitrag heißt es: „Ein Blick auf die Entwicklung der jüngeren Geschichte und der Ost-West-Beziehungen sollte einer nüchternen und realpolitischen Beurteilung der Vorgeschichte des Krieges, den Möglichkeiten zu dessen Beendigung wie auch dem Abbau einer unversöhnlichen Polarisierung in den westlichen Debatten den Weg bereiten.“
Der Beitrag von Oberst a. D. Wolfgang Richter widmet sich dem Kriegsverlauf in der Ukraine, den Optionen für eine Kriegsbeendigung sowie den Konsequenzen für mögliche Lösungen basierend auf bereits begonnenen Hintergrundgesprächen. Stabile Leitplanken für neue kooperative Sicherheitsansätze sind ebenso dringend nötig wie vertragsbasierte Regelungen für Stabilitätsregime in Europa. Lösungen können nur gefunden werden, so Richter, „wenn Verhandlungsinitiativen begonnen werden, statt sie auszuschließen.“
Neben der Unterstützung für die Ukraine setzt der Westen auf eine mehrphasige Sanktionspolitik. In dem dritten Beitrag von Dr. Hans-Jochen Luhmann werden unter den westlichen Sanktionen die Handelssanktionen herausgegriffen. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein zweischneidiges Schwert sind, da sie eine hohe Selbstschädigungskomponente haben und die Schädigung von Drittstaaten mit sich bringen, um deren Kooperation der Westen sich bemüht. Es wird verdeutlicht, dass Sanktionen dieses Typs gerade in Demokratien leicht zu delegitimieren sind. Sie sind schwer auf Dauer durchzuhalten und bieten sich auch deshalb geradezu an, in einen kooperativen Verhandlungsansatz eingebracht zu werden.
Der vierte Beitrag von Brigadegeneral a. D. Helmut Ganser analysiert die Stellung Europas und dessen Mitwirkungsmöglichkeiten in einer multipolaren Weltordnung: „Die europäische Sicherheit kann angesichts der Bedrohung durch die nukleare Supermacht Russland zumindest mittelfristig nicht ohne die militärpolitische Rückendeckung der USA aufrechterhalten werden.“ Die ethischen und psychologischen Dilemmata der nuklearen Abschreckung werden ebenso beschrieben wie die gefährliche Nuklearisierung des militärstrategischen Denkens der Atommächte, die durch verstärkte Rüstungskontrolle eingefangen werden muss, um ein teures Wettrüsten zu verhindern. Der aktuelle Zustand „prekärer Sicherheit“ Europas macht kurzfristig ein aktives Konfrontationsmanagement, eine verstärkte Verteidigungsfähigkeit und ein „behutsames Navigieren im neuen, tiefen Kalten Krieg zwischen Russland und dem Westen“ erforderlich. Der Autor betont aber auch: „In langfristiger Perspektive müssen Pfade zu einer Überwindung der entgegengesetzten Sicherheitsarchitekturen mit dem Fernziel einer erneuten gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsordnung offengehalten werden.“
Im Beitrag von Jürgen Scheffran wird eine „Zeitenwende“ in der Geopolitik für mehr kooperative Sicherheit und einen nachhaltigen Frieden eingefordert. Die Komplexität der aktuellen Polykrisen verdeutlicht die Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre. Um eine Transformation und eine effektive Risikoeindämmung zu erreichen, sind starke Vereinte Nationen sowie eine bessere transnationale Zusammenarbeit der Staaten und der Zivilgesellschaft nötig. Die Bewältigung planetarer Probleme wie Klimawandel, Pandemien, Migration und Biodiversität sind nur durch gemeinsame Kooperation zu erreichen.
Abschließend werden operative Schlussfolgerungen aus den einzelnen Beiträgen für die künftige europäische und transatlantische Sicherheit gezogen. Sie wurden von den Autoren dieses Sammelbandes erarbeitet und sind kein gemeinsam autorisierter Konsens aller Autoren oder der VDW-Studiengruppe.
Götz Neuneck
Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler
und Leiter der Studiengruppe „Europäische Sicherheit und Frieden“
INHALT
Rüdiger Lüdeking
Die Vorgeschichte des Ukrainekrieges
Wolfgang Richter
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine: Vorbereitung – Kriegsverlauf – Ressourcen – Risiken – Folgerungen
Hans-Jochen Luhmann
Sanktionen in einer Friedens- statt einer Straflogik – Europas „Energieembargo“ als Beispiel
Helmut W. Ganser
Europäische Sicherheit nach der „Zeitenwende“: Sicherheitspolitik zwischen Konfrontationsmanagement, dem Risiko eines Atomkrieges und neuen Versuchen kooperativer Stabilität
Jürgen Scheffran
Zeitenwende für eine neue Weltordnung? Geopolitik versus kooperative Sicherheit
Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe
Zu den Autoren
DIE VORGESCHICHTE DES UKRAINEKRIEGES
Rüdiger Lüdeking
1 Vorgeschichte, Schuld und Verantwortung
Die Vorgeschichte eines historischen Ereignisses soll banal gesprochen Aufschluss darüber geben, was zu diesem geführt hat. Im Falle des Ukrainekrieges gibt es zur Vorgeschichte eine Reihe von sehr grundsätzlichen, umstrittenen Fragen. Das beginnt schon mit der Klärung, wann überhaupt die Vorgeschichte einsetzt. Ist der Ursprung des Krieges in den Tiefen der slawischen Geschichte zu suchen, und liegt er inzwischen schon mehr als 1.000 Jahre zurück? Hat nicht Putin in abstruser Weise glauben zu machen versucht, dass bereits 988 n. Chr. mit der christlich-orthodoxen Taufe Wladimirs I., des Fürsten von Nowgorod und Großfürsten von Kiew, das russische und ukrainische Volk eins geworden seien? Oder ist der Beginn der Vorgeschichte erst mit dem Ende des Kalten Krieges anzusetzen, das mit der Auflösung von Warschauer Pakt und Sowjetunion einen markanten historischen Einschnitt markierte?
Zufälle und Wechselfälle einer langen Geschichte können im Heute nicht als legitime Begründungszusammenhänge für politisches oder militärisches Handeln gelten. Dies gilt zumal, wenn damit – wie dies Putin zu tun versucht – lediglich Eigenstaatlichkeit und Existenzrecht des Nachbarn Ukraine negiert werden sollen. Statt auf beliebige, allein zur Stützung von aktuellen Positionen herangezogene historische Ereignisse muss der aufgeklärte Blick sich auf die nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem nach dem Ende der Blockkonfrontation geschaffene Ordnung richten. Aber selbst dann gibt es unterschiedliche Blickwinkel, unter denen der Krieg betrachtet werden kann: Liegt er in der Konsequenz eines imperialen Revanchismus Russlands bzw. genauer Putins und seiner nationalistischen Entourage, oder ist er Folge einer naiven Politik westeuropäischer Staaten, die deutliche Anzeichen ignorierend Verteidigungsanstrengungen vernachlässigt und sich in wirtschaftliche, insbesondere energiepolitische Abhängigkeiten von Russland begeben haben? Oder war doch die aggressive NATO-Politik, die erklärte russische Sicherheitsinteressen und das Selbstverständnis Russlands als atomare Großmacht und deren Befindlichkeiten missachtete, entscheidend?
Die vorstehende Aufzählung deutet schon auf eine mögliche Vielschichtigkeit der Vorgeschichte hin, die jedoch in der aktuellen Diskussion kaum reflektiert wird. Dabei bleiben auch Fragen wie die Entwicklung der unternommenen Konfliktlösungsbemühungen wie der Minsk-Prozess oder der Zeitpunkt des Endes der Vorgeschichte (2014 oder 2022) unberücksichtigt. Vielmehr muss allzu häufig die Vorgeschichte des Krieges für eine einseitige Schuldzuweisung herhalten, was wiederum die in der westlichen Diskussion zu beobachtende Polarisierung verschärft. Der sich verstärkende diktatorische Charakter Russlands, die Unmenschlichkeit und Brutalität, mit der das Putin-Regime gegen Oppositionelle im eigenen Land vorgeht, tragen zunehmend dazu bei, dass inzwischen viele im Westen den Krieg als Kampf des Guten gegen das Böse sehen. Der Tod Nawalnys in einem arktischen Straflager, für den Putin verantwortlich ist, trägt zu dieser stark emotional aufgeladenen Sichtweise bei und wird entsprechend nachwirken. Dennoch: Eine derartige monokausale Sichtweise wird der Vielschichtigkeit der Vorgeschichte nicht gerecht. Auch darf sie den Blick für eine vorbehaltlose Aufarbeitung der Vorgeschichte nicht verstellen, die auch Standpunkt und Intentionen des „bösen“ Gegners berücksichtigen muss.
Die Vorgeschichte mag zwar Verantwortlichkeiten verdeutlichen, vor allem kann sie aber auch ein besseres Verständnis für Maßnahmen einer Kriegsbeendigung und Möglichkeiten für eine anzustrebende Verhandlungslösung fördern. Sie bietet jedoch keine Handhabe, den russischen Angriffskrieg zu entschuldigen. Er bedeutet einen eklatanten Bruch des für die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete internationale Ordnung zentralen Gewaltverbots.
Ein Blick auf die Entwicklung der jüngeren Geschichte und der Ost-West-Beziehungen sollte einer nüchternen und realpolitischen Beurteilung der Vorgeschichte des Krieges, Möglichkeiten zu seiner Beendigung wie auch dem Abbau einer unversöhnlichen Polarisierung in den westlichen Debatten den Weg bereiten.
2 Ende der Blockkonfrontation und Stabilisierungserfordernisse
Die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg sind geprägt durch die bipolare Weltordnung zwischen Ost und West, die nahezu alle Aspekte der internationalen Beziehungen bestimmt. Die Welt hat sich darauf eingerichtet, respektiert im Interesse der Vermeidung eines neuen, möglicherweise auch nuklear geführten großen Kriegs die roten Linien der jeweils anderen Seite und sucht vor allem seit Ende der 60er Jahre durch Dialog, Zusammenarbeit und auf die Gewährleistung eines nachhaltigen militärischen Gleichgewichts ausgerichtete Rüstungskontrollvereinbarungen schrittweise Vertrauen zu schaffen und Sicherheit und Stabilität trotz der zunächst unüberwindbar erscheinenden Konfrontation zwischen den „Systemen“ herzustellen. Der auf Entspannung ausgerichtete Politikansatz der USA und ihrer westlichen Verbündeten führt zusammen mit den zuvor forcierten Rüstungsanstrengungen der NATO, der zunehmenden wirtschaftlichen Schwäche und Überdehnung aufseiten der Sowjetunion und des Warschauer Paktes sowie dem diplomatischen Einlenken seitens der sowjetischen Führung unter Gorbatschow schließlich zu einer Überwindung der Blockkonfrontation und dem Ende des Kalten Kriegs; dabei setzen sich schon zuvor im KSZE-Prozess vereinbarte, ursprünglich vom Warschauer Pakt als rein rhetorische Zugeständnisse abgebuchte westliche Werte (vgl. KSZE-Schlussakte von 1975) als akzeptierte Maßstäbe durch.
Die neue, vor allem durch chaotische Verhältnisse und Zerfall gekennzeichnete Situation in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und des Warschauer Paktes erfordert mit Fingerspitzengefühl durchzuführende Stabilisierungsmaßnahmen. Dies bedeutet zunächst eine Absicherung der verbleibenden, aufgrund der politischen Auflösungserscheinungen in Ost- und Mittelosteuropa gegebenen Risiken. Dem wird durch die Aushandlung bzw. Inkraftsetzung von stabilisierenden Rüstungskontrollvereinbarungen – wie dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa, dem Vertrag über den Offenen Himmel, den START-I- und START-II-Verträgen zwischen den USA und der Sowjetunion bzw. Russland zur Reduzierung strategischer Trägermittel für Nuklearwaffen, den Nuklearinitiativen der Präsidenten der USA, der Sowjetunion und Russlands zur Reduzierung taktischer Nuklearwaffen wie auch dem Ausbau der vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen (Wiener Dokumente) – schon zu Beginn der 90er Jahre Rechnung getragen. Letztlich bilden diese Vereinbarungen, gemeinsam etwa mit dem schon 1987 abgeschlossenen Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF), die Voraussetzung für den reibungslosen Übergang in eine neue Phase, in der auch Deutschland die Möglichkeit sieht, seine Streitkräfte dramatisch zu reduzieren, ohne dass dies Einfluss auf seine Sicherheit und Stabilität hätte.
Daneben markiert die schon 1990 im KSZE-Rahmen vereinbarte „Charta von Paris für ein neues Europa“ das gemeinsame Bekenntnis zur Überwindung der Spaltung Europas und zu einer neuen Friedensordnung, die auf westlichen Werten wie Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit gründet. Das damit angelegte System kollektiver Sicherheit, in dem alle Staaten der KSZE (später OSZE) gemeinsam, gleichberechtigt und inklusiv für Frieden und Sicherheit untereinander sorgen sollen, bildet bis heute den Bezugspunkt für Verweise auf die Sicherheitsordnung, die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zerstört wird.
3 Helsinki- oder Jalta-Modell?
Der britische Zeithistoriker Timothy Garton Ash unterscheidet für die Zeit nach dem Kalten Krieg zwischen dem sogenannten Helsinkioder Jalta-Modell: Das erste geht von der Schaffung gleicher, unabhängiger, demokratischer Staaten aus, die der Rechtsstaatlichkeit und friedlichen Konfliktregelung verpflichtet sind. Demgegenüber besteht das zweite schlicht in einer Aufteilung Europas in Einflusszonen. Für das erste Modell steht die KSZE/OSZE als kollektives Sicherheits-system; im Idealfall wäre dies das zu verfolgende Entwicklungsziel für Europa, aber auch generell darüber hinaus. Doch ist die Erreichung dieses Ziels realistisch?
Schon in den 90er Jahren hat die KSZE/OSZE keinen hohen politischen Stellenwert; sie wird dann nach der Jahrtausendwende zunehmend marginalisiert. Die NATO als konfrontativ nach außen gerichtetes Verteidigungsbündnis bleibt die dominierende Sicherheitsorganisation für Europa. Unmittelbar nach Ende des Kalten Kriegs schon suchen ehemalige Staaten des Warschauer Paktes wie einige Nachfolgestaaten der Sowjetunion einen Beitritt zur NATO, um sich vor Russland zu schützen. Sie sehen in der Bündnismitgliedschaft ein zentrales Mittel zur Sicherung der neu gewonnenen Freiheit. Aufgrund historischer Erfahrungen sitzt die Abneigung gegenüber Russland sehr tief.
Die NATO entspricht diesem Interesse und entscheidet sich schon in den 90er Jahren für den Stabilitätsexport nach Osteuropa durch die NATO-Erweiterung (unter Einschluss der Beistandsgarantie nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrags). Im Kern entspricht diese Entscheidung für einen Erweiterungsprozess, der letztlich die europäische Sicherheitsordnung mehr als die Charta von Paris und alle anderen Grundlagendokumente der KSZE/OSZE prägt, dem Jalta-Denken in Einflusszonen.
Die NATO-Erweiterung wird zunächst mit großer Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten Russlands durchgeführt. Diese findet ihren Niederschlag im 2 + 4-Vertrag von 1990 und in der NATO-Russland-Grundakte von 1997. Dabei geht es neben einer ausdrücklichen Sicherheitspartnerschaft mit Russland auch um konkrete einseitige militärische Zurückhaltungsverpflichtungen, mit denen die Wiedervereinigung Deutschlands bzw. die Erweiterung der NATO in einem ersten Schritt um Polen, Tschechien und Ungarn sicherheitspolitisch abgefedert werden sollen (u. a. Verzicht der NATO auf Stationierungsstreitkräfte und Atomwaffen in den neuen Bundesländern; Verzicht auf Stationierung von substanziellen Kampftruppen wie Atomwaffen in den neuen Mitgliedsländern der NATO).
Bemerkenswert ist, dass trotz dieser „Abfederungsmaßnahmen“ die NATO-Erweiterung auf entschiedenen Widerstand vieler einer Beschwichtigung gegenüber Russland nicht verdächtiger Persönlichkeiten gerade in den USA stößt. Dazu gehören etwa der ehemalige Verteidigungsminister Robert McNamara, Senator Sam Nunn, der langjährige Abrüstungsverhandler Paul Nitze und auch der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan, der als Urheber der von den USA seit 1947 während des Kalten Kriegs verfolgten Containment-Politik „zur Eindämmung des sowjetischen Imperialismus“ gilt. Kennan bezeichnet 1997 die NATO-Erweiterung als „verhängnisvollsten Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg“ und führt hierzu begründend aus, dass „diese Entscheidung erwarten lasse, dass die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der Meinung Russlands entzündet werden; dass sie einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Beziehungen zwischen Osten und Westen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in Richtungen zwingen, die uns entschieden missfallen werden.“ Diese Auffassung ist vor dem Hintergrund gerade auch der von der neuen Bundesregierung verfolgten wertebasierten Außenpolitik von Interesse, zählt sich Kennan doch zur realistischen Denkschule in der Politikwissenschaft, die auf das Überleben des eigenen Staates auch durch Bereitstellung notwendiger militärischer Machtmittel setzt. Diese Denkschule grenzt sich bewusst von einem optimistisch geprägten Idealismus ab.
4 Neue US-Sicherheitspolitik und NATO-Erweiterung nach der Jahrtausendwende
Selbst wenn schon Boris Jelzin Vorbehalte gegen die NATO-Erweiterung hatte, so verschärft sich der Ost-West-Gegensatz mit den Amtsantritten der Präsidenten Wladimir Putin und George W. Bush 2000/01. Bush sieht einen unipolaren Moment in den internationalen Beziehungen gekommen; die USA wähnt er in der Lage und berufen, die internationalen Beziehungen zu dominieren. Damit einher geht ein hochmütiges Absehen von während des Kalten Kriegs gerade auch von westlicher Seite viel beschworenen Rücksichtnahmen. So setzt Bush jetzt statt auf militärisches Gleichgewicht auf Überlegenheit der amerikanischen Streitkräfte zur Wahrung von Sicherheit.
Die sicherheitspolitische Neuausrichtung der US-Administration unter George W. Bush ist auf Stabilisierung und Ausweitung der US-Hegemonie ausgerichtet. Dies lässt sich nicht nur an den Planungen für eine erhebliche Steigerung der Verteidigungsausgaben ablesen. Neu ist auch die durch die Anschläge des 20. September 2001 geförderte neue Aggressivität der US-Außenpolitik. Diese findet nicht nur ihren Ausdruck in dem Präventivkrieg gegen den Irak 2003; interessant ist gerade auch im Verhältnis zu Russland das Setzen auf eine forcierte NATO-Erweiterung sowie die Wiedererlangung maximaler politischer Handlungsfreiheit.
Auf den Punkt gebracht könnte man es als größtes Versäumnis in der Zeit nach dem Kalten Krieg bezeichnen, dass es nicht gelungen ist, Russland einen angemessenen Platz in der europäischen Sicherheitsordnung zuzumessen. Zwar hat es in den 90er Jahren auch Debatten zu einer russischen NATO-Mitgliedschaft gegeben. Diese wurden jedoch nicht weiterverfolgt. Vielmehr suchten insbesondere die Staaten Mittelosteuropas durch ihren NATO-Beitritt gerade Schutz vor Russland, unter dessen oppressiver Knute sie die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verbringen mussten. Aber auch Russland sah durch sein Selbstverständnis als Großmacht letztlich keinen Platz in der NATO; vielmehr wurden schon die ersten NATO-Erweiterungen als Veränderungen des Status quo zulasten Russlands gesehen.
5 Beispiel der „rüstungskontrollpolitischen Zeitenwende“
Selbst wenn die neuen NATO-Osterweiterungen und die Planungen insbesondere zur Aufnahme der Ukraine und Georgiens heute besondere Aufmerksamkeit erwecken, so illustriert das Beispiel der Rüstungskontrolle das seit George W. Bush geänderte sicherheitspolitische Selbstverständnis der USA.
Bush beginnt schon sehr früh nach seinem Amtsantritt damit, als Einschränkung amerikanischer Handlungsfreiheit empfundene Verpflichtungen im Bereich der Rüstungskontrolle systematisch und ohne viel Federlesens abzustreifen. Er kündigt noch im Dezember 2001 den 30 Jahre zuvor mit der Sowjetunion abgeschlossenen Vertrag über die Begrenzung von ballistischen Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag), der die Grundlage für die strategische Stabilität zwischen beiden Großmächten bildet. Dies markiert jedoch keinen Einzelfall: Sukzessive werden unter seiner Ägide und der von Präsident Donald Trump die zentralen rüstungskontrollpolitischen Vereinbarungen mit Russland „abgeräumt“. Dies betrifft auch den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa von 1990, der gemeinhin mit dem in ihm festgelegten Gleichgewicht bei fünf wesentlichen Waffensystemen (Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artillerie, Kampfhubschrauber, Kampfflugzeuge) als „Eckstein europäischer Sicherheit“ bezeichnet wird. Das noch 1999 vereinbarte Anpassungsabkommen, mit dem der Vertrag durch die Vereinbarung von nationalen Obergrenzen zu den fünf Waffenkategorien an die nach dem Ende des Kalten Kriegs grundlegend veränderten Verhältnisse angepasst wird, wird von den NATO-Staaten nicht ratifiziert. Zudem wird der Vertrag über den Offenen Himmel (1992) von den USA 2020 gekündigt.
Auch bei der nuklearen Rüstungskontrolle gib es einen entscheidenden Einschnitt: Präsident Trump erklärt 2019 den Ausstieg aus dem 1987 geschlossenen INF-Vertrag, mit dem erstmals eine ganze Kategorie von nuklearen Trägersystemen, bodengestützte ballistische Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 km, abgeschafft wurde. Die russische Vertragsverletzung, die als Begründung für die amerikanische Vertragskündigung herhält, ist vermutlich zutreffend, wird jedoch nicht mit letzter Konsequenz kooperativ aufgeklärt. Dies mag auch dem generellen Desinteresse der Trump-Administration an Rüstungskontrolle zugeschrieben werden. So hat Trump auch kein Interesse daran, ein Nachfolgeabkommen zum New-START-Vertrag über die Reduzierung strategischer Waffen auszuhandeln, was er damit begründet, dass China sich weigere, in einen derartigen Vertrag eingebunden zu werden. Letzteres war auch kaum zu erwarten, da China über ein ungleich kleineres nukleares Potenzial verfügt und stets erklärt hat, erst nach Reduzierung der russischen und US-amerikanischen Potenziale auf sein Niveau zu rüstungskontrollpolitischen Vereinbarungen bereit zu sein.
Wird durch eine bilaterale Vereinbarung Anfang 2021, nach dem Amtsantritt von Präsident Biden, der New-START-Vertrag um fünf Jahre verlängert, so werden von Präsident Biden bzw. seinem demokratischen Vorgänger Obama jedoch die zuvor von Trump bzw. Bush gekündigten Rüstungskontrollübereinkünfte nicht wiederbelebt. Dies zeigt, dass Rüstungskontrolle als Mittel zur Vertrauensbildung, Stabilisierung des militärischen Kräfteverhältnisses, „Rückversicherung“ gegen militärische Risiken sowie Gestaltung verbesserter, auf gemeinsamen Regeln basierenden Sicherheitsbeziehungen für die USA keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle spielt. Damit werden nicht nur die Möglichkeiten zur kooperativen Faktenklärung und vielleicht auch der Entspannung im Vorfeld des Kriegs reduziert. Für Russland bildet die amerikanische Absage an die Rüstungskontrolle eine Herausforderung, gerade da es sich in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Ende der Blockkonfrontation in einer militärisch schwachen Position sieht. Zudem gefährden aus seiner Sicht die amerikanische Aufrüstung und die Anstrengungen zur Raketenabwehr seine Sicherheit bzw. seine Rolle als nukleare Großmacht auf Augenhöhe. Beteuerungen, dass die USA wie die NATO keine Bedrohungen für Russland darstellen, verfangen nicht. Hierzu mögen der Irakkrieg wie auch die amerikanische Parteinahme und Involvierung im Kosovokrieg beigetragen haben.
Hatten Rüstungskontrollelemente in den der NATO und den USA im Dezember 2021 von Russland übermittelten Abkommensentwürfen noch einen Platz (u. a. Forderungen nach einem Verzicht auf Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa sowie auf Durchführung von militärischen Übungen auf Brigadeebene nahe der russischen Grenze), so ist nach Ausbruch des Krieges die Konfrontation so stark gewachsen, dass inzwischen Russland mit den USA gleichzuziehen trachtet (im November 2023 Rücknahme der Ratifikation des Atomteststopp-Abkommens CTBT, das auch von den USA nicht ratifiziert wurde) bzw. selbst auf nuklearstrategischer Ebene wenig Kooperationsbereitschaft zeigt, was sich u. a. an der am 23. Februar 2023 von Russland erklärten Aussetzung des New-START-Vertrags ablesen lässt. Damit ist eine mögliche Verlängerung des Vertrags, die im Februar 2026 ansteht, offen. Der Niedergang der Rüstungskontrolle, die eine zentrale Rolle im Kalten Krieg gespielt hat, wird die Situation nach Ende des Krieges in der Ukraine gerade in Europa noch gefährlicher machen; zudem könnten dadurch dem Wettrüsten wieder Tür und Tor geöffnet werden.
6 Putins Großmachtanspruch und Reaktion auf die westliche Sicherheitspolitik
Putin geht es letztlich um die Anerkennung und Wahrung des Großmachtstatus Russlands auf Augenhöhe mit den USA. Letztere weisen dies jedoch faktisch zurück; sie sehen in Russland lediglich eine „Regionalmacht“, wie es selbst noch Präsident Obama formuliert.
Die zweite NATO-Osterweiterung erfolgt 2004 – anders noch als in den 90er Jahren – ohne für Russland abfedernde, die NATO einseitig bindende militärische Zurückhaltungsverpflichtungen. Sie umfasst die baltischen Staaten sowie Bulgarien, Rumänien, Slowenien und die Slowakei; damit rückt die NATO in die unmittelbare Nachbarschaft Russlands. Trotz entschiedener Ablehnung sucht Putin darauf zunächst noch verhalten zu reagieren. Er betont, dass Russland sich keine Sorgen um seine Sicherheit mache. Dennoch: Nachdem Putin noch zu Beginn seiner Amtszeit den Eindruck eines Demokraten und Reformers zu erwecken sucht und sich als Partner anbietet, so kehrt er im späteren Verlauf – vermutlich begünstigt durch den wirtschaftlichen Aufschwung Russlands – den Machtpolitiker heraus.
Zwar schließt Russland 1990 und 1997 Freundschaftsverträge mit der Ukraine ab, erkennt 1994 im Budapester Memorandum die ukrainische Souveränität und territoriale Integrität an und gibt Sicherheitsgarantien ab. Und noch 2003 schließt Putin mit seinem ukrainischen Amtskollegen Kutschma den russisch-ukrainischen Grenzvertrag ab, der den Verlauf der Grenze mit Russland im Osten der Ukraine festlegt. Aber Ende 2004 ändert sich mit der Wahl des prowestlichen Kandidaten Juschtschenko zum Präsidenten der Ukraine das russisch-ukrainische Verhältnis grundlegend. Putin befürchtet jetzt offenbar, dass sich die Ukraine aus dem russischen Einflussbereich lösen und sich dem Westen, der EU zuwenden könnte.
2007 beklagt sich Putin bei der Münchener Sicherheitskonferenz bitter über die Missachtung russischer Interessen. Er bezeichnet die NATO-Osterweiterung als Provokation und geißelt die amerikanische Raketenabwehr als „Katalysator des Wettrüstens“. Das ist eine deutliche Kampfansage an den Hegemon USA. Dieser Paukenschlag kommt für viele im Westen überraschend; er bleibt jedoch wie auch der russische Versuch, 2008 durch den Vorschlag zu einem Vertrag über europäische Sicherheit den Fokus wieder stärker auf eine inklusive kollektive Sicherheitsordnung für Europa zu lenken, leider unbeantwortet.
Dass der aggressive sicherheitspolitische Ansatz der USA, die spätestens seit 2007 auf eine rasche Erweiterung der NATO um die Ukraine und Georgien drängen, eine Gefahr für die europäische Sicherheit bedeutet, ist Bundeskanzlerin Merkel und dem französischen Präsidenten Sarkozy sehr wohl bewusst. Sie wenden sich deshalb beim NATO-Gipfel 2008 gegen die entschiedene Forderung von Bush, den Beitritt beider Länder sofort ins Werk zu setzen. Merkel und Sarkozy erreichen für die Abschlusserklärung eine Kompromissformulierung, die den Beginn eines Beitrittsprozesses zunächst blockiert. Dennoch bleibt die explizite Aussicht auf eine NATO-Mitgliedschaft beider Länder.
Nach den chaotischen Jelzin-Jahren sieht Putin Russland jedoch in kurzfristiger Perspektive weder wirtschaftlich noch militärisch kaum in der Lage, seinen Interessen Geltung zu verschaffen. Allerdings markiert er durch militärische Interventionen 2008 in Georgien (in Reaktion auf eine georgische Militäroffensive gegen das abtrünnige Südossetien) und 2014 in der Ukraine rote Linien für die NATO-Erweiterung. Dabei ist unerheblich, ob er den Nichtbeitritt beider Staaten zur NATO aus Gründen der Sicherheit Russlands (Wahrung eines „Glacis“) oder eines Revisionismus forderte, der sich in einem Artikel im Jahre 2021 der völlig verqueren, die Nichtstaatlichkeit der Ukraine behauptenden Argumentation bediente.
Auffällig ist, dass Putin konsequent und mit langem Atem seine Ziele verfolgt. Als Beispiel sei nur auf die russischen Bemühungen hingewiesen, nach der amerikanischen Kündigung des ABM-Vertrags 2001 einen befürchteten Verlust der russischen Zweitschlagsfähigkeit und damit den Abstieg als Großmacht zu verhindern. Ist zu Beginn der 2000er Jahre Russland zu schwach, um der Raketenwehr etwas Wirksames entgegenzusetzen, so trachtet Putin schon früh, durch neue Trägermittel die amerikanische Raketenabwehr überwinden zu können. Aber es braucht Zeit; so stellt Putin erst 2018 neuartige Systeme vor, die dieses Ziel erfüllen sollen, darunter eine Hyperschallrakete, eine neue endphasengesteuerte Interkontinentalrakete und einen nuklear bestückten Unterwassertorpedo.
Auch vor dem Angriff auf die Ukraine hat Putin vermutlich lange auf ein Einlenken des Westens in der Erweiterungsfrage und zusätzliche Versicherungen und rüstungskontrollpolitische Vereinbarungen gesetzt. Gleichzeitig ist er doch auch bereit, nach einem Wiedererstarken der russischen Streitkräfte letztendlich militärische Mittel zur Erreichung seiner Ziele einzusetzen.
7 Maidan, Minsk und die Folgen
2014 ist ein entscheidendes Jahr, aus dem klare Schlüsse zu roten Linien, den revisionistischen Zielen und der Entschlossenheit Russlands hätten gezogen werden können. Ausgelöst durch die überraschende Erklärung der ukrainischen Regierung, das geplante Assoziierungsabkommen mit der EU doch nicht unterzeichnen zu wollen, finden bereits ab 21. November 2013 Demonstrationen auf dem Maidan in Kiew statt. Unter dem Eindruck exzessiver Polizeigewalt eskalieren die Proteste. Infolgedessen flieht der ukrainische Präsident Janukowytsch Ende Februar 2014 nach Russland und wird anschließend vom ukrainischen Parlament für abgesetzt erklärt.
Um die Ereignisse ranken sich eine Vielzahl von Vermutungen und verschwörungstheoretischen Behauptungen. Diese sollen hier nicht Gegenstand der Kommentierung sein. Denn: Unabhängig davon, ob man der These massiver Einflussnahme der USA oder Putins Vorwurf Glauben schenkt, dass es sich um einen verfassungswidrigen Putsch handelt, die Ereignisse sind Ausdruck eines Wettbewerbs um Einflusszonen. So versucht Russland bereits Monate vor der geplanten Unterzeichnung mit wirtschaftlichen Maßnahmen wie Importsperren, die Ukraine einseitig an die von Russland dominierte Eurasische Wirtschaftsunion zu binden.
In der Folge der Maidan-Proteste beginnt Russland noch im Februar 2014 mit einer verdeckten militärischen Operation auf der Halbinsel Krim, die nach einem kurzfristig angesetzten Referendum am 18. März annektiert wird. Selbst wenn das Referendum völkerrechtswidrig ist und dessen offizielles Ergebnis, nach dem sich über 95 Prozent der Teilnehmer für eine Wiedervereinigung mit Russland ausgesprochen haben sollen, wenig glaubhaft erscheint, so ist doch zu vermuten, dass eine Mehrheit der Bewohner für einen Anschluss an Russland war. Hier stellt sich die Frage, ob die ukrainische Regierung genug getan hat, um die russische Bevölkerung im Osten und Süden des Landes zu integrieren und für sich einzunehmen. Ohnehin konnte die verdeckte russische Operation auf der Krim nicht ohne Kollaboration vieler Menschen (insbesondere auch Militärs) dort so rasch so erfolgreich sein. Auch im Donbass muss für den dortigen Krieg, der etwa gleichzeitig mit der Annexion der Krim einsetzt, angenommen werden, dass es unter ihn zu Beginn tragenden separatistischen Elementen deutliche Sympathien für Russland gibt. Schließlich ist trotz der Frustration über separatistische Tendenzen zu bezweifeln, dass das neue, 2019 angenommene Sprachengesetz, das den öffentlichen Gebrauch der russischen Sprache in der Ukraine reduzieren oder unterbinden soll, die Formung einer einheitlichen ukrainischen Nation fördert. Es dürfte doch von den vielen Ukrainern, die ausschließlich das Russische als Alltagssprache nutzen, als diskriminierend empfunden worden sein und Ressentiments ausgelöst haben.
Diplomatische Bemühungen zur Beendigung des russisch-ukrainischen Konfliktes finden nach der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion und dem Beginn der separatistischen Kämpfe im Donbasss im sogenannten Normandie-Format (Ukraine, Russland, Deutschland, Frankreich) statt. In diesem Kreis werden die Minsk-Vereinbarungen im September 2014 und Februar 2015 verhandelt. Als Ergebnis der Bemühungen kann vorübergehend eine weitere Eskalation verhindert werden; zudem werden Strukturen für die Überwachung eines Waffenstillstands (OSZE-Beobachtungsmission in der Ukraine) und die Aushandlung einer Konfliktlösung geschaffen. Obwohl die gerade durch die OSZE-Beobachtermission erbrachten Erkenntnisse und die von ihrer ständigen Beobachtung ausgehenden deeskalierenden Wirkungen nicht unterschätzt werden dürfen, werden die verfolgten Ziele nicht erreicht, was nicht nur an strukturellen Defiziten (vgl. u. a.: Russland ist nicht als Konfliktpartei, sondern als Vermittler beteiligt, der sich hinter den separatistischen Rebellen verstecken konnte) liegt. Auch ist offenkundig, dass sowohl Russland wie auch die Ukraine einige für eine nachhaltige Lösung nötige Erfordernisse nicht erfüllen können oder wollen (vgl. u. a. den Status der Oblaste Donezk und Luhansk).
8 Diskussion zu westlichen Fehlern und Verantwortlichkeiten
Die stark emotional-moralisch geprägte Debatte im Westen im Vorfeld des Ukrainekrieges nimmt Partei für die Ukraine, scheint jedoch den drohenden Ausbruch eines Krieges und damit verbundene militärische Eskalationsgefahren kaum wahrhaben zu wollen. Nicht nur nimmt sie sehr kritisch das russische Drohgehabe in den Blick. Selbstkritisch befasst sie sich auch mit den Defiziten der vom Westen gegenüber Russland verfolgten Politik. Dabei fällt auf, dass je nach Positionierung bestimmte Aspekte in den Vordergrund gerückt werden; die vielfach einseitige Gewichtung bzw. eindimensionale Betrachtung führt zu einer Polarisierung, die bis heute charakteristisch ist. Unter anderem werden die folgenden Argumentationsmuster in den Vordergrund gestellt:
• NATO-Osterweiterung: Darin sieht eine Reihe von Beobachtern den Hauptgrund für den Konflikt. Sie argumentieren, dass sich Russland durch die gerade von den USA forcierte Erweiterungsdebatte, die betonte Heranführung der Ukraine an die NATO (Aufnahme in das Enhanced Opportunities Program, Möglichkeit der Teilnahme an NATO-Übungen) sowie amerikanische Waffenlieferungen und militärische Ausbildungsprogramme für die Ukraine herausgefordert sehen musste und sich deshalb zur Eskalation entschlossen hat. Demgegenüber hat die NATO wiederholt – noch am 16. Dezember 2021 auf Außenministerebene – erklärt, dass ein NATO-Beitritt allein eine Sache zwischen der NATO und der Ukraine sei. Einer prinzipielllegalistischen Argumentation steht jedoch die Interpretationsfähigkeit der zentralen OSZE-Dokumente entgegen. Zwar ist die Bündnisfreiheit in der OSZE verbrieft; allerdings beruft sich Russland auf die in der Europäischen Sicherheitscharta der OSZE aus dem Jahr 1999 enthaltene Formulierung, dass die Mitgliedstaaten ihre Sicherheit nicht auf Kosten anderer Mitgliedstaaten festigen dürfen. Ebenso wenig weiterführend ist die Postulierung eines Verbots von Einflusszonen, selbst wenn dieses als Anspruch in den zentralen OSZE-Dokumenten enthalten ist. Faktisch betrachten sich die NATO und Russland als Gegner und konkurrieren um Einfluss im postsowjetischen Raum. Diejenigen, die in der NATO-Erweiterung die Hauptursache für den Konflikt sehen und entsprechend den Verzicht auf eine Aufnahme der Ukraine als Bestandteil einer Lösung fordern, werden als „Putin-Versteher“ und unter Verweis auf das Münchener Abkommen 1938 als Beschwichtiger (Appeaser) diffamiert. Diese Sicht übersieht die zentrale Bedeutung der Frage für Putin. Zudem verkennt sie, dass Appeasement nicht per se verabscheuungswürdig ist, was auch Winston Churchill so gesehen hat: „Appeasement für sich ist weder gut noch schlecht, es kommt ganz auf die Umstände an. Appeasement aus Schwäche oder Furcht ist zu gleichen Teilen vergeblich und tödlich. Appeasement aus Stärke dagegen ist großherzig und nobel, und kann möglicherweise der sicherste und vielleicht einzige Pfad zum Weltfrieden sein.“
• „Wandel durch Handel“: Eine Reihe von Beobachtern sieht weniger ein Problem in der NATO-Erweiterung, sondern stellt selbstkritisch das Prinzip „Wandel durch Handel“ infrage. Dabei gerät besonders nach 2014 die energiepolitische Abhängigkeit von Russland und das Festhalten der Bundesregierung am Bau der Nord-Stream-2-Pipeline ins Visier der Kritiker. Das Argument, dass wirtschaftliche Abhängigkeiten keine politische Annäherung bringen, enthält in der vorgetragenen kategorischen Form ein Abgehen von einem bewährten Prinzip, das auch bei der Überwindung des Kalten Krieges eine Rolle gespielt hat. Es handelt sich um ein politisches Konzept, für das Egon Bahr bereits 1963 geworben hat, das jedoch besser mit dem Begriff des „Wandels durch Annäherung“ beschrieben ist, da es nicht nur auf ökonomische Aspekte beschränkt sein soll. Im Vertrauen auf die eigene Stärke und die Attraktivität von Demokratie und Freiheit wirbt Bahr für eine selbstbewusste Öffnung für die gegnerische Seite und ein Abgehen von einer im Kern konfrontativen Politik des alles oder nichts in der Ostpolitik. Auch in ökonomischer Hinsicht hat sich dieser Politikansatz bewährt. Man denke schon an die sowjetisch-deutschen Erdgas-Röhren-Geschäfte, die bereits zu Beginn der 70er Jahre vereinbart wurden und einen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie geleistet haben. Über Jahrzehnte hat Deutschland auf verlässliche Energielieferungen aus der Sowjetunion/Russland bauen können. Jetzt, nachdem sie durch westliche Sanktionen gegen Russland unterbunden sind, wachsen sich die deutlich erhöhten Energiekosten zu einem signifikanten Standortnachteil aus; die Gefahr einer „Deindustrialisierung“ fordert den Staat zum Handeln. Sicherlich sind einseitige Abhängigkeiten in strategisch-zentralen industriellen Bereichen zu vermeiden und nach Möglichkeit abzubauen (schon die Steinkohleförderung in Deutschland wurde über viele Jahre unter Verweis darauf, dass es sich um eine strategische Ressource handelt, subventioniert). Dennoch bleibt das Faktum, dass für ein rohstoffarmes Industrieland wie Deutschland wirtschaftliche Abhängigkeiten nicht gänzlich zu umgehen sein werden. Zudem bleibt aber auch das Prinzip des „Wandels durch Annäherung“ trotz Putin richtig. Es kann dazu beitragen, Wohlstand zu schaffen, (auch dadurch) Konfrontationen abzubauen oder zu überwinden und damit einem entspannteren internationalen Miteinander den Weg zu bereiten. Es bedarf jedoch des realpolitischen Augenmaßes und einer illusionslosen, vorausschauenden Politik, um sich nicht erpressbar zu machen. Mit Sanktionen oder einem Wirtschaftskrieg – so auch die bisherigen Erfahrungen – lassen sich Gegner nicht einfach in die Knie zwingen.