Evangelische Mystik - Peter Zimmerling - E-Book

Evangelische Mystik E-Book

Peter Zimmerling

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Beschreibung

"Mystik ist katholisch. Mystik und Protestantismus passen nicht zusammen." Diese Meinung ist weit verbreitet, aber trotzdem falsch. Stattdessen stellt sich das Verhältnis von Mystik und Protestantismus als eine Problemgeschichte dar. Phasen der Hochschätzung und solche der Ablehnung wechselten einander ab. Seit der Reformation gab es Männer und Frauen, die dem Mainstream des Protestantismus angehören, deren Glaube und Theologie mystisch geprägt waren. Martin Luthers (1453–1546) reformatorische Erkenntnis entsprang einer mystischen Erfahrung. Seine reformatorische Theologie war mystisch orientiert. Philipp Nicolai (1556–1608), Paul Gerhardt (1607–1676), Johann Sebastian Bach (1685–1750), Gerhard Tersteegen (1697–1769) und Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760) verliehen in Liedern und Musik ihren mystischen Erfahrungen klassischen Ausdruck. Selbst Leben und Werk protestantischer Zeitgenossen aus dem 20. Jh. wie Dag Hammarskjöld (1905–1961), Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) und Dorothee Sölle (1929–2003) waren mehr oder weniger offensichtlich mystisch geprägt. Sölle bekannte sich klar zur Mystik als einer Angelegenheit nicht von wenigen, sondern von allen Menschen. Tatsächlich war protestantische Mystik von Anfang an keine Angelegenheit religiöser Eliten, sondern stand allen offen. Da die evangelischen Choräle mystisch geprägt waren und das Abendmahl mystisch verstanden wurde, bot gerade der lutherische Gottesdienst allen Christen Zugang zu mystischem Glauben.

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Peter Zimmerling

Evangelische Mystik

2. Auflage

mit einem Geleitwortvon Nikolaus Schneider

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 11 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020, 2015 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 GöttingenAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99963-0

Inhalt

Vorwort zur 1. Auflage

Vorwort zur 2. Auflage

Geleitwort

1. Zur Situation: Wiederkehr der Mystik

1.1 Zum Begriff

1.2 Mystik und Protestantismus: eine Problemgeschichte

1.2.1 Wechsel zwischen Hochschätzung und Ablehnung

1.2.2 Schlüsselstellung der Lehre von der Unio mystica in Orthodoxie und Pietismus

1.2.3 Von Johann Arndt bis Dietrich Bonhoeffer

1.3 Wiederkehr der Mystik im Protestantismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Ursachen und Hintergründe

2. Und es gab sie doch: Evangelische Mystikerinnen und Mystiker. Biografische Einblicke in die Geschichte der evangelischen Mystik

2.1 Martin Luther (1483–1546): Demokratisierung der Mystik

2.1.1 Neue Forschungsergebnisse

2.1.2 Luthers Rezeption mystischer Traditionen

2.1.3 Eigene mystische Gotteserfahrungen?

2.1.4 Erfahrungsbezogene Theologie und Spiritualität

2.1.5 Demokratisierung der Mystik

2.1.6 Von der Brautmystik geprägte Spiritualität

2.1.7 Resümee

2.2 Philipp Nicolai (1556–1608): Mystik und Eschatologie

2.2.1 Theologie und Biografie

2.2.2 Interpretation der einzelnen Strophen des Liedes „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ (EG 70)

2.3 Paul Gerhardt (1607–1676): Mystik und Lebenskunst

2.3.1 Biografisches

2.3.2 Mystische Dimensionen in den Liedern Paul Gerhardts. Drei Beispiele

2.3.3 Mystische Charakteristika der Lieder Paul Gerhardts

2.3.4 Das lutherische Gesangbuchlied als Mittel zur Weitergabe mystischer Spiritualität

2.4 Johann Sebastian Bach (1685–1750): Mystik und Musik

2.4.1 Zur Rezeptions- und Forschungsgeschichte

2.4.2 Biografisches

2.4.3 Zum Werk

2.4.4 Bachs Musik als Zugang zu evangelischer Mystik heute

2.5 Gerhard Tersteegen (1697–1769): Pietist und Mystiker

2.5.1 Leben und Werk

2.5.2 Mystische Theologie und Spiritualität

2.6 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760): Mystik in Alltag und Gemeinde

2.6.1 Biografisches

2.6.2 Zinzendorf und die Mystik. Unterschiedliche Forschungspositionen

2.6.3 Christusmystik als Entdeckung des nahen Gottes. Kritik an der traditionellen trinitarischen Gotteslehre

2.6.4 „Combination des Worts und der personellen connexion mit Ihm.“ Zinzendorfs Wortmystik

2.6.5 Zinzendorfs Ehereligion

2.6.6 Impulse für heute

2.7 Dag Hammarskjöld (1905–1961): Ein lutherischer Christusmystiker im Verborgenen

2.7.1 Zur Forschungsgeschichte

2.7.2 Biografische Skizze

2.7.3 Prägung durch das schwedische Luthertum

2.7.4 Beschäftigung mit der mittelalterlichen Mystik

2.7.5 Anregungen durch Nathan Söderblom und Albert Schweitzer

2.7.6 Die spirituelle Wende zwischen 1952 und 1953

2.7.7 „Ein junger Mann“: Einsatz beim Menschen Jesus

2.7.8 „Als er zum Opfer erwählt ward“: Neuformulierung des Inkarnationsgedankens

2.7.9 Grundzüge der mystisch geprägten Spiritualität Hammarskjölds

2.7.10 Vollendung im Opfer: Leiderfahrung als Gotteserfahrung

2.7.11 Resümee

2.8 Dietrich Bonhoeffer (1906–1945): Mystische Dimensionen von Biografie und Theologie

2.8.1 Dreifache Immunisierung gegenüber der Mystik

2.8.2 Mystische Dimensionen von Bonhoeffers Biografie

2.8.3 Spiritualität und Ethik zwischen Mystik und Widerstand

2.9 Dorothee Sölle (1929–2003): „Mystik ist Widerstand“

2.9.1 Zur Biografie

2.9.2 Mystik als Lebensthema

2.9.3 Mystikverständnis: „Mystik ist Widerstand“

2.9.4 Anfragen an Sölles Mystikverständnis

2.9.5 Ausblick

3. Eine kleine Theologie evangelischer Mystik

3.1 Biblische Grundmuster

3.1.1 Im Alten Testament:

3.1.2 Im Neuen Testament

3.2 Der Erfahrungsaspekt des Glaubens

3.2.1 Der Begriff der Erfahrung

3.2.2 Chancen und Gefahren der Orientierung an der Erfahrung

3.2.3 Im Spannungsfeld von Widerfahrnis und aktiver Vorbereitung

3.2.4 Das ekstatische Moment

3.3 Mystik als Gegenentwurf zu einem rationalistischen Wirklichkeitsparadigma

3.4 Mystik und Klima. Äußere Entstehungsbedingungen für die Mystik?

3.5 Neue Sprache des Glaubens

3.5.1 Zwischen Sprachlust und Unsagbarkeit

3.5.2 Funktionen mystischer Sprache

3.5.3 Mystik und Poesie

3.5.4 Drei charakteristische Sprachformen

3.6 Mystik und Kirche

3.6.1 Zwischen kirchenfreier und kirchlich integrierter Mystik

3.6.2 Zur ekklesiologischen Dimension evangelischer Mystik

3.6.3 Resümee: Wechselseitige Abhängigkeit von Mystik und Kirche

3.7 Mystik und Esoterik. Gemeinsamkeiten und Unterschiede

3.8 Mystik und Weltverantwortung

3.9 Die Notwendigkeit einer evangelischen Lehre mystischer Erfahrungen. Zusammenfassende Kriterien

4. Praxis: „Der Christ von morgen wird ein Mystiker sein“

4.1 Unterwegs zu einer Mystik für jedermann und jedefrau

4.2 Impulse der Mystik für evangelische Spiritualität heute

Ausblick: Warum Mystik für Kirche und Welt überlebenswichtig ist

Bildquellen

Literatur

Personenregister

Vorwort zur 1. Auflage

„Mystik ist katholisch. Mystik und Protestantismus passen nicht zusammen.“ Tatsächlich konstatierten weite Teile der akademischen Theologie in den vergangenen 150 Jahren einen unüberbrückbaren Graben zwischen Mystik und Protestantismus. Auch wenn solche Vorbehalte in den vergangenen Jahrzehnten an Kraft verloren haben, wirkt die Skepsis bis heute nach. Darum ist für einen evangelischen Theologen der Weg zur Mystik immer noch weder selbstverständlich noch problemlos.

Ausgangspunkt meiner Beschäftigung mit der Mystik war ein doppelter: Zunächst stieß ich bei der wissenschaftlichen Erforschung des trinitätstheologischen Denkens von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) immer wieder auf Bezüge zur Mystik. Der andere Ansatzpunkt war mehr existenzieller Natur: Ich begann mich zu fragen, ob es eine intensivere Form des Glaubens gab, als ich sie bis dahin kennengelernt hatte. Ich sehnte mich nach vertiefter Erkenntnis Gottes. Außerdem trieb mich die Frage nach dessen Erfahrbarkeit im Alltag um. Damals fing ich an, die Werke von Mystikerinnen und Mystikern unterschiedlichster Herkunft zu lesen. Neben Katharina von Siena und Gerhard Tersteegen beeindruckte mich vor allem Teresa von Avila und von dieser speziell ihre „Vida“, ihre Autobiografie.

Im Laufe der Zeit kristallisierten sich im Rahmen meiner Beschäftigung mit der Mystik drei Schwerpunkte heraus: 1. Ich habe ein kirchen- bzw. theologiegeschichtliches Interesse. Es geht mir darum, die Geschichte der Mystik, speziell der evangelischen Mystik, zu erforschen. 2. Ich nehme teil an der theologischen Auseinandersetzung mit der Mystik (auch mit Formen der Mystik in nicht-christlichen Religionen) und bemühe mich, die Rezeption der Mystik in der wissenschaftlichen Theologie voranzutreiben. 3. Ich lote die Möglichkeiten aus, wie mystisch orientiertes Christsein mit der traditionellen evangelischen Spiritualität vermittelt werden kann. Notwendig erscheinen mir heute vor allem geschichtliches Wissen, Kriterien zur Bewertung und Anleitung zur Praxis der Mystik. Diesem Dreischritt von Geschichte, Theologie und Praxis entspricht die inhaltliche Gliederung des vorliegenden Buches. Vorgeschaltet ist dem ein Einleitungskapitel mit einer vorläufigen Begriffsbestimmung und dem Versuch, eine Ortsbestimmung der Mystik in der Geschichte der evangelischen Theologie von ihren Anfängen bis in die Gegenwart vorzunehmen.

Seit einigen Jahren ist eine Wiederkehr der Mystik zu beobachten. Das gilt auch für den Protestantismus. Dadurch konnte sich die Mystik aus ihrem Nischendasein befreien. Während nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst eher theologische Außenseiter wie Walter Nigg, Ernst Benz und Gerhard Wehr auf die Bedeutung der Mystik für die evangelische Theologie und Spiritualität aufmerksam machten,1 hat sie inzwischen den Mainstream erreicht.

Ich beschränke mich in dem vorliegenden Buch auf eine Bestandsaufnahme evangelischer Mystik. Das soll nicht die ökumenische Verankerung mystischer Theologie und Spiritualität infrage stellen. Vielmehr geht es mir darum, durch diese Konzentration das Profil evangelischer Mystik besser erfassen zu können. Die Beschäftigung mit evangelischer Mystik schließt eine Wiederentdeckung verschütteter Frömmigkeitstraditionen ein. Darin scheint mir die Voraussetzung für eine echte Bereicherung evangelischer Theologie und Spiritualität durch die Mystik zu liegen. Diese wird in Zukunft nur dann nachhaltig wirksam werden, wenn es ihr gelingt, an entsprechende innerevangelische Traditionen anzuknüpfen. Die evangelische Mystik ist meines Wissens nur ein einziges Mal nach dem Zweiten Weltkrieg ausführlich monografisch dargestellt worden, und zwar von dem bereits erwähnten Züricher Kirchengeschichtler Walter Nigg in seinem Buch „Heimliche Weisheit. Mystisches Leben in der Evangelischen Christenheit“, das 1959 in erster Auflage erschien.

Speziell im evangelischen Raum ist es nicht einfach zu sagen, wer ein Mystiker war. Traditionellerweise galten als solche vor allem theologische Außenseiter wie Thomas Müntzer, Kaspar Schwenckfeld, Sebastian Franck, Valentin Weigel, Jakob Böhme, Johannes Scheffler (Angelus Silesius), Gerhard Tersteegen und Friedrich Christoph Oetinger. Die Skepsis gegenüber der Mystik hat viele Mainstream-Theologen daran gehindert, sich als Mystiker zu verstehen, obwohl sie mystische Erfahrungen gemacht und sogar mystische Texte verfasst haben. Ein Grund dafür dürfte darin liegen, dass die Mystik ein unkontrollierbares Element der Religion darstellt. Zudem: welcher Theologe wollte schon freiwillig mit den genannten mystischen Außenseitern mit ihren ausgefallenen Ideen, ihren ekstatischen Gotteserfahrungen und ihrem oft tragischen Schicksal in einem Atemzug genannt werden. Angesichts der neuen Offenheit für Mystik erscheint es mir sinnvoll, hier eine Relecture vorzunehmen. Dadurch können auch solche kirchengeschichtlichen Personen einschließlich ihrer Werke der Mystik zugeordnet werden, die traditionellerweise nicht dazu gezählt wurden bzw. bei denen von der Forschung bestenfalls eine mystische Dimension konstatiert wurde. Mich interessieren nicht so sehr die theologischen Außenseiter unter den protestantischen Mystikern, sondern die „innerkirchlichen“ Mystiker, die im Mainstream der Theologie verortet waren bzw. diesen mitgeprägt haben. Dadurch ergibt sich ein neues Bild der Theologie- und Spiritualitätsgeschichte. Es wird erkennbar: Evangelisches Christentum und evangelischer Glaube sind ohne Mystik gar nicht denkbar.

Wie bei jeder Veröffentlichung habe ich Menschen zu danken, ohne deren freundliche Hilfe auch dieses Buch nicht zum Abschluss gekommen wäre: Zuerst Frau Vikarin Karin Walther (Dippoldiswalde), die das Manuskript lektoriert und mich mit einer Reihe von Fragen und Anregungen zu einer erneuten Überarbeitung inspiriert hat. Herrn stud. theol. Kevin Stilzebach (Liemehna), der die endgültige Manuskriptgestalt einschließlich der Bilder und das Personenregister herstellte. Frau Margitta Berndt (Herrnhut), die in bewährter Weise Korrektur las. Und den Herren Jörg Persch und Christoph Spill, die das Projekt vonseiten des Verlags in äußerst angenehmer Weise betreuten.

Ich bin sehr gespannt, wie das Buch aufgenommen werden wird.

Böhmisches Dorf, Berlin-Neukölln, im September 2014

Peter Zimmerling

1Nigg, Heimliche Weisheit; Wehr, Mystik im Protestantismus.

Vorwort zur 2. Auflage

Die erste Auflage des vorliegenden Buches hat eine erfreulich positive Resonanz gefunden. Das gilt einerseits im Hinblick auf die im Raum des Protestantismus immer noch überschaubare Gruppe von Mystikforscherinnen und -forschern. Andererseits gilt es genauso für an der Mystik interessierten Pfarrern und Pfarrerinnen und gebildeten Laien aus den unterschiedlichen Konfessionen. Ich habe auf keine andere Veröffentlichung derart viele ausführliche und inhaltlich-theologisch gehaltvolle, z. T. sehr persönliche, Reaktionen erhalten. Insgesamt scheint sich der methodische Dreischritt meiner Theologie: Geschichte, Theologie, Praxis auch im Hinblick auf die Beschäftigung mit der Mystik bewährt zu haben. Wie aus der Rezeption des Buches erkennbar wurde, hat auch die Konzentration auf mystische Vertreterinnen und Vertreter aus dem Mainstream-Protestantismus einer Reihe von theologischen Zeitgenossen, die der Mystik skeptisch gegenüberstanden, eine Brücke zu ihr zu bauen vermocht. Demgegenüber tritt für mich die von einzelnen Leserinnen und Lesern geäußerte Kritik, dass sie bestimmte Vertreterinnen und Vertreter der evangelischen Mystik wie Jakob Böhme, aber auch Thomas Müntzer, Johannes Scheffler (Angelus Silesius), Friedrich Christoph Oetinger u. a. vermisst hätten, in den Hintergrund. Die genannten Beobachtungen haben mich ermutigt, das vorliegende Buch unverändert in 2. Auflage herausgehen zu lassen.

Ich verkenne nicht, dass weiterer Klärungsbedarf im Hinblick auf die Frage besteht, ob es die eine universelle Mystik oder so viele unterschiedliche Mystiken wie Religionen gibt. Die Frage wird unterschiedlich beantwortet, wobei sich zwei Hauptströmungen erkennen lassen. Der Perennialismus geht davon aus, dass Mystik eine Form von „Meta-Religiosität“ bildet, die in allen Religionen gleichermaßen vorkommt, ohne in der jeweiligen Religion aufzugehen. Als einer der Hauptverfechter des perennialistischen Ansatzes hat etwa Walter T. Stace zu gelten.1 Mystik ist nach dieser Auffassung der gemeinsame spirituelle Kern aller Religionen – gewissermaßen das Herz, das übrig bleibt, wenn alle äußeren Einkleidungen der jeweiligen Religion abgeschält sind. Ich bin der Überzeugung, dass dieser Ansatz weder der Wirklichkeit der Religionen noch der der Mystik entspricht. Vielmehr meine ich mit dem kulturalistischen Ansatz, wie er vor allem von Steven Katz vertreten wird:2 Es gibt mystische Spiritualität nicht an sich, sondern immer nur als Intensivform der jeweiligen Religion, in der sie beheimatet ist. „Kein Mystiker (wenigstens in unserem [20.] Jahrhundert) glaubte an ‚Mystik‘ oder praktizierte ‚Mystik‘. Er glaubte an das Christentum und praktizierte es (oder eben an das Judentum, den Islam, den Hinduismus); es geht also immer um konkrete Religionen, die mystische Elemente als Teil eines umfassenderen geschichtlichen Ganzen enthalten.“3

Damit hängt eine zweite Frage, die in Zukunft weiter untersucht werden muss, unmittelbar zusammen. Wie stark ist das ökumenische und damit das friedensstiftende Potenzial der Mystik? Gerade vom perennialistischen Ansatz her scheint die Mystik als eine Art gemeinsamer religiöser Glutkern das Gewaltpotenzial der Religionen domestizieren zu können. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch schnell deutlich, dass die Sache sich komplizierter darstellt. So war ein Mystiker wie Angelus Silesius alles andere als ein Friedensstifter zwischen den verfeindeten Konfessionen seiner schlesischen Heimat. Nach seiner Konversion zum Katholizismus entwickelte er sich mehr und mehr zu einem gewaltbereiten Hasser seiner Ursprungskonfession. In unserer Gegenwart weist der Glaube von vielen Mitgliedern islamischer Bruderschaften mystische Züge auf, ohne dass dies zu einer signifikanten Erhöhung ihrer Toleranz gegenüber Nicht-Muslimen führen würde – im Gegenteil.

Ich meine, dass das Friedenspotenzial der Mystik eher indirekt zur Wirkung kommt. Zwischen den mystischen Spiritualitäten der unterschiedlichen Religionen gibt es mehr oder weniger große gemeinsame Schnittmengen, die größer sind als die zwischen den Theologien der Religionen. Allein die Konzentration auf die Erfahrungsseite der Religion hat ein religionsverbindendes Potenzial. Auch der Tatsache, dass die mystische Erfahrung als Geschenk erlebt wird, wohnt eine religionsverbindende Kraft inne. Der Geschenkcharakter führt im Prinzip zu einer Relativierung religiöser Machtansprüche. Ebenso kann die Betonung von Unmittelbarkeit und Individualität im religiösen Vollzug, wodurch die Bedeutung des institutionellen Elements der Religion natürlicherweise zurücktritt, als Potenzial im Sinne eines friedlichen Miteinanders der Religionen wirksam werden. Die Stärkung des Einzelnen gegenüber institutionellen Autoritäten führt zu einer Relativierung der Machtansprüche der institutionell verfassten Religionsgemeinschaften.

Die konfessions- und religionsverbindende Kraft der Mystik liegt weiter „im Aufweis konfessionsübergreifender Defizite religiösen Erlebens gegenüber der theologischen Reflexion und der Wiederentdeckung der Kraft mystischer Theologie, diese zu füllen“.4 Mystik hat eine heuristische Funktion: Sie hilft die gemeinsamen Defizite der traditionellen christlichen Konfessionen auf dem Gebiet der gelebten Spiritualität zu erkennen, so der Duktus des Zitats. Diese Funktion übernimmt die Mystik darüber hinaus inzwischen auch in den nichtchristlichen Religionen. Angesichts fortschreitender Säkularisierungsprozesse in den meisten westlichen Gesellschaften hält die Mystik im Bewusstsein, dass Religiosität und Spiritualität Phänomene darstellen, die weder durch Säkularisierungs- oder Entkirchlichungsprozesse noch durch naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinne welcher Art auch immer aus der Welt geschafft werden können. Schon die bloße Bezeugung mystischer Erfahrungen lässt die Frage nach Gott nicht zur Ruhe kommen.

Die Mystik bewahrt traditionelle Theologien – egal welcher Religion – davor, zu einem hermetischen System zu erstarren. Das Verlangen, die eigene mystische Erfahrung zu verstehen, führte Mystikerinnen und Mystiker immer wieder dazu, z. T. revolutionäre theologische Gedanken zu wagen. Dazu gehört in der Mystik der meisten Religionen die Einsicht, dass Gott unbedingt Liebe ist und dass Alltag und Dienst für Gott untrennbar zusammengehören. Die Mystik der verschiedenen Religionen kann dazu beitragen, dass das interreligiöse Gespräch zu gegenseitigem Respekt, gegenseitiger Wertschätzung und gegenseitigem Wohlwollen im Zusammenleben der unterschiedlichen Religionen führt.

Last not least möchte ich Nikolaus Schneider, dem früheren Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), von Herzen für sein Geleitwort danken. Es ist für mich nicht nur ein Zeichen unserer persönlichen Verbundenheit, sondern auch ein Beleg dafür, dass die EKD die Mystik mittlerweile als für evangelische Spiritualität unverzichtbar anerkennt. Ein mystikfreier Protestantismus stellt eine Unmöglichkeit dar! Mit Nikolaus Schneider gesprochen: „So verstanden ist christlicher Glaube erst in zweiter Linie die philologisch einwandfreie Exegese biblischer Texte, die gelehrte Formulierung und Reflexion von Glaubensätzen oder die genaue Kenntnis der Geschichte des christlichen Glaubens und seiner Kirche und deren Entwicklung. In erster Linie ist christlicher Glaube die aktuelle Erfahrung der Gegenwart des biblischen Gottes, des Vaters Jesu Christi.“

Leipzig, im Januar 2020

Peter Zimmerling

1Walter T. Stace, Mysticism and Philosophy, London 1961.

2Steven T. Katz (Hg.), Mysticism and Religious Traditions, Oxford 1983; vgl. auch ders., Art. Mystik. IV. Religionsphilosophisch, in: RGG, Bd. 5, Tübingen 42002, 1673–1675.

3Bernhard McGinn, Die Mystik im Abendland, Bd. 1 Ursprünge, Freiburg u. a. 22001, 15.

4Markus Wriedt, Mystik und Protestantismus – ein Widerspruch?, in: Johannes Schilling (Hg.), Mystik. Religion der Zukunft – Zukunft der Religion?, Leipzig 2003, 67–87, das Zit. 86.

Geleitwort

Wie kann der Protestantismus, der sich der Vernunft verpflichtet weiß und die Mystik, die dem Herzen verbunden ist, zusammengehen? Die Frage macht deutlich: Vielen Gläubigen der Evangelischen Kirchen ist nicht bewusst, dass Martin Luthers entschiedenes Eintreten gegen den Ablasshandel ganz wesentlich durch die Verankerung seines Denkens und Lebens in mystischen Traditionen seiner Zeit bedingt ist. Denn das ist doch naheliegend: Luthers Widerspruch gegen den schändlichen Missbrauch des Ablasses erklärt sich auch daraus, dass er Buße und Abkehr vom sündigen Leben als einen Akt des ganzen Menschen vollzogen in seinem ganzen Leben verstand. Deswegen ist ein Ablasshandel völlig unakzeptabel, der als Geschäftsmodell funktioniert: Gegen die Zahlung einer bestimmten Summe Geldes werden die nach Schwere und Zeit definierten Strafen für eine bestimmte Sünde gemäß eines „Tarifkatalogs“ abgelöst. Hier kommt es unabhängig von der Person ganz sachlich auf Leistung und Gegenleistung an, nicht auf Reue, Buße und Umkehr des Menschen.

Einen frommen Menschen wie Martin Luther, der etwa seinen Tauler studiert hatte, musste das empören. Und dahin bringen, allen Versuchen nachhaltig zu widerstehen, den in seiner Frömmigkeit gegründeten und durch die Bibel gelehrten Widerstand gegen den Ablasshandel zum Schweigen zu bringen. So wurden die Reformbemühungen zur Reformation, als auch das päpstliche Amt mit allen Machtmitteln gegen Luther vorging.

Martin Luther ging es nämlich darum, Menschen auf das Wirken Gottes in seinem Wort aufmerksam zu machen; auf den Anspruch, der davon ausgeht und der höher steht als päpstliche Machtausübung. Luther wollte erreichen, dass sich Menschen für ein Leben in der Nachfolge Christi öffnen, indem sie ihren Geist dem Wirken des Geistes Gottes anvertrauen.

So verstanden ist christlicher Glaube erst in zweiter Linie die philologisch einwandfreie Exegese biblischer Texte, die gelehrte Formulierung und Reflexion von Glaubensätzen oder die genaue Kenntnis der Geschichte des christlichen Glaubens und seiner Kirche und deren Entwicklung. In erster Linie ist christlicher Glaube die aktuelle Erfahrung der Gegenwart des biblischen Gottes, des Vaters Jesu Christi. Die Substanz dieses Glaubens, das, was ihn für die Person des Gläubigen ausmacht, ist die Gewissheit der lebendigen Gegenwart dieses lebendigen Gottes.

Mystisch begabte Menschen haben solche Erfahrungen, die auch viele andere Menschen machen, in besonderer Weise in Worte fassen können. Stellvertretend für alle gläubigen Menschen bieten sie damit eine Sprachschule an, die anderen helfen kann, ihre Erfahrungen mit dem lebendigen Gott auf den Begriff zu bringen.

Die in diesem Buch zusammengestellten Beispiele mystischen Glaubens in der Tradition evangelischer Kirchen mögen auch für uns Heutige zu einer Sprachschule werden. Denn in jeder Zeit muss neu zur Sprache gebracht werden, dass und wie der lebendige Gott gegenwärtig ist, Menschen anspricht und mit ihnen durch die Zeit geht. Dazu möge dieses Buch vielen Menschen dienen.

Ratsvorsitzender i. R. Nikolaus Schneider, Berlin

1. Zur Situation: Wiederkehr der Mystik

1.1 Zum Begriff

„Mystik“ ist ein „Containerbegriff mit unklaren Konturen und vielen möglichen Inhalten“.1 Für jeden, der sich zur Mystik äußert, ist es darum notwendig, zu Beginn eine Begriffsdefinition vorzunehmen, zu präzisieren, was er unter Mystik versteht. Das möchte ich hiermit tun, allerdings in vorläufiger und skizzenhafter Weise, um eine Art Wegbeschreibung für die folgenden Kapitel zu liefern und den Leserinnen und Lesern damit die Orientierung zu erleichtern. Im weiteren Verlauf des Buches soll diese Skizze dann entfaltet werden. Ich konzentriere mich bei der Begriffsbestimmung auf die christliche Mystik, ohne die Mystik der anderen Religionen aus den Augen zu verlieren.

Bei der Mystik geht es um die erfahrungsbezogene Seite der Theologie, um die cognitio dei experimentalis, um das „erfahrende Wahrnehmen Gottes“.2 Erfahrungsbezogen meint: Nicht die gedachte, sondern die gelebte Dimension des Glaubens steht im Vordergrund. Es geht primär um Gott und die Beziehung des Menschen zu ihm. „Theologia mystica ist für sie [die christlichen Mystiker] nicht bloß der Versuch, ein direktes Bewußtsein und eine unmittelbare Erfahrung von der Gegenwart Gottes zu artikulieren, sondern darüber hinaus auch ein Prozeß und ein Lebensweg, vor allem aber auch die Erfahrung der Gegenwart Gottes selbst.“3 Von daher hat die Mystik eine natürliche Affinität zur sog. monastischen Theologie. Diese ist im Kern weniger am intellektuell geprägten Nachdenken über Gott interessiert, sondern existenziell-erfahrungsbezogen.4 In ihrem Zentrum steht nicht Wissen, sondern Glauben, nicht eruditio, sondern pietas, nicht der Kopf, sondern das Herz. Sie wurde im Kloster von Mönchen für Mönche unter Berücksichtigung von deren besonderer Situation entwickelt. Es ist sicher kein Zufall, dass Bernhard von Clairvaux, den man als den Vater der abendländischen Mystik bezeichnen kann, ein Hauptvertreter der monastischen Theologie war. Bisweilen lässt sich ein regelrechter Kampf mystischer Theologen gegen jegliche scholastisch ausgerichtete Form der Theologie beobachten.5 Monastische und scholastische Theologie stehen sich im Mittelalter als selbstständige Gestalten der Theologie gleichwertig gegenüber.6

Für die Mystik ist das Wechselspiel von Erfahrung und Deutung charakteristisch, wobei keine Seite auf Kosten der anderen überbetont werden sollte.7 Ohne Deutungskategorien bleibt die Erfahrung blind. Umgekehrt drohen Begriffe und Gedanken ohne Erfahrung blass und unlebendig zu werden. Gerade die Erfahrungsferne vieler theologischer Überlegungen hat der wissenschaftlichen Theologie bei vielen Zeitgenossen einen großen Vertrauensverlust eingebracht. Umgekehrt ist die Mystik aufgrund ihrer Erfahrungsnähe für religiös Suchende heute attraktiv.

Zweifellos beeinflussen soziale, ja sogar klimatische Bedingungen das mystische Bewusstsein.8 Auf der anderen Seite widersetzt sich die mystische Erfahrung einer Konzeptualisierung und Verbalisierung, da es sich um ein unmittelbares Bewusstsein der Gegenwart Gottes handelt. Dieses ist in tieferen Persönlichkeitsschichten zu Hause, als in denen theologische Erkenntnis sonst gewonnen wird.9 Dennoch haben viele Mystikerinnen und Mystiker von ihren Erfahrungen berichtet, auch wenn dies im Wissen darum geschah, dass ihr Sprachvermögen nicht ausreichte. „Zwischen diesen Polen – zwischen Notwendigkeit und Unmöglichkeit zu reden – bewegt sich hier die Sprache, erfährt sie ihre Tauglichkeit und gleichzeitige Relativierung, wenn es darum geht, etwas über jene ‚Einung‘ (zwischen Gott und Mensch) zu sagen, die nach Dionysius Areopagita ‚unserer Verstandes- und Vernunftfähigkeit und Tätigkeit überlegen ist‘.“10

Im Lauf der Forschungsgeschichte hat sich eine Art Kanon von mystischen Texten herauskristallisiert.11 Diese literarischen Zeugnisse sind die entscheidende Grundlage jeder wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Mystik. Jener Kanon umfasst Ausführungen unterschiedlichen Inhalts.12 Zu ihm gehören einmal Texte, in denen die möglichst authentische Beschreibung des mystischen Erlebnisses vor allem mithilfe von Metaphern und Sprachbildern (aus der Natur, dem Alltag und nicht zuletzt aus dem zwischenmenschlichen Bereich von Freundschaft, Liebe und Erotik) im Vordergrund steht. Eine weitere Textgruppe zeichnet sich durch einen stärker reflexiven und argumentativen Charakter aus. Das mystische Ziel der Gottesbegegnung erscheint hier als „äußerste Zuspitzung eines rationalen Weges […], der auch unabhängig von eigenen mystischen Erfahrungen und Erlebnissen weitgehend nachvollziehbar ist.“13 Daneben gibt es Mischformen, die beide Tendenzen in sich vereinigen. Kurt Ruh spricht im Hinblick auf die beiden letztgenannten Textgruppen von „Mystik als Lehre“, die z. T. explizit in Form der Mystagogie zu mystischen Erfahrungen hinführen will.14 Schließlich gehören zum mystischen Kanon Texte, die nur in einem weiteren Sinn als mystisch zu bezeichnen sind: „Es gibt Wege, die zur eigentlichen Mystik erst hinführen, es gibt Vorstufen, etwa die Meditation, es gibt spirituelle Mittel, die mystische Erhebung auszulösen, so das Gebet oder die Compassio in der Christusmystik […]. Das mystische Schrifttum enthält aber auch Elemente der Unterweisung und Erbauung, formuliert nicht selten asketische Forderungen.“15 Meinen Ausführungen liegt die Beschäftigung mit sämtlichen genannten Textgattungen zugrunde.

Im Folgenden verstehe ich unter Mystik Formen spiritueller Erfahrung mit dem Ziel der Gottesbegegnung. Mystik stellt eine Intensivform geistlicher Erfahrung dar,16 wobei dies nicht einseitig im Sinne von spirituellen Gipfelerfahrungen zu verstehen ist, etwa von Visionen, Auditionen und Elevationen. Mystische Erfahrungen können von solchen Erscheinungen begleitet sein. Aber genauso gehören zur Mystik Erfahrungen der Anfechtung, der „dunklen Nacht“, wie Johannes vom Kreuz formuliert.17

Vielfach auch als erotische Metapher verstanden: „Die Verzückung der heiligen Theresa“, Frontalskulptur von Giovanni Lorenzo Bernini, 17. Jh., Santa Maria della Vittoria, Rom.

Im Zentrum der mystischen Erfahrung bzw. des mystischen Bewusstseins steht die Unio mystica, die Vereinigung mit Gott.18 Dieses Ziel mystischen Glaubens kann mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet werden: etwa als Schau des göttlichen Lichtes, als Vergöttlichung, als bildlose Freiheit. Entscheidend ist, dass die Unio sowohl Liebe als auch Erkenntnis umfasst und als unverdientes Geschenk empfunden wird.19 Gott wird dabei in dialektischer Weise sowohl im Modus der Gegenwart als auch des Entzugs erfahren.20 Die Unio führt zu einer Form von Selbsttranszendenz, die gleichzeitig Selbstwerdung und Selbstverlust umfasst.21 Haas bringt es auf den Punkt: „Es ist ein Durchbruch des Menschen in Gott, der möglich ist, weil Gott je schon durchgebrochen ist durch die harten Strukturen und Systeme menschlicher Verkrustungen.“22

Das Ziel der mystischen Erfahrung ist Teil eines Gesamtprozesses.23 Dieser Prozess umfasst Vorbereitung, Ziel und Auswirkungen. Dabei darf das Ziel nicht von den übrigen Teilen des Prozesses isoliert werden, weil sonst die mystische Erfahrung „in der Luft hängt“, merkwürdig ortlos wird. Von hieraus ergibt sich die These24: Es gibt keine mystische Erfahrung ohne Verortung in einer gelebten Religion. Es ist daher nur konsequent, dass sich christliche Mystik seit ihren Anfängen mindestens durch zwei Merkmale auszeichnet: durch eine Orientierung am biblischen Wort und an der Person Jesu Christi. Das gilt auch – bei allen zu beobachtenden Modifikationen und Einschränkungen – für die Mystik des Dionysios Areopagita, eines wichtigen Vordenkers der christlichen Mystik.25 Dieser war vermutlich ein syrischer Mönch, der um 500 n. Chr. wirkte und die christliche Mystik mit Hilfe der neuplatonischen Philosophie zum Ausdruck brachte. Die Orientierung christlicher Mystik an der Bibel wird durch die Beobachtung bestätigt, dass mystische Erfahrung im Christentum zur Versprachlichung hin tendiert.26 Das zweite Merkmal christlicher Mystik, ihre Ausrichtung auf Jesus Christus, wird daran deutlich, dass dessen Person für sie unüberbietbar ist: „Es ist die Gestalt Jesu Christi, die für die Mystiker keinesfalls schlicht eine erbauliche ist, sondern ihre Denk- und Liebeskräfte aufs schärfste anstrengt.“27

Nicht zuletzt, weil das Ziel, die Unio mystica, vom mystischen Gesamtprozess isoliert worden ist, wurde in Vergangenheit und Gegenwart immer wieder die Auffassung vertreten, Mystik sei eine Form von „Meta-Religiosität“, die in allen Religionen gleichermaßen vorkomme, ohne in der jeweiligen Religion aufzugehen.28 Mystik wäre dann der gemeinsame spirituelle Kern aller Religionen – gewissermaßen das Herz, das übrig bleibt, wenn alle äußeren Einkleidungen der jeweiligen Religion abgeschält sind. Ich bin der Überzeugung, dass dieser Ansatz weder der Wirklichkeit der Religionen noch der der Mystik entspricht. Es gibt mystische Spiritualität nicht an sich, sondern nur als Intensivform der jeweiligen Religion, in der sie beheimatet ist. Für mystische Spiritualität gilt, was Friedrich Schleiermacher bereits am Beginn des 19. Jh. im Hinblick auf die Religion überhaupt festgestellt hat: Der aufklärerische Religionsbegriff ist ein Abstraktum; Religion gibt es nur als positive Religion, d. h. in Gestalt der unterschiedlichen gelebten Religionen.29 Entsprechend gibt es keine „Mystik der Religionen“, die höchstens als Abstraktion existiert. Es gibt Mystik nur in der Gestalt einer christlichen, islamischen, hinduistischen, buddhistischen etc. Mystik. „Kein Mystiker (wenigstens in unserem [20.!] Jh.) glaubte an ‚Mystik‘ oder praktizierte ‚Mystik‘. Er glaubte an das Christentum und praktizierte es (oder eben an das Judentum, den Islam, den Hinduismus); es geht also immer um konkrete Religionen, die mystische Elemente als Teil eines umfassenderen geschichtlichen Ganzen enthalten.“30 Daher spielt auch die konfessionelle Prägung für die jeweilige Gestalt der Mystik eine wichtige Rolle, und es ist berechtigt, von evangelischer Mystik im Unterschied zu katholischer Mystik zu sprechen.

Damit soll nicht bestritten werden, dass es zwischen den mystischen Spiritualitäten der unterschiedlichen Religionen mehr oder weniger große gemeinsame Schnittmengen gibt. Schnittmengen, die größer sein können als die zwischen den Theologien der Religionen. Schon die Tatsache, dass die mystische Erfahrung als Geschenk erlebt wird, deutet in diese Richtung. Auch die Betonung von Unmittelbarkeit und Individualität kann als Potenzial im Sinne einer Ökumene der Religionen wirksam werden. Wichtiger erscheinen mir im Hinblick auf das Potenzial der Mystik für die kleine und große Ökumene aber folgende beiden Beobachtungen: Mystik entfaltet seine ökumenische Kraft heute darin, dass das Interesse an ihr Menschen unterschiedlicher konfessioneller und religiöser Herkunft miteinander verbindet.31 Im Hinblick auf die christliche Ökumene gilt: „Im mystischen Erleben wird der Mensch vom Heiligen Geist ergriffen. Dieser Geist stiftet Gemeinschaft und führt die Menschen innerlich einander näher.“32 Vor allem liegt die ökumenische Kraft der Beschäftigung mit der Mystik „im Aufweis konfessionsübergreifender Defizite religiösen Erlebens gegenüber der theologischen Reflexion und der Wiederentdeckung der Kraft mystischer Theologie, diese zu füllen“.33 Mystik hat eine heuristische Funktion: Sie hilft, die gemeinsamen Defizite der traditionellen christlichen Konfessionen auf dem Gebiet der gelebten Spiritualität zu erkennen.

1.2 Mystik und Protestantismus: eine Problemgeschichte

Die Beziehung zwischen Mystik und evangelischer Theologie stellte lange Zeit – bis in die jüngste Vergangenheit hinein – eine Problemgeschichte dar. Dadurch entstand der falsche Eindruck, dass die Mystik in der Theologiegeschichte des Protestantismus durchgängig abgelehnt wurde.34 Diesen Eindruck begünstigte die Ambivalenz der Aussagen von Martin Luther zur Mystik. Einem angemessenen Urteil steht noch ein weiteres Problem im Wege: Bei manchen Theologen klaffen Urteile über die Mystik und ihre spirituelle Nähe zur Mystik auseinander. Während etwa Dietrich Bonhoeffer die Mystik in seinen Schriften fast durchgängig explizit ablehnt, lässt sich – vorsichtig formuliert – in seiner Biografie und seiner Spiritualität durchaus eine mystische Dimension erkennen. Schließlich besteht ein weiteres Problem in der Tatsache, dass sich Theologiegeschichte und Frömmigkeitsgeschichte in ihrer Stellung zur Mystik bisweilen unterscheiden. Während die wissenschaftliche Theologie der Mystikgegenüber eine ablehnende Haltung einnimmt, kann sich das für die in der Gemeinde gelebte Spiritualität ganz anders darstellen.

1.2.1 Wechsel zwischen Hochschätzung und Ablehnung

Im Gegensatz zu den weit verbreiteten Vorurteilen bietet die Rezeptionsgeschichte der Mystik im Protestantismus bei genauerem Hinsehen alles andere als ein einheitlich negatives Bild. Anstatt einer durchgängigen Ablehnungsgeschichte lässt sie sich mit einer Wellenbewegung vergleichen: Zeiten der Hochschätzung und Zeiten der Ablehnung wechseln einander ab. Darüber hinaus wird erkennbar, dass die Mystik über lange Zeiträume hinweg keineswegs ein Randphänomen war. Allerdings reicht die Skepsis gegenüber mystischen Erfahrungen bis in die Ursprünge der Geschichte des Protestantismus zurück. Die Zentralstellung der Lehre von der Rechtfertigung „allein aus Gnaden“ führte zum Vorrang des äußeren Wortes in der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Gott will sich nach der Überzeugung der Reformatoren durch das gesprochene Wort, vor allem in der Predigt, dem Menschen mitteilen. Er kommt von außen, extra nos, auf den Menschen zu. Gegenüber dem mystischen „Gott in mir“ – z. B. seinem Reden im Herzen – waren die reformatorischen Theologen skeptisch.

Nicht zuletzt behinderten bestimmte Aussagen Martin Luthers eine positive Rezeption der Mystik in der evangelischen Tradition.35 Die noch relativ junge reformatorische Bewegung hatte sich gegen die von Luther so bezeichneten „Schwärmer“, die Spiritualisten, heute spricht man auch vom linken Flügel der Reformation, zu behaupten. Diese beriefen sich in ihrem politischen Kampf für die Ausrottung des Bösen in der Welt auf besondere Offenbarungen Gottes außerhalb von Wort und Sakrament. Dadurch wurde in Luthers Augen das Evangelium von der freien Gnade Gottes bedroht. Es kam zur Trennung von den früheren theologischen Weggefährten Thomas Müntzer, Andreas Karlstadt und anderen. Luther gelangte zu der Überzeugung, dass jede Berufung auf ein mystisches Geisteswirken neben Wort und Sakrament über kurz oder lang zu einem falschen Vertrauen auf eigene Werke führen musste.36 Außerdem meinte der Reformator, dass man Gott durch die Erwartung besonderer Offenbarungen vorschreiben würde, wie er an den Menschen zu handeln hätte, anstatt zu erkennen, dass er in Jesus Christus schon längst gehandelt hat und es nun nur noch darum gehen kann, sich die von Christus erworbenen Heilsgüter im Glauben anzueignen. Luthers ablehnende Haltung gegenüber mystischen Erfahrungen lag schließlich im Gesamtgefälle seiner Theologie begründet. Zwar schloss er die Möglichkeit besonderer, mystisch geprägter Offenbarungen Gottes nicht grundsätzlich aus. Doch würden solche Kundgebungen Gottes nicht mehr in dessen Willen und Ordnung liegen. Die zum Heil nötige Wahrheit wäre in Christus und in dem Wort der Schrift, das ihn bezeugt, bereits vollgültig vorhanden.37

Allerdings existieren auch ganz andere Aussagen Luthers. Sie lassen eine Offenheit gegenüber mystisch geprägten Glaubenserfahrungen erkennen.38 Zwar interpretierte eine lange theologische Tradition Luthers Rechtfertigungslehre so, dass sie keinen Raum für die Erfahrung des Glaubens ließ. Zu dieser Auslegungstradition trug nicht zuletzt das von Sören Kierkegaard inspirierte Glaubensverständnis der frühen dialektischen Theologie Karl Barths und seiner Freunde bei. Kierkegaard definierte den Glauben als 1000 Klafter „über dem Abgrunde erbaut“.39 Man muss auch den Glauben glauben. Von dieser Definition her wird verständlich, wieso der Glaube beim frühen Barth nirgends Bodenhaftung bekommen, d. h. zur Erfahrung werden konnte.40 Aus Angst, das „sola gratia“, das „allein aus Gnaden“, zu beeinträchtigen, verblieb die neue Existenz des Glaubenden nach dieser Interpretation im Unanschaulichen. Dies entsprach jedoch keineswegs den Intentionen von Luthers Theologie. Der Reformator geht umgekehrt davon aus, dass der Rechtfertigungsglaube dem Menschen zur gelebten Erfahrung werden muss. Für eine solche Interpretation Luthers existiert eine Reihe von Belegen. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist das folgende Zitat: „Da muss nun angehen die Erfahrung, dass ein Christ könne sagen: bisher hab ich gehöret und gegläubt, dass Christus mein Heiland sei, so meine Sünd und Tod überwunden habe. Nun erfahre ichs auch, dass es also sei. Denn ich bin jetzt und oft in Todes Angst und des Teufels Stricken gewesen, aber er hat mir herausgeholfen und offenbaret sich mir also, dass ich nun sehe und weiß, dass er mich lieb habe, und dass es wahr sei, wie ich gläube.“41 Genau an dieser Stelle befindet sich Luthers Theologie in unmittelbarer Nähe zur Mystik.

Der jüngere Protestantismus blendete lange Zeit Emotionalität und Sinnlichkeit aus dem Glauben aus. Der Glaube wurde mehr und mehr als Verstandes- bzw. Bewusstseinsakt verstanden. Im Gottesdienst etwa wurden Gefühl und Sinnlichkeit vernachlässigt. Damit war eine weitere Brücke zu mystisch geprägtem Glauben abgebrochen. Ein solches Glaubensverständnis widerspricht Luthers eigener Erfahrung. Sein reformatorisches Grunderlebnis schloss nach eigenem Bericht den emotionalen Bereich mit ein: Nachdem Luther anhand von Röm 1,17 die Rechtfertigung allein durch den Glauben deutlich geworden war, fühlte er sich wie neugeboren – so, als wenn er die Pforten des Paradieses durchschritten hätte.42 Das Gleiche gilt für seine Ausführungen zum „fröhlichen Wechsel“ in der reformatorischen Hauptschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520). Der Reformator formuliert den „fröhlichen Wechsel“ zwischen Christus und der menschlichen Seele mithilfe der erotisch geprägten Sprache der mittelalterlichen Brautmystik. Zeit seines Lebens schätzte er Bernhard von Clairvaux hoch, den Begründer einer eigenständigen abendländischen Mystik. Luther hat anscheinend sogar eine literarische Renaissance der Mystik als reformatorisches Anliegen betrachtet, wenn er die „Theologia Deutsch“, einen Traktat der mittelalterlichen Deutschen Mystik, 1516 und noch einmal 1518 herausgab.43 Diese Beobachtungen zeigen, dass Luthers Verhältnis zur Mystik differenzierter gesehen werden muss, als es in der Vergangenheit weithin geschah.44

Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang eine weitere Beobachtung. Es ist weithin in Vergessenheit geraten, dass die lutherische Orthodoxie ein überwiegend positives Verhältnis zur Mystik besaß – nicht anders als ihr späterer Gegner, der ältere Pietismus. Dass die Mystik in der lutherischen Orthodoxie Heimatrecht hatte, zeigt sich besonders eindrucksvoll an ihren Liedern. Das lange Zeit vorherrschende Bild einer spirituell unfruchtbaren Orthodoxie lässt sich heute nicht mehr aufrechterhalten. Die theologische Forschung ging von zwei Grundannahmen bei der Entwicklung des nachreformatorischen Luthertums aus, die inzwischen überholt sind: Zum einen sei es bereits in der zweiten Generation, d. h. in der zweiten Hälfte des 16. Jh., zu einer Krise der lutherischen Frömmigkeit gekommen. Diese konnte nur durch die Rezeption von Impulsen aus der romanischen Mystik überwunden werden, wie die „Vier Bücher vom wahren Christentum“ Johann Arndts zeigen würden.45 Zum anderen zeichnete sich die lutherische Orthodoxie im 17. Jh. durch Fixierung auf dogmatische Rechtgläubigkeit und die Vernachlässigung der gelebten Frömmigkeit aus. Höchstens in der sog. Reformorthodoxie und in den lutherischen Chorälen sei eine lebendige Spiritualität vorhanden gewesen.

Neuere Untersuchungen zeigen, dass die Annahme eines toten, trockenen orthodoxen Luthertums der geschichtlichen Wirklichkeit in keiner Weise entspricht. Es war gerade ein Wesensmerkmal der orthodoxen Theologie des Luthertums, sich um eine Synthese von Dogmatik und Spiritualität zu bemühen.46 Nur so lässt sich erklären, wieso z. B. ein führender lutherischer Dogmatiker wie Johann Gerhard ein Erbauungsbuch „Meditationen“47 verfasste, das in vielen Auflagen erschien. Das Ziel der Theologie lag für die lutherisch-orthodoxen Theologen in der Seelsorge. Sie knüpften damit an Martin Luthers eigenes, seelsorgerlich orientiertes,48 im Kern existenziell-erfahrungsbezogenes Theologieverständnis an. Aufgrund der reformatorischen Verbindung zwischen scholastischer und monastischer Theologie entstand nach der Reformation sogar eine spezielle theologia ascetica als Unterdisziplin der Praktischen Theologie. Darunter verstand man eine „Einübungslehre in den christlichen Glauben für Pfarrer und Gemeindeglieder“.49 Erst mit dem 18. Jh. begann sich die Einheit von Theologie und Spiritualität im Rahmen der protestantischen akademischen Theologie aufzulösen.

Für diese neue Sicht des orthodoxen Luthertums sprechen auch hermeneutische Gründe: Nur so kann vermieden werden, im Hinblick auf Person und Theologie der orthodoxen Liederdichter eine Spaltung konstatieren zu müssen. Diese Spaltung ist ein theologisches Konstrukt, wie ich an den beiden prominenten orthodoxen Liederdichtern Philipp Nicolai (1556–1608) und Paul Gerhardt (1607–1676) zeigen werde. Beide waren der Reinheit des Bekenntnisses verpflichtete, orthodoxe Theologen und gleichzeitig – wie sich vor allem in ihrer Dichtung, aber auch in ihrer Prosa zeigt – von der Mystik erfasst.

1.2.2 Schlüsselstellung der Lehre von der Unio mystica in Orthodoxie und Pietismus

Diese neue Sicht der lutherischen Orthodoxie wird durch die Beobachtung gestützt, dass die Vorstellung von der Unio mystica – bei aller Verschiedenheit der Akzentsetzung im Einzelnen – von sämtlichen lutherischen Strömungen seit der zweiten Hälfte des 16. Jh. aufgenommen wurde. Bernd Harbeck-Pingel kann dies im Hinblick auf die systematisch-theologische Reflexion so unterschiedlicher Theologen wie Philipp Nicolai, Johann Arndt, Johann Gerhard, Abraham Calov, David Hollaz, Gottfried Arnold, August Hermann Francke u. a. nachweisen.50 Bemerkenswert ist außerdem, dass die Lehre von der Unio mystica in der lutherischen Dogmatik eine „Schlüsselstellung“ bzw. „Zentralstellung“ besitzt.51 Sie ist Ziel sämtlicher Werke Gottes von der Schöpfung bis zum ewigen Leben. Bei Johann Arndt wird das Ziel des Menschseins sogar ausdrücklich als Vereinigung mit Gott identifiziert. Im von der Orthodoxie entwickelten Ordo salutis, der verschiedenen Schritte des Glaubensweges, wird diese Vereinigung als Konsequenz der Rechtfertigung verstanden.52

Beim Vergleich der orthodoxen und der scholastischen Unio-Lehre fallen Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. Die Unio mystica stellt für beide eine irdische Vorwegerfahrung der seligen Schau Gottes im ewigen Leben dar. Für beide geht es um eine Vereinigung von Substanzen, wobei das Wie in der Orthodoxie als Geheimnis verstanden und darum nicht näher erläutert wird. Für beide bleibt in der Vereinigung der Unterschied zwischen Gott und Mensch erhalten. Das besondere Profil der protestantischen Unio-Lehre zeigt sich an den Unterschieden gegenüber der scholastischen Lehre: Die innige Verbindung zwischen Gott und Mensch ist Gottes Gabe an den Menschen, die ihm von außen zuteil wird, wobei ganz reformatorisch das Wort das wichtigste Mittel ist, um die Unio mystica zu erreichen. Sie wird in Analogie zur hypostatischen Unio von Gottheit und Menschheit in Jesus Christus gesehen. Beide Male handelt es sich um eine perichoretische Einheit: Gottheit und Menschheit sind ungetrennt und gleichzeitig unvermischt miteinander verbunden, wobei sie sich in Liebe gegenseitig durchdringen. Der leibliche Aspekt der Unio mystica zeigt sich darin, dass sich in ihr einerseits der Leib Jesu Christi mit dem Gläubigen verbindet (sinnenfällig im Abendmahl erfahrbar) und andererseits der Leib des Gläubigen in der Vereinigung mit eingeschlossen ist.

Im Gegensatz zu ihrer zentralen Bedeutung in der lutherischen Orthodoxie spielt die Lehre von der Unio mystica in der heutigen Theologie keine Rolle mehr. Das erschwert nicht nur ihr Verstehen. Vor allem wird nicht mehr ohne weiteres erkennbar, bei welchen theologischen Aussagen orthodoxer Theologen die Vorstellung im Hintergrund steht. Das gilt nicht zuletzt für die Gesangbuchlieder von Philipp Nicolai und Paul Gerhardt, in denen die mystisch geprägte Gottes- und Christusgemeinschaft thematisiert wird.

1.2.3 Von Johann Arndt bis Dietrich Bonhoeffer

Der erste evangelische Mystiker von kirchengeschichtlicher Bedeutung war Johann Arndt (1555–1621) mit seinen „Vier Büchern vom Wahren Christentum“ (1605–1610).53 Arndt kann mit guten Gründen noch der lutherischen Orthodoxie oder schon dem Pietismus zugerechnet werden. Für Philipp Jakob Spener (1635–1705) begann mit ihm die pietistisch geprägte Erneuerung der evangelischen Frömmigkeit.54 Entscheidend war für Arndt und den ihm nachfolgenden Pietismus, dass nicht die reine Lehre, sondern das fromme Leben im Zentrum des Glaubens steht: „Viele meinen, die Theologie sei nur eine bloße Wissenschaft und Wortkunst; da sie doch eine lebendige Erfahrung und Übung ist.“55 Zur Durchführung seines Frömmigkeitsprogramms griff Arndt auf die Glaubenserfahrungen der deutschen Mystik eines Johann Tauler, der „Theologia Deutsch“ (hg. von Martin Luther), der „Imitatio Christi“ (Thomas von Kempen), Johann Staupitz’ und der franziskanisch geprägten Mystik der Angela da Foligno zurück.56 Die meisten späteren Vertreter des älteren Pietismus waren stärker als Arndt von der romanischen Mystik geprägt.57

Die führenden Persönlichkeiten des Barockpietismus machten zum großen Teil selbst mystische Erfahrungen. Unter dem Eindruck des Deismus plagten August Hermann Francke längere Zeit heftige Zweifel an der christlichen Gottesvorstellung, die so weit gingen, dass er meinte, sein Predigtamt aufgeben zu müssen.58 Er konnte keine vernünftigen Gründe finden, die ihm geholfen hätten, die deistische Gottesvorstellung zu überwinden. Die Auffassung des Deismus ging im Gegensatz zum biblischen Gottesverständnis davon aus, dass Gott sich wie ein Uhrmacher aus der einmal vollendeten Schöpfung zurückgezogen habe und diese nach ehernen Gesetzen funktioniere. Nach qualvollen Wochen wurde Francke in Lüneburg 1687 eine Gotteserfahrung zuteil, die deutlich mystische Züge aufweist.59 Von einer Minute auf die andere verschwanden sämtliche Glaubenszweifel. In seinem „Lebenslauf“ berichtet er davon mit folgenden Worten: „Denn wie man eine Hand umwendet, so war alle mein Zweiffel hinweg, ich war versichert in meinem Hertzen der Gnade Gottes in Christo Jesu, ich kunte Gott nicht allein Gott sondern meinen Vater nennen, alle Traurigkeit und unruhe des Hertzens ward auff einmahl weggenommen, hingegen ward ich als mit einem Strom der Freuden plötzlich überschüttet […]. Meine vernunfft stand nun gleichsam von ferne, der Sieg war ihr aus den Händen gerissen, denn die Krafft Gottes hatte sie dem Glauben unterthänig gemachet.“60 Blaise Pascal, katholischer Zeitgenosse Franckes aus Frankreich, machte eine ähnliche mystische Erfahrung. In der Erinnerung daran hat er dreimal hintereinander das Wort Freude in seinem „Memorial“ notiert: „Freude, Freude, Freude und Tränen der Freude“.61

Auch Theologie und Spiritualität Gerhard Tersteegens (1697–1769) und Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorfs (1700–1760), neben Francke zwei weitere Hauptvertreter des älteren Pietismus, weisen mystische Dimensionen auf. Tersteegen vollzog nach Jahren voller Glaubenszweifel eine Verschreibung an Jesus Christus mit seinem eigenen Blut am Gründonnerstag des Jahres 1724: „Meinem Jesu! Ich verschreibe mich dir, meinem einigen Heiland und Bräutigam Christo Jesu zu deinem völligen und ewigen Eigentum […]. Von diesem Abend an sei dir mein Herz und ganze Liebe auf ewig zum schuldigen Dank gegeben und aufgeopfert […].“62 Dem erst sechsjährigen Zinzendorf wurde Jesus Christus zum Heiland und Bruder, mit dem er vertraulichen Umgang pflegte.63

Die Aufnahme mystisch geprägter Frömmigkeitsformen trug zu einer Intensivierung der Spiritualität im Pietismus bei. Zudem stellte die Mystik bereits bewährte, zur Durchsetzung seiner theologischen Anliegen hilfreiche Kategorien zur Verfügung. Sie boten dem Pietismus die Möglichkeit, neben der Rechtfertigung aus Gnaden die gelebte Nachfolge Jesu Christi als unverzichtbaren Bestandteil des Glaubens theologisch plausibel zu machen. Dabei lassen sich folgende Kennzeichen der Mystik des Barockpietismus erkennen: die Betonung der Erfahrung, der biblische Rückbezug und die christologische Orientierung.64 Das Zentrum mystisch geprägter Spiritualität bestand für den älteren Pietismus in einer intensiven, ja intimen Glaubensbeziehung zu Jesus Christus, die durch die Bibel ermöglicht wurde, und in der aus dem Christusglauben erwachsenden Nachfolge, wobei der Akzent auf der Heiligung lag. Indem der innerkirchliche Pietismus mystische Aspekte in der evangelischen Spiritualität verstärkte, ging es ihm nicht um die Etablierung irgendwelcher Sonderlehren. Vielmehr war er der Überzeugung, in einer mystisch geprägten Frömmigkeit das Vorbild für lebendige Spiritualität schlechthin zu erkennen.

Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Gegenreformation war im Mainstream der altprotestantischen Orthodoxie der Intellekt im Rahmen des Glaubensaktes mehr und mehr in den Vordergrund gerückt: Glaube wurde in der zweiten Hälfte des 17. Jh. zunehmend mit dem Fürwahrhalten von Glaubenswahrheiten identifiziert.65 Spirituelle Erfahrungen wurden als nicht unmittelbar mit dem Glaubensakt verbunden betrachtet. Das führte zu einer Verschlechterung des Klimas für die Mystik. Gänzlich wendete sich aber erst der theologische Rationalismus des 18. Jh. von der Mystik ab. Er hatte für mystische Erfahrungen kein Sensorium mehr. Der Hallenser Theologe Johann Salomo Semler (1725–1791) war der erste, der bewusst für die Trennung von Theologie und Spiritualität eintrat. Semler interessierte die spirituelle Seite der Theologie nicht und ließ „das Moment der existentiellen Erfahrung nur in der Form des Moralischen gelten.“66 Dem gelebten Glauben erkannte er höchstens im Rahmen der Ethik eine Existenzberechtigung zu.

Bernard McGinn zeigt in seinem Überblick über die theologischen Ansätze der modernen Mystikforschung, dass sich im Verlauf des 19. Jh. in Deutschland eine zunehmende protestantische Antipathie gegen die Mystik durchsetzt.67 Dies ist auf den ersten Blick verwunderlich, zumal der Vater der liberalen Theologie, Friedrich Schleiermacher (1768–1834), in seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ von 1799 noch für eine mystische Spiritualität plädiert hatte. Er definierte darin Religion als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ und als „Anschauung und Gefühl“. In der Glaubenslehre sprach er später von Religion als dem „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“.68 Die Erklärung für die Ablehnung der Mystik durch die spätere liberale Theologie liegt in Folgendem: Schleiermacher muss als der Vater sowohl der liberalen als auch der Erweckungstheologie betrachtet werden. Beide Richtungen haben unterschiedliche Aspekte von Schleiermachers Theologie aufgenommen. Die Erweckungsbewegung mit Ernst Tholuck als ihrem wichtigsten theologischen Repräsentanten hat die mystische Seite fortgeführt.69 In der liberalen Theologie, die den Mainstream der evangelischen Theologie bildete, erfolgte in der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine Ethisierung des Glaubens. Bedeutende Vertreter wie Adolf von Harnack verfochten entschieden die Unvereinbarkeit von mystischen Erfahrungen und Überzeugungen mit dem evangelischen Glauben. Harnack behauptete: „Die Mystik ist die katholische Frömmigkeit überhaupt, soweit diese nicht bloß kirchlicher Gehorsam, das heißt fides implicita ist.“70 Das Zentrum des protestantischen Glaubens bestand für ihn – im Gegensatz zur katholischen Mystik mit ihrer Konzentration auf das unerklärbare Erleben Gottes – im Ethos.

Die Ablehnung der Mystik vonseiten weiter Teile des Protestantismus wurde durch die dialektische Theologie nach dem Ersten Weltkrieg auf die Spitze getrieben. Sie warf der Mystik vor, die Grenze zwischen Gott und Mensch zu verwischen. Vor allem kritisierte sie die mystische Lehre vom göttlichen Funken in der Seele des Menschen, durch die eine Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch an der Rechtfertigung, und damit letztlich an Jesus Christus vorbei ermöglicht würde. Am radikalsten verwarf Emil Brunner die Mystik. Sie war für ihn „ein schlechthin antichristliches Phänomen urmenschlicher Selbstvergötzung, demgegenüber es nur eine Alternative gibt: die Mystik oder das Wort“.71 Brunner war überzeugt, dass der Mystiker unter Absehung der Offenbarung Gottes durch das biblische Wort Zugang zu Gott finden will.

Die Ablehnung der Mystik durch die dialektische Theologie wurde in den 1930er Jahren aus kirchenpolitischen Gründen noch verstärkt. Beriefen sich die deutsch-christlichen Gegner der Bekennenden Kirche, die von der dialektischen Theologie geprägt war, doch bei ihrem Versuch, das Christentum mit der nationalsozialistischen Ideologie zu versöhnen, auf bestimmte Aussagen Meister Eckharts, des wichtigsten Vertreters der deutschen Mystik im Mittelalter und größten Bildners der deutschen Sprache vor Martin Luther.72

Allerdings gab es auch in der Zeit nach Schleiermacher evangelische Theologen, die sich positiv zur Mystik äußerten. Dies waren neben Anhängern der Erweckungsbewegung vor allem Theologen, die der religionsgeschichtlichen Schule nahestanden. Zu ihnen gehörten berühmte Namen wie Ernst Troeltsch, Friedrich Heiler, Rudolf Otto, Nathan Söderblom, Albert Schweitzer, Erich Seeberg.73 McGinn hebt hervor, dass vor allem Troeltsch und Schweitzer einen substanziellen Beitrag zur Mystikdiskussion geleistet hätten.74 Troeltsch ging davon aus, dass die mystische Religion neben der Kirche und der Sekte eine unentbehrliche, eigenständige Sozialform des Christentums darstellte.75 Schweitzer bemühte sich, den Nachweis zu führen, dass die Theologie des Paulus in einer Form von Christusmystik gipfelte.76

Darüber hinaus hat ein unterschwelliger Strom mystisch geprägten Glaubens die Geschichte des Protestantismus im 19. und 20. Jh. begleitet. Hierher gehört eine Reihe von heute weithin vergessenen Persönlichkeiten der deutschen Gemeinschaftsbewegung. Eva von Tiele-Winckler (1866–1930) ist eine davon. Typisch für sie ist die Verbindung von mystischer Frömmigkeit und diakonischem Engagement. Sie las mit sechzehn Jahren Johannes 10,27 f: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen“ und wurde davon unmittelbar angesprochen. Sie schrieb: „Zum ersten Mal sah ich wie in einer plötzlichen Erleuchtung durch das Wort die Herrlichkeit Jesu als guten Hirten, der das Verlorene sucht. Nie war er mir in dieser Gestalt begegnet, nie hatte ich von ihm in dieser Weise gehört.“77 Mutter Eva hatte in einer Art mystischer Schau durch das Gleichnis vom Guten Hirten ganz selbstständig die diakonische Ausrichtung des christlichen Glaubens entdeckt. Sie sah Jesus, wie er von den Evangelien beschrieben wird: als den, der die Kranken und Krüppel heilt und die Hungrigen und Armen, die Missachteten und Entrechteten um sich sammelt. Fortan las sie regelmäßig die Bibel und den mittelalterlichen Mystiker Johannes Tauler. Gleichzeitig betete sie darum, dass Gott sie vor jeder irdischen Liebe bewahren möge. Sie wollte fortan ganz für die Armen und Verwahrlosten da sein. Ihr Vater verhinderte jedoch zunächst, dass sie sich für die Bedürftigen und Kranken ihres oberschlesischen Heimatortes Miechowitz einsetzte. In einer Zeit des Wartens und der erzwungenen Untätigkeit einer Tochter aus höherem Hause reifte in Eva von Tiele-Winckler ihre endgültige Berufung heran. Sie ereignete sich dann in der Einsamkeit und weist wiederum mystische Züge auf. Mutter Eva beschrieb sie im Rückblick wie folgt: „Da hörte ich die Stimme Gottes: Brich den Hungrigen dein Brot und die, so im Elend sind, führe in dein Haus. Doch dringender, persönlicher vernahm ich die Frage: Wen soll ich senden, wer will mein Bote sein? Da galt es kein Zögern, und aus dem tiefsten Herzen kam die Antwort: Hier bin ich! Sende mich!“78 Jes 58,7 und Jes 6,8 wurden zu den biblischen Leitworten ihrer Berufung. Ihr weiteres Leben stellte eine Entfaltung der Grundbeauftragung dar, den Hungrigen das Brot zu brechen.

Dag Hammarskjöld (1905–1963) und Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) sind die beiden prominentesten Beispiele protestantischer Mystiker im 20. Jh. Hammarskjöld wurde erst nach seinem Tod aufgrund seines geistlichen Tagebuchs „Zeichen am Weg“ als Christusmystiker bekannt.79 Bonhoeffer war zeit seines Lebens aufgrund theologischer Correctness darum bemüht, sich von der Mystik abzugrenzen, obwohl Glaube und Werk bei ihm deutlich mystische Dimensionen erkennen lassen.80

1.3 Wiederkehr der Mystik im Protestantismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Ursachen und Hintergründe

Für die Wiederkehr der Mystik im Protestantismus in den vergangenen Jahrzehnten sind sowohl theologische als auch soziologische Ursachen verantwortlich. Im Rahmen der evangelischen Theologie kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst zögernd und seit dem Ende der 1960er Jahre verstärkt zu einer Neubewertung der Mystik.81 Damit verbunden war eine theologische Rehabilitierung der Kategorie der Erfahrung. Kein geringerer als Karl Barth (1886–1968) deutet in seinem letzten Lebensjahr 1968 selbstkritisch eine Wende in seiner Beurteilung der Mystik an. Er will die Pietisten und Rationalisten des 19. Jh., die Herrnhuter des 18. Jh., die „Schwärmer“ der Reformationszeit und die Spiritualisten und Mystiker des Mittelalters neu betrachtet wissen.82 Barth fragt sich, ob nicht in der katholischen und orthodoxen Mystik der im Geist „sich selbst vergegenwärtigende und applizierende Gott“ am Werk gewesen sein könnte. Mit diesen Überlegungen hat Barth die Frage nach der Erfahrbarkeit Gottes in der Welt als theologisch legitim anerkannt, gleichzeitig die Ablehnung jeder Form von Pietismus und Mystik durch die dialektische Theologie modifiziert – und indirekt ein Defizit der eigenen Arbeit zugegeben.83

1966, noch zwei Jahre vor Barth, hatte Karl Rahner (1904–1984) die inzwischen vielfach zitierte These aufgestellt: „[…] der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein […].“ 84 An anderer Stelle präzisiert Rahner, was er unter mystischer Erfahrung versteht: „Wenn man unter Mystik nicht seltsame parapsychologische Phänomene versteht, sondern eine echte, aus der Mitte der Existenz kommende Erfahrung Gottes, dann ist dieser Satz sehr richtig und wird in seiner Wahrheit und seinem Gewicht in der Spiritualität der Zukunft deutlicher werden.“85 Es geht Rahner also um eine Mystik, die jedem Menschen offensteht und die ihn in seiner gesamten Existenz erfasst. Bis dahin wurde mystische Spiritualität im Katholizismus als eine Ausnahmeerscheinung betrachtet, die nur wenigen Christen zugänglich ist. Erst durch Rahner kam es zu einer Demokratisierung der Mystik. Er betont, dass es nur „vermittelte“ unmittelbare Geisterfahrungen gibt.86 Der Ausdruck, den eine mystische Erfahrung in einem Menschen findet, wird sich immer nach soziologischen u. a. Gegebenheiten richten. Das gilt erst recht für alle Versuche eines Mystikers, seine Erfahrungen zu versprachlichen.

Die Neubewertung der Mystik im Protestantismus wurde durch die Wiederentdeckung des Geistes Gottes und seines Wirkens gefördert. Bis vor wenigen Jahrzehnten mahnte man in Arbeiten über den Heiligen Geist die „Geistvergessenheit“ der westlichen Theologie an.87 Der Christozentrismus der dialektischen Theologie hatte keinen Raum für eine eigenständige Geistlehre gelassen.88 Karl Barth selbst bestätigte diese Beobachtung, als er in dem bereits zitierten Zusammenhang den Wunsch äußerte, seine Dogmatik noch einmal neu auf der Grundlage des 3. Artikels des Apostolischen Glaubensbekenntnisses schreiben zu wollen.89 Dabei ginge es darum, Gott als Geist, d. h. als den „in der ihm eigenen Freiheit, Macht, Weisheit und Liebe sich selbst vergegenwärtigenden und applizierenden Gott“ zu erkennen. Bis dahin hatte sich durch die dialektische Theologie das ganze Interesse der evangelischen Theologie auf die Rechtfertigung des Sünders gerichtet. Neben der Erfahrung der Vergebung waren andere Formen des Geisteswirkens kaum in den Blick gekommen.

Inzwischen lässt sich bei neueren protestantischen Entwürfen zur Pneumatologie eine Veränderung feststellen.90 Jürgen Moltmann macht in seiner Pneumatologie den Weg frei für eine positive Aufnahme außergewöhnlicher Geisterfahrungen, wozu auch mystische Erfahrungen gehören, und zwar indem er sich theologisch um eine Überwindung der in seinen Augen überholten Alternative zwischen göttlicher Offenbarung und menschlicher Erfahrung des Heiligen Geistes bemüht: Als Geist, der Jesus von den Toten auferweckt habe, sei er auf dem Weg, alle Dinge neu zu schaffen. Sein Wirken bestehe deshalb nicht nur darin, Glauben zu wecken, sondern habe auch Auswirkungen auf den Körper.91 Moltmann stellt fest: „Vom Heiligen Geist wird in den theologischen Lehrbüchern […] im Blick auf Gott, den Glauben, das christliche Leben, die Kirche und das Gebet gesprochen, selten aber im Blick auf den Körper und die Natur.“92 Dieses Defizit der theologischen Rede vom Heiligen Geist will Moltmann überwinden. Eine ganz neue Vielfalt von Geisterfahrungen kommt für ihn in den Blick. Diese Vielfalt schließt persönliche Geisterfahrungen ein, die den Körper mit seinen Emotionen umfassen. Da der Geist in seinen Wirkungen weiter als das Wort reicht, kann er sich auch nonverbaler Ausdrucksformen bedienen: „Das Einwohnen des Geistes in ‚unseren Herzen‘ geht tiefer als die Schicht des Bewusstseins in uns. Es erweckt alle Sinne, durchdringt auch das Unbewusste und den Körper und macht ihn lebendig (1. Kor 6,19–20).“93 Damit bricht Moltmann das für die evangelische Theologie bisher gültige Paradigma der Unterscheidung von Wort und Geist auf. Die nonverbalen Dimensionen des Geisteswirkens zeigen, dass der Geist nicht einseitig an das Wort gebunden zu denken ist und auch nicht ausschließlich intellektuell aufgefasst werden darf. Vielmehr besteht für Moltmann zwischen Wort und Geist ein Wechselverhältnis: Das Wort ist wohl an den Geist, der Geist aber nicht an das Wort gebunden. Moltmann hat im Grunde ein asymmetrisches Verhältnis vor Augen. Damit werden Erfahrungen mit dem Geist Gottes, die die Leiblichkeit und Emotionalität des Menschen betreffen, theologisch begründbar.94 Weiterführend ist auch Moltmanns Erkenntnis, dass die Geisterfahrung nicht auf die Selbsterfahrung des menschlichen Subjektes beschränkt werden darf.95 Indem er die Erfahrung des Geistes mit der Du-Erfahrung, der Gemeinschaftserfahrung und der Naturerfahrung verbindet, wird deutlich, dass sich jede individuelle Geisterfahrung in einem weiten Kontext ereignet. Um eine Geisterfahrung auf ihre Echtheit hin zu beurteilen, darf sie darum nie isoliert vom Umfeld betrachtet werden, in dem sie sich ereignet.

Neu auf die theologische Legitimität eines über das Wort hinausreichenden Wirkens des Geistes – auch in Form von mystischen Erfahrungen – hingewiesen zu haben, ist der große Verdienst von Moltmanns Pneumatologie. Es bleiben allerdings verschiedene Fragen offen. So müssen weitere Kriterien formuliert werden, nach denen echte mystische Erfahrungen von rein psychischen bzw. physischen Reaktionen unterschieden werden können. Ohne das deutende Wort des Evangeliums bleibt jede nonverbale Gotteserfahrung mehrdeutig. Der Hinweis auf den apophatischen Charakter des theologischen Ausdrucks der Gotteserfahrung allein genügt nicht.96 Im Gegenteil kann dieser Rekurs gegen Moltmanns Intention leicht als Legitimation auch der abstrusesten Formen angeblichen Geisteswirkens bzw. mystischer Erfahrungen missbraucht werden.

Jüngeren Datums ist eine geradezu revolutionäre Kehrtwende in der Lutherforschung: Der Reformator hat demnach die Anliegen mystischer Spiritualität positiv aufgenommen, diese aber im Sinne seiner reformatorischen Erkenntnisse neu interpretiert. Vor allem Volker Leppin und Berndt Hamm stellten im Zusammenhang mit der Kontinuität zwischen reformatorischer und spätmittelalterlicher Theologie die bleibende mystische Prägung im Denken Luthers heraus.97

Dass für das neue Interesse an der Mystik neben theologischen vor allem soziologische Gründe eine wesentliche Rolle spielen, zeigt sich daran, dass es sich nicht auf den Raum der Kirchen bzw. des Christentums beschränkt,98 sondern weit darüber hinaus reicht, ja ein Phänomen von gesamtgesellschaftlichem Interesse darstellt. Es lässt sich neben der Theologie auch in der Musik, der bildenden Kunst, der Literatur, der Philosophie und der Psychologie beobachten.99 Die soziologischen Gründe reichen vom „Unbehagen an der Moderne“ über den postmodernen bzw. spätmodernen Individualismus bis hin zur Erlebnisorientierung der gegenwärtigen Kultur. „Das Unbehagen an der Moderne“ ist verursacht durch „eine Krisis der Gestaltungsmächte der Neuzeit“.100 „Die in der Kultur des Westens bisher tragenden Sinndeutungen, religiöser oder säkular-diesseitiger Art, erreichen eine zunehmende Zahl bewusst lebender Zeitgenossen nicht mehr.“101 An welche Gestaltungsmächte ist dabei zu denken? Einmal gehört dazu das traditionelle kirchliche Christentum, zum anderen sind darunter die moderne Wissenschaft mit ihrer Umsetzung in der Technik, politisch-revolutionäre Ideologien wie der Sozialismus und die Idee der Selbstvervollkommnung des Menschen durch Bildung zu verstehen. Ein anhaltender Säkularisierungsprozess hat vornehmlich in Europa, aber auch in den anderen westlichen Gesellschaften zu einem weitgehenden Bedeutungsverlust des traditionellen kirchlichen Christentums geführt. Zur Krise des kirchlichen Christentums durch die Säkularisierung gesellt sich seine Infragestellung aufgrund der „Krise des klassischen Theismus“102. Die volkskirchliche Religiosität beruht auf einem kulturellen Kompromiss. Dieser besteht darin, dass vernünftige Alltagsbewältigung, Recht, Wirtschaft und Politik von den religiösen Sinn- und Zielfragen der Existenz getrennt werden. Nur die existenziellen Fragen sind der Volkskirche nach der Systemtheorie Niklas Luhmanns zur Verwaltung anvertraut. Das theistische Gottesbild lässt den Gläubigen im Alltag letztlich allein. Konkrete Gotteserfahrungen sind in seinem Rahmen nicht denkbar.103 Spirituell Interessierte befriedigen die Antworten des klassischen Theismus nicht mehr. Sie wollen Gott nicht so sehr denken, sie wollen ihn vielmehr erleben. Die von den Volkskirchen vertretene traditionelle Religiosität erscheint ihnen darum überholt.104

Die Folge der beschriebenen Entwicklungen ist, dass die Menschen der westlichen Gesellschaften sich in einer von elementarer Orientierungsunsicherheit geprägten Situation,105 eben in einer „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck) wiederfinden.106 Aber nur wenige scheinen ohne Religion oder andere Tiefenbindungen leben zu können.107 Sehr schnell setzte nach dem Scheitern der Studentenrevolte von 1968 und der damit verbundenen gesellschaftlichen Utopien und den aufgrund der Erdölkrise zutage getretenen Grenzen des Wachstums ein neues Interesse an Religiosität, Spiritualität und eben auch für Mystik ein.108

Eine weitere Ursache für die Wiederkehr der Mystik besteht im Individualismus. Ulrich Beck konstatiert für die letzten Jahrzehnte einen Individualisierungsschub bisher ungekannten Ausmaßes in den westlichen Industriegesellschaften.109 Dieser Prozess hat eine Reihe von gewichtigen Folgen für die Gesellschaft und den Einzelnen. Dazu gehört die Fragmentierung der Gesellschaft in eine Vielzahl von sozialen Subgruppen und ein damit verbundener Schwund der Bindekraft von Institutionen, der auch vor den Kirchen nicht haltmacht und zu einer zunehmenden Entinstitutionalisierung der Religion führt. In der Konsequenz spielt die Kirche für den Glauben des Einzelnen kaum noch eine Rolle. Mystische Spiritualität mit ihrer Konzentration auf die Erfahrung des Einzelnen entspricht genau dieser Individualisierung der Religion.

Auch ein verstärkt seit den 1968ern zu beobachtender Traditionsabbruch mit hohen Traditionsverlusten beeinflusst das neue Interesse an Mystik. Viele Menschen meinen, ganz auf abendländische spirituelle Traditionen verzichten zu können. Stattdessen übernehmen sie mystische Traditionen aus anderen Kulturkreisen, die wie Hinduismus und Buddhismus meist aus dem Fernen Osten stammen. Die fernöstlichen Religionen scheinen dem Individuum mehr Raum zu geben als das Christentum mit seinem festen Lehrgebäude. Zu ihrer Attraktivität trägt bei, dass sie häufig an westliche Verhältnisse angepasst werden. Der Zen-Buddhismus erscheint dann als spezifisch westliche Form des Buddhismus mit Wellness-Faktor.

Schließlich hängt die Wiederkehr der Mystik mit der Erlebnisorientierung der postmodernen Gesellschaft zusammen.110 Indem mystische Erfahrungen sich durch Erlebnisorientierung und Erlebnisqualität auszeichnen, besitzen sie eine innere Nähe zu der von Sehnsucht nach Erlebnissen geprägten Postmoderne.

1Ruhbach, Mysterium und Mysticum, 17.

2Vgl. dazu hier und im Folgenden: McGinn, Mystik im Abendland, 9 ff.

3Haas, Mystik als Aussage, 55.

4Vgl. dazu im Einzelnen Bayer, Monastische und scholastische Theologie, 27 ff.

5Ein Beispiel dafür ist im 14. Jh. die Polemik Heinrich Seuses gegen die Verwissenschaftlichung der Theologie (vgl. im Einzelnen Haas, Mystik als Aussage, 45 ff).

6Der Luxemburger Benediktiner Jean Leclercq hat 1946 erstmals die Unterscheidung zwischen monastischer und scholastischer Theologie in das theologische Gespräch eingebracht (Leclercq, Pierre le Vénérable, 366; vgl. dazu Köpf, Monastische und scholastische Theologie, 96–135).

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