Europas muslimische Eliten - Jytte Klausen - E-Book

Europas muslimische Eliten E-Book

Jytte Klausen

0,0

Beschreibung

Terroristen und Schläfer, Zwangsehen und Ehrenmorde beherrschen die Schlagzeilen – immer wieder ist von Parallelgesellschaften die Rede. Doch die große Mehrheit der in Europa lebenden Muslime hat mit diesem Bild nichts gemein. Ihre führenden Vertreter kommen in diesem Buch zu Wort.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 461

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



www.campus.de

Klausen, Jytte

Europas muslimische Eliten

Wer sie sind und was sie wollen

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2006. Campus Verlag GmbH

Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

E-Book ISBN: 978-3-593-40237-6

|7|Einleitung: Der Islam in Europa

In diesem Buch kommen Parlamentsabgeordnete, Stadträte, Ärzte und Ingenieure, Professoren, Anwälte und Sozialarbeiter, kleine Unternehmer, Übersetzer sowie Aktivisten aus den Kommunen zu Wort. Sie alle sind Muslime, die sich zu einem Engagement in politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen entschlossen haben. Sie zählen zur neuen politischen Elite der Muslime in Europa. Aus diesem Grund stehen sie unter ständigem Rechtfertigungszwang, vor allem, um zu erklären, wer sie nicht sind. Sie sind weder Fundamentalisten noch Terroristen, und die meisten unterstützen die Einführung der islamischen Religionsgesetze in Europa nicht, erst recht nicht ihre Anwendung auf Christen. In diesem Buch geht es darum, wer diese Menschen sind und was sie wollen.

Rund 300 Personen befragte ich im Rahmen meiner Untersuchung. Ohne ihre Bereitschaft, sich selbst aufs Neue zu erklären, und dies sehr ausführlich und unter dem Druck meiner mitunter auch undiplomatischen Fragen, wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Viele meiner Gesprächspartner luden mich in ihr Büro oder zu sich nach Hause ein. Andere traf ich in Moscheen, in Cafés oder in Büros, die mir von Freunden überall in Westeuropa zur Verfügung gestellt wurden. Oft dauerten Gespräche, die für eine halbe Stunde angesetzt waren, wesentlich länger. Die ausgewählten Führungspersönlichkeiten leben in Schweden, Dänemark, den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich und Deutschland.

Ich lernte die Parlamentsgebäude dieser sechs Länder kennen. Ich trank Tee im House of Lords und Bier in der niederländischen Tweede Kamer. Ich sah den leeren Saal des schwedischen Riksdagen – die junge Abgeordnete, die mich herumführte, sprach vom langweiligsten Ort in Stockholm – und zwängte mich in ein Büro von der Größe einer geräumigeren Besenkammer im französischen Senat. Dagegen wirkten die |8|vornehmen Büros im Deutschen Bundestag wie der Traum eines jeden Parlamentariers, bis ich herausfand, dass es einer Genehmigung des Architekten bedarf, wenn man den Mülleimer austauschen oder einen zusätzlichen Stuhl aufstellen möchte.

Ich wurde zu Kaffee und Kuchen oder zum selbst bereiteten Abendessen eingeladen und erfreute mich herzlicher Gastfreundschaft. »Sie sind die erste, die hierher kommt und mit uns spricht«, hörte ich immer wieder; »danke, dass Sie gekommen sind.« Einmal wurde ich beschimpft und ein anderes Mal zum Gehen aufgefordert, da meine Anwesenheit als beleidigend empfunden wurde. Abgesehen von diesen beiden einzigen Fällen hießen mich meine Gesprächspartner, auch wenn meine Anwesenheit als ungewöhnlich empfunden wurde, stets willkommen und behandelten mich äußerst zuvorkommend.

Meine Gesprächspartner waren überwiegend gemäßigte Muslime, aber ich begegnete auch einzelnen Radikalen. Einmal traf ich bei einem Interview auf einen Gesprächsteilnehmer, der sich selbst als »gemäßigt« bezeichnet hatte, aber – wie sich später herausstellte – Mitglied der Hamas ist; das erinnerte mich an die gelegentliche Unehrlichkeit der »alten« Neuen Linken. (Die Hamas, auch als »Islamische Widerstandsbewegung« bekannt, ist eine palästinensische Gruppe mit einem terroristischen Arm, die im Gazastreifen und in der West Bank agiert. Bei der palästinensischen Parlamentswahl im Januar 2006 erhielt sie 42,9 Prozent der Stimmen. Damit gewann sie mit 74 von 132 Sitzen die parlamentarische Mehrheit.) Ein anderes Mal war ich die einzige Frau unter fünfhundert Männern, als ich in einer umgebauten Fabrikhalle aus dem 19. Jahrhundert dem Freitagsgebet und der chutba, der Freitagspredigt, beiwohnte. Das rote Backsteingebäude lag ganz in der Nähe des Kopenhagener Bezirkes, in dem ich vor dreißig Jahren in einer kostenfreien Unterkunft einen heißen Sommer verbracht hatte, als der Stadtteil von Hausbesetzern übernommen worden war. Die Predigt wurde auf Arabisch und Englisch gehalten, und durch ein Simultandolmetschsystem war eine unzulängliche Übersetzung ins Dänische verfügbar.

Was ich hörte, gefiel mir nicht. Aber erst, als ich mich mit dem »Scheich«, wie er genannt werden wollte, traf, wurde mir mulmig zumute. Als ich ihn fragte, wie man mit radikalen Imamen umgehen solle, prangerte er wütend das Versagen der westlichen Demokratien an. Der Islam habe eine gute Chance auf einen Neubeginn in Europa, wenn nur |9|die Europäer ihren eigenen Menschenrechtsbestimmungen gerecht würden, die sie anderen immer predigten, sagte er, und verfiel in eine Schmährede. Durch das Erscheinen meines wissenschaftlichen Mitarbeiters André wurde die Situation entschärft. Danach zeigte mir der Scheich Kopien einer von ihm kurz zuvor durchgeführten Umfrage unter den Moscheemitgliedern. Es sollte herausgefunden werden, was die Teilnehmer des Freitagsgebets von der waqf erwarten. (Eine waqf ist eine islamische Wohltätigkeitsorganisation, aber in diesem Falle wurde der Begriff zur Beschreibung der Moscheegemeinschaft und ihres Leiters benutzt.) Soll sich der Scheich intensiver an den Debatten in den Medien beteiligen? ( Ja) Soll die chutba politische Fragen, von denen Muslime betroffen sind, ansprechen? ( Ja) Die auf Arabisch, Dänisch und Englisch durchgeführte Umfrage würde jeden evangelikalen Prediger in den USA, der seine Fertigkeiten verbessern und seine Gemeinde erweitern möchte, vor Neid erblassen lassen.

Die gegenwärtige Furcht in Europa vor radikalen muslimischen Geistlichen wird von Geschichten wie dieser angeheizt, aber in den Zeitungsberichten wird meist unterschlagen, dass eine solch manipulative Politisierung des Islam den Muslimen in der Regel genauso viel Unbehagen bereitet wie mir.

Die westeuropäischen Staaten befinden sich in einem Dilemma. Sie beginnen zu erkennen, dass sie Möglichkeiten finden müssen, um die Entwicklung eines unabhängigen Islam in Europa voranzutreiben und finanziell zu unterstützen. Gleichzeitig sind sie mit der Abwanderung zahlreicher Wähler zu ausländerfeindlichen Parteien konfrontiert. Dieses Dilemma ist der Grund für einige widersprüchliche Signale, die Europa aussendet. So hat einerseits das neue Staatsangehörigkeitsrecht die Einbürgerung von Einwanderern in Deutschland erleichtert und die historische Verknüpfung der deutschen Staatsbürgerschaft an die Abstammung aufgeweicht, andererseits haben einige deutsche Bundesländer Kopftuchverbote im Unterricht erlassen und das Anbringen von Kreuzen in Klassenräumen angeordnet, denn Deutschland sei ein »judäo-christlicher« Staat. In Frankreich dürfen Schülerinnen kein Kopftuch in der Schule tragen. Frankreich bewegt sich auf ein noch umfassenderes Kopftuchverbot zu, während gleichzeitig die Gründung einer Stiftung zur Förderung eines »französischen Islam« bekannt gegeben wird. Die britische Regierung hat Antiterrorgesetze verabschiedet, die |10|unmittelbar auf Muslime zielen, gleichzeitig aber die Berücksichtigung der Scharia, des islamischen Rechts, vor Gericht in Aussicht gestellt.

In diesem brisanten und widersprüchlichen Umfeld errichten Muslime repräsentative Institutionen und beherrschen die Kunst demokratischer Aushandlungsprozesse. Dieses Buch kann der Vielfalt der Reaktionen und den Nuancen der neuen europäischen Islampolitik nicht gerecht werden. Es skizziert aber, wie ich hoffe, die Umrisse der sich abzeichnenden Institutionen, Debatten, Anpassungsprozesse und Konfrontationen, wobei einzelne Zusammenhänge näher erläutert und die wichtigsten übernationalen Unterschiede herausgearbeitet werden.

Kulturkrieg oder religiöse Duldung?

»Europa ist zum Schlachtfeld geworden«, so der französische Soziologe Gilles Kepel. Dem amerikanischen Politikwissenschaftler Samuel Huntington zufolge stehe dem Kontinent ein »Clash of Civilizations«, ein neuer Kulturkampf, bevor.1 Altbundeskanzler Helmut Schmidt räsoniert, dass ein friedliches Zusammenleben von Islam und Christentum nur in autoritären Staaten möglich sei.2

Diese apokalyptischen Äußerungen sind nicht nur kontraproduktiv, sie führen auch auf gefährliche Weise in die Irre. Ich werde zu zeigen versuchen, dass es beim Thema »Islam in Europa« nicht um globalen Krieg oder Frieden geht. Es handelt sich vielmehr um die bekannten innenpolitischen Probleme bezüglich des Verhältnisses von Kirche und Staat, gelegentlich sogar um ganz alltägliche Fragen hinsichtlich staatlicher Regulierung sowie um die Durchsetzung der Gleichberechtigungspolitik. Meine zentrale These lautet, dass Muslime schlicht neue Interessengruppen und ein neues Wählerreservoir darstellen, und dass die politischen Systeme in Europa sich als Folge dieser veränderten Prozesse der Repräsentation, Herausforderung und Kooptation ebenfalls verändern werden.

Es gibt zwar einen Wertekonflikt, aber der vielleicht wichtigste findet zwischen zwei alten europäischen Lagern – den Säkularen und den Konservativen – statt, die beide nur mühsam mit der neuen Pluralität religiöser Strömungen zurechtkommen. Dieser neue Konflikt wirft tief gehende Fragen auf, die sich indes um die alten europäischen Debatten |11|über die Neutralität des Staates in religiösen Fragen sowie um den Ort des Christentums bei der Herausbildung einer europäischen öffentlichen Identität drehen.

Europas muslimische politische Führer bezwecken weder den Umsturz der liberalen Demokratie noch die Ersetzung des säkularisierten Rechtsstaats durch das islamische Recht, die Scharia. Die meisten Muslime suchen nach Möglichkeiten, Institutionen aufzubauen, die ihnen die Ausübung ihrer Religion auf eine Weise erlauben, die mit sozialer Integration einhergeht. Selbstverständlich gibt es keine einheitliche muslimische Position zur Weiterentwicklung des Islam in Europa, sondern eine Vielzahl von Sichtweisen. Die gesellschaftliche Integration der Muslime wird im Allgemeinen als Notwendigkeit betrachtet. Weit verbreitet ist auch die Ansicht, Europas Muslime sollten die Förderung ihrer lokalen Institutionen nicht außereuropäischen islamischen Geldgebern überlassen, sondern ihren Glauben in lokal finanzierten Moscheen mit Hilfe von Imamen praktizieren, die an europäischen Universitäten und Seminaren ausgebildet worden sind.

Außenpolitik

Huntington sagt eine entscheidende historische, globale Konfrontation zwischen »dem Islam« und »dem Westen« voraus, und er deutet Probleme mit muslimischen Minderheiten in westlichen Ländern als örtliche Scharmützel in diesem internationalen Kampf, der letztendlich um Werte, Symbole und Identität geführt werden wird.

Zahlreiche Ereignisse wie die Terroranschläge auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001, die Madrider Zugattentate am 11. März 2004 sowie die Bombenanschläge und versuchten Attentate in London am 7. und 21. Juli 2005 scheinen zu bestätigen, dass der Westen zur Verteidigung von Liberalismus und Christentum gegen die muslimische Bedrohung in der eigenen Mitte vorgehen muss. Die Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh auf offener Straße in Amsterdam im November 2004 durch Mohammed B., einem Niederländer marokkanischer Herkunft mit Verbindungen zur Terrorgruppe Hisbollah, führte zu heftigen Reaktionen in ganz Nordeuropa. In den folgenden Wochen wurden in den Niederlanden |12|über zwanzig religiöse Grundschulen, Moscheen und Kirchen von selbst ernannten christlichen Kreuzrittern sowie von islamistischen Gotteskriegern niedergebrannt. Die Kommentatoren in den Zeitungen und im Fernsehen fragten – und für die meisten lag die Antwort auf der Hand: »Ist so etwas auch bei uns möglich? Was ist schief gelaufen?«

Huntingtons These beruht auf zwei Grundannahmen. Die erste sieht in der Religion die wichtigste Quelle islamischer Identität und Wertorientierung. »Liberale« und »islamische« Werte stünden sich unversöhnlich gegenüber. Der religiöse Moslem könne öffentliches Recht und private Religion nicht trennen. Daher könnten nur Personen, die wesentliche Teile des Islams ablehnen, als vertrauenswürdige Gesprächspartner für demokratische Gesellschaften gelten. Die zweite Annahme postuliert einen globalen Machtkampf zwischen Islam und Christentum. Der Islam wird als Monolith dargestellt, der bestrebt sei, die Weltherrschaft zu erringen. So schreibt Bernard Lewis, Historiker an der Universität Princeton: »Bei jeglichem Zusammenstoß zwischen Islam und den Ungläubigen muss der Islam dominieren.«3 Aus dieser Perspektive wird das Kopftuch muslimischer Schülerinnen in einer Weise überbewertet, die weit über die persönlichen Motive der Mädchen, das Kopftuch zu tragen, hinausgeht.

Doch der innenpolitische Konflikt über die Integration des Islam in europäische Gesellschaften hat wenig mit Außenpolitik zu tun. Muslime in Großbritannien und den USA, den Verbündeten im Irak-Krieg, sehen sich weniger Hindernissen bei der Entwicklung ihrer Glaubensinstitutionen gegenüber als Muslime in Frankreich und Deutschland, den beiden führenden europäischen Kriegsgegnern. Innenpolitische Konflikte haben häufig lokale Ursachen, die in der jeweiligen Geschichte der modernen europäischen Staaten verwurzelt sind. Eine oft vernachlässigte Einflussgröße ist das Erbe der »Stabilitätspakte«, die zwischen den Volkskirchen und den europäischen Staaten im Laufe der Einführung des allgemeinen Wahlrechts und der verschiedenen Verfassungsreformen im 20. Jahrhundert geschlossen wurden. Die Anpassung des Islam erfordert eine Neubewertung dieser Verträge und zwingt nationale Kirchen zu einer Überprüfung ihrer Position im Hinblick auf die Missionsarbeit, auf interreligiöse Beziehungen und selbst auf theologische und liturgische Fragen.

Bis vor kurzem zögerten europäische Regierungen, politische Strategien zur Integration muslimischer Minderheiten zu formulieren. Muslime |13|interpretieren dieses Versäumnis als eine weitere Form der Diskriminierung, zusätzlich zu der täglich erlebten am Arbeitsplatz, bei der Ausbildung und bei der Vergabe von Sozialleistungen. Mittlerweile haben die europäischen Regierungen damit begonnen, sich mit diesen Problemfeldern auseinander zu setzen. Erste Maßnahmen wie das Verbot des hidschab (Kopftuch) für muslimische Schülerinnen und Lehrerinnen, die Beschränkung ritueller Schächtungen und Einwanderungskontrollen für Imame provozierten neue Konflikte. Die Maßnahmen wurden häufig als diskriminierend wahrgenommen, aber gelegentlich auch von muslimischen Führern unterstützt. Gegen das Einreiseverbot radikaler Geistlicher regt sich kaum Widerspruch, obwohl nach allgemeiner Auffassung auch Muslimen das demokratische Recht zusteht, Dummheiten zu äußern. Die meisten Muslime sind der Ansicht, dass das Kopftuch toleriert werden sollte, aber viele lehnen sein Tragen ab. Nur wenige Regierungen haben demokratische Beratungsmechanismen mit Muslimen institutionalisiert oder sich mit der Tatsache arrangiert, dass sie es mit einer sehr differenzierten Religionsgemeinschaft zu tun haben, die nicht nach europäischem Brauch durch ein einziges, »nationales« Kirchenoberhaupt repräsentiert wird.

Weshalb plötzlich die Probleme?

Jahrzehntelang schenkten Europäer den bescheidenen Gebetshäusern und Moscheen, die in ihren Städten aus dem Boden schossen, wenig Beachtung. Wohlwollende Vernachlässigung war die bevorzugte offizielle Reaktion auf die wachsende Präsenz muslimischer Einwanderer. Ein niederländischer Anthropologe, Jan Rath, und seine Mitarbeiter fanden heraus, dass der erste Hinweis auf Muslime in niederländischen Regierungsquellen ein Memorandum aus dem Jahre 1970 über ausländische Arbeiter war. Dieses Dokument wies indirekt auf die Notwendigkeit ihrer »seelsorgerischen Betreuung« hin.4

Die mangelnde politische Einbeziehung der Muslime hat sowohl historische als auch politische Ursachen. Als die ersten Muslime in den fünfziger und sechziger Jahren nach Europa kamen, erwartete niemand, dass sie bleiben würden. Es handelte sich meist um Arbeitsmigranten, häufig allein stehend und männlich, Gastarbeiter, die nach einigen Jahren |14|mit dem erarbeiteten Geld zu ihren Familien zurückkehren würden. Ironischerweise hat erst die kollektive Erkenntnis der europäischen Muslime, dass sie »hier sind, um zu bleiben«, den Konflikt ausgelöst. Die ersten Forderungen der Muslime nach Integration machten deutlich, wie sehr sich die Europäer und ihre Regierungen verändern müssten, um diesem Anspruch gerecht zu werden.

In Westeuropa leben über 15 Millionen Muslime; die genaue Zahl liegt im Dunkeln. Die Zahl wird oft künstlich aufgebläht, weil Muslime in Führungspositionen und populistische Politiker die Zahlen gerne für ihre Zwecke in die Höhe treiben, aber auch, weil es kaum verlässliche statistische Quellen gibt. Da in den Volkszählungen der meisten Länder die Religionszugehörigkeit nicht erfasst wird, ist es üblich, den Anteil der muslimischen Bevölkerung pauschal aus den Zahlen der Einwanderungsstatistik zu errechnen. Wenn zum Beispiel in Deutschland 2,4 Millionen türkischstämmige Einwohner leben und 98 Prozent der türkischen Bevölkerung Muslime sind, dann leben 2,3 Millionen türkischstämmige Muslime in Deutschland. (Katholiken, Protestanten und Juden werden offiziell mitgezählt, da die Konfession auf der deutschen Lohnsteuererklärung zur Verrechnung der Kirchensteuer angegeben wird. Da der Islam in Deutschland keine anerkannte Konfession ist, werden Muslime nicht erfasst.) Besteht die türkische Bevölkerung zu zwei Dritteln aus Sunniten und einem Drittel aus Schiiten, dann wird angenommen, dass sich die türkische Minderheit in Deutschland in ähnlicher Weise aufteilt. In Frankreich wird die Anzahl der Muslime regelmäßig mit fünf Millionen angegeben. Ein offizieller Bericht des Haut Conseil à L’Intégration vom November 2000 schätzt ihre Anzahl mit 4,1 Millionen etwas niedriger ein.5 Patrick Simon, ein französischer Bevölkerungswissenschaftler, hält diese Zahl immer noch für zu hoch. Mit der beschriebenen Methode schätzt er die Anzahl der in Frankreich lebenden Muslime auf ungefähr 2,6, höchstens drei Millionen.6 Aber auch diese Schätzmethode läuft Gefahr, die Größe der muslimischen Bevölkerung nach oben zu verzerren, weil Integrationsprozesse durch Mischehen oder die Akkulturation der Nachkommen nicht berücksichtigt werden. Obendrein werden Herkunftsland und religiöse Zugehörigkeit vermischt. (Ebenso wenig wird die Konversion zum Islam erfasst.)

Laut dem Zensus von 2001, in dem nach der Religionszugehörigkeit gefragt wurde, leben in Großbritannien 1,5 Millionen Muslime; dies |15|entspricht drei Prozent der Gesamtbevölkerung.7 In diesen offiziellen Schätzungen sind jedoch keine Angaben über illegale Einwanderer enthalten, die in den vergangenen Jahren vor allem aus überwiegend muslimischen Ländern wie Albanien, Algerien, Marokko und Nigeria gekommen sind. Allein in Spanien war in den vergangenen zehn Jahren ein Zuwachs von vier Millionen illegalen Einwanderern aus Nordafrika zu verzeichnen. In Deutschland reichen die Schätzungen von 0,6 bis 1,5 Millionen Menschen, die illegal eingewandert sind; der Anteil der Muslime ist nicht bekannt.

Die Reaktion der Öffentlichkeit in den westeuropäischen Ländern auf die zunehmende Präsenz von Anhängern einer fremden Religion fiel erstaunlich ähnlich aus. Vom protestantischen Skandinavien über die pluralistischen Niederlande bis zum katholischen Frankreich entzündeten sich Kontroversen über religiöse Feiertage, Gebetsmöglichkeiten, das Tragen muslimischer Kleidung am Arbeitsplatz, die Vergabe von Baugenehmigungen für Moscheen, das Staatseigentum von Friedhöfen, die Besorgnis, rituelle Schächtungen verletzten die Rechte von Tieren, ferner über die seelsorgerische Betreuung von Muslimen in Gefängnissen und Sozialeinrichtungen, den Religionsunterricht an staatlichen Schulen sowie über Angelegenheiten des Scheidungs- und des Familienrechts.

Zur selben Zeit sind Zweifel daran gewachsen, ob Muslime westlichen Werten loyal gegenüberstehen können. Dieses Thema erfuhr 1989 eine erste Zuspitzung, als der iranische Revolutionsführer Ayatollah Khomeini die Todesstrafe gegen Salman Rushdie verhängte, da dieser in seinem Roman Die Satanischen Verse den Propheten Mohammed in blasphemischer Weise beschrieben habe.8 Demonstrationen und Bücherverbrennungen in den englischen Städten Bradford und Oldham sowie gewalttätige Ausschreitungen quer durch die islamische Welt luden zum Vergleich mit den faschistischen Scheiterhaufen verbotener Bücher in den dreißiger Jahren ein.9

Zehn Jahre später wuchs die Angst, dass sich terroristische Netzwerke in wenig bekannte Moscheen in Europa einnisten könnten. Mohammed Atta, einer der Terroristen des 11. September 2001, besuchte regelmäßig die Al-Quds-Moschee in Hamburg. Als die deutsche Polizei eine Tonbandaufnahme mit den wutentbrannten Worten des Imams dieser Moschee – ein Mann marokkanischer Herkunft, der unter seinem Nachnamen Al-Fazizi bekannt ist – fand: »Christen und Juden |16|gehören die Hälse durchgeschnitten!«, führte das zur Festnahme von sieben Männern der Moschee wegen Terrorismusverdacht.10 Einem 37 Jahre alten schwedischen Moslem, der wegen unerlaubten Waffenbesitzes und der Planung terroristischer Anschläge verurteilt war, wurden Verbindungen zur Moschee am Londoner Finsbury Park mit ihrem radikalen Prediger Abu Hamza nachgewiesen.11 Auch der »Schuhbomber« Richard Reid sowie Zacarias Moussaoui, der als zwanzigster Todespilot des 11. September verdächtigt wird, wurden mit der Moschee am Finsbury Park in Zusammenhang gebracht. Abu Hamza wurde zum Sinnbild all jener, die fürchteten, ein neuer Dschihad (ein »heiliger Kampf«) werde in Europa vorbereitet.12 Gleiches galt für den »Kalifen von Köln«, Metin Kaplan, der im Oktober 2004 in die Türkei abgeschoben wurde, wo ihn ein Strafverfahren wegen Mordes erwartete. Für die überwältigende Mehrheit der europäischen Muslime sind die Tiraden solcher Kleriker ebenso abstoßend wie für Christen.

Der muslimische Mainstream wird besser von zivilgesellschaftlichen und politischen Akteuren repräsentiert, die von Wählern und Parteien sowie von den Führern nationaler muslimischer Verbände und von Organisationen der Gemeinden in öffentliche Ämter gewählt worden sind. Deshalb stehen ihre Ansichten und ihre Politik im Mittelpunkt dieses Buches. Europäische Muslime sind notwendige Partner in den Verhandlungen zur Einbindung des Islam, und die muslimischen politischen und zivilgesellschaftlichen Eliten spielen in diesem Prozess die Schlüsselrollen. Der Prüfstein der Demokratie liegt in ihrer Fähigkeit, auf Ansprüche und Bedürfnisse neuer sozialer Gruppen zu reagieren und neue Eliten, die diese Ansprüche repräsentieren, zu integrieren. Die Aussicht auf eine dauerhafte Integration des Islam hängt zum einen von der Problemlösungsfähigkeit der Regierungen ab, zum anderen von der Beteiligung der muslimischen Eliten am Konfliktlösungsprozess.13

Was erwartet die politische Elite der Muslime in Europa von den Regierungen? Die muslimische politische und gesellschaftliche Elite besteht aus Ingenieuren, Ärzten, Sozialarbeitern, Anwälten, Freiberuflern und Unternehmern. Zu Beginn meiner Untersuchung fiel mir auf, dass diejenigen Menschen, die sich für ein Leben in Europa entschieden haben und ihre Akzeptanz europäischer Normen und Institutionen durch ihre Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben zum Ausdruck bringen, nicht die Meinungen über »den Westen« teilen, die ihnen die These vom »Kampf der Kulturen« zuschreibt. Aber wie stark |17|fühlen sich Muslime liberalen Werten verpflichtet? Und wie erklärt sich die Eskalation des Konflikts um die gesellschaftliche Einbeziehung des Islam? Dieses Buch sucht nach Antworten auf diese Fragen.

Liberale und illiberale Christen

Es ist unmöglich, den »Zusammenprall der Traditionen« (clash of practices)14 , der durch die Forderungen der Muslime nach Anerkennung eingeleitet wurde, zu diskutieren, ohne die Reaktionen der christlichen Kirchen zu berücksichtigen. Die Annahme, das öffentliche Leben in Europa sei säkular, ist ein verbreiteter Trugschluss. Im Gegenteil, jahrhundertelang gewährten die europäischen Staaten den christlichen Kirchen Privilegien, die von der Finanzierung religiöser Schulen über Steuergeschenke und die Instandhaltung kirchlicher Grundstücke bis zur Bezahlung der Gehälter geistlicher Würdenträger reichten. Die meisten Europäer sind es gewohnt, sich bei der öffentlichen Bereitstellung seelsorgerischer Angebote auf den Staat zu verlassen, von Friedhöfen und Kirchen bis zur Ausbildung von Pfarrern. Diese Neigung der aktuellen Politik wurde erst bemerkt, als sich die unterschiedlichen Bräuche der Religionen von Einwanderern verstärkt bemerkbar machten.

Die muslimischen Eliten zögern, allzu nachdrücklich auf Gleichbehandlung in allen Bereichen zu drängen. Als die deutschen Grünen in die lange Liste offizieller deutscher Feiertage auch einen islamischen Feiertag – Eid al Fitr, das Ende des Fastenmonats Ramadan – einfügen wollten, ernteten sie von den anderen Parteien Spott.15 Nur wenigen Muslime, mit denen ich gesprochen habe, ist der Feiertag eine Auseinandersetzung wert. Ihnen genügten arbeitsrechtliche Bestimmungen, die ihnen erlauben, sich an diesem Tag frei nehmen zu können. In der gegenwärtigen Situation ist der Vorschlag, dass Christen an einem islamischen Feiertag arbeitsfrei haben sollen, für die christlich-muslimischen Beziehungen nicht förderlich. Eine muslimische Abgeordnete in den Niederlanden erwiderte auf meinen Vorschlag, angesichts eindeutiger Hinweise auf weit verbreitete Diskriminierungen am Arbeitsplatz bessere Antidiskriminierungsgesetze zu erlassen, dass »jegliche Opferhaltung |18|der Muslime momentan nicht weiterhilft, da Christen der Meinung sind, Muslime würden ohnehin schon zu viel beanspruchen«.16

Diese Diskussion ist ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit einer breiten Debatte über die Auswirkungen staatlicher Neutralität und die Gleichbehandlung der Religionen. Anlass zur Besorgnis sehen die muslimischen Führer vor allem in der hartnäckigen Fehldarstellung des Islam durch Medien und Politiker, in fehlenden politischen Initiativen zur Unterstützung islamisch-religiöser Organisationen und in der mangelnden öffentlichen Anerkennung der Tatsache, dass auch die hier lebenden Muslime Europäer sind.

Religiöse Wiederbelebung Europas?

Wird Europa zum neuen Zentrum einer islamischen Renaissance? Gilles Kepel und Tariq Ramadan bejahen diese Frage. Kepel sieht in den neuen muslimischen Vereinigungen Europas Trojanische Pferde für die globale Ausbreitung des Islam. Eine ähnliche Auffassung vertritt Fouad Ajami, der noch besorgniserregendere Konsequenzen vorhersieht.17 Für Ramadan wiederum ist eine Wiederbelebung des Islam in Europa möglich, weil europäische Muslime in der Lage sind, eine von völkischen Doktrinen und Ritualen, die den Alltag in der islamischen Welt bestimmen, befreite Form des Islam zu entwickeln.18

Obwohl ein Prozess religiöser Reformen in Gang gekommen ist, fehlt es noch an der von Kepel und Ajami behaupteten und der von Ramadan gewünschten Kohärenz dieser Aktivitäten – von Koranstudienkreisen bis zu kollektiven Übersetzungsprojekten. Konvertiten und junge einheimische Muslime, die sich eigenen Angaben zufolge nach Spiritualität sehnen, fühlen sich in gleichem Maße angezogen. Einige Gruppen begrüßen sogar Frauen oder Homosexuelle als ebenbürtige Partner und gestatten Frauen die Rolle der Vorbeterin in der Moschee. Die Traditionalisten sind deutlich in der Mehrheit, aber selbst sie akzeptierten im Allgemeinen, dass der Islam reformiert werden müsse und dass es insbesondere gelte, sich mit der Rolle der Frau auseinanderzusetzen. Idschihad, die Praxis, sich bei der Neuauslegung und Anwendung religiöser Gesetze der Vernunft zu bedienen, ist zum Kriegsruf selbst ernannter moderater und progressiver Muslime geworden, die |19|den Glauben mit einem integrierten Lebensstil und ihrer beruflichen Tätigkeit verbinden wollen.

Die islamischen Länder haben sich darum bemüht, Europas Muslime zu kontrollieren, etwa durch die Entsendung von Imamen mit sehr traditionellen Ansichten oder durch die Finanzierung des Baus von Moscheen in Europas großen Städten. Lokale Moscheegemeinden rekrutieren Imame aus madrassas »von daheim«, die den Moscheeältesten bekannt sind. In anderen Fällen schicken die Spender aus Saudi-Arabien, Libyen oder Pakistan ihre Imame mit den Spenden gleich mit. Das türkische Ministerium für religiöse Angelegenheiten, die Diyanet, hat im Einvernehmen mit den nationalen Regierungen rund 1.200 Imame nach Europa entsandt. Dabei handelt es sich um gut ausgebildete Imame, die keine islamistischen Ziele predigen; aber sie beherrschen nur selten die jeweilige europäische Sprache und werden von der jungen Generation, welche die Leitung der Moscheen übernommen hat, zunehmend als unangemessene spirituelle Führer angesehen.

Ausländische Geldquellen – sowohl private als auch staatliche – sind mittlerweile unerwünscht, und ausländische Imame sind nicht in der Lage, leicht mit der jüngeren Generation zu kommunizieren. Die europäischen Länder unternehmen jedoch nur wenig, um dieses Vakuum zu füllen. Die französische Regierung hat die Initiative ergriffen, um zusammen mit muslimischen Gemeinderäten ein Ausbildungsprogramm für einheimische Imame zu entwickeln. Die niederländische Regierung verpflichtet mittlerweile alle Imame zur Teilnahme an einem Akkulturationsprogramm, bei dem sie sowohl in der Landessprache als auch in Teilen niederländischen Rechts, das in ihr Tätigkeitsgebiet fällt, unterwiesen werden. An der Amsterdamer Universität wurde ein neuer Studiengang entwickelt, der mit dem Zertifikat zum islamischen Kaplansamt abgeschlossen werden kann. Dänemark hat indes einen Visastopp für diejenigen ausländischen Imame verhängt, die das Land als »islamische Missionare« bezeichnet. Schweden und Spanien haben bescheidene Beträge für den Bau von Moscheen bereitgestellt und erste Schritte zur Einbindung des Islam in eine allgemeine Politik zum Schutz von Minderheitenreligionen unternommen. In Belgien und Schweden wurden Möglichkeiten gefunden, einigen Imamen direkt oder indirekt Gehälter zu zahlen.

All dies sind kleine Initiativen, doch an der Tatsache, dass europäische Regierungen nur ungern als Förderer des Islam auftreten, hat sich |20|im Wesentlichen nichts geändert. Manche etablierte Partei stellt gar die Legitimität der religiösen Bedürfnisse europäischer Muslime in Frage: »Deutschland ist kein islamisches, sondern ein christliches Land«, sagte Wolfgang Bosbach, damals innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, »und wir sollten nicht gezwungen werden, dem Islam entgegenzukommen.« 19 Das ist eine extreme Sichtweise, aber auch bei Befürwortern moderater Zugeständnisse besteht hinsichtlich des Ziels Integration oder Assimilation keine Übereinstimmung.

Der Begriff Integration meint einen wechselseitigen Prozess des Gebens und Nehmens, während Assimilation suggeriert, dass sich die Einwanderer anzupassen haben. Wenn Koexistenz, ein friedliches Nebeneinander oder einfach nur die Tolerierung der Einwanderungsreligionen und ihrer Bräuche angestrebt wird, liegt die Anpassungslast auf Seiten der europäischen Gesellschaften. Manche muslimische Politiker – in Europa geborene wie zugewanderte – sprechen sich für einen minimalen gemeinsamen Nenner bezüglich Konfliktlösungsprinzipien und der Werte der Verfassung aus. Anderen geht es mehr um die Tiefe sozialer Bindungen und um gesellschaftlichen Zusammenhalt, und sie richten den Blick auf die Bedeutung von Wertvorstellungen als Ressourcen für die Gemeinschaft und als Vorbedingungen sozialer Solidarität. Interessanterweise lehnen die meisten Befragten eine Minimallösung ab; diese könnte als Arrangement »getrennter Lebensbereiche« oder als Multikulturalismus verstanden werden. Ihre Gründe sind unterschiedlich, aber viele Muslime befürchten, dass eine solche Politik die (Rechts-)Gleichheit gefährden könnte und ihre Ungleichbehandlung durch lokale Behörden, die Polizei und nationale Politiker festschreiben würde. Andere bemerken, dass Multikulturalismus in europäischen Gesellschaften nicht hinnehmbar sei.

Die Messlatte für echte Integration kann hoch oder niedrig angelegt werden, aber in der Praxis widersprechen nur die wenigsten der Auffassung, dass Integration die wechselseitige Anpassung von Muslimen und der Bevölkerungsmehrheit erfordert. Ein muslimischer Abgeordneter in den Niederlanden, der von der christdemokratischen Partei gewählt wurde, brachte seine Meinung über die Notwendigkeit des Wandels in der muslimischen Gemeinschaft offen zum Ausdruck. Er erwähnte den Mangel an Frauen in Führungspositionen muslimischer Organisationen. Es sei nicht falsch, über Segregation zu diskutieren, meinte er, und bezog sich auf die heftige niederländische Debatte über »Parallelgesellschaften|21|«, aber Muslime hätten ein Recht auf Respekt. Die Schmerzgrenze sei dann erreicht, wenn Politiker den Islam als »rückwärtsgewandte Religion« bezeichneten.20 Diese Schwelle wurde in der Zeit nach diesem Interview in öffentlichen Diskussionen in den Niederlanden mehrfach überschritten.

Ein Dialog darüber, wie die Integration des Islam in Europa zu erreichen sei, fordert zum einen, dass politische Entscheidungsträger Muslime als Partner bei der Politikgestaltung begreifen; zum anderen gilt es, die derzeitigen Rahmenbedingungen zu verändern. Keine dieser Prämissen findet gegenwärtig Akzeptanz in Europa.

Über dieses Buch

Die Interviews zu dieser Studie wurden von September 2003 bis Februar 2005 in Schweden, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden durchgeführt. Ein Großteil der europäischen Muslime lebt in diesen Ländern, und in allen sechs Ländern werden öffentliche Debatten über die Präsenz des Islam geführt. Die sechs Staaten unterscheiden sich hinsichtlich des Verhältnisses von Kirche und Staat sowie bezüglich ihrer Mehrheitsreligion.

Schweden und Dänemark sind stark protestantisch geprägte Länder. Frankreich ist überwiegend römisch-katholisch. In Deutschland gibt es zwei anerkannte Konfessionen, den Protestantismus und den Katholizismus. Weniger als die Hälfte der britischen Bevölkerung gehört der englischen Staatskirche, der Church of England, an. Großbritannien ist in religiöser Hinsicht in vier Landesteile gegliedert, mit einer etablierten Kirche in England, der anglikanischen Church of England, und einer nationalen, prebyterianischen Kirche in Schottland mit wenigen Privilegien (Church of Scotland); in Wales und in Nordirland gibt es keine etablierte Kirche. Nur die Church of England verfügt über eine automatische Repräsentanz im britischen Oberhaus, dem House of Lords, das auch Wales, Schottland und Nordirland vertritt. Die Niederlande sind der einzige der hier ausgewählten Staaten mit einer langen Tradition religiöser Pluralität, aber auch hier erfolgte die Trennung von Kirche und Staat erst im Jahr 1983.

|22|Ich fragte führende Muslime nach ihrer Interpretation des Islam, nach ihrer Meinung über den Charakter und die Ursachen der gegenwärtigen Probleme von Muslimen in Europa sowie über die den Islam und die Muslime betreffende Innenpolitik. Den Begriff »Islam« benutze ich bezogen auf die Religion und auf die Glaubenseinrichtungen; »Muslime« sind in meinem Sprachgebrauch Menschen, die entweder ihren Glauben praktizieren oder einen muslimischen Familienhintergrund haben. Die Bezeichnung »muslimisch« benutze ich zur Kennzeichnung von Glaubenszugehörigkeit und Tradition, wie dies auch bei den Bezeichnungen »christlich« oder »jüdisch« üblich ist. Der Begriff ist dehnbar und nicht eindeutig bestimmt. Vor Beginn der Befragung habe ich keine Hypothese über den Bedeutungsgrad des Glaubens für die Teilnehmer aufgestellt; dies war vielmehr eine Fragekategorie. Die Auswahlmethode der Eliten, die Zielsetzung der Fragen und die Durchführung der Interviews werden detailliert im Anhang beschrieben.

Das Buchs beruht nicht auf einer repräsentativen Erhebung. Es will vielmehr einen Einblick vermitteln in die Reichweite der vertretenen Ansichten sowie übergreifende Anliegen und Präferenzen im Hinblick auf Lösungsmöglichkeiten darstellen. Die Untersuchung sollte daher eher als politische Anthropologie muslimischer Eliten denn als Meinungsumfrage gelesen werden. Die Fragen bezogen sich auf die Vorstellungen der Teilnehmer zu den Integrationsmöglichkeiten des Islam und ihre Meinung darüber, wie es um die Integration gegenwärtig tatsächlich bestellt ist. Ich fragte auch danach, welche Veränderungen Muslime vornehmen müssten, um sich europäischen Normen anzupassen. Schließlich erkundete ich, worin nach Ansicht der Befragten die wesentlichen Probleme bestehen, denen Muslime in Europa ausgesetzt sind. Ein Drittel der Interviews erfolgte in persönlichen Befragungen, die übrigen mit standardisiertem Fragebogen per E-Mail, Fax oder Telefon. Insgesamt habe ich gut dreihundert Interviews geführt.

Die in diesem Buch zitierten Personen bleiben vorwiegend anonym oder erhalten fiktive Namen (in der Form eines Vornamens). Nur diejenigen Personen werden mit richtigem Namen zitiert, deren Aussagen entweder öffentlich zugänglich sind (mit Angabe der Quelle) oder die mir ihre Erlaubnis dazu erteilt haben. Diese Praxis entspricht den Vorgaben, die bei der Arbeit mit Menschen als wissenschaftlichem Untersuchungsgegenstand zu beachten sind. Sachkundige Leser werden gelegentlich die Identität anonym zitierter Personen erraten können. Zum |23|Beispiel gibt es nur zwei französische muslimische Senatorinnen; allerdings hielt ich es auch in diesem Fall für angebracht, dem oben genannten Zitiergrundsatz zu folgen.

Bei der häufig gestellten Frage nach der Repräsentativität wissenschaftlicher Untersuchungen sollte berücksichtigt werden, dass das Maß der Repräsentativität kaum zu beurteilen ist, wenn die Größe der Bevölkerungsgruppe, von der eine Stichprobe gewünscht wird, nur geschätzt werden kann. Meiner Schätzung nach erfüllen 1.500 bis 2.000 Personen der sechs berücksichtigten Länder meine Definition gewählter oder ernannter Führungspersönlichkeiten mit muslimischem Hintergrund beziehungsweise Glauben, die in einer regionalen oder überregionalen zivilgesellschaftlichen oder politischen Organisation tätig sind. Da kein »Wer ist Wer im europäischen Islam« existiert, aus dem ich eine Zufallsstichprobe hätte ableiten können, entschied ich mich, mit so vielen Muslimen wie möglich in Parlamenten, Stadtverwaltungen und politischen Parteien zu sprechen. Ich interviewte Parlamentsabgeordnete, Stadträte, Vorsitzende und Sprecher zivilgesellschaftlicher Verbände, Lobbygruppen und Dachverbände von Moscheeräten auf lokaler und auf nationaler Ebene, ferner interkonfessionelle Gruppen sowie einige der herausragenden Imame und Islamwissenschaftler Europas. Sie wurden gebeten, sich nicht als Vertreter ihrer jeweiligen Organisation, sondern als Privatpersonen zu äußern. Daneben hatte ich Gelegenheit, christliche Kirchenleiter und nichtmuslimische Politiker, die sich mit der Integration des Islam auseinandersetzen, zu befragen.

Im ersten Kapitel beschreibe ich die neuen muslimischen Eliten. Ein häufiger Trugschluss ist die Annahme, dass die heutigen nationalen muslimischen Vereinigungen in der Tradition früherer Exilorganisationen aus islamischen Ländern stehen. Muslimische Organisationen, die den Glauben mit politischer Lobbyarbeit verbinden, werden oft als Abkömmlinge der Muslimbruderschaft beschrieben, der 1928 von Hassan al-Banna in Ägypten gegründeten und heute dort sowie in zahlreichen arabischen Ländern verbotenen religiös-politischen Erneuerungsbewegung. Doch dieses Etikett vermengt Gruppen und Einzelpersonen, die kaum Gemeinsamkeiten aufweisen. Kepel bemerkt zu Recht, dass die politische Philosophie der Muslimbruderschaft in Europa weitgehend verurteilt wird.21 Ein weiterer Trugschluss besteht darin, in der heutigen Elite Nachkommen der ersten Arbeitsmigranten zu sehen. Die neuen muslimischen Verbände unterscheiden sich grundlegend von |24|den alten, auf Auswanderer und Arbeitsmigranten zugeschnittenen Organisationen, deren Mitglieder meist ihre Familien in der Heimat zurückgelassen hatten. Die meisten der muslimischen Führungspersönlichkeiten sind im Ausland geborene Einwanderer, die überwiegend als Flüchtlinge gekommen sind.

Im zweiten und dritten Kapitel beschreibe ich die Meinungen dieser Menschen über zentrale politische Streitfragen und berichte über ihre Vorschläge zur Integration des Islam in Europa. Nur eine Minderheit hält die Integration des Islam weder für machbar noch für wünschenswert, sei es aus Furcht vor Assimilation oder als Folge der Ansicht, dass der Islam nicht anpassungsfähig sei. Das vierte Kapitel handelt von drei politischen Versäumnissen, Muslimen ihre Religionsausübung zu erleichtern. Dazu gehören die fehlende Einrichtung von Friedhöfen, auf denen Muslime nach religiösen Vorschriften beerdigt werden können, die Beschränkung der rituellen Schächtung und die Halal-Zertifizierung (Bescheinigung, dass Lebensmittel gemäß den religiösen Vorschriften des Islam hergestellt werden) sowie die fast gescheiterte Einführung von anerkannten Imam-Ausbildungsprogrammen an Universitäten. Im fünften Kapitel werden anhand der bestehenden Beziehungen zwischen Kirche und Staat die Grenzen staatlicher Neutralität in Glaubensfragen beschrieben. Anschließend analysiere ich die Konflikte innerhalb der christlichen Kirchen um einen »abrahamitischen« Ansatz bezüglich des interreligiösen Dialogs der drei monotheistischen Weltreligionen Christentum, Judentum und Islam. Gegenstand des sechsten und letzten Kapitels ist die Diskussion um Multikulturalismus und islamische Geschlechterpolitik in Europa.

|25|1. Europas neue politische Eliten der Muslime

Farah Karimi ist aus politischen Gründen aus dem Iran geflohen und wurde 1998, zehn Jahre, nachdem sie in die Niederlande gekommen war, für die Grünen (Groen Links) ins niederländische Parlament, die Tweede Kamer, gewählt. Als Studentin hatte sie 1979 an der Islamischen Revolution teilgenommen, aber als die neue Regierung begann, einschneidende religiöse Gesetze zu beschließen, sah sie ihre Hoffnungen auf eine nationale und demokratische Revolution enttäuscht. Frauen wurden von Männer an den Universitäten und in der Öffentlichkeit getrennt. Das Tragen des hidschab, des islamischen Kopftuchs, welches die Revolutionäre aus Protest gegen die vom Schah erzwungene Verwestlichung angelegt hatten, wurde verpflichtend. Heute denkt Karimi, dass sie naiv gewesen ist, als sie sich der Studentenbewegung anschloss: »Wir glaubten, dass der Islam gut sei, weil er aus unserer eigenen Kultur stammte.«22 Sie ist sehr besorgt über den Konservatismus der muslimischen Gemeinschaft in den Niederlanden und verweist darauf, dass die Einwanderungsorganisationen durchweg von alten Männern geleitet würden.

Zugleich verzweifelt sie darüber, dass die niederländischen Politiker nicht den Mut aufbringen, der Öffentlichkeit zu erklären, warum es notwendig sei, auch unpopuläre Maßnahmen zu finanzieren. Man benötige öffentlich finanzierte Islamschulen, in denen Imame ausgebildet werden, um zu verhindern, dass aus Ländern wie Saudi-Arabien oder der Türkei Einfluss auf die muslimische Gemeinschaft in den Niederlanden ausgeübt wird. Doch die Bedingungen für eine rationale Debatte haben sich verschlechtert. Karimi hat einen dramatischen Wandel der öffentlichen Einstellungen gegenüber Muslimen beobachtet. Das belegen auch die Erfahrungen ihres 20-jährigen Sohnes: »Für sie bin ich ein Moslem, also muss ich auch einer sein.« Karimi glaubt, dass das gegenwärtige |26|politische Klima in den Niederlanden den Extremismus auf beiden Seiten ermutige.

Fatih Alev war zur Zeit meines Interviews Vorsitzender einer muslimischen Studentenorganisation in Kopenhagen. Er diente einer kleinen Gemeinschaft in einem innerstädtischen Kulturzentrum als Imam und bezeichnete sich als »Bindestrich-Däne«. Er wurde in Dänemark als Sohn türkischer Arbeitsmigranten geboren und hat die Universität besucht. Er begegnet allen Menschen, Männern und Frauen, in der leichten, egalitären Art, welche bei Dänen so häufig anzutreffen ist. Er predigt auf Dänisch und ist Däne aus voller Überzeugung – mit einer Ausnahme: Alev glaubt, dass die Dänen ihre Spiritualität verloren hätten, und dass dieser Verlust der Hauptgrund dafür sei, dass sie so intolerant gegenüber Einwanderern geworden seien. »Die dänischen Vorratslager für Glauben und Spiritualität sind leer; stattdessen füllen sie sie mit Furcht vor dem übermächtigen ›Ausländer‹.«23 Er hofft, dass die Anwesenheit von überzeugten Muslimen die Dänen herausfordern werde, ihre Einstellung zur Religion zu überdenken.

Alev verbringt viel Zeit mit dem interreligiösen Dialog sowie mit Gruppen, die sich mit islamischer Erziehung und theologischer Erneuerung beschäftigen. Er befürwortet eine verschärfte Antidiskriminierungspolitik, denn dadurch würde es Muslimen erleichtert, eine gewisse Gleichstellung mit Christen zu erreichen. Er ist jedoch entrüstet, als ich ihm erkläre, dass neue europäische Gesetze gegen Diskriminierung es religiösen Organisationen verbieten könnten, Homosexuelle zu benachteiligen. Er steht dem Vorschlag skeptisch gegenüber, dass Frauen Imame werden können, und verweist darauf, dass der Koran eindeutig bestimme, dass Frauen nur andere Frauen beim Gebet anleiten könnten. Zwei junge Frauen seiner Studentenorganisation widersprechen in seiner Anwesenheit: Natürlich können Frauen Imame sein, sagen sie.24

Die Frage nach der Eignung von Frauen, auch Männer im Gebet anzuleiten, ist seit unserem Gespräch zu einer öffentlichen Kontroverse geworden.25 Der Islam ist mittlerweile die größte Minderheitenreligion in Europa. Im protestantischen Nordeuropa gibt es mehr Muslime als Katholiken und im katholischen Süden mehr Muslime als Protestanten. Europas Muslime sind den europäischen Juden zahlenmäßig weit überlegen. Während eine anhaltende Debatte über Ort und Ausbreitung des Islam geführt wird, gab es jedoch auf dem Gebiet der Religionsausübung |27|bislang kaum politische Reformen. Einige Länder reagierten auf die Präsenz des Islam mit einer Überhöhung des Christentums, während andere dem Säkularismusprinzip als zentraler europäischer Wertgrundlage noch höhere Geltung zumaßen. Karimi und Alev, eine linke Parlamentarierin und ein Student und Imam, gehören zur wachsenden neuen muslimischen Elite in Europa. Sie sind gut ausgebildete, talentierte junge Leute, die aufgrund ihres Engagements und ihrer Fähigkeiten an die Spitze von politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen gelangt sind. Ihr Engagement und ihre gemäßigten Ansichten deuten darauf hin, dass das Schlagwort von der »Islamisierung Europas« unbegründet ist.

Die »neue Linie« und die zweite Generation

Wer sind die führenden Köpfe der europäischen Muslime? Mein signifikantester Befund ist, dass die gegenwärtige politische Elite – gewählte Vertreter mit muslimischem Hintergrund sowie Leiter muslimischer Vereinigungen und Gruppen – aus Immigranten besteht. Dabei handelt es sich in der Regel nicht um die Nachkommen von Arbeitsmigranten, die durch Akkulturation an europäische Normen und Sprachen in die Führungsetagen der Politik aufgestiegen sind. Einigen ist dies zwar gelungen, aber die meisten sind als junge Erwachsene gekommen – als politisch erfahrene Aktivisten, als Studenten, die einen europäischen Hochschulabschluss anstreben, oder als politisch verfolgte Flüchtlinge.

Es wird häufig davon ausgegangen, dass die im Gastland geborenen Nachkommen der Immigranten eine Vorreiterrolle bei der Forderung nach politischer Integration übernehmen. Dies trifft jedoch auf die neue politische Elite der Muslime in Europa nicht unbedingt zu. Der Grund dafür ist, dass den im Gastland geborenen Nachkommen nicht automatisch die Staatsbürgerschaft zusteht und sie so vor den selben rechtlichen Hindernissen wie ihre Eltern stehen.

Muslimische Eliten identifizieren sich häufig mit der so genannten »neuen Linie« in der europäischen Politik der Muslime. Auf meine Frage, worin der Unterschied zur »alten« bestehe, beschrieb man mir die Ausrichtung auf die Politik des Gastlandes, die Beschwörung einer neuen muslimischen Einheit sowie bestimmte Erwartungshaltungen, |28|was Professionalität und die Einhaltung von Regeln im staatlichen politischen Diskurs betrifft. Außerdem arbeiten die neuen Vereinigungen in den jeweiligen Landessprachen – auf Dänisch, auf Niederländisch und auf Deutsch –, nicht in der Sprache des Herkunftslandes, wie es bei den Verbänden der älteren Generation üblich war.

Doch das Etikett »Generation« hat nur metaphorische Bedeutung. Ich habe herausgefunden, dass die »neue Linie« vor allem drei Dimensionen aufweist: erstens die aktive Beteiligung an der nationalen Politik; zweitens die Betonung muslimischer Einheit, unabhängig von ethnischen oder religiösen Unterschieden; drittens bestimmte Erwartungen an Professionalismus und an den nationalen politischen Diskurs, sofern man sich an dessen Regeln hält.

Sozialwissenschaftler, die sich mit Immigrantengemeinschaften beschäftigen, berufen sich gewöhnlich auf eine neue Realität, die von transnationalem politischen Engagement und einer transnationalen sozialen Identität der Immigranten gekennzeichnet sei. Dazu werden Schlüsselbegriffe wie »Diaspora-Gemeinschaft«, »Flickenteppich«, »Hybridität«, »postnationale Bürgerschaft« und »transnationale Öffentlichkeit« verwendet. Die Anthropologin Pnina Werbner beschreibt die kollektive Identität von Muslimen in Manchester als »vorgestellte Diaspora« und identifiziert den weltumspannenden Mythos einer transnationalen islamischen Gemeinschaft – die umma – als zentralen Bestandteil des neuen muslimischen Selbstverständnisses britischer Pakistani.26 Bei der Diaspora handelt es sich um eine Exilgemeinde, die das Wesen der ethnischen, linguistischen und kulturellen Identität des Herkunftslandes beibehält. Diasporagemeinschaften werden durch die Erfahrung der Verbannung und die Beziehungen zum Heimatland politisch aktiv.

Ökonomische Migrationstheorien lenken die Aufmerksamkeit eher auf Kostenrechnungen. Kulturelle Verwurzelung und das Engagement in den jeweiligen Ländern werden dabei als »Transaktionskosten« betrachtet. Migranten werden rationalerweise versuchen, möglichst wenig in territorial gebundene Aktivitäten zu investieren. Statt dessen investieren sie in die Entwicklung globaler Netzwerke, um die Wanderung auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen zu erleichtern.27 Solchen Überlegungen läuft allerdings die Herausbildung breit angelegter, nationaler Muslimvereinigungen zuwider, die den Anspruch erheben, eine entethnisierte, nationale Gemeinschaft der Muslime in der Öffentlichkeit und gegenüber den Regierungen Westeuropas zu vertreten. Die |29|gegenwärtigen Repräsentationsmuster des Islam in Europa zeigen eine bemerkenswert nationale Ausrichtung. Der Grund ist offensichtlich: Konzepte einer »transnationalen Identitätsbildung« oder einer »Diasporaidentität« taugen wenig für Mitglieder politischer Parteien oder für Stadträte, die etablierten politischen Organisationen angehören und sich dafür entschieden haben, nationale Politik mitzugestalten. Auch wenn es als höchstes Ziel gelten kann, die Außenpolitik zu verändern, etwa hinsichtlich des Palästinakonflikts, sind die dazu benutzten Mittel doch national. Und: Die fremdenfeindliche Vorstellung, dass man nicht gleichzeitig Europäer und Moslem sein kann, veranlasst Muslime dazu, die Vereinbarkeit beider Identitäten unter Beweis zu stellen.

Politisch aktive Muslime hören es nicht gerne, wenn ihre Bemühungen, die Geschichte des Islam auf europäischem Boden zu verankern, als Beispiele für »kulturelle Hybridität« beschrieben werden. Vielen Muslimen ist wichtig, das grundlegend Europäische am Islam hervorzuheben. Kaum ein Treffen oder eine Debatte verläuft ohne einen Hinweis auf die Geschichte, aber diese Diskussionen sind häufig von einer gehörigen Portion Revisionismus geprägt. Das Kalifat von Cordoba (929–1236), die kontinuierliche Gegenwart des Islam in Südeuropa bis zur Vertreibung der Araber aus Granada (1492) sowie die Belagerung Wiens (1529) werden als Beispiele für die europäische Herkunft des Islam angeführt. Konversionen zum Islam gelten als weiterer Beweis dafür, dass die Konfession den Europäern nicht fremd ist. Zweifellos ist der Kontakt zwischen Christentum und Islam ein beständiges Element der europäischen (und islamischen) Politik- und Kulturgeschichte, und auch die britischen, französischen und niederländischen Kolonialreiche waren von dieser Beziehung geprägt. Tatsache bleibt jedoch, dass sich der Islam in Europa in den letzten fünfzig Jahren als Ergebnis globaler Wanderungsbewegungen ausgebreitet hat. Und nun wollen die Migranten dazugehören. Die Feindseligkeit zwischen Islam und Christentum geht auf uralte historische Wurzeln zurück, aber die unmittelbare Ursache der heutigen Probleme liegt in der Politik des späten 20. Jahrhunderts: im etablierten Verhältnis von Kirche und Staat in Europa und in der politischen Behandlung der Migrantenbevölkerung.

Die frühen politischen Aktivitäten muslimischer Immigranten lassen sich als transnationale Verbandstätigkeit bezeichnen. Eine vergleichende Studie, die 1987 von der European Science Foundation veröffentlicht |30|wurde, fand heraus, dass die Verbandsstrukturen europäischer Immigrantengruppen von der Aufenthaltslänge der Migranten bestimmt und nach den politischen Lagern ihrer Heimat organisiert waren. Inhalte solcher Verbandsaktivitäten waren vor allem die Pflege der Beziehungen zum Heimatland, religiöse Gemeinschaftlichkeit sowie Beratung in praktischen und rechtlichen Migrationsfragen.28

Migrantenverbände mit einem Bein in der Heimat und dem anderen im Gastland spielen auch weiterhin eine wichtige Rolle. Ein Beispiel ist der Türkische Bund Berlin-Brandenburg (TBB), der vor 25 Jahren ursprünglich für Arbeitsmigranten gegründet wurde und sich nun auf nordafrikanische Migranten auszudehnen versucht. In Frankreich und den Niederlanden gibt es ähnliche Verbände für türkische und nordafrikanische Migranten. Viele entstanden in den späten siebziger Jahren, um die erste Welle der Arbeitsmigranten zu betreuen. In europäischen Ländern ist es üblich, zivilgesellschaftliche Verbände mit kulturellem oder pädagogischem Schwerpunkt zu fördern. Dazu gehören Sportvereine, nicht aber religiöse Gruppen. Diese Förderpraxis spiegelte sich im Namen der Verbände wieder, wie zum Beispiel beim Anatolsk Kulturforening (Dänemark) und der Association Culturelle et Sportive Cappadoce (Frankreich). Die »Kulturverbände« sind oft nur Fassaden für Moscheen. Die kulturellen Aktivitäten bringen die Miete für den Raum ein, in dem das Freitagsgebet stattfinden kann. Nur wenige sind so große und dynamische Mehrzweckorganisationen wie der TBB.

In den neunziger Jahren erfreute sich das Konzept einer »postnationalen Bürgerschaft« in Wissenschaftskreisen wachsender Popularität, weil man sich davon die Wende zu einer wirkungsvolleren Umsetzung internationaler Menschenrechtsnormen in die nationale Rechtsprechung sowie einen Prozess erhoffte, in dessen Verlauf EU-Bürger in jedem Mitgliedsstaat der Union ihre Rechte einfordern können.29 Nichtsdestotrotz stellten sich Vorhersagen vom Niedergang des Nationalstaats und der Entstehung einer nicht-nationalen Bürgerschaft als verfrüht heraus. In den europäischen Staaten wurden die Einwanderungsgesetze verschärft und die Rechte von Nicht-Staatsbürgern beschnitten. Auffanglager für Asylbewerber wurden eingerichtet und die Sozialleistungen für Einwanderer reduziert. Die EU-Gesetze wurden zwar ausgeweitet, regeln aber hauptsächlich Beschäftigungsverhältnisse und grenzüberschreitende Wirtschaftstransaktionen. Diese Gesetze sind daher auf Personen ohne EU-Pass nicht anwendbar. Dazu gehören |31|die europäischen Muslime, die hauptsächlich türkischer, nordafrikanischer oder südasiatischer Herkunft sind. Der Europäische Gerichtshof hat zwar einige arbeitsschutzrechtliche Bestimmungen auf Migranten aus Drittländern ausgedehnt, allerdings sind diese Rechte an ein Beschäftigungsverhältnis gekoppelt und lösen keine Probleme, die sich aus dem Mangel an gesellschaftlichen und politischen Rechten ergeben.30

Muslimische Parlamentsabgeordnete, Stadträte sowie nationale und lokale Eliten sind folglich Integrationsfiguren, die wenig Verständnis für linke Vorstellungen von einer Weltbürgerschaft oder für transnationale Identitäten haben. Gleichzeitig sind sie aber auch keine islamistischen Kämpfer, die in konservativen Alpträumen erscheinen. Der Nahostexperte Fouad Ajami zeichnet ein düsteres Bild von der Entstehung einer neuen politischen Präsenz der Muslime in Europa. Seiner Ansicht nach seien Europas neue muslimische Gruppen Frontorganisationen für die Muslimbruderschaft und andere verbotene Organisationen. Ajami vertritt die These, dass radikale Islamisten, die aus der muslimischen Welt vertrieben wurden, aufgrund der humanitären Asylpolitik in Europa ein neues Zuhause gefunden hätten. Gestärkt durch das Wachstum der muslimischen Bevölkerung bauten radikale Islamisten hier ihre Macht aus und beeinflussten die europäischen Regierungen. Damit gelinge den Radikalen in Europa das, was ihnen in der arabischen Welt versagt geblieben sei.31 In ähnlicher Weise beschwört Niall Ferguson das Gespenst von der demographischen Explosion der Muslime als Ursprung der zunehmenden Kluft zwischen den USA und Europa.32 Es gibt Fälle, auf die diese Beschreibung zutrifft. Omar Bakri Mohammed, ein Londoner Kleriker und Leiter der militanten Gruppe Al-Muhajiroun, wurde 1985 nach seiner Abschiebung aus Saudi-Arabien Asyl gewährt. Allerdings erwähnen weder Ajami noch Ferguson, dass Muslime selbst nach den übertriebensten Schätzungen weniger als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung in Frankreich und nur 3,1 Prozent der britischen Gesamtbevölkerung ausmachen. Weniger als die Hälfte von ihnen besitzt das Wahlrecht (und ein noch weit geringerer Teil macht auch davon Gebrauch).

Ajami hat zwar Recht mit seiner Feststellung, dass die neue muslimische Elite Europas oftmals aus Flüchtlingen der islamischen Welt besteht, seine politischen Schlussfolgerungen sind jedoch verfehlt. Viele Muslime sind politische Flüchtlinge, deren Ansichten und Werte auch |32|von diesem Hintergrund geprägt sind. Zuweilen befinden sich darunter auch radikale Islamisten. Die meisten sind allerdings geflohen, weil sie sich als Regimekritiker aktiv an demokratischen Protesten beteiligt haben. Viele Muslime in Führungspositionen, die an Diskursen über Menschenrechte teilnehmen, sprechen aus eigener Erfahrung. Ihr Engagement ist eine Fortsetzung ihrer früheren politischen Tätigkeit. Die Achtung der Menschenrechte ist das Herzstück ihrer politischen Weltanschauung, da das alte System linker und rechter Konfliktlinien für Zuwanderer und ihre Nachkommen nur bedingt geeignet ist.

Ein Grund, weshalb Muslime die etablierten Parteien mit Unbehagen betrachten, ist auch in den Reaktionen europäischer politischer Parteien auf die wachsende Präsenz der Muslime zu sehen. Immigrantenfeindliche und antimuslimische Ressentiments haben sich im rechten wie im linken politischen Spektrum ausgebreitet, wobei die Begründungen unterschiedlich sind. Während sich linke Parteien eher für die sozialen Rechte der Zuwanderer einsetzen – zumindest war dies in der Vergangenheit der Fall –, sind sie oftmals antiklerikal, wie im Falle der französischen Sozialisten; für sie sind religiöse Fragen überhaupt ein Ärgernis. Rechte Parteien stehen zwar der Religion aufgeschlossener gegenüber und unterstützen christliche Werte, artikulieren aber gleichzeitig antimuslimische Vorurteile. Natürlich gibt es auch Ausnahmen von dieser Regel, vor allem bei den niederländischen Christdemokraten und den britischen Konservativen, aber auch bei der britischen Labour Party sowie den französischen und deutschen Grünen.

Durch das Nadelöhr

Muslime sind in den europäischen Machteliten deutlich unterrepräsentiert. Zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Buches lebten in Europa etwa 15 Millionen Muslime, aber in den Parlamenten saßen weniger als 30 muslimische Abgeordnete. Restriktive Einbürgerungsgesetze bewirken, dass es politischen Parteien leicht fällt, muslimische Wählerinnen und Wähler auch weiterhin zu ignorieren.

Der Anteil der Muslime, der im Besitz der Staatsbürgerschaft ist, variiert aufgrund der unterschiedlichen Einbürgerungsgesetze. In den meisten Ländern besitzen lediglich zehn bis 25 Prozent der Muslime |33|das Wahlrecht, mit zwei Ausnahmen: Großbritannien (wie bereits erwähnt)33 sowie die Niederlande, wo 50 Prozent der Türken und Marokkaner die niederländische Staatsbürgerschaft besitzen. In Städten mit einer hohen Dichte an Zuwanderern und Nachkommen, denen die Staatsbürgerschaft verwehrt wird, entstehen große Siedlungen mit Einwohnern minderen Rechts, die in einigen Fällen bereits ein Viertel oder mehr der einheimischen Bevölkerung ausmachen.

Ausländer können sich nicht um nationale oder kommunale politische Ämter bewerben. Gewöhnlich besitzen sie auch nicht das aktive Wahlrecht. In Dänemark und Schweden dürfen sich Ausländer, die bestimmte Aufenthaltsvorschriften erfüllen, an lokalen Wahlen beteiligen. Ungefähr ein Drittel der wahlberechtigten ausländischen Einwohner nimmt diese Möglichkeit in Anspruch. In Dänemark gibt es rund 3,5 Millionen Wähler, allerdings dürfen die etwa 250.000 ausländischen Einwohner mit unbefristetem Aufenthaltsrecht (also etwa sieben Prozent) nicht an landesweiten Wahlen teilnehmen. Einer Schätzung zufolge ist nur die Hälfte der dänischen Muslime bei nationalen Wahlen wahlberechtigt, und in Italien sind es sogar weniger als zehn Prozent. In Deutschland sind von den 3,2 Millionen muslimischen Einwohnern nur 500.000 eingebürgert und im wahlberechtigten Alter.34 In Großbritannien wurde bereits mindestens die Hälfte aller Bangladeschis, Pakistani und Inder im Gastland geboren und besitzt die Staatsbürgerschaft. Drei Viertel von ihnen beschreiben sich als Engländer, Briten, Schotten, Waliser oder Iren.35

Die Einbürgerungsgesetze variieren stark von Land zu Land, aber selbst wenn die Tür zur Einbürgerung offen steht, wird der Einlass durch administrative Vorschriften begrenzt. Eine Verkleinerung des Bewerberpools findet zum Beispiel dann statt, wenn Anwärtern der Bezug von Sozialleistungen untersagt wird. Außerdem müssen minimale Spareinlagen belegt sowie ein Nachweis über Akkulturation oder »Bindungen« erbracht werden. In den meisten Ländern gibt es mittlerweile ein schmales Zeitfenster für junge Menschen, die zwischen 18 und 23 Jahren alt sind und eine vorgegebene Zeit im Gastland gelebt haben (meist zwischen fünf und zehn Jahren), um sich unter erleichterten Bedingungen um die Staatsbürgerschaft zu bewerben. In Frankreich wurde 1993 das bis dahin geltende Prinzip des ius soli, nach dem in Frankreich geborene Kinder automatisch die französische Staatsbürgerschaft erhielten, abgeschafft. Seit der Einführung des neuen Staatsbürgerschaftsrechtes |34|in Deutschland am 1. Januar 2000 hat sich der Unterschied zwischen den französischen und den deutschen Regelungen verringert. Voraussetzung in Deutschland ist es unter anderem, dass sich der Bewerber zu den Werten des Grundgesetzes bekennen muss. Diese Bedingung ist mit der Mitgliedschaft in zahlreichen muslimischen Vereinigungen in Deutschland nicht vereinbar. Der Anthropologe John R. Bowen beschreibt, wie französische Beamte die Einhaltung des täglichen Gebetplans – al-Salat – als offensichtliches Beweismittel für die unzureichende Assimilation an französische Normen heranziehen und als Grundlage für die Ablehnung der Staatsbürgerschaft benutzen.36 Die Nachweispflicht über die wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Staat bedeutet, dass jeder, der staatliche Unterstützung bezieht – inklusive Sozialleistungen und Wohnungszulagen – von der Einbürgerung ausgeschlossen ist. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist meistens nicht zulässig. Das ist für viele Zuwanderer insofern problematisch, als ihnen Erbschaftsrechte verloren gehen, wenn sie sich für die Aufgabe der Staatsbürgerschaft ihres Herkunftslandes entscheiden. Seit der Implementierung der Reformen hat sich die Einbürgerungsrate in Frankreich nach unten bewegt, und in Deutschland ist sie nicht mit der Geschwindigkeit gestiegen, mit der Reformbefürworter gerechnet hatten.

Trotz der beschriebenen Hindernisse ist die Zahl der Muslime in Europas Parlamenten und Stadträten gewachsen. Das derzeit einzige muslimische Mitglied der französischen Nationalversammlung kommt aus einem französischen Überseedepartement. Zwei Frauen muslimischer Herkunft, Bariza Khiari von der Sozialistischen Partei sowie Alima Boumediene Thierry von den Grünen, wurden im September 2004 in den französischen Senat gewählt. Zur Zeit meiner Interviews saßen im britischen House of Commons zwei muslimische Parlamentsabgeordnete, Mohammad Sarwar und Khalid Mahmood. Im Jahr 2005 wurden zwei weitere Muslime, Sadik Kahn und Shahid Malik, in das House of Commons gewählt. Alle vier wurden von Labour aufgestellt. Im House of Lords gibt es sieben muslimische Mitglieder, von denen sich ein Abgeordneter offen zu seiner Homosexualität bekennt. Zwei muslimische Frauen haben Sitze im Deutschen Bundestag. Davon ist eine Abgeordnete der Grünen, die andere Sozialdemokratin. Im dänischen Folketing sitzen seit der Parlamentswahl im Februar 2005 drei muslimische Mitglieder, im schwedischen Riksdagen fünf. In der niederländischen |35|Tweede Kamer gibt es sieben muslimische Parlamentsabgeordnete; zwei von ihnen gehören den Christdemokraten an.

Hunderte Muslime wurden in die Stadträte der großen europäischen Städte gewählt, und mit jeder Wahl nahm ihre Anzahl zu. In manchen Städten, zum Beispiel in Berlin und Rotterdam, werden muslimische Wählerinnen und Wähler immer wichtiger, denn sie beeinflussen zunehmend den Ausgang der Kommunalwahlen. Trotzdem stellen Muslime nur in Großbritannien einen ausgeprägten, signifikanten Wählerblock dar, der etwa mit den kubanischen Wählern in den USA vergleichbar ist. Allerdings herrscht überall in Europa starke Parteidisziplin, die es den Abgeordneten verbietet, sich zum Sprachrohr von Interessengruppen zu machen. So erwähnte der Mitarbeiter eines Abgeordneten in unserem Gespräch über die politischen Prioritäten der Parlamentsmitglieder, dass »Diskriminierung und die Situation der Muslime ein gefährliches Terrain« sei.37 Für viele muslimische Politiker ist das Thema Islam und Diskriminierung eine so genannte Stromschiene (third rail), wie es in den USA heißt: »Du berührst es und bist tot.«

Im Ausland geborene Eliten übernehmen Führungspositionen

85 bis 90 Prozent der muslimischen Eliten, die an dieser Studie teilgenommen haben, wurden im Ausland geboren und kamen erst als junge Erwachsene nach Europa. In Großbritannien und den Niederlanden war der Anteil der im Gastland Geborenen höher, was zweifellos auf den früheren Beginn der Migration in diese Länder zurückgeht. Der hohe Anteil der bereits in Frankreich geborenen französischen muslimischen Eliten und deren relativ junges Alter spiegelt sich in dieser Studie wider. Andererseits scheint die Einbürgerungsrate der französischen Teilnehmer trotz ihres jungen Alters und ihres hohen Ausbildungsniveaus relativ niedrig zu sein. Das Durchschnittsalter liegt bei 32 Jahren und weicht damit erheblich vom Durchschnittsalter der befragten Eliten in den anderen Ländern ab, das bei 40 bis 42 Jahren liegt.

Eine Reihe muslimischer Abgeordneter in Schweden und den Niederlanden, die als politische Flüchtlinge gekommen sind, erreichte innerhalb von zehn Jahren sowohl die Einbürgerung als auch die Wahl in ein politisches Amt. Darunter befinden sich einige der talentiertesten |36|für die Unterdrückung der Frau in den muslimischen Ländern verantwortlich und behauptet, dass »dem Islam nicht zu trauen« sei.38 Sie gehört der Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), der rechtsliberalen Partei der Niederlande, an und erhielt bei der Parlamentswahl 2002 die Rekordzahl von rund 68.000 persönlichen Stimmen. (Das niederländische Wahlsystem erlaubt es, für eine Partei oder einen Einzelbewerber zu stimmen.)gehört der Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), der rechtsniederländische Wahlsystem erlaubt es, für eine Partei oder einen Einzelbewerber zu stimmen.)

Tabelle 1.1: Staatsbürgerschaft und Herkunft (Angaben in Prozent)

Außer für die Kandidatur für ein politisches Amt ist die Staatsbürgerschaft keine rechtliche Voraussetzung für gesellschaftliches und politisches Engagement. In der Praxis spielt sie aber eine bedeutende Rolle. Nicht eingebürgerte Eliten machen zwischen einem Zehntel und einem Viertel der Teilnehmer dieser Studie aus und waren nicht in Parteien, sondern in gesellschaftlichen Vereinigungen aktiv. Da die Einbürgerungsgesetze in Deutschland und Dänemark besonders restriktiv sind, lag der Anteil der Eliten, die nicht im Besitz der Staatsangehörigkeit waren, hier deutlich höher.

|37|