Europäische Völker im frühen Mittelalter - Patrick J. Geary - E-Book

Europäische Völker im frühen Mittelalter E-Book

Patrick J. Geary

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Beschreibung

Die romantische politische Philosophie des 19. Jahrhunderts versuchte, nationale Souveränitätsansprüche möglichst tief in der Geschichte zu verankern. Tatsächlich sind die Völker Europas nicht sonderlich alt: Sie sind vielmehr das Ergebnis ausgedehnter Durchmischungsprozesse, die heute keine historischen Machtansprüche legitimieren können. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 306

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Patrick J. Geary

Europäische Völker im frühen Mittelalter

Zur Legende vom Werden der Nationen

Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Vorspohl

FISCHER Digital

Inhalt

Europäische GeschichteEinleitung: Die Krise der europäischen IdentitätEthnizität und Nationalismus im 19. JahrhundertEthnischer Nationalismus und das Zeitalter der RevolutionGruppenidentität vor dem NationalismusRevolutionärer ChauvinismusPhilologie und NationalismusEine gefährliche ErbschaftEthnoarchäologieDer GiftmüllVerwirrung zwischen Vergangenheit und GegenwartDie Erfindung der Völker in der AntikeNaturvölker und das Volk der RömerHerodots ErbenDie Gentes und der PopulusDie Ungläubigen und das Volk GottesSoziale Identität in der christlichen AntikeKlassische Ethnographie und die Wanderungen der BarbarenDie Völker Europas in der SpätantikeBarbaren und andere RömerKlasse, regionale und religiöse Identität im KaiserreichDas römische ZentrumSoziale Identität in der barbarischen WeltKrise und RestaurationRestauration und TransformationInnere TransformationNeue Barbaren und neue RömerDas Bündnis der HunnenBarbarische Ethnogenese im ImperiumRömische Provinzialen im 5. und 6. JahrhundertNeues Land und neue IdentitätBarbarische Ethnogenese im NordenSchlußfolgerung: alte Namen und neue VölkerDie letzten Barbaren?Verschmelzungsprozesse innerhalb der westlichen KönigreicheDas Langobardenreich in ItalienWestgotisches SpanienFränkische Identität bis zum 8. JahrhundertDie neue barbarische WeltNeue europäische VölkerAbschließende ÜberlegungenEuropäer als ZuluZulu und EuropäerAnhangZeittafelAuswahlbibliographieI. Der moderne Hintergrund der europäischen NationalmythenII. Ethnogenese der Europäer in der SpätantikeDankRegister

Europäische Geschichte

 

Herausgegeben von Wolfgang Benz

 

Konzeption: Wolfgang Benz, Rebekka Habermas und Walter H. Pehle

 

Wissenschaftlicher Beirat:

 

Natalie Zemon Davis, Princeton/Toronto

Richard van Dülmen, Saarbrücken

Richard J. Evans, Cambridge

Bronislaw Geremek, Warschau

Hermann Graml, München

Eric J. Hobsbawm, London

László Kontler, Budapest

Arno J. Mayer, Princeton

Wilfried Nippel, Berlin

Jean-Claude Schmitt, Paris

Einleitung: Die Krise der europäischen Identität

Wenn Westeuropäer in die Zukunft blickten, galten ihre Gedanken noch vor wenigen Jahren praktisch ausschließlich der endgültigen Verwirklichung der Wirtschafts- und Finanzreformen, die 1992 von der Europäischen Union beschlossen worden waren. Die einen freuten sich auf die Währungseinheit, die Aufhebung innereuropäischer Zollschranken und die freie Beweglichkeit der Bürger. In anderen weckten diese Aussichten ein gewisses Zaudern oder sogar Angst. Im großen und ganzen jedoch betrachteten die in der EU zusammengeschlossenen Staaten die europäischen Probleme in einer sehr beschränkten Perspektive. Erstens vertraten sie eine bemerkenswert engstirnige Auffassung dessen, was Europa konstituierte. Zweitens sahen sie ihre Herausforderungen eher in den ökonomischen Problemen der Zukunft als in den hochgradig emotional besetzten Problemen der Vergangenheit. Allein der Name ihrer Organisation verriet die sorglose Kurzsichtigkeit, die durch die politische Konfiguration der Nachkriegszeit ermöglicht worden war. Die »Europäische Gemeinschaft« war keineswegs eine europäische Gemeinschaft. Es war in Wirklichkeit die westeuropäische Gemeinschaft, der allein schon der Beitritt Griechenlands erhebliche Probleme bereitet hatte. Für die beteiligten Nationen hörte »Europa« am sogenannten Eisernen Vorhang auf: dahinter lagen die Staaten des Warschauer Pakts, arme, aber gottlob entfernte Verwandte, die für die ökonomischen und zunehmend sogar für die militärischen Interessen der Gemeinschaft keine wesentliche Rolle spielten.

Innerhalb ihres »Kleineuropas« erschienen die alten Probleme – Nationalismus, wirtschaftlicher Wettbewerb und soziale Spannungen – wenn nicht vollständig lösbar, so doch zumindest handhabbar. Separatistenbewegungen in Nordirland, auf Korsika und in Nordspanien vergossen weiterhin Blut, aber ihr Operationsgebiet war begrenzt, und ihre geographische Isolation wirkte zusätzlich beruhigend. In anderen Regionen wie in Südtirol, in der Bretagne und in Katalonien waren die mikro-nationalistischen Bewegungen der 70er Jahre im Grunde zu folkloristischen Touristenattraktionen abgesunken. Selbst die Feindseligkeiten zwischen Wallonen und Flamen in Belgien wurden beigelegt, als Brüssel in den Rang der EU-Hauptstadt aufrückte. Die nationalen Grenzen, seit Jahrhunderten Causae belli, waren durch Verträge fixiert und durch die Schlußakte von Helsinki garantiert worden, mit dem Inkrafttreten des 1992 verabschiedeten Programms jedoch würden sie ihre Bedeutung verlieren. England schwankte weiterhin, ob es sich zu Europa bekennen sollte oder nicht, der Rest des Vereinigten Königreiches aber zauderte nicht, und zudem versprach der »Tunnel« eine Verbindung zwischen Frankreich und England, die der geographischen und psychologischen Isolation der Insel ein dauerhaftes Ende bereiten würde. Nach einer vierzigjährigen militärischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten, die oft genug Anlaß zu Mißmut gegeben hatte, war für die Europäische Gemeinschaft der entscheidende Moment gekommen, um weltweit als gleichberechtigter Partner aufzutreten und nicht nur die angeschlagenen USA, sondern auch ein starkes Japan als beherrschende Wirtschaftsmacht herauszufordern. In der »brave new world«, die mit dem Europa von 1992 Wirklichkeit werden sollte, gab es für nationalistische Probleme schlichtweg keinen Platz.

Heute erscheint uns eine solche Sichtweise geradezu unglaublich naiv. Innerhalb weniger turbulenter Monate fiel jener Eiserne Vorhang, der nicht nur den Osten isoliert, sondern auch den Westen geschützt hatte, und gab den Blick auf ein abgrundtief gefährliches Europa von gewaltigen Dimensionen frei, das sich bis an den Ural erstreckte. Schon bald verdrängten Unbehagen und Angst die zunächst grenzenlos enthusiastische Reaktion der westlichen Demokratien, als aus Moskau eine seismische Schockwelle nach der anderen heranrollte und die politische Landschaft Europas, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestanden hatte, unwiderruflich veränderte. Gleichzeitig lösten die Folgen der seit vierzig Jahren praktizierten Regierungsmaßnahmen, die in Frankreich und Deutschland den Bedarf an billigen Arbeitskräfte decken und die Verpflichtungen Großbritanniens gegenüber dem Empire einlösen sollten, in diesen westlichen Demokratien eine Identitätskrise und fremdenfeindliche Reaktionen aus.

In Ost und West kehrten Nationalismus, Ethnozentrismus, Rassismus – Gespenster, die man der europäischen Seele seit langem ausgetrieben zu haben glaubte – nach fünfzigjährigem Schlummer mit verstärkter Macht zurück. Das letzte große europäische Reich, die Sowjetunion, zerfiel in Republiken, die allesamt nach Autonomie strebten und heute zum Großteil nicht stabiler sind als die Union, aus der sie sich befreien wollten. Der einst mächtige Warschauer Pakt existiert nicht mehr. An seine Stelle trat eine ganze Reihe hochverschuldeter, um ihre Existenz ringender Kleinstaaten, die durch ethnische Spannungen zerrissen werden und irgendwo einen Platz in der neuen Weltordnung finden müssen. Ein vereintes Deutschland sucht nach einer neuen Identität, und auf den Straßen hört man die Parole: »Deutschland den Deutschen!« Auf dem Balkan, dem Pulverfaß des 19. Jahrhunderts, brach erneut ein mit brutaler Gewalt geführter Bürgerkrieg aus. Diese außerordentlichen und keineswegs abgeschlossenen Entwicklungen haben den Westen nicht weniger nachhaltig als den Osten erschüttert. Das Ergebnis ist eine tiefe Identitätskrise, die Anlaß zu der Frage gibt, wie Europäer sich selbst und ihre eigenen Gesellschaften, aber auch ihre Nachbarn sehen.

»Welch eine Ironie, daß Mitteleuropa am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts genauso aussieht wie am Ende des neunzehnten.« Wie recht der österreichische Historiker, der diese Beobachtung 1991 formulierte, hatte, zeigt sich mit dem Abstand eines Jahrzehnts besonders deutlich. Auf dem Balkan und im Baltikum, in der Ukraine, in Rußland und auf der Krim werden wieder einmal die uralten Ansprüche auf nationale Souveränität erhoben. Ethnische Gemeinwesen, die zu einem Leben unter dem internationalistischen Banner des Sozialismus gezwungen worden waren, können ihre alten Blutfehden nun ungehindert fortsetzen. Scheinbar unlösbare Probleme wie Minderheitenrechte, religiöse und sprachliche Unterschiede, die an der Auslösung von zwei Weltkriegen beteiligt waren, stehen erneut im Zentrum der europäischen Aufmerksamkeit. Der Kommunismus ist nicht nur diskreditiert – alles, was der Sozialismus einst bekämpft hat, ist heute wieder en vogue. Das bedeutet nicht nur, daß Kapitalismus und Individualismus populär geworden sind, sondern auch Antisemitismus, religiöser Chauvinismus und ein atavistischer Rassismus. Polnische Politiker rivalisieren miteinander, um zu beweisen, wer »am polnischsten« ist; die Ungarn fachen ihre Konflikte mit den Rumänen im Süden und den Slowaken im Norden wieder an. Serben und Kroaten morden sich gegenseitig und bringen den Bosniern im Namen nationaler Rechte den Tod. Die Serben unternahmen einen massiven Vorstoß, um die Albaner aus ihrem »heiligen« Kosovo zu vertreiben, und nach den Schrecken der Nato-Luftangriffe nahmen die Kosovo-Albaner mit der gleichen Brutalität, die sie durch ihre früheren Unterdrücker kennengelernt hatten, Rache an der serbischen Minderheit. Ethnische, über das ehemalige sowjetische Imperium zersplitterte Gruppen fordern ihr Recht auf politische Selbstbestimmung ein. Niemand kann bisher sagen, ob sich die Greuel von Tschetschenien als Vorläufer weiterer Gewalttätigkeiten erweisen werden.

Da all diese Völker Regionen bewohnen, in denen andere ethnische Minderheiten zu Hause sind, und die meisten dieser Völker auch Angehörige haben, die ihrerseits als Minderheiten in Regionen leben, die von anderen Völkern dominiert werden, müssen ethnisch begründete Forderungen nach politischer Autonomie unweigerlich zu Grenzkonflikten, zur Unterdrückung der Rechte betroffener Minderheiten und zu Unruhen in der Zivilbevölkerung führen, da jede Gruppe bestrebt sein wird, »ihren« ethnisch homogenen Territorialstaat zu errichten – auch um den Preis brutaler »ethnischer Säuberungen«.

Bedrohlicher noch als das potentielle Wiederaufleben separatistischer Bewegungen sind für die politische Stabilität des Westens die neuen ethnischen Minderheiten, die sich insbesondere in Deutschland und Frankreich herausgebildet haben. »Die Bundesrepublik war ein gutes Vaterland«, erklärte mir ein deutscher Kollege 1990 in nostalgischer und besorgter Stimmung. Ob das neue Deutschland zu seinen Kindern ebenso gut sein wird, bleibt offen. Die Vereinigung und der Aufenthalt Tausender Flüchtlinge aus dem Osten haben eine für die vergangenen fünfzig Jahre beispiellose Krise ausgelöst, die das Selbstverständnis und das Fremdbild der Mehrheiten tiefgreifend beeinflußt. Die Generation, die das deutsche Wirtschaftswunder geschaffen hat, tritt nun in den Ruhestand, und ihre Kinder und Enkelkinder, die in der behaglichen Bonner Republik groß wurden, scheinen keineswegs versessen darauf zu sein, ihre armen Vettern aus dem Osten an ihrem guten Leben zu beteiligen. So fällt heute für die Ostdeutschen jener Teil der westlichen Wirtschaft ab, der zuvor den stummen Partnern des deutschen Wirtschaftswunders zugestanden wurde, den »Gastarbeitern« aus der Türkei und vom Balkan, die von den zahllosen Arbeitsuchenden, für die es in der ehemaligen DDR kein Auskommen mehr gibt, verdrängt werden und nach Frankreich und Belgien ausweichen. Diese ostdeutschen Arbeitskräfte, die in ihrer Heimat keine Beschäftigung finden und sich in den westlichen Ländern großteils mit Niedriglohnjobs zufriedengeben müssen, blicken mit Mißtrauen auf die Türken und Slawen, die sich bereits in Deutschland niedergelassen haben, und bekunden ihre unverhohlene Verachtung für Polen, Rumänen und all die anderen, die auf ein besseres Leben im neuen Deutschland hoffen. Gleichzeitig werden durch den Abzug von Bundesmitteln aus der alten BRD und ihre Investition in den östlichen Länder Feindseligkeit und Spannungen bei jenen geweckt, die sich an ein großzügiges staatliches Unterstützungssystem gewöhnt haben.

Die extreme Reaktion auf diese Situation ist das Wiederaufleben rechtsextremer Gruppierungen in den Städten der neuen Bundesländer. Eine weniger extreme, möglicherweise aber gefährlichere Reaktion ist die neuerliche Debatte über die Frage, wer berechtigt sei, am deutschen Wohlstand teilzuhaben. Schon im Grundgesetz der Bundesrepublik ist das »Recht auf Rückkehr« verankert, das die Nachfahren deutschsprechender Bewohner Osteuropas, die Deutschland selbst nie gesehen haben und häufig auch nicht deutsch sprechen, zum Beispiel gegenüber Türken bevorzugt, die in Deutschland geboren wurden und aufgewachsen sind. Wer ist ein Deutscher? Kann ein Emigrant Deutscher werden, oder ist die deutsche Identität eine Sache des Blutes, der Rasse? Ist die deutsche Identität mit ihrer christlichen »Leitkultur«, die für Moslems, Juden, Angehörige aller anderen Religionen und jeden Nichtreligiösen verbindlich sein soll, ein für allemal festgeschrieben? Diese Fragen sind in der Vergangenheit schon einmal gestellt worden – mit furchtbaren Konsequenzen.

Da die Bundesrepublik an der Umwandlung Europas unmittelbar und aufs engste beteiligt war, tritt das deutsche Dilemma besonders deutlich zutage, einzigartig aber ist es deshalb keineswegs. In Frankreich gibt die Anwesenheit von Millionen Moslems – teils Nachkommen von Nordafrikanern, teils Einwanderer, die sich erst seit kurzem legal oder illegal im Lande aufhalten – erneut Anlaß zu einer durchaus besorgniserregenden Auseinandersetzung mit der nationalen Identität. Die Angst vor einer Islamisierung Frankreichs ließ die fremdenfeindliche Rechte, die »französisch« eher rassisch und kulturell als politisch definiert, wiederaufleben, so daß sie nun über ein Drittel der Gesamtwählerschaft auf ihrer Seite weiß. Der ehemalige französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing zum Beispiel bezeichnete die Immigration nach Frankreich im September 1991 als Invasion und forderte, das »droit du sol« (»Recht des Grundbesitzes«) als Bedingung für den Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft durch das »droit du sang« (»Recht des Blutes«) zu ersetzen.[1]

Gleichzeitig versuchen Frankreich und Belgien, mit dem Problem der Flüchtlinge fertig zu werden, die bereits aus Deutschland abgeschoben wurden und nun den Millionen arbeitsloser oder unterbeschäftigter Nordafrikaner Konkurrenz machen. Italien und Griechenland wurden von albanischen Flüchtlingen überschwemmt, die einer zusammengebrochenen Wirtschaft und einem bankrotten politischen System zu entkommen versuchten. Die österreichische Republik fürchtet, in den vor ihren Toren tobenden Bürgerkrieg hineingezogen zu werden, und versucht ebenfalls, Tausende von Flüchtlingen aus Rumänien, Bulgarien und dem ehemaligen Jugoslawien unterzubringen. In diesem Land, das sich lange in dem Mythos »Erstes Opfer der Nazi-Aggression« sonnte und während des kalten Krieges die Vorteile seiner Neutralität genoß, konnte sich eine Partei mit massiven chauvinistischen und fremdenfeindlichen Elementen als drittstärkste politische Bewegung etablieren.

Sind die Nationen der Europäischen Gemeinschaft »Einwanderungsländer«, oder sollen die mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Vorteile lediglich den »echten« Franzosen, Italienern, Dänen und Briten zuteil werden? Allein die Tatsache, daß solche Fragen in der Diskussion sind, beweist, wie überaus lebendig die scheinbar diskreditierte nationalistische und rassistische Agenda geblieben ist.

Auch wenn das aktuelle europäische Geschehen im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, darf man nicht vergessen, daß die übrige Welt und insbesondere die Vereinigten Staaten gegen diese ideologischen Tendenzen nicht immun sind. Die USA werden heute zwar von vielen als eine polyethnische Einwanderungsnation betrachtet, aber so ist es nicht immer gewesen. Wichtige Teile der politischen Führung kämpfen nach wie vor um Anhänger, indem sie Ängste vor dem Verlust einer nationalen, eng an die nationale Tradition und die englische Sprache gebundenen Identität schüren.[2] Überraschen kann uns dies nicht: Nach dem Wunsch des dritten US-Präsidenten Thomas Jefferson sollten ursprünglich Hengist und Horsa, die Anführer der ersten Sachsen, die nach Britannien kamen (und die Eroberung der Insel in Angriff nahmen), das große Siegel der Vereinigten Staaten zieren. Jefferson vertrat die Auffassung, daß »wir die Ehre für uns beanspruchen dürfen, von Hengist und Horsa abzustammen, deren politische Grundsätze und deren Regierungsform wir übernommen haben«.[3] Während des ganzen 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde ein rassistisches Angelsachsentum ideologisch instrumentalisiert, um Iren, Südeuropäer und Asiaten aus Amerika auszuschließen. Heute kocht die Leidenschaft hoch, wenn haßerfüllte Politiker das Gespenst eines Amerikas beschwören, in dem Englisch nicht die einzige offizielle Sprache ist.

Einem Historiker des frühen Mittelalters, der diese Probleme unmittelbar beobachtet, den Redeschwall nationalistischer Führer hört und die von offiziellen und quasi-offiziellen Historikern verfaßte Fachliteratur sichtet, fällt sofort auf, wie zentral die Interpretation der Zeitphase von ca. 400 bis 1000 für diese Debatte ist. Plötzlich ist die über eintausend Jahre alte Geschichte Europas alles andere als eine rein akademische Angelegenheit: Die Interpretation jener Epoche, in der das römische Imperium unterging und die Barbaren zu ihren Wanderungen aufbrachen, ist zum Drehpunkt des politischen Diskurses geworden, der weite Teile Europas erfaßt hat.

In Frankreich erklärt sich der Führer der Front National, Jean Marie Le Pen, zum Fürsprecher des »französischen Volkes, das mit der Taufe Chlodwigs im Jahre 496 geboren wurde und diese unauslöschliche Flamme, die unser Volk seit fast eintausendfünfhundert Jahren beseelt, weitergetragen hat«.[4] Am 28. Juni 1989 organisierte der serbische Kriegstreiber Slobodan Milosevic eine Massenversammlung, an der angeblich über eine Million Menschen teilnahmen, auf dem »Kosowo polje«, dem »Amselfeld«, wo am gleichen Tag des Jahres 1389 die serbische Armee von den ottomanischen Türken geschlagen wurde. Der Aufmarsch sollte die Entschlossenheit der Serben unterstreichen, dieses umstrittene Territorium niemals aus der Hand zu geben.[5] Der Anspruch der albanischen Mehrheit konnte jedoch gegenüber dem der Serben Priorität geltend machen: Die Serben hatten den Kosovo schließlich nur knapp dreihundert Jahre lang kontrolliert, nachdem sie die Region im 11. Jahrhundert von den Byzantinern erobert hatten. Die Albaner hingegen verstehen sich als Nachfahren der antiken Illyrer, der Ureinwohner der Region, und somit – der gleichen todbringenden Logik folgend – als Volk mit den ältesten Rechten. Derartige Ansprüche und Gegenansprüche führen direkt zu den Schrecken des Kosovo-Krieges, die bis heute kein Ende gefunden haben.

Nicht nur nationalistische Führer spannen die Geschichte für ihre Politik ein. Auch angesehene Wissenschaftler werden in die polemische Instrumentalisierung der Vergangenheit verwickelt. In Siebenbürgen, einer Region, die im 11. Jahrhundert von den Ungarn erobert und im 12. Jahrhundert von den Sachsen besiedelt wurde, bevor nacheinander Türken, Habsburger und Ungarn die Herrschaft antraten, bis 1920 Rumänien den Zuschlag bekam, wird die politische Legitimitätsdebatte ganz im Rahmen der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts geführt und zum Teil von professionellen Historikern und Archäologen in Gang gehalten. Fielen die Reiter der nomadischen Magyaren in eine Region ein, die von einer blühenden »eingeborenen romanischen« Bevölkerung besiedelt war, oder hatten slawische Invasoren das Gebiet schon vorher verwüstet? Die Rumänen interpretieren die spärlichen archäologischen Funde im Sinne der ersten Hypothese und behaupten, daß ihre Vorfahren, die Vlachen, die Region seit den Zeiten der Römer bewohnt hätten und ihnen selbst deshalb auch nach eintausendjähriger Fremdherrschaft das Recht auf Siebenbürgen zustünde. Führende ungarische Archäologen und Historiker verweisen hingegen auf Funde, die nahelegen, daß die Überreste der romanischen Gesellschaft zur Zeit der Ankunft der Magyaren seit langem untergegangen waren – folglich sei Siebenbürgen ein rechtmäßiger Teil Ungarns.

Noch ein anderes Beispiel zeigt, wie leicht Mittelalterspezialisten in die Politik der Gegenwart hineingezogen werden können. Im Südosten der österreichischen Provinz Kärnten, der Heimat des rechtsradikalen Politikers Jörg Haider, wurden vor wenigen Jahren Bergfesten ausgegraben, bei denen es sich um die Überreste einer slawischen Siedlung aus dem 6. Jahrhundert, ebensowohl aber um die Relikte einheimischer »römischer« Verteidigungsanlagen handeln könnte. Als sich ein österreichischer Archäologe öffentlich für die Hypothese der slawischen Siedlung aussprach, wurde er von rechtsgerichteten Kärntner Politikern bedroht, die dies als politische Unterstützung der Auffassung betrachteten, daß die Slawen in Kärnten Rechte hätten.

Beispiele dieser Art ließen sich für ganz Europa in Hülle und Fülle aufzählen. Die Historiker des frühen Mittelalters, die es normalerweise nicht unbedingt gewohnt sind, im Zentrum politischer Auseinandersetzungen zu stehen, sehen »ihre« Epoche plötzlich in den Mittelpunkt eines Wettstreits um die Vergangenheit gerückt. Das frühe Mittelalter ist zum Dreh- und Angelpunkt einer Rhetorik geworden, die Ansprüche auf die Gegenwart und auf die Zukunft erhebt.

Bedauerlicherweise wissen die Lenker des politischen Geschehens und selbst die meisten Gelehrten im Osten wie im Westen im großen und ganzen sehr wenig über diese Epoche und noch weniger über den ethnogenetischen Prozeß, aus dem die europäischen Gesellschaften hervorgegangen sind. Wahrscheinlich ist dieser Zeitraum unbekannter als alle anderen historischen Epochen, und nationalistische und chauvinistische Wissenschaftler setzen alles daran, das schwache Licht, das auf sie fällt, noch stärker zu trüben. Gerade die Dunkelheit, in die jene Zeit gesunken ist, macht sie zu einer leichten Beute für die ethnisch-nationalistische Propaganda: Territorialansprüche können ungestraft mit der Landnahme in der Zeit der Wanderungen gerechtfertigt werden, da nur wenige Menschen über genauere Kenntnisse verfügen. Sobald die auf diese Epoche projizierten Prämissen akzeptiert werden, können politische Führer auch die entsprechenden Forderungen stellen.

Solche Ansprüche, die mit dem Hinweis auf Wanderbewegungen in der Spätantike und mit Berufung auf lang untergegangene mittelalterliche Königreiche begründet werden, bedrohen nicht nur die Staaten im Osten, sondern auch im Westen. Kann die Europäische Gemeinschaft es sich leisten, die »Rechte« der Litauer, nicht aber die der Korsen anzuerkennen? Kann sie die Aggression der Serben gegen die Bosnier verurteilen, nicht aber die der Engländer gegen die Iren oder die der Spanier gegen die Basken? Wenn die Tschechen und Slowenen das Recht haben, eigene, souveräne Staaten zu gründen, warum dann nicht auch die Flamen, Katalanen und Sorben? Wenn Gebiete wie Weißrußland, die jahrzehntelang zur Sowjetunion gehört haben, plötzlich ihr Nationalbewußtsein entdecken, warum sollte dies nicht auch in Bayern, in der Bretagne, in Friesland, auf Sardinien und in Schottland möglich sein?

Die Nachrichtenbilder aus Brindisi, die Tausende randalierender albanischer Flüchtlinge zeigen, und die Bilder von bettelnden Roma aus Rumänien in den Straßen Berlins sind, so fürchten viele, lediglich die Vorboten der von Giscard d’Estaing prophezeiten »Invasion« verzweifelter Völker aus dem Osten, die durch Hunger, Bürgerkriege und Anarchie gen Westen getrieben werden – Vorboten einer Migration oder »Völkerwanderung« gewaltigen Ausmaßes, wie sie Europa seit eintausend Jahren nicht gesehen hat. Vorübergehend zumindest konnten die Kosovaren ihre Flüchtlingslager in Albanien und Makedonien wieder verlassen und in den Kosovo zurückkehren. Wird das nächste »Volk«, das durch ethnischen Haß und moderne Waffen aus seiner angestammten Heimat vertrieben wird, das gleiche Glück haben oder wird es sich als ständiger und unwillkommener, wachsende Feindseligkeit weckender Dauergast in den aufnehmenden Länder erweisen?

Gleichwohl aber waren solche Massenbewegungen in der europäischen Geschichte eher die Regel als die Ausnahme. Die Bevölkerung des heutigen Europas ist mit ihren zahlreichen Sprachen, Traditionen und kulturellen und politischen Identitäten das Resultat dieser Migrationswellen. Zuerst kamen Gruppierungen, die vermutlich der sogenannten indo-europäischen Sprachfamilie angehörten. Sie verdrängten oder absorbierten die einheimische Bevölkerung Griechenlands, des Balkans und Italiens. Ihnen folgten die Kelten, ebenfalls ein indo-europäisches Volk, das sich im 6. Jahrhundert vor Chr. über das Gebiet der heutigen Tschechoslowakei, Österreichs und Süddeutschlands sowie der Schweiz bis nach Irland verbreitete und die einheimische europäische Bevölkerung zurückdrängte, absorbierte oder ausrottete. Lediglich die Basken im Süden Frankreichs und in Nordspanien haben diesen Ansturm überlebt. Seit dem 1. Jahrhundert vor Chr. begannen germanische Volksstämme, die Kelten in Richtung Westen an den Rhein zu drängen, bis sie sich gemeinsam einem ganz anderen Eindringling gegenübersahen: dem expandierenden römischen Reich, das einen Großteil Europas ebenso wie Kleinasien und Nordafrika eroberte und romanisierte. Neue Wanderungsbewegungen germanischer und zentralasiatischer Völker folgten im 3. Jahrhundert und ersetzten das römische Herrschaftssystem durch ein Mosaik einzelner Königreiche. Im Osten drangen slawische Horden in die Alpen, ins Karpathenbecken, auf den Balkan und nach Griechenland vor. Der letzte große Bevölkerungszustrom des 1. Jahrtausends erfolgte mit der Ankunft der Magyaren in der Donauebene sowie der Skandinavier in der Normandie und in Nordengland.

Wenngleich viele Wissenschaftler vorgeben, daß die »Wanderungsepoche« mit dem Ende des 1. Jahrtausends ihren Abschluß fand, trat sie in Wirklichkeit erst zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert mit der Ankunft türkischer Völker in Griechenland und auf dem Balkan in ihre letzte Phase ein. Heute, zu Beginn des 3. Jahrtausends, lebt Europa nach wie vor mit den Konsequenzen dieser Wanderungsepoche und fürchtet sich bereits vor einer neuen. Die Parallelen werden explizit gezogen. In einem in Le Monde veröffentlichten Artikel behauptete der französische Journalist und Kommentator Claude Allegre, man müsse nur mein eigenes Buch Before France and Germany lesen, das die Marketingabteilung des französischen Verlags mit dem absolut sinnentstellenden Untertitel Naissance de la France versehen hat, um zu realisieren, »wie eine mutmaßlich kontrollierte Einwanderung (schon damals gab es Quoten) eine unzerstörbar erscheinende Welt zur Explosion brachte«.[6] Vermutlich haben einige Zeitgenossen ein Interesse daran, die Geschichte der Gegenwart als Reinszenierung des Untergangs des römischen Reiches auszulegen, weil sie hoffen, aus der Vergangenheit zu lernen, wie sich die Zerstörung der europäischen Zivilisation durch neue barbarische Horden verhindern lassen könnte.

In jedem Historiker, der einen Großteil seines Berufslebens mit dem Studium dieser früheren Epoche der ethnischen Formation und Migration verbracht hat, muß das Aufkommen eines politisch bewußten Nationalismus und Rassismus Beklommenheit und Abscheu wecken, und zwar vor allem dann, wenn sich diese Ideologien zu ihrer eigenen Rechtfertigung die Geschichte aneignen und sie pervertieren. Diese Pseudogeschichte geht erstens davon aus, daß die europäischen Völker klar voneinander abgegrenzte, stabile und objektiv identifizierbare soziale und kulturelle Einheiten seien, die sich durch eindeutige und unveränderliche Merkmale wie Sprache, Religion, Brauchtum und Nationalcharakter voneinander unterscheiden. Diese Völker sollen entweder in einem fernen Moment der Prähistorie entstanden sein oder im Laufe eines Prozesses, der sich irgendwann im Mittelalter vollzog und ein für allemal endete.

Zweitens zielen diese ethnischen Ideologien auf politische Autonomie für alle Personen, die einer bestimmten ethnischen Gruppe angehören; gleichzeitig pochen sie auf das Recht dieses Volkes, sein historisches Territorium zu beherrschen, das gewöhnlich nach dem Vorbild frühmittelalterlicher Siedlungen oder Königreiche definiert wird – ungeachtet der Frage, wer heute dort lebt. Diese Doppelmoral läßt den Litauern freie Hand, Polen und Russen zu unterdrücken und ihre eigene Autonomie einzufordern; sie ermöglicht es den Serben, traditionell »serbische« Gebiete in Bosnien, die von Muslimen bewohnt werden, und von Serben besiedelte Gebiete in Kroatien für sich zu beanspruchen; die gleiche Doppelmoral liegt der Forderung der Irish Republican Army nach einer Mehrheitsregierung im Süden und einer Minderheitenregierung im Norden Irlands zugrunde. Solche Ansprüche implizieren, daß es einen Moment der »ersten Landnahme« gegeben habe – eine germanische im 1. Jahrhundert, eine fränkische im 5., eine kroatische im 6. und 7., eine ungarische im 9. und 10. Jahrhundert und so weiter –, in dem die geographischen Grenzen des rechtmäßigen Landbesitzes ein für allemal festgelegt worden seien. Diesem Zirkelschluß zufolge waren von dem Augenblick der Landnahme an alle späteren, ähnlich verlaufenden Migrationen, Invasionen oder politischen Verschmelzungsprozesse unrechtmäßig. In vielen Fällen bedeutet dies, daß eine fünfzehnhundertjährige Geschichte umstandslos ausgelöscht wird.

Nicht weniger beunruhigend ist die Tatsache, daß die internationale Gemeinschaft und sogar pluralistische Gesellschaften wie die USA die Grundannahme akzeptieren, daß Völker als objektive Phänomene existierten und bereits diese Existenz an sich das Recht auf Autonomie begründe. Mit anderen Worten: Wir nehmen an, daß politische und kulturelle Identität irgendwie zur Deckung gebracht werden müßten. Wenn Litauer oder Kroaten ihre eigene Sprache sprechen, ihre eigene Musik pflegen und ihre eigene Tracht tragen, dann müssen sie zwangsläufig auch ein Recht auf ihr eigenes Parlament und ihre eigene Armee haben. Freilich muß sich die internationale Gemeinschaft darum bemühen, die unausweichlichen Konsequenzen uralter ethnischer Feindschaften, beispielsweise den Krieg zwischen rivalisierenden Völkern, einzudämmen. Der Grundsatz des angestammten Rechts auf ethnische Autonomie aber wird dabei kaum in Frage gestellt. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen: Die Berufung auf uralte ethnische Rechtsansprüche und traditionelle Blutsfehden kommt den Betreibern der Isolationspolitik in Amerika und Westeuropa im Grunde entgegen – wenn diese Menschen einander »schon immer« gehaßt haben und wenn ihre Identitäten und ihre Feindseligkeiten unveränderlich fixiert sind, dann ist jede Intervention mit dem Ziel, solche Kriege zu beenden, müßig. Indem man sich die Rhetorik des ethnischen Nationalismus zu eigen macht, selbst wenn man ihn angeblich verabscheut, kann der Rest der Welt die Schaffung ethnisch »gesäuberter« Nationen als einzige Alternative zum Genozid rechtfertigen.

In Wahrheit sind weder die Völker Europas noch ihre mutmaßlichen Rechte auf politische Autonomie sonderlich alt. Die Souveränitätsansprüche, die heute in Ost- und Mitteleuropa erhoben werden, sind ein Produkt des 19. Jahrhunderts, eines Zeitalters, das die romantische politische Philosophie Rousseaus und Hegels mit einer »wissenschaftlichen« Geschichte und indo-europäischen Philologie kombinierte und so den ethnischen Nationalismus erzeugte. Diese Pseudowissenschaft hat Europa zweimal zerstört und könnte den Kontinent ein drittes Mal in die Katastrophe stürzen. In Wirklichkeit waren die europäischen Völker im ersten Jahrtausend weit wandlungsfähiger, komplexer und dynamischer, als moderne Nationalisten es wahrhaben wollen. Viele Völkernamen mögen uns nach eintausend Jahren vertraut erscheinen, die soziale, kulturelle und politische Realität aber, die sie im frühen Mittelalter bezeichneten, unterscheidet sich von der heutigen radikal. Aus diesem Grund müssen wir die Völker Europas, vor allem die Völker im ersten Jahrtausend, der formativen Epoche der europäischen Identität, neu verstehen lernen. Wir müssen auch verstehen, daß die mutmaßlich alte Tradition, die Millionen Menschen auf die Straßen gerufen und in ihre Gräber getrieben hat, erst vor wenig mehr als einem Jahrhundert Gestalt angenommen hat.

In den folgenden Kapiteln versuche ich, dieses neue Verständnis zu erläutern und zu erklären. Wir untersuchen zunächst, wie der Mythos europäischer Nationen in der Geschichtswissenschaft, der Philologie und Archäologie des 18. und 19. Jahrhunderts errichtet wurde. Daran anschließend werden wir die Entwicklung der kulturellen Kategorien betrachten, die das Selbst- und Fremdbild der Bewohner Europas seit dem 5. Jahrhundert vor Chr. bis ins Mittelalter hinein prägten, und sodann werden wir untersuchen, wie diese Kategorien in der formativen Epoche des 18. und 19. Jahrhunderts erneut aufgegriffen und den aktuellen Gegebenheiten angepaßt wurden. Erst nach dieser Vorarbeit können wir die historischen Verhältnisse genauer betrachten, in denen sich die »Völker Europas« in jener entscheidenden Epoche, nämlich in der Spätantike und im frühen Mittelalter, entwickelt haben – jenen angeblichen »Moment der Urlandnahme«, der in der europäischen Mythologie heute erneut eine gewaltige Rolle spielt und zu einem der Leitprinzipien in der weltweiten Auseinandersetzung mit »ethnischen« Fragen avanciert ist.

Indes sollte niemand so naiv sein zu erwarten, daß eine andere Sicht auf die Entstehung der europäischen Völker nationalistische Spannungen mildern oder den durch sie geweckten Haß und das Blutvergießen eindämmen könnte. Man darf bestenfalls hoffen, Skepsis gegenüber Ansprüchen zu wecken, die sich auf eine derartige Instrumentalisierung der Geschichte stützen, und diejenigen kritischer zu stimmen, die aufgefordert sind, zur Verwirklichung solcher Forderungen beizutragen – sei’s in Europa, im Mittleren Osten oder anderswo. Und sollte selbst dies nicht gelingen, so hat der Historiker dennoch die Pflicht, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, auch wenn er nicht damit rechnet, gehört zu werden.

Ethnizität und Nationalismus im 19. Jahrhundert

Die moderne Geschichtswissenschaft ist ein Kind des 19. Jahrhunderts, das als Instrument des europäischen Nationalismus geplant und entwickelt wurde. Die Geschichte der europäischen Nationen leistete der nationalistischen Ideologie hervorragende Dienste, hatte aber zur Folge, daß unser Verständnis der Vergangenheit eine Mülldeponie für das Gift des ethnischen Nationalismus darstellt, das tief ins allgemeine Bewußtsein eingesickert ist. Die Entsorgung dieses Abfalls ist die wohl bedrückendste Aufgabe, die sich heutigen Historikern stellt.

Die eigentliche Geschichte der Nationen, die Europa im frühen Mittelalter bevölkerten, beginnt nicht im 6., sondern im 18. Jahrhundert. Das heißt nicht, daß die in der fernen Vergangenheit lebenden Menschen kein nationales Bewußtsein oder kein Bewußtsein für eine kollektive Identität besessen hätten – zwei Jahrhunderte intellektueller Betriebsamkeit und politischer Auseinandersetzungen aber haben uns so tiefgreifend verändert, daß wir uns nicht anmaßen können, eine »objektive«, von dieser jüngeren Vergangenheit unberührte Sicht frühmittelalterlicher sozialer Kategorien zu vermitteln. Abgesehen davon, daß der ethnische Nationalismus, so wie wir ihn heute verstehen, eine Erfindung dieser recht jungen Epoche darstellt, werden wir darüber hinaus auch sehen, daß die Analyseinstrumente selbst, mit denen wir die Wissenschaftlichkeit unserer historischen Arbeit legitimieren, in einer Zeit entwickelt und perfektioniert wurden, deren Klima ganz allgemein durch Nationalismus und nationalistische Bestrebungen geprägt war. Die modernen Methoden der Geschichtsforschung und -schreibung sind kein neutrales Instrumentarium der Wissenschaft, sondern wurden speziell zu dem Zweck entwickelt, nationalistische Ziele zu fördern. Da sowohl der Gegenstand als auch die Methode dieser Untersuchung suspekt sind, ist es um so wichtiger, den Prozeß, dem sie ihre Entstehung verdanken, kurz zu rekapitulieren, um dem subjektiven Charakter unserer Studie von Anfang an Rechnung zu tragen.

Ethnischer Nationalismus und das Zeitalter der Revolution

Die Geschichte des Nationalismus und seines Auftauchens im 18. und 19. Jahrhundert ist schon häufig erzählt worden. Man hat die Nationalstaaten der Gegenwart, die sich aus einer vorgeblichen ethnischen Homogenität herleiten, zu Recht als »imaginierte Gesellschaften« beschrieben, ins Leben gerufen durch die kreativen Bemühungen von Intellektuellen und Politikern des 19. Jahrhunderts, die ältere, romantische nationalistische Traditionen zu politischen Programmen erhoben.[7] In einer ganzen Flut von Büchern und Aufsätzen, die sich teils an ein wissenschaftliches Publikum, teils an die breite Öffentlichkeit richten, wurde dargelegt, daß viele »jahrhundertealte Traditionen« – von nationalen Identitäten bis hin zum schottischen Plaid – in Wirklichkeit die Erfindung zynischer Politiker oder Unternehmer aus der jüngeren Vergangenheit darstellen. Diese Analyse trifft vor allem insofern weitgehend zu, als sie die Aufmerksamkeit auf die prägende Rolle lenkt, die Individuen und Gruppen in der jüngeren Vergangenheit bei der Entwicklung angeblich uralter Ideologien spielten. Gleichzeitig aber wäre es absurd zu behaupten, daß man diese Gesellschaften bagatellisieren oder trivialisieren könnte, nur weil sie in einem gewissen Sinn »imaginiert« wurden, oder daß »imaginiert« mit »imaginär« oder »unbedeutend« gleichzusetzen wäre.

Erstens ist es zwar möglich, daß die spezifischen Formen heutiger Nationalstaaten, die sich durch ihre ethnische Identität legitimieren, ihre Existenz tatsächlich den Bemühungen von Romantikern und Nationalisten des 19. Jahrhunderts verdanken – was aber mitnichten bedeutet, daß imaginierte Nationen in der Vergangenheit nicht vielleicht in anderen Formen existiert haben, die trotz aller gravierender Unterschiede ebenso einflußreich waren wie die der modernen Welt. Die Gelehrten, die Politiker und die Dichter des 19. Jahrhunderts haben die Vergangenheit nicht einfach fabriziert: Sie schöpften aus Überlieferungen, aus schriftlichen Quellen, Erzählungen und Überzeugungen, auch wenn sie diese instrumentalisierten, um ihre Forderung nach politischer Einheit oder Autonomie zu legitimieren.

Zweitens sind diese Gesellschaften ungeachtet ihres in gewisser Weise imaginierten Charakters überaus real und mächtig: Alle wirklich bedeutsamen historischen Erscheinungen sind in einem gewissen Sinn auch psychische Phänomene, und psychische Phänomene haben vermutlich mehr Menschen das Leben gekostet als alle anderen Ursachen – von der Pest einmal abgesehen.

Der spezifische Prozeß, der den Nationalismus als überzeugungskräftige politische Ideologie hervorbrachte, gestaltete sich in Europa und weit über die europäischen Grenzen hinaus je nach Region sehr unterschiedlich. In großen Staaten wie Frankreich und Großbritannien haben Regierungen und Ideologen die Sprachen von Minderheiten, ihre kulturellen Traditionen und eigenen Erinnerungen an die Vergangenheit zugunsten einer vereinheitlichten Nationalgeschichte und homogenen Sprache und Kultur unterdrückt, die sie bis in die ferne Vorzeit zurückführten. In poly-ethnischen Reichen wie dem der Osmanen oder Habsburger schlugen Individuen, die sich als Mitglieder einer unterdrückten Minderheit verstanden, einen anderen Weg ein. Ein recht typischer, in Ost- und Mitteleuropa zu beobachtender Verlauf wurde von Miroslav Hroch analysiert, der die Entstehung dieser imaginierten Gesellschaften in drei Phasen unterteilt.[8] Der amerikanische Historiker und Kroatienspezialist Ivo Banac, der diese Phasen zusammenfassend dargestellt hat, beschreibt erstens das Studium der Sprache, Kultur und Geschichte eines Volkes durch eine kleine Gruppe »erweckter« Intellektueller, zweitens die Weitergabe der von den Gelehrten formulierten Ideen durch eine Gruppe von »Patrioten«, die sie in der Gesellschaft verbreiten. Drittens schließlich erreicht die nationale Bewegung ihren Höhepunkt, indem sie die Unterstützung der Massen findet.[9] Dieser Prozeß läßt sich mit geringfügigen Abweichungen im 18. Jahrhundert in Deutschland ebenso verfolgen wie im 19. Jahrhundert in weiten Teilen des osmanischen, habsburgischen und russischen Reiches und im 20. Jahrhundert im kolonialen und postkolonialen Asien, Afrika sowie Nord- und Südamerika.

Die meisten Nationalismusforscher würden dieser allgemeinen Darstellung des nationalen Erweckungs- und Politisierungsprozesses vermutlich zustimmen. Heftig umstritten aber ist die Frage, ob das ursprünglich durch »erweckte« Intellektuelle erschaffene Bild lediglich einem bereits existenten, aber unterdrückten Volk Anerkennung zollt oder ob diese Intellektuellen das Volk, das sie erforschen, zugleich erfinden. Banac zum Beispiel vertritt im Gegensatz zu vielen anderen Gelehrten folgende Ansicht: »Um akzeptiert zu werden, muß eine Ideologie von der Realität ausgehen. Der Nationalismus kann versuchen, sich mit den Bedingungen der Unterdrückung seiner Gruppe zu befassen, er kann diese Bedingungen aber nicht erzeugen.«[10] Auf einer bestimmten Ebene hat Banac sicherlich recht: Wenn sich Individuen nicht unterdrückt und diskriminiert fühlen, werden Versprechungen, für eine Veränderung zum Guten zu sorgen, kaum greifen. In einem anderen Sinn verstanden ist eine solche Formulierung aber potentiell gefährlich: Sie impliziert, daß die Gruppen – die potentiellen Nationen sozusagen – tatsächlich existierten, noch bevor sie von Intellektuellen als solche wahrgenommen werden, daß die Bedingungen der Unterdrückung für jede Gruppe spezifisch seien und der Nationalismus diesen Mißständen Abhilfe schaffen könne. Mit anderen Worten: Zwar kann der Nationalismus möglicherweise die Bedingungen nicht erzeugen, gewiß aber kann er die Nation selbst hervorbringen. Beeinflußt durch Revolution und Romantik schufen Intellektuelle und Politiker im 19. Jahrhundert angesichts des offenkundigen politischen Scheiterns der althergebrachten aristokratischen Ordnung neue Nationen – Nationen, die sie dann in die ferne Vergangenheit des frühen Mittelalters projizierten.

Der intellektuelle Kontext, in dem der moderne Nationalismus entstand, war ursprünglich von der Faszination geprägt, mit der die europäische Wissenschaftselite vor allem in Frankreich und Deutschland die Welt der Antike erforschte. Das leidenschaftliche Studium der klassischen Kultur und Zivilisation, dem man vor allem an den niederländischen und später auch an den französischen und deutschen Universitäten, etwa in Göttingen, nachging, bereitete die Bühne für eine radikale Revision der Selbstwahrnehmung und des Identitätsgefühls und fegte jahrhundertealte, völlig andere soziale Identitäten hinweg.

Gruppenidentität vor dem Nationalismus

Während des Mittelalters und der Frührenaissance diente die »Nation« der politisch aktiven Führungsschicht neben Religion, Blutsverwandtschaft, Herrschaftsgebiet und sozialer Schicht als eine der sich überschneidenden, identitätsstiftenden Kategorien, die ihr die Organisation gemeinsamen Handelns ermöglichen konnte. Das Bewußtsein, einer Nation anzugehören, konstituierte aber nicht die wichtigste dieser Bindungen. Ebensowenig vereinte eine gemeinsame nationale Identität Hohe und Niedrige, Herren und Bauern, zu einer tiefempfundenen Interessengemeinschaft. Noch weniger fanden Intellektuelle und gesellschaftliche Eliten ihre primäre Selbstidentifizierung, indem sie ihre nationalen Identitäten in die ferne Zeit der Wanderungen projizierten. Insofern sie in der Frühzeit nach den Grundlagen eines Zusammengehörigkeitsgefühls suchten, identifizierten sie sich vielmehr mit der Gesellschaft und Kultur der Römer.

In der Renaissance aber begannen sich europäische Intellektuelle in Frankreich, Deutschland und Osteuropa stärker mit den Opfern des expandierenden römischen Kaiserreichs zu identifizieren, das heißt: mit den Galliern, den Germanen oder den Slawen. Diese allmähliche Identitätstransformation vollzog sich innerhalb politischer Kontexte, die ihr die Richtung vorgaben. In Frankreich, wo die Monarchie auf eine wahrlich beeindruckende Kontinuität zurückblickte, stand die Realität des Staates im Renaissancezeitalter ganz außer Frage, die Existenz eines geeinten französischen Volkes aber erschien durchaus zweifelhaft. In Deutschland sprachen Autoren schon seit dem 9. Jahrhundert gelegentlich von einem deutschen Volk, aber da es keinen vereinten deutschen Staat gab, setzte die Identifizierung einer deutschen kulturellen Tradition nicht zwangsläufig eine entsprechende politische Tradition voraus. In anderen Regionen wie zum Beispiel in Polen betrachtete der Adel das »National« bewußtsein als sein ausschließliches Privileg – mit den Bauern, die ihre Äcker bestellten, fühlten sich die Aristokraten kaum solidarisch.