Europäisches Lobbying - Christian Lahusen - E-Book

Europäisches Lobbying E-Book

Christian Lahusen

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Beschreibung

Seitdem es die Europäische Union gibt, bemühen sich Interessengruppen darum, europäische Politik zu beeinflussen. Dieses Buch richtet den Blick auf das Personal: Wer betreibt in der Europäischen Union Lobbying? Welche Personen, Laufbahnen, Wissensbestände, Arbeitspraktiken und Einstellungen stehen dahinter? Christian Lahusen beantwortet diese Fragen auf der Grundlage eines umfangreichen Datensatzes. So zeigt er nicht zuletzt, dass es sich um ein fest etabliertes und professionalisiertes Berufsfeld handelt, das davon abweichende Formen der Interessenvertretung marginalisiert.

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Christian Lahusen

Europäisches Lobbying

Ein Berufsfeld zwischen Professionalismus und Aktivismus

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Mit der Entlassung Albert Speers aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis am 1. Oktober 1966 beginnt eine der erstaunlichsten Geschichten der Nachkriegszeit: Bis zu seinem Tod am 1. September 1981 war der einstige Architekt und Rüstungsminister Hitlers ein Entlastungszeuge in der Bundesrepublik Deutschland und ein Zeitzeuge in der Welt. Seine »Erinnerungen« (1969) und seine »Spandauer Tagebücher « (1975) waren in den Medien und Buchhandlungen überragende Erfolge. In ihrer Studie untersucht Isabell Trommer die Wahrnehmung Speers in der deutschen Öffentlichkeit von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart. Im Mittelpunkt stehen dabei Rechtfertigungsdiskurse, die nicht nur den Umgang mit Speer selbst geprägt haben, sondern auch viel über das Verhältnis der Bundesrepublik zum Nationalsozialismus und die Grundzüge ihrer politischen Kultur verraten.

Vita

Christian Lahusen ist Professor für Soziologie an der Universität Siegen.

Inhalt

1Einleitung

1.1Forschungsansatz und Fragestellung

1.2Empirische Forschungsdaten und Danksagung

2Lobbyisten im Fadenkreuz der Forschung

2.1Europäisches Lobbying als Organisationsfeld

2.2Europäisches Lobbying als Berufsfeld

2.3Die Konstituierung des Berufsfeldes: eine theoretische Verortung

3Die Genese des Arbeitsfelds: Innenansichten

3.1Entwicklungslinien und kritische Wegscheiden

3.1.1Die alten Tage: ein Umbruch in Raten

3.1.2The big shift: der quantitative und qualitative Wandel des Lobbyings

3.2Kompetitives Lobbying: die Steigerungsdynamiken im aktuellen Feld

3.2.1Institutionelle Veränderungen

3.2.2Entwicklungen im Lobbysektor

3.3Der Blick zurück: Genese eines Feldes professioneller Tätigkeit

4Das Lobbyingpersonal: Strukturen, Profile, Selbstverständnisse

4.1Die EU-Affairs-Professionals: die Konturen und Strukturen des Personals

4.1.1Schätzungen zur Größe des Personals

4.1.2 Das soziodemographische Profil der EU-Affairs-Professionals

4.1.3Die hohe Diversität der persönlichen und beruflichen Hintergründe

4.1.4Die Welt der EU-Affairs: Brüssel und noch mehr?

4.2EU-Affairs und Lobbying: Tätigkeitsschwerpunkte und Selbstverständnisse

4.2.1Tätigkeitsschwerpunkte

4.2.2Berufliche Selbstverständnisse

4.3Das Tätigkeitsfeld der EU-Affairs: Aufgabenvielfalt und Multitasking

4.3.1Prekäre Grenzziehungen

4.3.2Aufgaben- und Tätigkeitsprofile eines komplexen Arbeitsfeldes

Kerntätigkeit des ›reinen‹ Lobbyings

Abstimmung: die Hinterbühne des Lobbyings

Informations- und Kommunikationsarbeit

4.4Fazit: ein Arbeitsfeld mit ausfransenden Rändern

5Die Verberuflichung des Lobbyings: Strukturierung und Schließung berufsmäßiger Beschäftigung

5.1Die berufliche Struktur des Arbeitsfeldes: Beschäftigungsformen

5.1.1European Affairs als Vollzeitbeschäftigung

5.1.2Anstellungsverhältnisse und berufliche Autonomie

5.1.3Einkommensverhältnisse und Motivlagen

5.2Die sektorale Durchlässigkeit des Berufsfeldes: multiple Berufserfahrungen

5.2.1Sektorale Segmentierung? Zum Integrationsgrad des Arbeitsmarktes

5.2.2Der Drehtüreffekt: die Bedeutung von Insidererfahrungen

5.3Normierte Laufbahnen: Berufseinstiege in ein etabliertes Feld

5.3.1Die Vielfalt beruflicher Laufbahnen

5.3.2Übliche und typische Berufswege

5.3.3Normale und normierte Laufbahnen

5.4Die Welt der EU Affairs: berufliche Ambitionen und Karrieren

5.5Fazit: die normierende Kraft des Berufsfeldes

6Die Professionalisierung des Lobbyings: Strukturierung und Schließung professionellen Wissens

6.1Die Akademisierung des Berufsfeldes: Verdrängungsprozesse

6.1.1Akademisierung und Spezialisierung

Die Akademisierung des Arbeitsfeldes

Die akademische Spezialisierung des Berufsfeldes

6.1.2Akademische Berufseinstiege: die Verdrängung der Quereinstiege

6.2Die Kanonisierung des Wissens: spezialisierte Expertise

6.3Die Schließung des Berufsfeldes: Berufspraxis als Kapitalakkumulation

6.3.1Professionalität als Lösung: die Herausforderungen beruflicher Arbeit

6.3.2Die professionellen Weihen: die drei Stufen der Erleuchtung

6.3.3Das berufliche Kapital des europäischen Lobbyings

Kontaktnetzwerke und Beziehungskapital

Informationen und zweckdienliche Argumente

Insiderwissen und das richtige Gespür

Organisationsressourcen und Präsenz

6.4Professionelle Distinktion: Zugänge zur Macht

6.4.1Der symbolische Mehrwert professionellen Handelns

6.4.2Einen Namen haben: Ruf und Reputation

6.4.3Einer von uns sein: Zugehörigkeit

6.5Fazit: die professionelle Schließung eines heterogenen Berufsfeldes

7Die Legitimität des europäischen Lobbyings: Spaltungen und Konflikte eines politischen Feldes

7.1Das professionalistische Ethos: eine gemeinsame Mission?

7.2Professionelle Anerkennung: externe und interne Legitimität

7.3EU-Lobbying als umkämpftes Feld: Legitimierung und Delegitimierung

7.3.1Lobbying und Demokratie: generalisierte Anerkennung

7.3.2Der Kampf um Anerkennung: wechselseitige Delegitimierung

Partikularistische Legitimität

Universalistische Legitimität

Legitimatorische Relativierungen

7.4Fazit: Lobbying zwischen Professionalismus und Aktivismus

8Europäisches Lobbying: Befunde und Implikationen

8.1Lobbying als Berufsfeld: professionelle Positionen und soziale Distinktion

8.2Dynamiken und offene Fragen

8.3Implikationen

Literatur

1Einleitung

Lobbying ist Teil des politischen Alltags der Europäischen Union. Bemerkenswert ist vor allem das hohe Maß an Normalität, das der politischen Interessenvertretung zugeschrieben wird. Die Zahl der Verbände, Unternehmen und Vereinigungen ist groß, die eigene Büros in Brüssel unterhalten, um europäische Politik aus nächster Nähe verfolgen und beeinflussen zu können. Zahlreich sind aber auch die Gelegenheiten, die sie zur Artikulation ihrer Interessen nutzen, da europäische Gesetzgebungsverfahren verschiedene Formen der Konsultation vorsehen, gleichwie europäische Lobbygruppen das Gespräch mit Mitgliedern der europäischen Institutionen (Kommission, Parlament und Ministerrat) auch jenseits formaler Verfahren suchen. Auf dieser Grundlage entstehen dauerhafte Kontakte, die von den beteiligten Akteuren als ein normales und sinnvolles Element der politischen Willensbildung betrachtet werden. Tatsächlich scheint Lobbying der vorherrschenden Meinung zufolge mehr Nutzen zu bringen als Schaden anzurichten. Es müsse zwar davon ausgegangen werden, dass Lobbygruppen vor allem eigene Interessen und Ziele verfolgen. Die europäischen Institutionen seien aber durchaus in der Lage, die vorgelegten Informationen, Einschätzungen und Forderungen zu nutzen, um politische Entscheidungen zu treffen, die ein höheres Maß an Ausgewogenheit, Angemessenheit und Effektivität besitzen. Zugleich könne die Breite der Beteiligung auch demokratischen Ansprüchen gerecht werden, da Lobbying dafür sorge, dass gesellschaftliche Themen und Interessen auch jenseits periodischer Wahlen an die europäischen Institutionen herangetragen werden. Eine sinnvolle Beteiligung von Interessengruppen könne folglich die Kluft zwischen der EU und den nationalen Gesellschaften überbrücken helfen.

Die Normalität des europäischen Lobbyings steht aber auch in der Kritik. Es wird der grundlegende Vorbehalt geäußert, dass europäische Interessengruppen zu viel Einfluss auf gewählte Politikerinnen und Politiker haben. Sie riskieren, zu bloßen Erfüllungsgehilfen mächtiger Interessengruppen zu werden. Aber auch diejenigen, die eine weniger grundsätzliche Kritik üben, geben ihr Unbehagen an der Vielzahl der Interessengruppen kund, die sich im Wettstreit um Einfluss befinden. Dies könne die politische Willensbildung und Entscheidungsfindung innerhalb wie auch zwischen den europäischen Institutionen erschweren und damit die Funktionsweise der EU behindern. Diese Kritik kommt auch aus den Reihen der europäischen Interessengruppen selbst, denn der Wettstreit erhöht den Aufwand, den die einzelnen Lobbyistinnen und Lobbyisten betreiben müssen und kann beträchtliche Ressourcen binden. Schließlich bemängeln lobbyingkritische Nichtregierungsorganisationen unlautere oder illegale Geschäftspraktiken einzelner Interessengruppen. Vor allem aber werden strukturelle Ungleichgewichte und systematische Legitimitätsdefizite angeprangert, etwa die Übervölkerung Brüssels mit Lobbyistinnen und Lobbyisten, die Übermacht bestimmter Interessengruppen gegenüber anderen gesellschaftlichen Kreisen oder die Aggressivität mancher Lobbygruppen.

Europäisches Lobbying ist ein brisantes öffentliches Thema, das aber auch die wissenschaftliche Forschung auf den Plan gerufen hat. Zahlreich sind die Studien, die sich mit diesem Thema befassen und auf diese Weise die besondere Bedeutung der europäischen Interessenvertretung im politischen Alltag der EU bestätigen. Hierauf soll im folgenden Kapitel näher eingegangen werden. Das wissenschaftliche Interesse hat aber nicht nur mit der politischen Relevanz und Brisanz zu tun, sondern entzündet sich auch an der Vielschichtigkeit und Unübersichtlichkeit des Gegenstandes. Europäisches Lobbying ist kein Tätigkeitsbereich, der sich leicht definieren, vermessen und verstehen lässt. Bei näherer Betrachtung stellt er sich als vielschichtig und diffus, dynamisch und wandelbar heraus, womit er trotz der großen Zahl an Studien und Befunden die wissenschaftliche Neugierde weiterhin wachhält.

Unproblematisch dürfte der Versuch sein, den Kernbereich des Tätigkeitsfeldes auszumachen. Lobbying umfasst zunächst alle aktiven Bemühungen, das Abstimmungsverhalten politischer Entscheidungsträgerinnen und -träger zu beeinflussen. Zu diesen Bemühungen gehören Aktivitäten wie beispielsweise die Mobilisierung der eigenen Mitgliedsbasis, die Durchführung öffentlicher Kampagnen, die Mitwirkung an Anhörungen oder Ausschusssitzungen und die Vorlage von Formulierungsvorschlägen für anstehende Gesetzgebungsverfahren. Weniger eindeutig fällt das Bild aus, sobald es um die Rolle von Sachverstand und Expertise geht. In Vorbereitung auf politische Entscheidungen innerhalb der Kommission und des Parlaments werden zahlreiche Informationen und Fakten gesammelt, Berichte und Analysen erstellt, wissenschaftliche Studien in Auftrag gegeben oder Fachexpertinnen und -experten angehört. Als Lobbying sind diese Tätigkeiten immer dann zu bezeichnen, sobald sie von Gruppierungen mit dem Ziel einer politischen Beeinflussung des Gesetzgebungsprozesses betrieben werden. Mit den Informationen, Analysen und Studien dürften Lobbygruppen bestimmte Zwecke verfolgen, weshalb vermutet werden kann, dass sie selektive Sichtweisen und Standpunkte vertreten. Schwieriger wird die Abgrenzung, sobald es darum geht, die Rolle von Fachexpertinnen und -experten, Thinktanks oder wissenschaftlichen Instituten zu bestimmen. Obwohl sie nicht notwendigerweise politische Ziele verfolgen, die explizit als Interessenvertretung bezeichnet werden können, haben ihre Berichte, Analysen oder Stellungnahmen unter Umständen eine solche Wirkung oder sie werden von interessierten Kreisen entsprechend genutzt.

Die Schwierigkeiten einer eindeutigen Zuordnung veranschaulichen das Problem, das Feld des europäischen Lobbyings trennscharf abzustecken und in seiner Größe und Struktur zu erfassen. In Bezug auf Organisationen ist es nicht offensichtlich, wer zum Feld des europäischen Lobbyings dazugehört, denn je nach Mandat und Zielsetzung dürften Verbände, Unternehmensrepräsentanzen, Nichtregierungsorganisationen, gemeinnützige Stiftungen, öffentliche Körperschaften, Berufsverbände, Thinktanks, PR-Agenturen oder Kanzleien in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Umfang Arbeiten erbringen, die als direktes oder indirektes Lobbying bezeichnet werden können. Gleiches gilt auch für das Personal, denn nicht alle Personen, die bei Lobbygruppen arbeiten, sind an der Interessenvertretung beteiligt. Zum Teil sind sie mit anderen Routineaufgaben innerhalb der Organisation betraut, zum Teil mit spezifischen Teilaspekten, die mit Interessenvertretung zu tun haben können, aber nicht müssen (zum Beispiel Recherche und Monitoring, Öffentlichkeitsarbeit, Rechtsprüfung, Kontaktpflege). Gleichzeitig kann das Spektrum der beteiligten Personen sehr breit ausfallen. Interessengruppen können nicht nur auf ihre eigenen Lobbyistinnen und Lobbyisten zurückgreifen, sondern auch auf andere Personen in ihrem Umfeld: auf Mitglieder des Unternehmensvorstandes, auf Angestellte in einer Fachabteilung mit einer spezifischen Expertise, auf Mitarbeiterinnen der Öffentlichkeitsarbeit, auf die Mitglieder oder Unterstützungsbasis ihrer Einzelverbände, auf externe Rechtsanwälte, wissenschaftliche Gutachterinnen oder Vertreter von Berufsverbänden. Im Kernbereich des europäischen Lobbyings dürfte eine klare Zuordnung noch möglich sein, aber nach außen franst das Feld zunehmend aus, weshalb der potenzielle Kreis der Beteiligten unbegrenzt und damit auch unbestimmbar ist.

Mit dieser Unschärfe hat sich der europäische Gesetzgeber bereits wiederholt auseinandergesetzt (European Parliament 2003; Holman/Luneburg 2012). Vor allem stand die Frage im Mittelpunkt, welche Gruppen, Personen und Tätigkeiten nun genau dem europäischen Lobbying zuzurechnen sind. In diesen Zusammenhang haben die Europäische Kommission und das Europäische Parlament Maßnahmen auf den Weg gebracht, die im Wesentlichen die Arbeitsbeziehungen zwischen den europäischen Institutionen und den Interessengruppen zu regeln suchen. Beiden Seiten werden Transparenzpflichten auferlegt, ohne das Feld des europäischen Lobbyings selbst zu reglementieren. Der Europäischen Kommission zufolge gilt es, zu vermeiden, dass gesellschaftliche Gruppierungen davon abgehalten werden, ihre Expertisen, Anliegen und Forderungen vorzubringen, unabhängig davon, um welche Themen, Gruppierungen und Interessen es geht (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1992; Europäische Kommission 2016). Darüber hinaus zeigen die EU-Institutionen eine hohe Bereitschaft, schwach oder schwer zu organisierenden gesellschaftlichen Interessen ideell, logistisch und finanziell unter die Arme zu greifen (Persson/Edholm 2018; Sanchez Salgado 2019), damit sie sich als europäische Vereinigung etablieren und in die politische Willensbildung und Entscheidungsfindung eingreifen können. Schließlich sollen institutionelle Zugangshürden niedrig gehalten werden, um eine breite Beteiligung zu sichern.

Dieser affirmative und inklusive Ansatz zeigt, dass die EU-Kommission und das EU-Parlament an Gesprächen mit Beratern, Expertinnen und Interessenvertretern durchaus interessiert sind. Um die verschiedenen Generaldirektionen der EU und die entsprechenden Parlamentsausschüsse haben sich über die Jahre hinweg eigene, politikfeldspezifische Arenen der Konsultation etabliert, in die unterschiedlichste Interessengruppen eingebunden sind. Damit trugen die institutionellen Eigenbedarfe der EU zum Wachstum, zur Ausdifferenzierung und zur Strukturierung des Feldes organisierter Interessen bei. Das Wachstum hat vor allem während der 1980er und 1990er Jahre an Fahrt aufgenommen und nährt den Eindruck, dass Brüssel mit Interessengruppen übervölkert ist. Selbst die beteiligten Lobbyistinnen und Lobbyisten berichten, dass sie dieses Feld kaum noch in seiner Gänze überblicken können.

Tatsächlich fällt es den Akteuren, die um eine Einschätzung und Einordnung bemüht sind (die EU-Institutionen, die Watch-dog-NGOs, die Wissenschaft), ausgesprochen schwer, genaue Angaben über die Zahl der europäischen Lobbygruppen vorzulegen. Das Problem sind die unklaren Grenzen des Organisations- und Tätigkeitsfeldes. Zu den bereits genannten Unschärfen des Lobbyings gesellen sich noch die Schwierigkeiten, klare Grenzen zwischen europäischen und nationalen Interessengruppen und Lobbyingaktivitäten zu ziehen. Auch ist davon auszugehen, dass die Zahl der aktiven Interessengruppen über die Zeit deutlichen Schwankungen unterworfen ist, je nachdem welche politischen Maßnahmen innerhalb der EU beraten werden und wie breit der Kreis der von der Regulierung betroffenen Gruppierungen ist. Noch unpräziser sind die verfügbaren Daten, sobald es darum geht, die Zahl der aktiven Lobbyistinnen und Lobbyisten zu ermitteln. Wie viele Personen in den jeweiligen Organisationen zu welchen Anteilen mit Aufgaben des Lobbyings betraut sind, entzieht sich der genauen Kenntnis.

Aus den genannten Gründen arbeiten die meisten Studien mit Schätzungen, die allerdings zum Teil deutlich divergieren (Berkhout/Lowery 2008; Wonka u. a. 2010). Den größten Zuwachs verzeichnete das Organisationsfeld in den 1980er und 1990er Jahren. 1992 wurde die Zahl der aktiven Interessengruppen mit 3.000 angegeben, womit die Zahl deutlich unterhalb dessen lag, was für die USA bekannt ist, denn dort wuchs das Feld bis 1998 auf über 16.000 Gruppierungen an (Woll 2005). In den Folgejahren ist das europäische Feld zwar weitergewachsen: 2013 waren über 5.500 Interessengruppen im Transparenzregister der EU aufgeführt (Greenwood/Dreger 2013) und 2016 wurden über 9.700 Organisationen gezählt (Greenwood 2017: 13). An die US-amerikanischen Verhältnisse kommt die EU damit aber nicht heran.

Die Zahl der aktiven Lobbyistinnen und Lobbyisten liegt erwartungsgemäß über der Zahl der Interessengruppen. Im Jahr 2010 wurde sie auf über 15.000 Personen geschätzt (Alter-EU 2010: 23), es gibt aber auch Schätzungen, die das Personal bei 30.000 bis 50.000 Vollzeitbeschäftigten verorten (LobbyControl 2012: 3; European Parlament 2018). Allerdings sind hier die bereits besprochenen Unschärfen zu berücksichtigen. Unklar ist, ob es sich tatsächlich um aktiv tätige Lobbyistinnen und Lobbyisten handelt, die politischen Einfluss auf die europäische Gesetzgebung auszuüben suchen. Des Weiteren wird nicht genauer spezifiziert, auf welchen Angaben und Berechnungen diese Schätzungen beruhen. Die für dieses Buch erhobenen Daten werden eine differenziertere Schätzung ermöglichen, denn sie baut auf einer Unterscheidung zwischen EU-Affairs und europäischem Lobbying auf. Während der erste Arbeitsbereich umfassender ist und folglich ein größeres Personal beschäftigt, ist Lobbying auf einen spezifischeren Aufgabenbereich und ein deutlich spezialisiertes Personal begrenzt. Wie noch genauer auszuführen sein wird, geht die hier vorgeschlagene Schätzung von über 18.000 EU-Affairs-Professionals aus, während die Gesamtpopulation im Bereich des europäischen Lobbyings bei etwa 13.000 Personen liegen müsste (siehe Kapitel 4.1). Allerdings werden die folgenden Kapitel zeigen, dass die Grenzen zwischen EU-Affairs und europäischem Lobbying fließend sind. Wer der Komplexität des Berufsfeldes und Personals gerecht werden möchte, der muss sich folglich auf eine differenzierte und systematische Analyse einlassen.

1.1Forschungsansatz und Fragestellung

Die sozialwissenschaftliche Forschung hat sich seit den 1970er Jahren eingehend mit europäischem Lobbying befasst. Bislang haben sich die meisten Studien für das Organisationsfeld europäischer Interessengruppen interessiert und in dieser Hinsicht eine Vielzahl von Themenfeldern, Dimensionen und Entwicklungen bearbeitet (so Pedler/Schendelen 1994; Greenwood 2002; Michalowitz 2007a; Kohler-Koch/Quittkat 2010; Bitonti/Harris 2017). Im Zentrum standen und stehen auch weiterhin der Umfang und die Struktur des Organisationsfeldes (Eising/Kohler-Koch 1994; Berkhout/Lowery 2010; Berkhout u. a. 2015), die Strategien organisierten Lobbyings (Green Cowles u. a. 2001; Dür/Mateo 2016; Keller 2018), Wirkungen und Bedingungen erfolgreichen Lobbyings (Dür 2008; Dionigi 2017; Bruycker/Beyer 2019) sowie Kommunikationsformen und Framingstrategien (Klüver u. a. 2015b; Eising u. a. 2015; Rasch 2018).

Kaum behandelt wurden demgegenüber das Personal und damit das Arbeitsfeld der europäischen Lobbyistinnen und Lobbyisten. Unbeantwortet blieb deshalb die Frage, ob und in welchem Ausmaß es zur Etablierung eines spezialisierten Arbeitsmarktes, Personalstamms und Berufsfeldes gekommen ist. Unklar ist damit auch, ob sich dieses Tätigkeitsfeld durch eigene Zugangsvoraussetzungen, Tätigkeitsprofile, Wissensbestände, Kontaktstrukturen und Selbstverständnisse auszeichnet. Die bisherige Forschung hatte zwar vereinzelte Indizien dafür gesammelt, dass sich ein solches Berufsfeld und Personal etabliert haben (zum Beispiel McGrath 2005; Michel 2006; Klüver 2010; Kohler-Koch/Buth 2011: 199 f.; Coen/Vannoni 2016). Gesicherte Erkenntnisse und systematische Analysen liegen bislang aber nicht vor. Das ist deshalb bedauerlich, weil die Forschung aufgrund dieser Wissenslücke nicht nur ein unvollständiges, sondern womöglich auch ein verkürzendes Bild vermittelt. Denn während die bisherigen Befunde vor allem eine Ausdifferenzierung, Pluralisierung und Fragmentierung des europäischen Lobbyings als Organisationsfeld belegen, nimmt das vorliegende Buch an, dass es auf der Personalebene unter Umständen zu einer weitreichenden Integration und Schließung des Berufsfeldes gekommen sein könnte. Die Offenheit, Pluralität und Heterogenität des Organisationsfeldes würden auf diese Weise durch die Geschlossenheit, Uniformität und Homogenität des Berufs- und Handlungsfeldes ergänzt und eingehegt werden. Das Berufsfeld hätte auf diese Weise einen entscheidenden Einfluss darauf, auf welche Weise gesellschaftliche Interessen auf europäischer Ebene vertreten werden und sich Gehör verschaffen.

Zur Beantwortung der forschungsleitenden Fragen nach der Rolle des Personals greift das vorliegende Buch auf einen Bezugsrahmen zurück, der in der Professionssoziologie fußt (so etwa Larson 1977; Freidson 1986; Abbott 1988; Burrage/Torstendahl 1990; Pfadenhauer 2003; Evetts 2013; Georgakakis/Rowell 2013). Im Wesentlichen soll überprüft werden, ob Prozesse der Verberuflichung und Professionalisierung durchlaufen wurden, durch die das Tätigkeitsfeld auf Grundlage gemeinsamer beruflicher Laufbahnen, Wissensbestände und Selbstverständnisse konstituiert, organisiert und reguliert wird. Dieser professionssoziologische Bezugsrahmen verspricht neue Erkenntnisse, weil Professionen in der Soziologie als wichtige kollektive Akteure einer Strukturierung von Handlungs- und einer Homogenisierung von Organisationsfeldern gelten (DiMaggio/Powell 1983; Scott, 2008; Kauppi/Madsen 2013).

Die aufgeworfenen Fragen müssen in empirisch-deskriptiver und analytisch-theoretischer Hinsicht beantwortet werden. Einerseits müssen die Prozesse der Verberuflichung und Professionalisierung empirisch belegt werden. Zu diesem Zweck sollen die Ergebnisse langjähriger Forschungsarbeiten im Feld vorgestellt werden: Zum einen kann auf die Daten einer standardisierten Umfrage unter europäischen Lobbyistinnen und Lobbyisten zurückgegriffen werden, zum anderen auf eine Reihe von problemzentrierten Interviews mit relevanten Akteuren. Der Untersuchungsfokus liegt ausschließlich auf der supranationalen Arena und schließt damit die Interessenvertretung innerhalb der einzelnen Mitgliedsländer aus – sofern diese nationale Handlungsebene nicht selbst Teil des Tätigkeitsprofils europäischer Lobbyistinnen und Lobbyisten ist. Im Zentrum steht das Personal, weshalb europäisches Lobbying über eine Befragung der beteiligten Personen als Tätigkeits- und Berufsfeld empirisch rekonstruiert und analysiert werden soll.

Andererseits verfolgt die vorliegende Untersuchung auch eine analytisch-theoretische Zielsetzung. Es wird vermutet, dass die Strukturen und Dynamiken des europäischen Lobbyings zu einem gewichtigen Anteil vom Grad seiner Beruflichkeit und Professionalität bestimmt werden. Prozesse der Verberuflichung und Professionalisierung herauszuarbeiten, heißt folglich, die Strukturmerkmale zu identifizieren, die das Tätigkeitsfeld als Berufsfeld ordnen und leiten. Der Blick soll auf Prozesse gerichtet werden, da die Strukturierung des Berufsfeldes aller Voraussicht nach unvollständig und umkämpft bleiben dürfte. Tatsächlich wird auf einen konflikttheoretischen Bezugsrahmen rekurriert, der die Professionalisierung als einen stets offenen Prozess der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Akteuren mit unterschiedlichen Vorstellungen beruflicher Praxis, Expertise und Legitimität versteht (Larson 1977; Freidson 1986; Collins 1987; Georgakakis/Rowell 2013). Diese Analyse soll neue Erkenntnisse über die berufsfeldimmanenten Dynamiken des europäischen Lobbyings, die konkurrierenden kollektiven Akteure und die relevanten institutionellen Kontextfaktoren (Märkte, staatliche Regulierungen, Berufsverbände, Öffentlichkeiten, Wissenschaft) ermitteln helfen.

Das Buch wird die Befunde schrittweise präsentieren. Im zweiten Kapitel wird auf den Stand der Forschung in den beiden für diese Untersuchung relevanten Themenbereichen – europäisches Lobbying zum einen, Berufsfelder und Professionen zum anderen – zurückgeblickt. Das Kapitel wird die für diese Untersuchung relevanten Erkenntnisse der Professionssoziologie darlegen. In diesem Zusammenhang soll vor allem auf die neueren Debatten verwiesen werden, die sich für den Strukturwandel professioneller Arbeit und Expertise interessieren und deshalb besonders geeignet erscheinen, die Komplexität des Tätigkeitsfeldes der EU-Affairs analytisch zu durchdringen. Darüber hinaus interessiert sich dieses Kapitel auch für die Forschung zum europäischen Lobbying. Obwohl die allermeisten Studien Lobbyorganisationen in den Blick nehmen, werden die vorliegenden Befunde und Erkenntnisse dabei helfen, die empirische Untersuchung des Personals auszurichten und anzuleiten. Es wird sich zeigen, dass die Analyse des Berufsfeldes nicht ohne Referenzen zum Organisationsfeld auskommt. Vor allem aber ist zu berücksichtigen, dass europäisches Lobbying ein anspruchsvolles, zum Teil auch schwer zu erforschendes Themenfeld ist, weshalb es wichtig ist, die eigenen Befunde in den Kontext des bisherigen Wissens zu stellen und kritisch zu reflektieren.

Die zwei folgenden Kapitel führen in das Tätigkeitsfeld des europäischen Lobbyings ein. Das dritte Kapitel befasst sich mit der Entstehung und Entwicklung des Arbeitsfeldes, wobei hier vor allem die Innenansicht der betroffenen Akteure im Vordergrund steht. Es wird dargestellt, wie die Lobbyistinnen und Lobbyisten die Genese des Feldes wahrnehmen und schildern. Die Befunde belegen nicht nur bemerkenswerte Kontinuitäten in Bezug auf Tätigkeitsprofile, sondern auch wichtige Veränderungen, die vor allem die Verberuflichung und Professionalisierung betreffen. Im vierten Kapitel wird ein erster Versuch unternommen, das Berufsfeld über das Personal zu rekonstruieren. Im Zentrum stehen soziodemographische Merkmale, Tätigkeitsprofile und berufliche Selbstverständnisse. Die Ausführungen werden zeigen, dass das Berufsfeld von den bereits beschriebenen Unschärfen geprägt ist: Neben den Aktivitäten des Lobbyings im eigentlichen Sinne sind wahlverwandte, affine oder komplementäre Tätigkeiten zu nennen. Die Befunde zeichnen das Bild eines Berufsfeldes, das im Kernbereich klar konturiert ist, nach außen aber zusehends ausfranst.

Kapitel 5 und 6 wenden sich der Verberuflichung und Professionalisierung des europäischen Lobbyings zu. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der Verberuflichung und stellt heraus, dass politische Interessenvertretung auf EU-Ebene ein eigener Beruf im Sinne hauptamtlicher und bezahlter Vollbeschäftigung ist. Hinzu kommt, dass sich Berufslaufbahnen der Beschäftigten bemerkenswert ähneln, was für einen spezialisierten Arbeitsmarkt mit eigenen Zugangshürden und Karriereverläufen spricht. In Bezug auf die Professionalisierung (Kapitel 6) wird ermittelt, dass europäisches Lobbying ein durchweg akademisiertes Berufsfeld ist, das sich durch gemeinsame Wissensbestände auszeichnet. Die Auswertungen können zwar unterschiedliche Personengruppen identifizieren, die unterschiedliche Varianten eben dieses beruflichen Wissens verinnerlicht haben. Insgesamt aber kann gezeigt werden, dass das Berufsfeld einem Schließungsprozess unterworfen ist. Wer zum Kreis der professionell anerkannten und erfolgreichen Lobbyistinnen und Lobbyisten gehören möchte, scheint darauf angewiesen zu sein, beruflich relevante Kapitalien und einen dazugehörigen professionellen Habitus zu erwerben.

Das siebte Kapitel greift die in der Professionssoziologie intensiv diskutierte Annahme auf, dass Berufsarbeit unweigerlich Legitimationsfragen aufwirft, da Berufsgruppen Aufgaben- und Arbeitsbereiche für sich reklamieren. Die Ausführungen werden zeigen, dass europäisches Lobbying gleich mehrfach – als Tätigkeit und als Beruf – legitimationsbedürftig ist. In beiderlei Hinsicht teilen die meisten Berufstätigen einen gemeinsamen Legitimationsglauben, der sich in einer grundsätzlich affirmativen Einstellung zum Lobbying und in einem Ethos des Professionalismus manifestiert. Ein solcher Legitimationsglaube ist vor allem im Kernbereich des Berufsfeldes weitverbreitet. Allerdings brechen an der Legitimitätsfrage Spaltungen und Konflikte auf. Es wird sich zeigen, dass die beruflich Aktiven nicht allesamt der Auffassung sind, dass Lobbying eine gesellschaftlich anerkannte und politisch legitime Tätigkeit ist. Vielmehr brechen Interessen- und Wertekonflikte auf, da die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterschiedlicher Interessengruppen verschiedene, zum Teil unvereinbare Legitimationsvorstellungen und Rechtfertigungsmuster verinnerlicht haben. Das Berufsfeld ist folglich von einem Legitimationskonflikt geprägt, der wechselseitige Versuche der Rechtfertigung und Delegitimierung der politischen Gegner impliziert.

Die Ergebnisse zeichnen das Bild eines Berufsfeldes, das durch gemeinsame und gegensätzliche Kräfte gekennzeichnet ist. Das abschließende Kapitel setzt sich zum Ziel, diese zuweilen paradox anmutenden Befunde im Lichte der bisherigen Forschung zu reflektieren. Lobbying ist ein politisch gespaltenes, aber beruflich hochgradig homogenisiertes Tätigkeitsfeld. Es kann folglich nur verstanden werden, wenn europäisches Lobbying als Organisations- und Berufsfeld zugleich betrachtet wird. In dieser Hinsicht wird argumentiert, dass die Erforschung des Personals mehr Aufmerksamkeit verdient, um die Triebkräfte, Formen und Folgen einer Verberuflichung und Professionalisierung des europäischen Lobbyings besser zu verstehen.

1.2Empirische Forschungsdaten und Danksagung

Dieses Buch präsentiert die Ergebnisse langjähriger Forschungsarbeiten. Im Wesentlichen werden die Befunde eines Forschungsprojektes vorgestellt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert wurde und von Mai 2014 bis März 2019 durchgeführt wurde (»Die Verberuflichung europäischen Lobbyings«). Darüber hinaus wurden auch Daten (insbesondere Interviews) aus einem vorangegangenen DFG-Projekt genutzt, das sich ebenfalls mit europäischem Lobbying befasst hatte und in den Jahren zwischen Juli 1997 und Juni 1999 umgesetzt wurde (»Interessenvertretung in Mehrebenensystemen«). Ziel des jüngeren Forschungsprojektes war es, das Lobbyingpersonal einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen. Da es sich um eine weitestgehend unerforschte Thematik handelt, war das Projekt darauf angewiesen, das Untersuchungsfeld empirisch zu erschließen. Insbesondere sollten Datensätze generiert werden, die einen umfangreicheren Über- und Einblick in das Berufsfeld vermitteln. Das Projekt folgte der Empfehlung der aktuelleren Forschung, die vorherrschende Orientierung an Einzel- und Fallanalysen zu überwinden und das Untersuchungsfeld stattdessen als Ganzes in den Blick zu nehmen (Beyers u. a. 2008; Franchino 2005; Coen 2007; Beyers 2008; Eising 2008). Tatsächlich sind viele der jüngeren Studien von dem Willen angetrieben, Datensätze mit hoher Fallzahl zu generieren, um umfassendere und generalisierbare Erkenntnisse generieren zu können (siehe beispielsweise Beyers u. a. 2014; Eising 2016; Eising u. a. 2017).

Das eigene Forschungsprojekt nutzte einen Mix-Methods-Ansatz, um der Aufgabenstellung gerecht zu werden. Zum einen wurden qualitative, explorative und theoriegenerierende Forschungsarbeiten durchgeführt, um das weitgehend unerforschte Personal in den Blick zu nehmen. Es galt, die feldimmanenten Gegebenheiten zu erheben und induktiv zu synthetisieren. Zum anderen wurde auf einen quantitativen und hypothesentestenden Forschungsansatz zurückgegriffen, der auf eine standardisierte Umfrage unter europäischen Lobbyistinnen und Lobbyisten und eine statistische Auswertung der erhobenen Daten abzielte. Die Auswertungen sollten generalisierbare Ergebnisse über die Struktur des Berufsfeldes generieren, insbesondere sollte die These einer Verberuflichung und Professionalisierung des Tätigkeitsfeldes verifiziert und kritisch diskutiert werden.

Die Daten, auf die das vorliegende Buch zurückgreift, können in ihrer Breite als einzigartig deklariert werden. Sie haben aber auch ihre Grenzen, denn bei der empirischen Vermessung des Berufsfeldes mussten konzeptionelle und methodische Entscheidungen getroffen werden, die den Untersuchungsgegenstand und damit auch die Gesamtpopulation der untersuchten Personen eingrenzten. Bei der Bestimmung dessen, was als ›europäisches Lobbying‹ zu gelten habe, verfolgte das Projekt einen exklusiven Ansatz. Es wurden nur die Personen berücksichtigt, die sich mit europäischem Lobbying explizit befassen. Genauer gesagt, ging es um die Personen, die mit der Vertretung gesellschaftlicher Interessen gegenüber den Institutionen der Europäischen Union betraut sind. Beim Umfang der diesbezüglichen Tätigkeiten wurden keine Mindestanforderungen gestellt, weshalb auch Personen einbezogen wurden, die sich gegebenenfalls nur partiell, gar randständig mit europäischem Lobbying im obigen Sinne beschäftigen. Wie die späteren Kapitel zeigen werden, hat sich dieser exklusive Ansatz als durchaus inklusiv herausgestellt, denn die Breite und Variabilität der erhobenen Tätigkeitsprofile, Berufsbilder und Selbstverständnisse ist beachtlich.

Der explizite Fokus auf europäisches Lobbying hatte Implikationen für die Stichproben der befragten Personen, da er bewusst auf eine Selbstselektion der Befragten setzte. Interviewanfragen und die Einladung zur Teilnahme an der standardisierten Umfrage enthielten Hinweise auf die Themenstellung und Zielsetzung der Befragung (›europäisches Lobbying‹), weshalb es auch zu einer Reihe von Absagen bzw. Abbrüchen kam. Tatsächlich nahmen nur Befragte an den beiden Erhebungen teil, die sich diesem Tätigkeitsbereich zumindest partiell persönlich zurechnen. Die Befragten sehen sich zwar nicht notwendigerweise als ›Lobbyistinnen‹ oder ›Lobbyisten‹, geben aber an, an Lobbying als Tätigkeit beteiligt zu sein. Damit kann die vorliegende Studie zwar Aussagen über das Berufsfeld des europäischen Lobbyings treffen, sie eröffnet aber kaum Einblicke in das erweiterte Feld der politischen Interessenvertretung. Akteure, die sich nicht direkt und explizit an die EU-Institutionen wenden, bleiben unberücksichtigt. Dies betrifft Interessenvertreterinnen und -vertreter, die in den europäischen Mitgliedsländern leben und ein ausschließlich nationales Handlungsmandat haben. Das heißt aber nicht, dass die eigenen Daten auf Brüssel beschränkt bleiben. Ganz im Gegenteil leben viele der befragten europäischen Lobbyistinnen und Lobbyisten nicht in Brüssel. Sie betreiben Lobbying aus den jeweiligen Ländern heraus, in denen sie ihren Wohn- und Arbeitsort haben. Der Untersuchungsgegenstand ist damit nur institutionell, aber nicht räumlich eingegrenzt: Die eigenen Daten konzentrieren sich auf EU-spezifisches Lobbying, erfassen das Feld aber in seiner gesamteuropäischen, zum Teil auch globalen Zusammensetzung.

Der dargelegte Forschungsansatz wurde entlang eines mehrstufigen Arbeitsprogramms umgesetzt. In einem ersten Schritt wurde das Berufsfeld des europäischen Lobbyings mitsamt den relevanten Kontextstrukturen über die Forschungsliteratur und über verfügbare Dokumente (insbesondere Berichte der EU-Institutionen, Thinktanks oder lobbyingkritischer Vereine, ausgewählte Hintergrundberichte der Medien u. a.) rekonstruiert. Partiell wurden Experteninterviews mit zentralen Akteuren (Mitglieder der EU-Kommission und des EU-Parlaments, relevante NGOs und Journalisten, Berufsverbände sowie Medienvertreter) geführt. Die 16 Interviews nutzten einen gemeinsamen, aber variabel angepassten Leitfaden. Sie wurden von Frank Borchers in den Monaten zwischen Juni 2014 und April 2015 durchgeführt. Im Falle einer Einwilligung durch die Befragten wurden die Interviews aufgezeichnet und transkribiert.

Der zweite Arbeitsschritt folgte einem explorativen Forschungsansatz und nutzte qualitative Methoden der Datenerhebung und -auswertung. Die qualitative Datenerhebung lag in den Händen von Frank Borchers. Zum einen wurden längere und kürzere Feldaufenthalte in Brüssel genutzt, um Veranstaltungen zu besuchen, Gespräche aller Art zu führen und Einblicke in die praktische Arbeit einer Interessengruppe zu sammeln. Die Ergebnisse dieser teilnehmenden Beobachtungen wurden in Form von Feldnotizen dokumentiert. Zum anderen wurden 29 Interviews mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verschiedenster europäischer Lobbygruppen durchgeführt – zum Teil im persönlichen Gespräch, zum Teil über Telefon oder Videokonferenz. Diese zweite Interviewstaffel wurde im Zeitraum zwischen Juni 2015 und Februar 2016 durchgeführt. Alle Interviews wurden nach erfolgter Einwilligung aufgezeichnet und transkribiert. Für die Auswertungen in Kapitel 3 wurde auf 20 Interviews zurückgegriffen, die im Zuge des früheren DFG-Forschungsprojektes in den Jahren 1998 und 1999 durchgeführt wurden. Diese Interviews wurden mit ausgewertet, da sie Aussagen und Schilderungen enthielten, die sich auf die Situation des europäischen Lobbyings am Ende der 1990er Jahre bezogen. Sie ermöglichen es, eine zeitlich kontrastierende Auswertung durchzuführen, die Einblicke in Veränderungen des Berufsfeldes vermittelt. Auch bei diesen Interviews lagen Einverständnisse und Transkripte vor.

Die Auswahl der Gesprächspartnerinnen und -partner folgte den Vorgaben des theoretischen Samplings (Morse 2007; Rapley 2014) und sollte die Breite und Vielfalt des Berufsfeldes (etwa in Bezug auf Arbeitgeber, Einsatzbereiche, Alter und Geschlecht) einzufangen helfen. Die Interviewleitfäden waren themenzentriert formuliert worden und bestanden im Wesentlichen aus Erzählaufforderungen, die flexibel an das Profil der befragten Person und an den Verlauf des Interviews angepasst wurden. Die befragten Personen gaben bereitwillig Auskunft, weshalb die Interviews einen sehr hohen narrativen Anteil aufweisen. Die Interviews wurden wortgenau transkribiert, wobei die Verschriftlichung von Betonungen und Füllwörtern unterblieb, da diese nicht Gegenstand der Analysen wurden. Die Auswertung des Interviewmaterials war methodischen Prinzipien der qualitativen Sozialforschung verpflichtet (Charmaz 2000; Mills u. a. 2006; Roulston 2014) und erfolgte in verschiedenen Schritten. Die eingehende Mikro- und Detailanalyse einer kleinen Anzahl von Interviews legte die Grundlage für eine systematische Codierung der Interviews. Die ermittelten Codes wurden zu zentralen Kategorien verdichtet. Schließlich wurden diese Kategorien genutzt, um die Interviews in einem letzten Durchlauf selektiv zu codieren. Auf diese Weise konnten verschiedene Themenbereiche induktiv ermittelt werden, die sich als relevante Strukturierungsmerkmale des Berufsfeldes erhärten ließen. Kernkategorien wurden auch im Hinblick auf Sinn- und Verweisungszusammenhänge ausgewertet, um sinnhaft verwandte Aspekte der EU-Affairs als Beruf ermitteln zu können.

Diese synthetisierende Analyse wurde durch eine interpretative Auswertung zentraler Interviewpassagen ergänzt, da die Bedeutung der ermittelten Codes und Kategorien nicht selbsterklärend ist. Die Codierung und Kategoriebildung ist als interpretative Leistung zu verstehen, weshalb die Ergebnisdarstellung den interpretativen Anteil explizit thematisieren muss. Es galt, den sozialen Sinn der ermittelten Kernmerkmale des Berufsfeldes (beispielsweise Wissensformen, Praktiken, Handlungsorientierungen, Leitbilder) aus der Perspektive der Beteiligten zu rekonstruieren. Bei der Auswahl und Interpretation der Passagen wurde auf Unterschiede geachtet, um eine Auswertung zu ermöglichen, die komparativ vorgeht, um verschiedene Positionen im Berufsfeld, die Relationen dieser Positionen zueinander und die Strukturierungsdimensionen des Berufsfeldes zu identifizieren. Die interpretative Auswertung der Passagen orientierte sich an den Prinzipien einer komparativ ausgerichteten, paraphrasierenden und analysierenden, formulierenden und reflektierenden Interpretation (Bohnsack u. a. 2001; Nohl 2001).

Bei der Präsentation der Ergebnisse wurde auf eine strikte Anonymisierung geachtet. Angesichts der guten Vernetzung des Personals musste eine Identifikation gänzlich ausgeschlossen werden, weshalb weitreichende Maßnahmen erforderlich waren. Die Darstellungen in den folgenden Kapiteln werden deshalb ohne Angaben zum Namen und Geschlecht, zur nationalen Herkunft und zum Alter der Befragten auskommen müssen. Beim Arbeitgeber beschränken sich die Informationen auf die Angabe der Hauptsektoren, denen die Organisationen zugerechnet werden können. Hier wird im Wesentlichen zwischen folgenden Sektoren unterschieden: Wirtschaftsverbände, Unternehmensrepräsentanzen, NGOs, Consultancys und Berufsvereinigungen. Die in den Kapiteln genannten Namen der Befragten sind frei erfunden, auch die sprachliche Herkunft und das Geschlecht sind nach Zufallsprinzip zugeteilt worden. Diese Anonymisierung hat sich als gangbar erwiesen und sie reduziert auch nicht den inhaltlichen Ertrag. Während der Auswertungen wurde ersichtlich, dass die Interviewaussagen nicht merklich nach Geschlecht und nationaler Herkunft variieren, weshalb eine Randomisierung zu keinem nennenswerten Informationsverlust führt. Nur der Sektor, dem der Arbeitgeber zugeordnet werden kann, hat sich als ein wichtiges Strukturierungsmerkmal des Berufsfeldes herausgestellt, weshalb in diesem Fall von einer vollständigen Anonymisierung abgesehen wurde.

Die Interviews wurden entweder auf Deutsch, Englisch oder Französisch geführt und auch in dieser Fassung ausgewertet. Im Sinne einer vollständigen Anonymisierung wurden die abgedruckten Passagen jedoch ins Deutsche übersetzt, um eine Identifizierung der Ursprungssprache zu verhindern. Eine mehrsprachige Datenerhebung und -auswertung stellt zwar erhöhte Anforderungen, auch birgt die nachträgliche Übersetzung der verwendeten Passagen das Risiko einer möglichen Verfälschung der ursprünglichen Aussagen. Allerdings war die Auswertung der Interviews nicht an impliziten Sinnbezügen und Deutungsmustern interessiert, die es tiefenhermeneutisch zu ermitteln galt. Mehr noch als eine vertiefende Analyse einzelner Passagen stand der Vergleich der Aussagen mehrerer Interviews mit Blick auf die behandelten Themen, Situationsbeschreibungen und Handlungsorientierungen im Zentrum. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass Englisch für die meisten Gesprächspartnerinnen und -partner nicht die Mutter-, sondern eine Verkehrs- und Arbeitssprache war. Auch aus diesem Grund war eine weniger ambitionierte interpretative Auswertungsstrategie am angemessensten.

Die qualitativen und explorativen Forschungsarbeiten mündeten schließlich in einen dritten Untersuchungsschritt, der darauf abzielte, eine standardisierte Umfrage unter europäischen Interessenvertreterinnen und -vertretern durchzuführen. Ziel war es, die These einer Verberuflichung und Professionalisierung des Berufsfeldes auf Grundlage einer größeren Stichprobe zu überprüfen. Bei der Konzeption dieser Umfrage musste zur Kenntnis genommen werden, dass die Umfrage nur den Grad der Beruflichkeit und Professionalität zum Zeitpunkt der Datenerhebung vermessen konnte, nicht aber langfristige Prozesse. Mit Verweis auf Mannheims Theorem der Generationenlage (Mannheim 1928/29; Kamphausen 2010) sollte aber zumindest überprüft werden, ob die Unterschiede zwischen den Befragten unterschiedlicher Altersgruppen gegebenenfalls auch auf Kohorteneffekte zurückgeführt werden könnten. Solche Kohorten- oder Generationeneffekte können dabei helfen, Aussagen über veränderte Handlungskontexte, Berufsbilder und Selbstverständnisse zu treffen.

Die Datenerhebung war von Anbeginn herausfordernd. Zum einen lag dies am Problem, dass es keine gesicherten Zahlen über die Grundgesamtheit aller europäischen Lobbyistinnen und Lobbyisten gibt. Wie bereits berichtet wurde, liegen verschiedene Schätzungen zur Stärke des Personals vor, die von 15.000 Personen sprechen (Woll 2005; Berkhout/Lowery 2008; Courty 2010) oder sogar von 30.000 bis 50.000 Vollzeitbeschäftigten ausgehen (LobbyControl 2012: 3; European Parlament 2018). Zum anderen enthalten die Datenbanken, die bei früheren Untersuchungen genutzt wurden (etwa die online verfügbare Datenbank »Coneccs« oder das »European Public Affairs Directory«), nur Angaben zu den Organisationen und keine zu den beschäftigten Einzelpersonen. Die vorliegende Untersuchung entschied sich für die Nutzung des europäischen Transparenzregisters, denn dieses Register führt auch Personen namentlich. Das Transparenzregister war 2011 von der EU-Kommission und dem Europaparlament eingeführt worden, um alle Personen zur Registrierung anzuhalten, die Zugang zum Europaparlament wünschen. Das Verzeichnis erfasst das Personal aber keineswegs vollständig, da nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Interessengruppe im Transparenzregister gemeldet sein müssen, sondern nur diejenigen, die einen Zugangsausweis wünschen. Auch sind bestimmte Gruppierungen nicht verpflichtet, sich zu registrieren – unter ihnen Rechtsanwälte und Kanzleien, politische Parteien, Kirchen, religiöse Vereinigungen und öffentliche Behörden oder Gebietskörperschaften. Obwohl das Transparenzregister das Lobbyingpersonal nicht in seiner Gänze abbildet, kann davon ausgegangen werden, dass es einen erheblichen Teil des Berufsfeldes erfasst. Personen, die EU-Lobbying beruflich betreiben und regelmäßig im EU-Parlament vorstellig werden, haben ein Interesse an einer Registrierung. Darüber hinaus haben Befragungen ergeben, dass die Teilnahme am freiwilligen Transparenzregister nicht nur instrumentellen Nutzenerwägungen folgt, sondern auch normativen Motiven, insbesondere dem Wunsch nach Wahrung der eigenen beruflichen Reputation (Năstase/Muurmans 2018). Aus diesem Grund sind auch Personen registriert, die für Gruppierungen ohne Registrierungspflicht arbeiten.

Für die Umfrage wurde ein standardisierter Fragebogen entwickelt, der die relevanten Variablen mittels einer Reihe von Frageitems erheben sollte. Zu den Themen gehörten: die Ausbildungswege und Berufslaufbahnen, Beschäftigungsformen und -verhältnisse, berufstypische Wissensbestände und Praktiken, Mitgliedschaften in Berufsvereinigungen, berufliche Identitäten und berufsethische Einstellungen, Arbeitsbeziehungen zu den EU-Institutionen und soziodemographische Angaben zur Person. Um eine nach Berufstypen und Kohorten differenzierte Stichprobe statistisch adäquat analysieren zu können, wurde eine Fallzahl von 700 bis 800 Lobbyisten anvisiert. Erfahrungen aus früheren Erhebungen unter europäischen Interessengruppen hatten gezeigt, dass die Rücklaufquote auf eine postalische Anfrage sehr niedrig ausfiel (Lahusen 2002 und 2003), weshalb bei der Datenerhebung auf ein mehrstufiges Verfahren gesetzt wurde, das auch unterschiedliche Erhebungsmethoden nutzte (online, postalisch und telefonisch). Mit der Durchführung der Befragung wurde ein spezialisiertes Umfrageinstitut beauftragt (das Sozialwissenschaftliche Umfragezentrum, SUZ).

Aus dem Transparenzregister konnten Daten zu 7.069 registrierten Lobbyistinnen und Lobbyisten extrahiert werden. Allerdings stellte sich im Laufe der Datenerhebung heraus, dass einige Kontaktdaten veraltet oder fehlerhaft waren. Auch war die Rücklaufquote trotz mehrmaliger Erinnerungen gering. Aus diesen Gründen wurden fast alle der im Register gemeldeten Personen sukzessive angeschrieben und zur Teilnahme aufgefordert. Die Erhebung, die im Oktober 2016 einsetzte, konnte daher erst im Oktober 2017 beendet werden. Mit 699 vollständig ausgefüllten Fragebögen wurde eine Ausschöpfungsquote von 10,5 Prozent erreicht. Diese Quote ist für selbst administrierte Umfragen nicht unüblich (Shih/Fan 2002) und muss die Aussagekraft nicht notwendigerweise mindern. Auch ließ sich auf Grundlage der Datenauswertung nicht erkennen, dass die Stichprobe in Bezug auf relevante Merkmale verzerrt ist, denn der Kreis der Befragten entspricht im Wesentlichen der im Transparenzregister abgebildeten Alters- und Geschlechtsstruktur und den Anteilen der vertretenen Organisationstypen. Dennoch kann die Umfrage nicht als repräsentativ gelten. Dies liegt nicht nur an der niedrigen Rücklaufquote und der möglichen Verzerrung zugunsten befragungswilliger Personen. Vor allem liegt dies an der bereits beschriebenen Schwierigkeit, befriedigende Aussagen über die Gesamtpopulation zu treffen. In diesem Sinne kann nicht ermittelt werden, ob die Ergebnisse der erhobenen Daten auf die Grundgesamtheit aller mit europäischem Lobbying betrauten Personen verallgemeinert werden können. Zunächst sagen die Daten etwas über den Kreis der befragungswilligen und im Transparenzregister gemeldeten Personen aus.

Aus den genannten Gründen wurde bei den statistischen Analysen im Wesentlichen auf deskriptive und explorative Verfahren der Datenauswertung zurückgegriffen. Regressionsanalytische Verfahren wurden verwendet, um Zusammenhänge zwischen den erhobenen Variablen ermitteln zu können, ohne hieraus den Anspruch abzuleiten, die Ergebnisse zwingend auf die (nicht bekannte) Grundgesamtheit zu generalisieren. Hierfür wurden andere Formen der Ergebnisvalidierung genutzt. Hinzu kam, dass bei einigen der zentralen Fragen rechts- oder linksschiefe Verteilungen auftraten, da Themen angeschnitten wurden, die hohe bzw. niedrige Zustimmungswerte generierten. Da die Annahme einer Normalverteilung verletzt wurde (Heteroskedastizität, ›fall tails‹), wurde auf lineare Regressionsverfahren verzichtet. Ebenso wurden keine Daten imputiert, obschon die Zahl der fehlenden Werte zum Teil erheblich war. Allerdings haben Berechnungen mit einem imputierten Datensatz, mit ähnlichen Verfahren oder anderen Modellspezifikationen gezeigt, dass die errechneten Ergebnisse robust waren.

Die Grenzen der erhobenen Datensätze sind symptomatisch für einen Untersuchungsgegenstand, der sich nur in definierten Teilbereichen empirisch vermessen und analysieren lässt. Diese Herausforderungen waren bekannt, weshalb die Forschungsarbeiten verschiedene Maßnahmen nutzten, um die Daten und Ergebnisse zu validieren. So wurde bei der Auswertung der erhobenen Daten (Interviews und Umfragedaten) auf die Plausibilität der Aussagen geachtet. In Bezug auf die Umfragedaten wurde beschlossen, die Ergebnisse einer Expertenvalidierung zu unterziehen. Zu diesem Zweck wurde ein Workshop im März 2019 in Brüssel durchgeführt, zu der die Lobbyistinnen und Lobbyisten eingeladen wurden, die an der Umfrage teilgenommen hatten. Die Veranstaltung brachte wichtige Anregungen für die Auswertung und Interpretation der Umfragedaten und diese sind in das vorliegende Buch auch eingeflossen. Vor allem aber haben die Anwesenden die Befunde in ihrer empirischen Substanz im Wesentlichen validiert.

Schließlich wurde die Triangulation der Datensätze als ein wichtiges Element der Ergebnisvalidierung genutzt, denn die Auswertungen der Umfragedaten und der Interviews wurden in allen relevanten Untersuchungsdimensionen systematisch aufeinander bezogen. Dieses Vorgehen hat seine Grenzen, denn es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass die qualitativen Interviews und die standardisierten Umfragedaten den gleichen Verzerrungen unterworfen sind, weshalb eine Triangulation womöglich nur ein insgesamt schiefes Bild des Berufsfeldes zeichnet. Allerdings hat sich während der Auswertungen gezeigt, dass die beiden Datensätze sowohl ähnliche wie auch unterschiedliche Einsichten eröffnen, womit sie einer kontrastierenden Analyse zugeführt werden konnten. Vor allem wurde offensichtlich, dass die jeweiligen Datensätze Teilaspekte des Untersuchungsgegenstandes unterschiedlich zuverlässig und präzise zu ermitteln halfen. Die Struktur des vorliegenden Buches dokumentiert diese Triangulationsabsicht in systematischer Weise, denn die Kapitel 3 bis 7 nutzen die Befunde der quantitativen und qualitativen Analysen, um die behandelten Teilaspekte in ihren jeweiligen Differenzierungen und Schattierungen auszuführen und zu entwickeln. Die methodenkombinierenden Auswertungen zahlten sich aus, da sie das Arbeitsfeld des europäischen Lobbyings in seiner Beruflichkeit und Professionalität nicht nur zu vermessen, sondern auch in den darunterliegenden Sinnbezügen und Handlungsorientierungen zu verstehen erlaubten.

Die Durchführung der beschriebenen Forschungsarbeiten hat ein hohes Maß an Arbeit verursacht und viel Unterstützung erforderlich gemacht. In diesem Sinne ist zunächst der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Förderung des Vorhabens zu danken. Vor allem aber ist Frank Borchers zu danken, der als Projektmitarbeiter für wesentliche Teile der Datenerhebung – insbesondere in Bezug auf die qualitative Teilstudie – verantwortlich war. Obschon er das Projekt mit neuen Zielen verließ, bildeten die von ihm erhobenen Daten eine wichtige Grundlage für die vorliegende Studie. Der Dank richtet sich auch an Elisabeth Kisseler, die bei der Recherche und Datenaufbereitung half. Und nicht zuletzt gilt der Dank auch den vielen Kolleginnen und Kollegen, mit denen die vorläufigen Ergebnisse diskutiert wurden.

2Lobbyisten im Fadenkreuz der Forschung

Europäisches Lobbying gehört zu den gut erforschten Themenbereichen der sozialwissenschaftlichen Europaforschung. Es liegen umfassende Erkenntnisse über die organisatorische Seite der politischen Interessenvertretung vor, weshalb bekannt ist, welche Interessengruppen auf welche Weise Lobbying betreiben. Gut ergründet ist auch die Frage, wie sich das Feld der europäischen Lobbygruppen an den Aufbau und die Arbeitsweise der EU angepasst und intern ausdifferenziert hat. Schließlich liegen zahlreiche Befunde darüber vor, wie Lobbying institutionell eingebunden und eingehegt ist, wer in welchem Ausmaß von den EU-Institutionen gehört wird und auf die europäische Politik Einfluss ausüben kann.

Dieses Wissen ist für die vorliegende Untersuchung, die sich den Lobbyistinnen und Lobbyisten im eigentlichen Sinne zuwendet, von großem Nutzen. Es belässt aber eine Reihe von Fragen und Aspekten im Dunkeln. Die vorliegenden Befunde behandeln das Personal nämlich nur mittelbar, da das Interesse den organisierten Lobbygruppen und den europäischen Institutionen gilt. Damit geben sie vor allem Auskunft über die Arbeitgeber und Adressaten des Lobbyingpersonals. Diese Einblicke sind keineswegs gering zu achten, denn die Arbeitgeber und Adressaten prägen die Lobbyistinnen und Lobbyisten in ihrer Arbeit und ihrem Selbstverständnis ganz entscheidend. Einerseits sind die Arbeitgeber ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis der Berufsgruppe der EU-Affairs-Professionals, weil diese im Auftrag ihrer Organisation agieren. Sie können nur wirksam arbeiten, sofern sie das in der Organisation akkumulierte Wissen, den gesammelten politischen Einfluss und die freigelegten Zugangskanäle für ihre Arbeit nutzen. Sie werden in den Organisationen aber auch beruflich sozialisiert, sie entwickeln organisationsspezifische Identifikationen und Loyalitäten. Andererseits sind auch die EU-Institutionen als Adressaten wichtig, um das Berufsbild und Selbstverständnis des Lobbyingpersonals zu entschlüsseln. Die EU-Institutionen bestimmen als Adressaten ganz wesentlich die Art und Weise, wie die beruflich Aktiven ihre Arbeit ausführen: Sie geben die Themen vor, sie reglementieren den Zugang und sie definieren die Regeln des legalen, angemessenen oder schicklichen Verhaltens. Nicht zuletzt verpflichten sie die Lobbyistinnen und Lobbyisten auch zu einer Identifikation mit den übergeordneten Zielen und Leitbildern der EU. Aus diesen Gründen ist es wichtig, die wissenschaftlichen Befunde zu den Arbeitgebern und Adressaten aufzubereiten, selbst wenn das eigene Interesse dem Lobbyingpersonal gilt.

Für die vorliegende Untersuchung aber kann dies nur ein erster Schritt sein. Arbeitgeber und Adressaten mögen zwar wichtige Bezugspunkte für den beruflichen Arbeitsalltag und das professionelle Selbstverständnis der EU-Affairs-Professionals sein, aber die Angestellten verschwinden nicht vollständig hinter ihren Arbeitgebern und Adressaten. Lobbyistinnen und Lobbyisten verinnerlichen Organisationswissen, soweit es ihnen zugänglich ist, sie nutzen aber auch eigene berufliche Wissensbestände. Sie setzen die Organisationsmacht ihrer Interessengruppe ein, müssen aber zugleich persönlichen Einfluss gegenüber den Adressaten generieren und sichern. Sie bauen berufliche Kontakte auf, die ihnen ihre Arbeitgeber eröffnen, aber sie müssen auch persönliche Netzwerke entwickeln, die sie ihrer Organisation zur Verfügung stellen. Sie entwickeln eine Loyalität zu ihrem Arbeitgeber, aber sie identifizieren sich auch mit Berufsgruppen. Sie verinnerlichen die formalen Regeln und Verfahren der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung der EU, aber ihr persönliches Kapital besteht aus dem praktischen Gespür für ein passgenaues und angemessenes Vorgehen. Alles in allem kommt es darauf an, die Lobbyistinnen und Lobbyisten als eigenständige Akteure ernst zu nehmen. Die Personen sind nicht nur bloße Vertreter oder Vermittler zwischen Interessengruppen und europäischen Institutionen, sondern aktiv Mitgestaltende auf dem Feld des Lobbyings. Sie sammeln praktisches Wissen und stricken Kontaktnetzwerke, sie sozialisieren sich beruflich untereinander und entwickeln berufliche Selbstverständnisse und Identitäten.

Wer europäisches Lobbying verstehen möchte, der muss folglich die Fixierung auf die Arbeitgeber und Adressaten aufgeben und den Blick auf das Personal freilegen. Aus diesem Grund soll die Darstellung nicht bei den Befunden zum Organisationsfeld europäischer Interessengruppen stehen bleiben, sondern verfügbare Studien zum Personal einbinden. In dieser Hinsicht muss mit einem bescheidenen Ertrag gerechnet werden, da die sozialwissenschaftliche Forschung die handelnden Personen kaum systematisch erfasst hat. Dafür werden benachbarte Forschungsgebiete brauchbare Einblicke und Einschätzungen liefern, denn die soziologische Forschung zu Professionen und Experten hat relevante Erkenntnisse ermittelt, die helfen werden, den theoretisch-konzeptionellen Bezugsrahmen zu formulieren, der die empirischen Untersuchungen der folgenden Kapitel anleiten soll.

2.1Europäisches Lobbying als Organisationsfeld

Die bisherige Forschung hat sich eingehend dafür eingesetzt, europäisches Lobbying empirisch zu vermessen. Das Interesse vieler dieser Studien galt zunächst der Genese des Organisationsfeldes in seinen zentralen Entwicklungstendenzen. Dabei wurde herausgearbeitet, dass die Etablierung der Europäischen Gemeinschaften bereits sehr früh nationale Verbände dazu veranlasst hat, ihre Interessen auch auf der europäischen Ebene zu vertreten. Ein erster wichtiger Anlass waren die Pläne einer Weiterentwicklung der 1951 geschaffenen Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Dieses Vorhaben veranlasste eine Reihe von Interessengruppen aus den damaligen Mitgliedsländern dazu, auf diese Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Einfluss zu nehmen (Rhenisch 1999). In den folgenden Jahren wiederholten sich die Anlässe, denn die spätere Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften und die Etablierung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht 1993 riefen ebenfalls eine steigende Zahl von Interessengruppen auf den Plan, die europäische Politik mitzugestalten suchten.

Zahlreiche Studien haben versucht, dieses Wachstum mit Zahlen zu belegen, auch wenn die Schätzungen immer als Annäherungswerte zu verstehen sind, da die Datengrundlage – wie noch eingehender darzulegen sein wird – stets unvollständig und ungenau ist (Berkhout/Lowery 2008). Für das Jahr 1996 wurde die Größe des Organisationsfeldes bereits mit 2.221 Interessengruppen angegeben (Berkhout/Lowery 2010). Diese Zahl wuchs bis 2003 auf 5.039 Organisationen an, wobei hier nur die vom Europäischen Parlament akkreditierten Interessengruppen gezählt wurden (Coen 2007: 335). 2013 gab das Transparenzregister des Europäischen Parlaments die Zahl der registrierten Interessengruppen mit 5.949 Organisationen an (Greenwood/Dreger 2013), im Jahr 2016 betrug die Zahl bereits 9.752 Organisationen (Greenwood 2017: 13). Seit den 1990er Jahren war das Organisationsfeld folglich um mehr als das Vierfache angewachsen.

Dieser Entwicklung liegt eine Wachstumslogik zugrunde, die von einer internen Ausdifferenzierung des Organisationsfeldes begleitet wurde. So sind sich die meisten Beobachter einig, dass dieses Feld zusehends heterogener, pluraler und kompetitiver geworden ist, unter Umständen kann sogar von einer Zerfaserung gesprochen werden (so Schmitter/Streeck 1991; Kohler-Koch 1992; Eising/Kohler-Koch 1994; Greenwood 1997; Säckl 2007). Europäisches Lobbying ist zwar durch die Übermacht der Wirtschafvertretungen gekennzeichnet, denn 70 Prozent der Interessengruppen gehören dem Wirtschaftssektor an, während das Europäische Parlament die Zahl der akkreditierten Nichtregierungsorganisationen oder Non-Governmental Organisations (NGOs) bei gerade mal 20 Prozent veranschlagt (European Parliament 2003; auch Rucht 2000). Allerdings unterliegen diese Zahlen auch Schwankungen, da der Anteil der NGOs im Jahr 2016 auf 25,4 Prozent anwuchs. Gleichzeitig muss der Wirtschaftssektor aufgegliedert werden, denn Unternehmen und Wirtschaftsverbände stellten in diesem Jahr 44 Prozent der Einträge, Beratungsfirmen und Kanzleien elf Prozent sowie Gewerkschaften oder Berufsverbände sieben Prozent (Greenwood 2017: 13). Die Wirtschaft ist durch eine Vielzahl von Lobbygruppen vertreten, die zugleich in Brüssel aktiv sind und nicht notwendigerweise mit einer Stimme sprechen (Dür u. a. 2015; Kluger Rasmussen 2015; Chalmers 2019). Zu diesen Gruppierungen gehören die europäischen Spitzenverbände der Wirtschaft und die branchen- und produktspezifischen Dachverbände (Automobil, Chemie, Energie, Verkehr, Bau und Bergbau, Handel, Telekommunikation etc.), aber auch die entsprechenden Wirtschaftsverbände der einzelnen Mitgliedsstaaten und viele große Firmen (Pedler/Schendelen 1994; Greewood 1997; Eising 2007 und 2009). Vor allem die steigende Zahl an Firmenrepräsentanzen veränderte das europäische Lobbying im Laufe der 1990er Jahre spürbar, da nun auch Großunternehmen direktes Lobbying – auch unabhängig und außerhalb vom jeweiligen nationalen und europäischen Dachverband – betrieben (zum Beispiel Cawson 1997; Coen 1997, 1998; Green Cowles 2002; Eising 2007).

Zur Ausdifferenzierung und Pluralisierung des Organisationsfeldes haben auch nichtgewerbliche NGOs beigetragen. Seit den 1990er Jahren haben zivilgesellschaftliche Organisationen aus den verschiedensten Bereichen (Gewerkschaften und Berufsvereinigungen, Umwelt- und Verbraucherschutz, Frauen- und Sozialverbände, Kulturvereine und Stiftungen etc.) ihre Aktivitäten auf EU-Ebene intensiviert und eigene Büros in Brüssel eröffnet (Heinelt u. a. 2005; Bouwen 2007; Long/Lörinzci 2009; Kohler-Koch/Quittkat 2010). Selbst protestorientierte Bewegungsorganisationen haben ihre Präsenz gegenüber den EU-Organen erkennbar gesteigert (Roose 2003; Lahusen 2004a; Balme/Chabanet 2008).

Die Heterogenität des Organisationsfeldes ist auf die Vielzahl der vertretenen Interessen zurückzuführen. Aber auch die Organisationsformen selbst tragen zur Diversität bei. In dieser Hinsicht ist insbesondere auf den Unterschied zwischen Lobbyverbünden, Einzelvertretungen und kommerziellen Dienstleistern hinzuweisen. Zu den Lobbyverbünden gehören formal konstituierte Dachverbände aller Art (Spitzenverbände, sektorale Vereinigungen, Fachverbände etc.), aber auch flexibler gestaltete Netzwerke oder kampagnenbezogene Allianzen (Knill 2001; Eising 2007; Mahoney 2007). Die Gruppe der Einzelvertretungen besteht zum einen aus den bereits genannten Büros großer Privatfirmen, zum anderen sind aber auch die Vertretungen staatlicher Körperschaften (öffentlicher Unternehmen, Städte oder Regionen) und gemeinnütziger NGOs und Bewegungsorganisationen (Menschenrechts-, Umweltschutz-, Frauen- oder Verbrauchergruppen) zu nennen (Roose 2003; Kohler-Koch/Quittkat 2010; Balme/Chabanet 2008). Und schließlich gibt es auch eine Vielzahl von kommerziellen Public-Affairs-Unternehmen, Anwaltskanzleien oder selbstständigen Beratern, die Dienstleistungen im Bereich des Lobbyings anbieten (Moloney 1996; Lahusen 2002, 2003; Michalowitz 2007a; Plehwe 2015).

Die verschiedenen Organisationsformen können deshalb koexistieren, weil sie sehr unterschiedliche Güter bereitstellen (Bouwen 2002; Eising 2007; Woll/Jacquot 2010). Lobbyingverbünde werden von ihren Mitgliedern und den EU-Institutionen genutzt und anerkannt, weil sie gesellschaftliche Interessenlagen und Stellungnahmen aggregieren. Der besondere Wert dieses Lobbyings besteht darin, die Sichtweise einer breiten Mitglieder- und Trägerschaft zu bündeln, den Dialog mit einer Stimme zu führen und gemeinsame Zustimmung bzw. Gefolgschaft zu signalisieren. Allerdings hat diese Vertretungsform auch eine Schwäche: Je größer und breiter die Mitgliederbasis und Trägerschaft ist, umso schwieriger wird es, gemeinsame Positionen zu erarbeiten und im Konfliktfall auch durchzuhalten. Einzelvertretungen haben es in dieser Hinsicht viel leichter, da sie sehr spezifische Interessen vertreten. Große Einzelunternehmen oder NGOs werden zwar auch wegen ihres politischen Gewichts gehört; ihr Einfluss besteht aber vor allem aus der sachlichen, fachlichen oder technischen Expertise, die sie für konkrete Gesetzgebungsverfahren zur Verfügung stellen können. Dafür ist ihre Fähigkeit, über die eigene Organisationsmitgliedschaft hinaus politische Gefolgschaft zu organisieren, recht gering. Schließlich ist mit Blick auf kommerzielle Public-Affairs-Büros zu sagen, dass sie keinen spezifischen Lobbyingbeitrag erbringen können, da ihre jeweilige Funktion stets von der vereinbarten Dienstleistung abhängt. Genau hierin aber liegt der Grund dafür, dass diese Organisationsform im Laufe der Zeit an Bedeutung gewonnen hat (Lahusen 2002, 2003; Plehwe 2015: 135). Ihre Stärke liegt gerade nicht in der advokatorischen Kompetenz, also in der Fähigkeit, gesellschaftliche Interessen authentisch und sachgerecht zu vertreten. Sie liegt in der interessenunabhängigen Erbringung professionalisierter Dienstleistung, das heißt in der Bereitstellung lobbyingspezifischer Ressourcen und Kompetenzen.

Insgesamt hat die bisherige Forschung zeigen können, dass die Entwicklung des Organisationsfeldes einem doppelten Moment – Wachstum bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung – unterworfen war. Gleichzeitig hat sie diese Entwicklung mit Verweis auf den europäischen Integrationsprozess zu erklären versucht. Der Etablierung der EG bzw. EU als politisches System wird eine besondere Rolle zugesprochen. In dieser Hinsicht meldeten sich Vertreterinnen und Vertreter der in der Politikwissenschaft dominierenden Theorieschulen zu Wort, die mit den Begriffen des Neofunktionalismus oder Supranationalismus (Zellentin 1992; Stone Sweet/Sandholtz 1997; Niemann u. a. 2009), Intergouvernementalismus (Moravcsik 1991; Moravcsik/Schimmelpfennig 2009) und des Multilevel-Ansatzes bekannt geworden sind (Marks u. a. 1996; Bache/Flinders 2004). Sie alle gehen von unterschiedlichen Formen und Prozessen der Interessenaggregation und ‑artikulation auf der EU-Ebene aus (Michalowitz 2007a). Der Neofunktionalismus nimmt an, dass die Etablierung der Europäischen Gemeinschaften eine neue, eigenständige, supranationale Arena der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung geschaffen hat, die den politischen Betrieb in den Mitgliedsländern neu konfiguriert und europäisch ausrichtet. Die europäischen Dachverbände werden als ein wichtiges Element der europäischen Integration verstanden, da diese die nationalen Interessen neu aggregieren, gesamteuropäisch ausrichten und damit den nötigen Druck erzeugen können, um weitere Integrationserfolge zu generieren (Haas 1968: 16; Stone Sweet/Sandholtz 1997; Schmedes 2008: 98‒99). Gegen diese Annahme einer kumulativen und notwendigen Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses haben sich die Vertreterinnen und Vertreter des Intergouvernementalismus gewandt. Sie sehen in jedem Integrationsschritt einen mühsam verhandelten Kompromiss zwischen den beteiligten Mitgliedsstaaten. Letztere bleiben – angesichts der gesetzgeberischen Rolle des Europäischen Rats gegenüber Kommission und Parlament – immer noch die Hauptakteure der EG bzw. EU. Und dies impliziert, dass die Mitgliedsländer immer noch eine wichtige, wenn nicht entscheidende Arena der Interessenartikulation bleiben (Moravcsik 1991; Schmedes 2008: 99‒101).

Mittlerweile hat sich der Mehrebenenansatz als dominante Erklärungsstrategie bei der Untersuchung des europäischen Lobbyings durchgesetzt (Marks u. a. 1996; Bache/Flinders 2004), denn die einschlägigen Studien konnten belegen, dass die europäische und nationale Arena wechselseitig miteinander verwoben sind. Das zeigt sich auch daran, dass Lobbygruppen ihre Aktivitäten auf beide Ebenen ausrichten und damit Mehrebenenlobbying betreiben (Heinelt u. a. 2005; Schmedes 2008; Eising 2017). Es kommt hinzu, dass die EU-Institutionen nicht bei allen Themen gesetzgeberisch auf die gleiche Weise aktiv werden können, da ihre Kompetenzen je nach Politikfeld stark variieren. Wir haben es folglich mit einem hochgradig komplexen Institutionengefüge zu tun, das ein ebenso komplexes Organisationsfeld (Coen 1997; Kohler-Koch 1997; Bouwen 2002; Eising 2004: 510 f.; Michalowitz 2007b) mit ebenso komplexen Formen der europäischen Interessenvertretung hervorbringt (Pijnenburg 1998; Pedler 2002; Mazey/Richardson 2006a; Eising 2008; Dür/Mateo 2012).

Die Komplexität des Organisationsfeldes zeigt sich vor allem in der Gleichzeitigkeit europäischer und nationaler Lobbyingaktivitäten. Sollen europäische Gesetzgebungsvorhaben schon früh beeinflusst werden, so müssen Lobbygruppen in Brüssel präsent sein, um die entsprechenden Abteilungen der Generaldirektionen in der Europäischen Kommission zu kontaktieren. Immerhin sichern die europäischen Verträge der EU-Kommission das Initiativrecht zu. Gleichzeitig ist sie für die Entwicklung des Sekundärrechts (Verordnungen, Richtlinien und sonstige Rechtsakte) verantwortlich, die den Großteil des geltenden EU-Rechts ausmachen (Nugent/Rhinard 2019). Bei Gesetzgebungsverfahren, die dem EU-Parlament eine Mitentscheidung zubilligen, ist es unerlässlich, mit dem Rapporteur des betreffenden Ausschusses im Gespräch zu sein. Und gegebenenfalls muss auf die Fraktionen oder die einzelnen Parlamentarier eingewirkt werden. Schließlich müssen Lobbygruppen die Tatsache berücksichtigen, dass die Entscheidungskompetenz immer noch im Wesentlichen beim Ministerrat liegt. Daher müssen sie auch bei den Regierungen einzelner Mitgliedsländer vorstellig werden, um ihre Interessen wirksam zu vertreten. Organisationen sind folglich im Vorteil, die geographisch ausdifferenzierte Lobbyingaktivitäten entwickeln oder entsprechend komplexe Verbünde und Allianzen organisieren können (Eising 2007; Schmedes 2008: 101‒107). Allerdings hat das Mehrebenensystem der EU für die Interessengruppen auch Vorteile, da es mehrere Wege der Beeinflussung vorhält und den Lobbygruppen ermöglicht, organisatorische Schwächen zu kompensieren. So können nationale Interessengruppen, die mit ihrem Anliegen bei ihren eigenen Regierungen auf taube Ohren stoßen, den Weg nach Europa antreten, um die Politikerinnen und Politiker im eigenen Land über die europäischen Institutionen unter Druck zu setzen – eine Strategie, die in der Protestforschung als Externalisierung bekannt ist (Chabanet 2010; Porta/Tarrow 2005; Porta/Caiani 2009: 82‒128). Gleichermaßen können nationale Akteure versuchen, ihre Kontakte zur eigenen Regierung zu nutzen, um die Entscheidungen der EU-Institutionen in ihrem Sinne zu beeinflussen, ggf. durch eine späte Intervention das für sie Schlimmste zu verhindern.

Diese Beobachtungen helfen, zu erklären, warum europäisches Lobbying nicht auf europäische Dachverbände, Einzelvertretungen und Public-Affairs-Agenturen, die in Brüssel ansässig sind, beschränkt bleibt. Beteiligt sind auch viele nationale und lokale Akteure (Hecke u. a. 2016; Hafner-Fink u. a. 2016), die über das europäische Territorium, gar über die Erdkugel verteilt sein können (Korkea-Aho 2016). Das Organisationsfeld ist deshalb nicht trennscharf abgrenzbar und im Prinzip grenzenlos. Dennoch kann vermutet werden, dass das Feld entlang konzentrischer Kreise strukturiert ist. Das Zentrum dürfte an den Orten liegen, an denen die EU-Institutionen beheimatet sind: insbesondere Brüssel, darüber hinaus auch Straßburg und Luxemburg, schließlich die Hauptstädte aller Mitgliedsländer, die die Ratspräsidentschaft im halbjährlichen Turnus übernehmen. Von dort erstreckt sich das Feld auf die Hauptstädte aller Mitgliedsstaaten und die dort beheimateten Interessengruppen. Je nach Regelungsmaterie aber können Lobbygruppen auch aus Ländern außerhalb der EU und Europas kommen. Mit Blick auf diese konzentrische Struktur ist anzunehmen, dass europäisches Lobbying ein hochdynamisches Feld ist, das einer Bewegung der Kontraktion und Expansion ausgesetzt ist: Im Dauerbetrieb dürfte sich europäisches Lobbying zwar auf die Kernarena europäischer Politik zusammenziehen; es ist aber auch in der Lage, ein transnationales Feld organisierter Interessen zu mobilisieren, falls dies für eine effektive Interessenvertretung erforderlich ist.

Die Erkenntnisse über den Mehrebenencharakter der EU sind für die Analyse des europäischen Lobbyings auch deshalb hoch relevant, weil sie verdeutlichen, dass Interessengruppen auf jeweils eigenständigen Arenen agieren müssen. Europäische Politik hat zwar den Gestaltungsspielraum der Mitgliedsländer in vielen Politikfeldern deutlich eingegrenzt, aber von einem Durchregieren der EU kann keineswegs gesprochen werden (Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2004). Auf europäischer und nationaler Ebene bestehen eigenständige Arenen der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung fort, die jeweils eigenen Akteurskonstellationen und Institutionen, Agenden und Verfahren, Regeln und Diskursen unterworfen sind. Politische Problemdiagnosen, Regulierungsideen und Gesetzgebungsvorschläge, die auf europäischer Ebene entwickelt wurden, können durchaus von den Mitgliedsstaaten aufgegriffen werden. Dieser Prozess wird als vertikale Europäisierung beschrieben (Featherstone/Radaelli 2003; Graziano/Vink 2007), kann zur Verbreitung politischer Regulierungsideen innerhalb der EU beitragen (Raedelli 2003) und darin auch für ein gewisses Maß an Konvergenz und Vereinheitlichung der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung quer zu den Mitgliedsländern verantwortlich sein. Allerdings haben Studien gezeigt, dass die wechselseitige Beeinflussung der nationalen und europäischen Politik keineswegs automatisch erfolgt, sondern vom Passverhältnis (dem goodness of fit bzw. dem misfit) zwischen europäischen und nationalen Arenen, Prozessen und Institutionen abhängt (Börzel 1999; Knill/Lehmkuhl 2000; Héritier u. a. 2001).

Damit hat die Europäisierungsdebatte nachgewiesen, dass die nationalen und europäischen Arenen als eigenständige, institutionell gefasste Orte der Politik verstanden werden müssen. Forschungsarbeiten zum europäischen Lobbying sind von dieser Debatte geprägt worden, da sie ebenfalls zu klären suchten, in welchem Verhältnis nationales und europäisches Lobbying zueinander stehen. Drei Aspekte standen dabei im Mittelpunkt des Interesses. So ist mit Verweis auf die institutionelle Passung bzw. Kompatibilität gefragt worden, ob Interessengruppen aus Ländern, in denen Lobbying zu einem fest etablierten und legitimen Ausdruck der politischen Willensbildung gehört, eher dazu neigen, ihre Lobbyingaktivitäten zu europäisieren. Die Untersuchung der Wirtschaftsverbände hat dies nicht nachweisen können, denn Verbände aus pluralistischen und lobbyingaffinen Ländern (zum Beispiel aus Großbritannien oder den USA) sind nicht deutlich überrepräsentiert (Eising 2007; Bernhagen/Mitchell 2009). Offensichtlich sind Lobbygruppen aus allen Ländern darum bemüht, ihre Anliegen und Forderungen in die europäischen Gesetzgebungsverfahren einzubringen (Hecke u. a. 2016; Eising 2017). Die organisatorische Handlungsfähigkeit und -bereitschaft wiegen schwerer als mögliche Passungsverhältnisse zwischen den europäischen und mitgliedsstaatlichen Strukturen und Formen der Interessenvertretung (Kohler-Koch u. a. 2017).

Damit ist aber noch nicht beantwortet, ob die europäische Arena einen Einfluss darauf hat, wie Interessengruppen – unabhängig von ihrer nationalen Herkunft und den vertretenen Interessen – Lobbying betreiben. Die Aufmerksamkeit der Forschung richtete sich auf Einzelorganisationen oder Verbände, die ihre Aktivität von der nationalen auf die europäische Ebene ausweiteten. Einig sind sich die Studien, dass die europäische Arena eigene Formen des Lobbyings erforderlich macht, da es sich um ein eigenständiges politisches Institutionengefüge mit spezifischen Verfahren und Arbeitsweisen handelt (Michalowitz 2007b; Bernhagen/Mitchel 2009; Linder 2014). Eine solche Europäisierung setzt dabei nicht nur zusätzliche Ressourcen – insbesondere Personal und Geldmittel – voraus (Coen/Dannreuther 2003; Klüver 2010; Kohler-Koch u. a. 2017), sondern auch Kenntnisse über die Funktionsweise der EU und eine Vertrautheit mit den durch Informalität geprägten Beziehungen zu den EU-Institutionen (Imig/Tarrow 1999; Woll/Jacquot 2010). Gleichzeitig kann die nationale Ebene europäische Interessenvertretung auch begrenzen. So ist nachgewiesen worden, dass Interessengruppen, die im nationalen Kontext fest verankert sind (beispielsweise wegen Formen der Finanzierung oder der Beteiligung an Anhörungen), in geringerem Ausmaß auf der europäischen Ebene aktiv sind (Beyers/Kerremans 2007).

Angesichts dieser Befunde ist davon auszugehen, dass europäisches Lobbying keinem Konvergenz- und Vereinheitlichungsprozess unterworfen ist, da nationale Arenen und Formen der Interessenvertretung bestehen bleiben. Gleichzeitig aber scheinen sich europäische und nationale Formen des Lobbyings gegenseitig zu prägen. Dies zeigt sich etwa bei nationalen Lobbygruppen, die ihre eingeübten Formen des Lobbyings auf der europäischen Ebene etablieren konnten (Taylor/Mathers 2004; Monforte 2009). Gerade mit Verweis auf US-amerikanische Unternehmen und Verbände ist argumentiert worden, dass diese Lobbygruppen den deutlich konfrontativeren und angriffslustigeren Lobbyingstil, den sie in Washington verfolgen, auch in Europa nutzen und damit das europäische Organisationsfeld verändern (Green Cowles 1996; Coen 1999). Aber auch in umgekehrter Richtung sind Beispiele dafür gefunden worden, dass die EU-spezifischen Prozesse der politischen Willensbildung und Beteiligung auf der Ebene der Mitgliedsstaaten die Formen des Lobbyings verändert haben (Michalotwitz 2007a: 156‒171; Leiber 2009; Green Cowles u. a. 2001; Grossman/Saurugger 2004). Allerdings muss angemerkt werden, dass solche wechselseitigen Veränderungen nicht einfach zu messen sind (Saurugger 2005). Und auch wenn sie in einzelnen Politikfeldern oder Gesetzgebungsverfahren identifiziert wurden, heißt dies nicht unbedingt, dass sich die Strukturen und Prozesse der Interessenvertretung auf nationaler und europäischer Ebene nachhaltig geändert haben müssen. Die Befunde sprechen eher für eine Stetigkeit oder Trägheit, weshalb sich nationale Interessengruppen, die auf der Ebene der EU-Institutionen aktiv werden möchten, sich auch weiterhin an die Verhältnisse in Brüssel anpassen müssen (Coen/Dannreuther 2003; Coen 2004: 208‒209). Insofern empfiehlt es sich, wechselseitige Prägungen nicht überzubewerten. Europäisches Lobbying sollte deshalb als ein eigenständiges Organisations- und Berufsfeld verstanden werden, das mit den mitgliedsstaatlichen Feldern zwar eng verbunden ist, aber dennoch durch institutionelle Spezifika und Pfadabhängigkeiten gekennzeichnet ist.

Die bisherigen Ausführungen zeichnen das Bild eines Organisationsfeldes, das stetig gewachsen ist und intern im Hinblick auf Interessen, Organisationsformen und Handlungsebenen ausdifferenziert wurde. Obgleich es Neueinsteigern offensteht und zur Europäisierung einlädt, scheint das Feld auch Zugangsvoraussetzungen und Einstiegshürden zu kennen. In dieser Hinsicht kann von einem Schließungsprozess gesprochen werden, der dem Wachstum und der Ausdifferenzierung Grenzen setzt. Diese Entwicklungen scheinen sich auf europäisches Lobbying unmittelbar auszuwirken. In dieser Hinsicht ist auf drei Implikationen zu verweisen, die in der Fachliteratur zumeist ähnlich bewertet werden.