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Nur einen Sommer lang?
Als die Collegestudentin Cassie Soul nach vielen Jahren wieder Avalon Bay besucht, ist sie auf der Suche nach einer heißen Sommerliebe - und findet Tate Bartlett. Der attraktive Segellehrer ist eigentlich immer für einen Flirt zu haben. Doch als er Cassie das erste Mal sieht, weiß Tate sofort, dass sie keine Frau ist, der er das Herz brechen will - und weist sie ab. Trotzdem entwickelt sich zwischen den beiden eine Freundschaft, und je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto mehr wächst die Anziehung zwischen ihnen. Aber kann Tate es wagen, seinen Gefühlen für Cassie nachzugeben, oder wird dieser Sommer mit zwei gebrochenen Herzen enden?
Band 3 der AVALON-BAY-Reihe
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Seitenzahl: 565
Titel
Zu diesem Buch
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Elle Kennedy bei LYX
Impressum
Elle Kennedy
Ever Since I Found You
Roman
Ins Deutsche übertragen von Bianca Dyck
Die Collegestudentin Cassandra Soul hat seit Jahren keinen ganzen Sommer mehr in Avalon Bay verbracht. Nach der unschönen Scheidung ihrer Eltern wurde sie dazu gezwungen, mit ihrer Mutter nach Boston zu ziehen. Doch als Cass erfährt, dass die Neueröffnung des Hotels, das einst ihre Großeltern geführt hatten, ansteht, beschließt sie, ihrem Heimatort endlich wieder einen längeren Besuch abzustatten. Dort angekommen hat Cass eine Mission: Sie will unbedingt eine heiße Romanze erleben. Und tatsächlich findet sie schnell den perfekten Kandidaten, als sie Tate Bartlett kennenlernt. Der attraktive Segellehrer ist eigentlich immer für einen Flirt zu haben. Doch als er Cassie das erste Mal sieht, weiß Tate sofort, dass sie keine Frau für eine kurze Affäre ist – und weist sie ab. Trotzdem entwickelt sich eine Freundschaft zwischen ihnen, und je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto stärker bereut Tate seine Entscheidung. Aber während die Anziehungskraft zwischen Cassie und Tate wächst, kommen Geheimnisse rund um Avalon Bay ans Licht, die alles verändern könnten …
Dieses Buch enthält Elemente, die triggern können. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Juli
»Ich glaube, wir sollten diese Sache beenden.«
Oh mein Gott.
Nein.
Nein, nein, nein, nein, nein.
Seht ihr, genau aus diesem Grund sollten Partys verboten werden. Wir sollten es wieder handhaben wie während der Prohibition, nur dass wir gesellschaftliche Events anstelle von Alkohol verbieten. Das ist die einzige Möglichkeit, solche Peinlichkeiten zu vermeiden. Oder besser gesagt, solche Peinlichkeiten mitzuerleben, denn ich bin nicht mal diejenige, die gerade einen Korb kassiert.
Diese Ehre gebührt dem Typen mit der tiefen, sanften Stimme, der noch nicht mitbekommen hat, dass die Korbgeberin es todernst meint. »Ist das eine Art seltsames Vorspiel? Verstehe ich zwar nicht, aber bin dabei.«
Die Stimme des Mädchens ist monoton, und es schwingt trockener Humor darin mit. »Ich meine es ernst.«
Sie macht eine lange Pause, während der ich abwäge, ob ich mich verziehen kann, ohne dass die beiden etwas merken. Aber eine unauffällige Flucht ist schwierig, da sie sich den ungünstigsten Platz überhaupt ausgesucht haben: genau da, wo der Strandhafer spärlicher wächst und die Dünen sich in eine flache Ebene aus festem Sand verwandeln. Schon seitdem Die Zurückweisung ihren Anfang genommen hat, gehe ich in Gedanken Fluchtwege à la Mission Impossible durch. Die beiden stehen dem dunklen Ozean zugewandt, sie würden meinen Abgang über den Strand zurück zur Party also unweigerlich mitbekommen. Und wenn ich versuche, mich hinter ihnen davonzumachen, werden sie mich hören. Schon mal versucht, leise durch Strandhafer zu gehen? Da kann man sich genauso gut eine Glocke um den Hals hängen.
Also ist meine einzige Option, in meinem Versteck auszuharren, bis es vorbei ist – sowohl die Unterhaltung als auch die Beziehung. Denn eine Zurückweisung ist an sich schon schlimm genug, trägt sie sich dann auch noch vor Publikum zu, ist sie hundertmal schlimmer. Ich sitze hier also fest. Eine Geisel der gesellschaftlichen Konventionen.
Warum musste ich mich auch ausgerechnet jetzt vom Lagerfeuer entfernen, um mir die Sterne anzusehen.
»Ich glaube, wir haben unser Verfallsdatum erreicht«, sagt die Korbgeberin.
Ich kann nicht erkennen, wie die beiden aussehen. Sie sind nur Schatten. Ein großer und ein kleinerer. Ich glaube, der kleinere hat lange Haare, da ich feine Haarsträhnen in der nächtlichen Brise wehen sehe.
Von der anderen Seite des Strandes dringen Stimmengewirr, Lachen und der schwache Beat von Hip-Hop-Musik über das Wasser herüber und lösen in mir den verzweifelten Wunsch aus, wieder zurück bei der Party zu sein. Obwohl ich keine einzige Person dort kenne, habe ich mich noch nie so sehr nach der Gesellschaft von absolut fremden Menschen gesehnt wie in diesem Moment. Die Feier findet im Haus eines gewissen Luke statt. Ich hätte dort meine Freundin Joy treffen sollen, die in der letzten Sekunde abgesprungen ist. Ich war buchstäblich gerade dabei, aus meinem Auto zu steigen, als ihre Nachricht mich erreichte. Hätte sie mir früher geschrieben, wäre ich zu Hause geblieben. Aber dann dachte ich mir: Hey, jetzt bin ich schon mal hier. Da kann ich mich auch unter die Leute mischen und vielleicht jemanden kennenlernen.
Ich hätte stattdessen sofort wieder ins Auto steigen und die Flucht ergreifen sollen, als ich noch die Möglichkeit dazu hatte.
Endlich schnallt der Typ, dass das hier kein Scherz ist. »Warte mal, echt jetzt? Ich dachte, wir haben Spaß miteinander.«
»Ganz ehrlich? In letzter Zeit nicht so.«
Autsch! Sorry, Kumpel.
»Jetzt sieh mich nicht so an. Ich meine nicht den Sex. Der war immer gut. Aber diese Freundschaft-Plus-Sache läuft jetzt schon fast ein Jahr. Klar, mit Unterbrechungen, aber ich denke, je länger wir das machen, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass einer von uns Gefühle entwickelt. Und wir haben doch von Anfang an gesagt, dass wir nichts Ernstes wollen, weißt du noch?«
»Ja, ich erinnere mich.«
Der große Schatten fährt sich mit der Hand durchs Haar. Vielleicht streichelt er auch eine winzige Katze, die auf seinem Kopf sitzt.
Ganz ehrlich, ich sehe überhaupt nichts von hier hinten.
»Ich bin in nächster Zeit nicht an einer Beziehung interessiert«, fügt sie hinzu. »Ich will keinen Freund.«
Kurze Pause. »Und was ist mit Wyatt?«
»Was soll mit ihm sein? Ich habe ihm schon tausendmal gesagt, dass wir nur Freunde sind. Ich möchte einfach eine Weile Single sein.« Sie lacht leise. »Hör mal, wir wissen doch beide, dass du ganz leicht eine Neue findest, Tate. Selbst wenn du mehr als Sex willst, sollte es nicht schwer für dich werden, eine Freundin zu finden. Die werde nur nicht ich sein.«
Doppelt autsch!
Ihre Ehrlichkeit muss allerdings gewürdigt werden. Sie verschwendet keine Zeit. Führt diesen Typen nicht an der Nase herum. Ich meine, es klingt, als wäre das Ganze mehr gewesen als eine lockere Freundschaft plus, aber das könnte vielleicht sogar die schlimmste Art von Trennung sein. Wenn man vor der ganzen Sexsache befreundet war und auch anschließend befreundet bleiben will? Das ist verdammt schwer.
Ich bin noch nie offiziell zurückgewiesen worden – dafür müsste man erst mal eine richtige Beziehung haben –, aber sollte mir jemals eine Trennungsrede gehalten werden, dann möchte ich, das sie abläuft wie diese: schnell und auf den Punkt. Puste die Kerze einfach aus, sodass nicht mal ein Fünkchen übrig bleibt. Es ist vorbei. Zieh weiter.
Zugegeben, das kann ich jetzt leicht so sagen. Wenn man allerdings bedenkt, dass ich schon bei den Werbespots in Tränen ausbreche, in denen eine einsame Großmutter eine Karte von ihren Enkelkindern bekommt, würde ich mich vermutlich vor meinem Korbgeber in eine Pfütze aus Tränen auflösen und mich anschließend umgehend wegen Melancholie in eine überteuerte Wellnesseinrichtung einweisen lassen.
»Okay. Cool.« Nun lacht er mit, wenn auch trocken. »Dann war’s das wohl.«
»Genau«, erwidert sie. »Alles gut zwischen uns?«
»Na klar. Wir kennen uns, seitdem wir dreizehn waren. Wir hören doch nicht auf, miteinander zu reden, nur weil wir aufhören zu vögeln.«
»Ich nehme dich beim Wort«, warnt sie.
Und nun ist es glücklicherweise endlich vorbei. Das Gespräch ist beendet. Ihre Flip-Flops knirschen leise im Sand, als sie über den Strand zurück zur Party davonspaziert.
Eine weg.
Einer fehlt noch.
Zu meinem Entsetzen geht der Typ den Strand hinunter zum Wasser, wo er wie eine Statue stehen bleibt und aufs Meer hinausstarrt. Da er jetzt im hellen Mondlicht steht, kann ich ihn besser sehen. Er ist groß. Muskulös. Er trägt Shorts und ein T-Shirt, deren Farben ich allerdings nicht erkennen kann, weil es zu dunkel ist. Sein Haar könnte blond sein. Und er hat einen fantastischen Hintern. Eigentlich fallen mir Hintern nicht auf – ich habe nie sonderlich auf Hintern geachtet –, aber dieser ist definitiv einen Blick wert.
Da er mir den Rücken zugewandt hat, wäre das der perfekte Moment, um abzuhauen. Also stehe ich langsam auf und wische mir die klammen Hände an meinen Jeansshorts ab. Mann, mir war gar nicht aufgefallen, wie angespannt ich war. Meine Hände werden sonst nur vor einem ersten Kuss feucht oder vor besonders grauenhaften Situationen. Auch bekannt als Gespräche mit meiner Mutter. Ergo sind meine Hände eigentlich immer feucht.
Ich atme tief ein und mache einen kleinen Schritt.
Ich fühle Erleichterung, weil der Typ sich nicht zu mir umdreht.
Ja! Ich schaffe das. Immerhin muss ich nur bis zu dieser Düne drei Meter entfernt kommen. Wenn er mich dann bemerkt, kann ich so tun, als wäre ich aus dem Strandhafer gekommen. Oh sorry! Ich gehe nur spazieren, hab dich gar nicht gesehen!
Die Freiheit ist in Reichweite. Ich kann sie förmlich schmecken. Ich habe schon gut zwei Meter geschafft, als mein Handy sich dazu entscheidet, all meine Mühen zunichtezumachen, indem es lautstark eine Nachricht ankündigt.
Und dann noch eine.
Und noch eine.
Da wirbelt der Typ erschrocken herum.
»Hey.« Seine tiefe, skeptische Stimme wird von der nächtlichen Brise zu mir herübergetragen. »Wo kommst du denn her?«
Meine Wangen werden heiß. Zum Glück ist es zu dunkel, als dass er mein rotes Gesicht sehen könnte. »Tut mir leid«, platzt es aus mir heraus. »Ich, ähm …« Mein Verstand sucht verzweifelt nach einem passenden Grund für meine Anwesenheit. Aber er scheitert. »Ich habe keine einzige Sekunde von eurem Trennungsgespräch gehört. Das schwöre ich.«
Oh, verdammte Scheiße. Großartig, Cassandra.
Dafür ernte ich ein schwaches Lachen. »Keine einzige Sekunde, was?«
»Nö, keine einzige. Ganz im Ernst, ich kann dir absolut versichern, dass ich nicht hier gesessen und dabei zugehört habe, wie du einen Korb kassiert hast.« Mein Mund hat die Führung übernommen. Er hat jetzt das Sagen. Ist der Captain des Schiffes. Eine weitere Sache, die passiert, wenn ich nervös bin: Ich schwafle. »Aber du solltest wissen, dass du das gut gemeistert hast. Ich meine, du bist nicht auf die Knie gefallen, hast dich an sie geklammert und angefleht, nicht zu gehen. Dafür bin ich wirklich dankbar. Das hat uns beiden zusätzliche Unannehmlichkeiten erspart, weißt du? Es war fast, als hättest du gewusst, dass ich hinter dem Stamm da festgesessen habe.«
»Glaub mir, hätte ich gewusst, dass du da warst, hätte ich das Ganze wesentlich dramatischer gestaltet. Ich hätte ein bisschen geweint, vielleicht sogar den Himmel verflucht und mein armes gebrochenes Herz beklagt.«
Er kommt näher, und als ich sein Gesicht besser erkennen kann, beschleunigt sich mein Herzschlag sofort. Ach du Scheiße, ist der Typ heiß. Was zur Hölle hat sich das Mädchen nur dabei gedacht, ihn abzuservieren?
Ich lasse meinen Blick über seine klassisch attraktiven Gesichtszüge schweifen. Dabei wünsche ich mir, ich könnte seine Augenfarbe erkennen, aber dafür ist es zu dunkel. Mit dem blonden Haar hatte ich allerdings recht, daher gehe ich davon aus, dass er helle Augen hat. Blau. Vielleicht auch grün. In seinen Badeshorts und dem leicht zerknitterten T-Shirt sieht er aus wie der Inbegriff eines Beach Boys.
»Und warum hättest du das getan?«, frage ich.
»Na, um es dir besonders unangenehm zu machen. Als Strafe dafür, dass du gelauscht hast.«
»Unfreiwillig.«
»Das behaupten dann alle.« Seine Lippen verziehen sich zu einem schelmischen Grinsen, von dem ich glaube, dass es sein Standardausdruck sein könnte. Nachdenklich neigt er den Kopf. »Aber weißt du, das lasse ich dir durchgehen. Einem süßen Mädchen bin ich nie lange böse.«
Meine Wangen werden noch heißer.
Oh mein Gott.
Er findet mich süß?
Ich meine, das Outfit für heute Abend habe ich mit dem Ziel ausgesucht, süß auszusehen. Kurze Shorts, die meine Beine trügerisch lang aussehen lassen, kombiniert mit einem engen Tanktop. In Schwarz, da das die einzige Farbe ist, die meine Brüste kleiner wirken lässt. In hellen Farben fallen sie auf wie zwei unkontrolliert hüpfende Strandbälle, selbst noch mit einem besonders festsitzenden BH.
Mir ist allerdings aufgefallen, dass sein Blick noch kein einziges Mal zu meinem Busen gewandert ist. Und falls doch, dann hat er es so unauffällig und diskret gemacht, dass es mir entgangen ist. Sein Blick verharrt auf meinem Gesicht, und für einen Augenblick bringe ich keinen Ton mehr heraus. Zu Hause in Boston sehe ich ständig attraktive Typen. Auf meinem Campus wimmelt es nur so vor ihnen. Aber irgendwas an diesem Exemplar lässt meine Knie weich werden.
Bevor ich etwas auf seine Süßes-Mädchen-Bemerkung erwidern kann – oder überhaupt etwas rausbringe –, trällert mein Handy erneut. Ich sehe nach unten. Noch eine Nachricht von Peyton. Dann eine weitere.
»Da ist aber jemand sehr gefragt«, neckt er.
»Ähm, ja. Ich meine, nein. Ist nur eine Freundin.« Ich beiße die Zähne zusammen. »Sie ist eine von diesen nervigen Personen, die ungefähr zehn einzelne Sätze schreiben, anstatt einen ganzen Abschnitt zu schicken, sodass das Handy ständig piept, bis du es ihr über den Kopf ziehen willst. Ich hasse das – du nicht?«
Ihm bleibt der Mund offen stehen. »Ja«, sagt er mit so einer Ernsthaftigkeit, dass ich grinsen muss. Dann schüttelt er den Kopf. »Das hasse ich.«
»Oder?«
Ein Klingelton kündigt die nächste Nachricht an, womit wir bei ganzen sechs wären.
Als ich sie überfliege, bin ich erneut dankbar dafür, dass es so dunkel ist, denn mein Gesicht muss jetzt noch roter sein.
Peyton: Wie ist die Party?
Peyton: Irgendwelche süßen Jungs?
Peyton: An wen werden wir uns ranschmeißen?
Peyton: Mach ein paar Fotos von den Kandidaten!
Peyton: Ich will unbedingt ein Teil des Prozesses sein.
Peyton: Ich wünschte, ich wäre bei dir!
Ich würde gern behaupten, dass sie nur scherzt. Doch das tut sie nicht. Mein Hauptanliegen für die Party heute Abend war, einen würdigen Kandidaten für meinen Sommerflirt zu finden.
Es ist zwar schon eine Weile her, dass ich einen ganzen Sommer in Avalon Bay verbracht habe, aber ich erinnere mich noch daran, wie viele meiner Freundinnen sich über die Jahre in Sommerromanzen gestürzt haben. Diese leidenschaftlichen, aufregenden Affären, in denen man die Finger nicht voneinander lassen kann und sich alles so dringend anfühlt, weil man weiß, dass es nicht von Dauer ist. Jeder Moment ist wertvoll, denn sobald der September kommt, heißt es Abschied nehmen. Ich war immer so eifersüchtig auf sie, habe mich auch nach so einer Sommerliebe gesehnt, aber ich konnte mich schlecht auf Jungs und Romantik konzentrieren, während in meiner Familie ständig Chaos geherrscht hat.
Nachdem sich meine Eltern haben scheiden lassen, als ich elf war, sind Mom und ich weiterhin für den Sommer hierhergekommen – jedenfalls anfangs. Die Tanners – Moms Familie – haben eine lange Tradition in Avalon Bay. Meine Großeltern besitzen ein Strandhaus im wohlhabenderen Teil der Stadt, und sie haben von uns erwartet, dass wir sie dort jedes Jahr besuchen. Damals haben Mom und Dad sich mir zuliebe noch zusammengerissen. Nachdem Dad allerdings wieder geheiratet hat, hatte das ein Ende. Ab da hat Mom ihre Wut und Verachtung ihm gegenüber deutlich nach außen gezeigt und Dad umgekehrt genauso. Das hat den Besuch in der Bay zu einer Übung für psychologische Kriegsführung gemacht.
Glücklicherweise hat auch Mom kurze Zeit später wieder geheiratet und bekanntgegeben, dass wir unsere Sommer nicht länger in der Küstenstadt in South Carolina verbringen würden, in der ich geboren und aufgewachsen bin. Ich kann nicht abstreiten, dass ich erleichtert war. Denn das bedeutete, dass ich Dad in Ruhe besuchen und einfach Spaß haben konnte. Bei meiner Rückkehr nach Boston hat Mom mich allerdings immer verhört und verlangt, dass ich ihr alles erzähle, was Dad über sie gesagt hat. Das war nervig und unfair, aber immer noch besser, als mit beiden zusammen in derselben Stadt gefangen zu sein.
»Schreibst du ihr zurück?«
Die Stimme des Typen reißt mich aus meinen Gedanken. »Oh. Nein. Ich antworte später.«
Schnell schiebe ich das Handy wieder in meine Gesäßtasche. Wenn ich es schon unangenehm fand, Zeugin seiner Trennung zu werden, würde ich im Erdboden versinken, könnte er Peytons Nachrichten sehen.
Einen Moment lang mustert er mich. »Ich bin Tate«, sagt er schließlich.
Ich zögere. »Cassie.«
»Bist du für den Sommer hier?«
Ich nicke. »Ich wohne bei meiner Großmutter – sie hat ein Haus im Süden. Aber eigentlich bin ich hier in Avalon Bay aufgewachsen.«
»Tatsächlich?«
»Mh-hm. Nach der Scheidung meiner Eltern bin ich mit meiner Mom nach Boston gezogen, aber mein Dad lebt noch hier, also bin ich quasi ein Sommermädchen geworden. Also nicht so ein richtiges Sommermädchen, da ich meistens nur für eine oder zwei Wochen im Juli herkomme. Aber diesen Sommer bleibe ich bis nach dem Labor Day, also bin ich jetzt wohl ein richtiges Sommermädchen.«
Hör auf zu schwafeln!, befehle ich mir selbst.
»Was ist mit dir?«, frage ich, verzweifelt darauf bedacht, den Fokus von mir und der Tatsache abzulenken, dass ich das Wort Sommermädchen ungefähr vier Millionen Mal in einem Satz verwendet habe.
»Das genaue Gegenteil. Ich bin zu Anfang der Junior Highschool hergezogen. Davor haben wir in Georgia gelebt. St. Simon’s Island.« Tate klingt ein wenig bedrückt. »Ich beneide dich um Boston, um ehrlich zu sein. Ich wünschte irgendwie, wir wären in eine Großstadt gezogen, anstatt eine Küstenstadt gegen eine andere einzutauschen. Gehst du dort zur Uni?«
»Ja. Auf die Briar University?«
»Ein Elitemädchen, was?«
Wir setzen uns in Richtung der Party in Bewegung. Das passiert ganz instinktiv, ohne dass wir es besprochen haben.
»Ich komme jetzt ins letzte Jahr«, füge ich hinzu.
»Cool. Was studierst du?«
»Englische Literatur.« Ich bedenke ihn mit einem ironischen Blick. »Ich weiß. Absolut nutzlos, außer ich will Lehrerin werden.«
»Willst du denn Lehrerin werden?«
»Nö.«
Er grinst, und im Mondlicht erhasche ich einen Blick auf gerade weiße Zähne. Sein Lächeln ist perfekt. Darin könnte man sich verlieren.
Ich zwinge mich, geradeaus zu schauen, und schiebe die Hände in meine Taschen. »Weißt du, was mich so richtig nervt, Tate?«
»Was nervt dich denn, Cassie?« Ich kann sein Lächeln immer noch spüren.
»Alle sagen immer, man findet am College zu sich selbst, oder? Aber so wie ich das erlebt habe, gibt es da nur einen Haufen lahme Partys, Lernnachtschichten und ewig lange Vorlesungen von irgendwelchen Wichtigtuern. Und die ganze Zeit über sitzt du da und tust so, als hätte dir das superlangweilige Buch gefallen, das du lesen musstet, obwohl es in Wirklichkeit interessanter ist, Wasser beim Kochen zuzusehen, als die meisten Klassiker zu lesen. Da – jetzt habe ich es gesagt. Die Klassiker sind ätzend, okay? Und das College ist langweilig.«
Tate lacht leise. »Vielleicht gehst du nicht zu den richtigen Partys.«
Da hat er recht. Das tue ich nicht. Ich war nämlich noch nie auf einer Party, bei der ich mich lange mit einem Typen wie Tate unterhalten habe.
Nun, da wir uns dem Lagerfeuer nähern, ist der Weg vor uns gut beleuchtet. Die Musik dröhnt immer noch laut, ein langsamer Reggae-Song mit einem sinnlichen Beat, zu dem einige Pärchen eng umschlungen tanzen. Alle hier scheinen Einheimische zu sein. Falls doch jemand vom Country Club hier sein sollte, dann erkenne ich ihn nicht. Die Sommerbesucher geben sich für gewöhnlich nicht mit den Ortsansässigen ab. Joy glaubt, dass sie heute nur eingeladen war, weil dieser Luke gehofft hat, dass da was laufen würde. »Die einheimischen Typen haben einen Riesenspaß daran, reiche Mädchen zu verführen«, hatte sie vorhin beim Lunch lachend gesagt.
Davon habe ich keine Ahnung. Ich wurde noch nie von einem Einheimischen verführt. Außerdem sehe ich mich nicht als reiches Mädchen, obwohl ich wohl eines bin. Die Familie meiner Mutter hat Geld. Und das nicht wenig. Aber ich werde mich immer als das Mädchen sehen, das im Sycamore Way in einem gemütlichen Häuschen in der Vorstadt nicht weit von hier aufgewachsen ist.
Jetzt, da der Schein des Lagerfeuers es möglich macht, uns richtig zu sehen, begutachtet Tate den Pferdeschwanz, an dem ich herumzupfe, und stößt ein Stöhnen aus. »Du bist ein Rotschopf«, sagt er anklagend, während seine Augen funkeln. Sie sind hellblau, genau wie ich vermutet habe.
»Komm mir nicht mit Rotschopf«, protestiere ich. »Ich bin ein Kupferschopf.«
»So was gibt es nicht.«
»Ich bin ein Kupferschopf«, entgegne ich vehement. Ich greife an meinen Zopf und halte ihn vor sein Gesicht. »Siehst du? Dunkelrot. Das ist quasi braun!«
»Mmm-hmm. Rede dir das nur weiterhin ein, Rotschopf.«
Plötzlich wirkt er abgelenkt. Sein Blick schweift am Feuer vorbei, bis hin zu einem Mädchen mit leuchtend rotem Haar. Ein richtiger Rotschopf. Im Gegensatz zu mir, die ein Kupferschopf ist, vielen Dank auch.
Die Rothaarige spricht mit zwei anderen jungen Frauen, und sie sind alle drei unglaublich schön. Glänzendes Haar und hübsche Gesichter. Knappe Kleider. Und sie haben diese perfekten Strandfiguren, die einen Hauch von Unsicherheit in mir auslösen. Ich habe mich immer schon gefragt, wie es wohl ist, wenn man normale Proportionen hat. Muss der Wahnsinn sein.
Tates Gesicht nimmt einen schmerzverzerrten Ausdruck an, bevor er den Blick von dem Mädchen losreißt.
Da dämmert es mir. »Oh mein Gott. Ist sie das? Die Korbgeberin?«
Da entschlüpft ihm ein Lachen. »Sie hat mir keinen Korb gegeben. Und wir sind noch Freunde – das wird sich nicht ändern. Sie hat mich nur unvorbereitet getroffen, das ist alles. Normalerweise bin ich derjenige, der solche Arrangements beendet.«
»Soll ich sie für dich zusammenschlagen?«, biete ich an.
Mit gespitzten Lippen mustert er meine Statur. Ich bin etwa einen Meter sechzig groß und eher schmal. Schlank, abgesehen von meinem riesigen Busen. Ganz ehrlich, meine Brüste sind als Waffen vermutlich effektiver als meine Fäuste.
»Nein«, entgegnet er, wobei seine Lippen amüsiert zucken. »Ich will nicht für deinen Tod verantwortlich sein.«
»Das ist wirklich süß.«
Er schnaubt.
»Tate!«, ruft jemand, und wir drehen uns beide zu dem Rufer um.
Ein sehr großer Kerl mit rötlichem Bart steht in unserer Nähe und hält einen Joint in der Hand. Er wedelt damit verlockend in Tates Richtung und hebt eine Augenbraue. Eine Einladung. Tate nickt ihm zu und bedeutet ihm mit der Hand, dass er gleich da sein wird.
»Warum sind hier so viele Rotschöpfe?«, verlange ich zu wissen. »Ist das hier eine Versammlung?«
»Sag du es mir. Sind immerhin deine Leute.«
Ich knurre ihn an, aber er lacht nur. Mir gefällt sein Lachen.
»Soll ich dich allen vorstellen?«, bietet Tate an.
Da überkommt mich ein Zögern. Ich bin hin- und hergerissen. Es wäre schon lustig zu bleiben und abzuhängen. Aber die Rothaarige beobachtet uns jetzt mit einem leicht belustigten Ausdruck auf ihrem schönen Gesicht. Eigentlich sehen uns eine Menge Leute an, wie mir jetzt auffällt. Ich habe das Gefühl, ein Typ wie Tate erregt diese Art von Aufmerksamkeit, und plötzlich wünsche ich mir, wir wären wieder in der Dunkelheit des Strandes, nur er und ich. Ich hasse es, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Und ich will mir gar nicht vorstellen, wie viel nervöses Geschwafel ich bei jeder neuen Person von mir geben werde.
Also schüttele ich den Kopf und sage: »Eigentlich wollte ich jetzt gehen. Muss noch woandershin.«
Er grinst. »Na gut. Wie du willst, Miss Beliebt.«
Wohl kaum. Der einzige Ort, an den ich hiernach noch gehe, ist zu Hause. Aber vermutlich ist es besser, ihn in dem Glauben zu lassen, dass ich an Freitagabenden von einer Party zur nächsten flattere. Peyton würde diesen Plan gutheißen. »Geh, solange sie noch mehr wollen« ist das Motto meiner besten Freundin.
»Du bist bis September hier, richtig?«
»Genau«, sage ich lässig.
»Cool. Dann werden wir uns sicher noch mal begegnen.«
»Ja, vielleicht.«
Mist. Das klang jetzt viel zu unverfänglich. Was ich hätte sagen sollen, ist etwas Kokettes wie: »Das hoffe ich doch …« Und dann hätte ich nach seiner Nummer fragen sollen. Ich schlage mir innerlich gegen die Stirn und suche nach einem Weg, den Fehler auszubügeln, aber es ist schon zu spät. Tate schlendert schon hinüber zu seinem Freund.
Wenn sie sich noch mal umdrehen, ist das ein gutes Zeichen. Das sagt Peyton immer.
Schwer schluckend starre ich ihm hinterher, während seine langen Schritte im Sand versinken.
Und dann …
Dreht er sich um.
Erleichtert atme ich auf und winke ihm noch ungeschickt, bevor ich mich abwende. Mein Herz rast, während ich das grasbewachsene Stück zur Straße hochgehe, wo ich den Landrover meiner Großmutter geparkt habe. Dann fische ich mein Handy genau in dem Moment aus der Tasche, in der eine Nachricht den Bildschirm erhellt.
Peyton: Und??? Haben wir einen glücklichen Gewinner?
Ich beiße mir auf die Lippe und werfe noch einen Blick in Richtung Party.
Ja.
Ja, ich glaube, das haben wir.
Am nächsten Morgen treffe ich in der Küche auf meine Großmutter, als sie gerade ein Muffinblech aus dem Ofen holt. Sie stellt es zum Abkühlen auf ein Kuchengitter neben die anderen drei Bleche, die dort bereits stehen.
»Morgen, Liebes. Such dir was aus«, trällert Grandma und wirft mir einen Blick über die Schulter zu. »Es gibt Banane-Nuss, Kleie und Karotte. Und Blaubeere, aber die müssen erst noch abkühlen.«
Zweifellos ist sie schon seit sieben Uhr wach und backt wie verrückt. Für eine Frau in den Siebzigern ist sie noch erstaunlich agil. Was wirklich lustig ist, denn äußerlich wirkt sie so zerbrechlich. Sie ist schmächtig, hat zarte Hände, und ihre Haut ist mit dem Alter immer dünner geworden, sodass man stets bläuliche Äderchen durchscheinen sieht.
Und trotzdem ist Lydia Tanner eine Naturgewalt. Sie und mein Grandpa Wally haben fünfzig Jahre lang gemeinsam ein Hotel geführt. Nachdem Grandpa in Vietnam verwundet und daraufhin aus dem Militär entlassen worden war, haben sie das Grundstück am Strand zu einem Spottpreis erstanden. Noch verrückter ist allerdings, dass sie in meinem Alter waren, als sie das Beacon Hotel von Grund auf aufgebaut haben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, mit zwanzig ein Hotel zu bauen und zu führen, vor allem kein so großes wie das Beacon. Und bis vor zwei Jahren war das Grundstück der ganze Stolz meiner Großeltern.
Doch dann ist Grandpa gestorben, und das Hotel wurde letztes Jahr von einem Hurrikan, der die gesamte Küste verwüstet hat, vollkommen zerstört. Das war zwar nicht das erste Mal, dass das Beacon Opfer eines Sturms geworden ist – es ist zuvor bereits zweimal passiert –, aber im Gegensatz zu den Malen davor wollte diesmal niemand aus der Familie es wieder instand setzen lassen. Grandma war zu alt und erschöpft, um den Neuaufbau in Angriff zu nehmen, vor allem ohne Grandpa Wally an ihrer Seite, und ich weiß, dass sie insgeheim enttäuscht darüber ist, dass keines ihrer Kinder die Verantwortung für das Hotel übernehmen wollte. Aber meine Mom und ihre Geschwister hatten nie ein besonderes Interesse für das Beacon gezeigt, also hat Grandma sich letztlich dazu entschlossen, zu verkaufen. Nicht nur das Hotel, sondern auch ihr Haus.
Der Hausverkauf wird in zwei Monaten abgeschlossen sein, und das Beacon wird im September unter neuer Führung wiedereröffnet – und genau deshalb sind wir hier. Grandma wollte noch einen letzten Sommer in Avalon Bay verbringen, bevor sie in den Norden zieht, um näher bei ihren Kindern und Enkelkindern zu sein.
»Wie war die Party?«, fragt sie, während sie es sich auf einem Stuhl am Esstisch bequem macht.
»Ganz okay.« Ich zucke die Schultern. »Ich habe niemanden dort so wirklich gekannt.«
»Wer war der Gastgeber?«
»Irgend so ein Luke. Er ist Segellehrer im Club. Daher kennt Joy ihn. Und wo wir gerade bei Joy sind – sie ist nicht mal gekommen! Erst lädt sie mich zu einer Party ein, und dann lässt sie mich im Stich. Ich habe mich total fehl am Platz gefühlt.«
Grandma lächelt. »Manchmal ist es so lustiger. Irgendwo zu sein, wo dich niemand kennt …« Sie hebt eine dünne Augenbraue. »Es kann aufregend sich, sich neu zu erfinden und nur für eine Nacht ein anderer Mensch zu sein.«
Ich verziehe das Gesicht. »Bitte sag mir jetzt nicht, dass du und Grandpa euch früher immer in Hotelbars getroffen und so getan habt, als wärt ihr jemand anderes, um eure Ehe mit seltsamen Rollenspielchen aufzupeppen.«
»Okay, Liebes. Dann erzähle ich dir das nicht.«
Ihre braunen Augen funkeln, was ihr ein jugendliches Flair verleiht. Es ist schon lustig, wie elegant und unnahbar Grandma in der Öffentlichkeit wirkt. Sie ist stets gekleidet, als käme sie soeben von Bord einer Luxusjacht, in ihren perfekten Outfits, die eher ins schicke Nantucket passen als ins lässige Avalon Bay. Sie besitzt ungelogen tausend Schals von Hermès. Doch wenn sie von ihrer Familie umgeben ist, schmilzt ihr eisiges Äußeres dahin, und sie wird zu der herzlichsten Frau, die man sich denken kann. Ich liebe es, Zeit mit ihr zu verbringen. Und sie kann zum Totlachen komisch sein. Manchmal reißt sie ganz unerwartet bei einem großen Familienessen einen schmutzigen Witz. In ihrem feinen Südstaatenakzent klingt das immer besonders drastisch und sorgt dafür, dass wir alle uns vor Lachen kaum wieder einkriegen. Meine Mutter hasst das. Allerdings hat sie auch keinen Sinn für Humor. Hatte sie noch nie.
»Hast du neue Freunde kennengelernt?«, möchte Grandma nun wissen.
»Nein. Aber das ist in Ordnung. Ich habe ja Joy, solange ich hier bin, und Peyton kommt vielleicht für eine oder zwei Wochen im August.« Ich schlendere zu den Backblechen hinüber und inspiziere die Auswahl. »Ich wünschte immer noch, ich hätte mich nicht von dir überreden lassen, mir hier keinen Job für den Sommer zu suchen.«
Grandma zupft ein kleines Stück von ihrem Kleiemuffin ab. Solange ich sie kenne, hat ihr Frühstück immer aus einem Muffin und einer Tasse Tee bestanden. Vermutlich hat sie genau deshalb all die Jahre ihre Figur halten können.
»Cass, Süße, wenn du dir einen Job gesucht hättest, nun, dann könntest du jetzt nicht mit mir frühstücken, oder?«
»Da ist was dran.« Ich entscheide mich für Banane-Nuss und hole mir noch einen Glasteller aus dem Schrank, bevor ich mich zu ihr an den Tisch setze. Ein kleines Stück Walnuss löst sich von meinem Muffin, und ich stecke es mir schnell in den Mund. »Also, was machen wir heute?«
»Ich dachte mir, wir könnten in die Stadt gehen und ein paar der neuen Läden durchstöbern? Levi Hartley hat es sich zur Aufgabe gemacht, die komplette Promenade aufzupolieren. Sein Bauunternehmen arbeitet sich durch alle Geschäfte, die von dem Hurrikan beschädigt wurden, und repariert eins nach dem anderen. Letztens bin ich an einem sehr schönen Hutgeschäft vorbeigegangen, das ich mir gerne ansehen würde.«
Nur Grandma Lydia würde gerne ein Hutgeschäft aufsuchen. Die einzige Kopfbedeckung, die ich je getragen habe, war eine der Caps der Briar University, die bei der Einführungswoche verteilt wurden. Und das auch nur, weil wir dazu gezwungen wurden, unserer neuen Uni dadurch unsere Treue zu versichern. Ich glaube, mittlerweile liegt sie irgendwo ganz hinten in meinem Schrank.
»Hüte shoppen. Ich kann’s gar nicht erwarten.«
Sie schnaubt leise.
»Und ich brauche noch ein Geburtstagsgeschenk für die Mädchen, also könnten wir gleich noch in die Kinderläden. Oh! Könnten wir vielleicht auch beim Hotel vorbeischauen? Ich würde mir so gerne ansehen, was sie daraus gemacht haben.«
»Ich auch«, sagt Grandma mit leicht verkniffenem Mund. »Die junge Frau, die es gekauft hat – Mackenzie Cabot –, hat versprochen, die Vision zu bewahren, die dein Großvater und ich vom Hotel hatten. Sie hat versichert, den Charme und Charakter des Grundstücks zu erhalten. Sie hat mir die Entwürfe der Upgrades und sogar Fotos des Fortschritts geschickt. Darauf konnte man wirklich sehen, wie entschlossen sie war, alles so originalgetreu zu restaurieren wie möglich. Aber seit Juni habe ich kein Update mehr dazu erhalten.«
Ihre Sorge ist unübersehbar. Ich weiß, Grandmas größte Angst war, dass das Beacon nicht wiederzuerkennen wäre. Das Hotel war ihr Vermächtnis. Es hat drei Hurrikans überstanden und wurde zweimal von meinen Großeltern liebevoll wieder aufgebaut. Sie haben alles hineingesteckt, was sie hatten. Blut, Schweiß und Tränen. Ihre Liebe. Und es wurmt mich schon ein wenig, dass keins ihrer vier Kinder darum gekämpft hat, es in Familienbesitz zu behalten.
Meine beiden Onkel Will und Max leben mit ihren Ehefrauen in Boston und haben jeweils drei Kinder. Beide haben unmissverständlich klargemacht, dass sie nicht in den Süden ziehen werden, um ein Hotel zu renovieren, das ihnen nichts bedeutet. Tante Jacqueline und ihr Ehemann Charlie haben ein Haus in Connecticut, drei Kinder und null Interesse daran, sich in der Hotelbranche auszuprobieren. Und dann gibt es da noch Mom, die einen vollen Terminkalender hat und damit beschäftigt ist, das Geld ihres Ex-Mannes auszugeben, und zwar aus purer Gehässigkeit, denn sie war schon vor der Ehe wohlhabend – die Tanners besitzen Millionen. Aber mein früherer Stiefvater Stuart hat den Fehler begangen, eine Scheidung zu verlangen, und meine Mutter ist immer schon kleinlich gewesen.
Ich vertilge den Rest meines Muffins, bevor ich von meinem Stuhl aufstehe.
»Okay, wenn wir in die Stadt gehen, sollte ich mir etwas Präsentableres anziehen«, sage ich und zeige auf meine schäbigen Shorts und das weite T-Shirt. »So kann ich mich nicht im Hutladen blicken lassen.« Dabei mustere ich Grandmas makellos gebügelte Chinos, ihre ärmellose Bluse und den gestreiften Seidenschal. »Vor allem nicht mit dir. Herrgott, Lady. Du siehst aus, als wärst du zum Lunch mit einer Kennedy verabredet.«
Sie lacht leise. »Hast du etwa meine wichtigste Regel fürs Leben vergessen, Liebes? VerlassedasHausstets,alswürdestdu …«
»… ermordet werden«, beende ich augenrollend. »Oh, daran erinnere ich mich.«
Ich sage euch, manchmal kann Grandma ganz schön makaber sein. Aber es ist ein guter Rat. Tatsächlich denke ich oft daran. Einmal habe ich das Wohnheim in meinem Notfall-Höschen verlassen – es ist knallorange und hat ein Loch im Schritt. Als mir das bewusst wurde, hätte ich fast einen Ausschlag bekommen, denn ich habe mir gedacht: Wenn ich heute ermordet werde und der Gerichtsmediziner entkleidet mich, dann ist das Loch das Erste, was er sieht. Damit wäre ich dann die einzige Tote in der Leichenhalle, die rot anläuft.
Oben angekommen, ziehe ich mir ein rosafarbenes Sommerkleid an und flechte meine Haare. Gerade als ich das Haargummi am Ende des Zopfes befestige, klingelt mein Handy. Es ist Peyton. Ich habe sie gestern Abend nicht mehr angerufen, aber ich habe ihr absichtlich eine kryptisch klingende Nachricht geschickt, die sie ganz wahnsinnig machen würde.
»Wer ist er«, verlangt sie sofort zu wissen, als ich sie auf Lautsprecher stelle. »Erzähl mir alles.«
»Da gibt’s nichts.« Ich gehe zum Schminktisch hinüber und inspiziere mein Kinn. Es fühlt sich an, als würde ich einen Pickel bekommen, aber mein Spiegelbild sagt was anderes. »Ich habe einen heißen Typen kennengelernt, seine Einladung, mit ihm bei der Party abzuhängen, abgelehnt und bin dann nach Hause gefahren.«
»Cassandra.« Peyton ist entsetzt.
»Ich weiß.«
»Was zur Hölle stimmt mit dir nicht? Der einzige Grund, warum du auf diese Party gegangen bist, war, einen Typen kennenzulernen! Und das hast du! Und er ist heiß, ja?«
»Der heißeste Typ, den ich je gesehen habe«, jammere ich.
»Warum bist du dann gegangen?« Ihre Verwirrung könnte genauso gut eine Anschuldigung sein.
»Ich habe mich nicht getraut«, gestehe ich. »Er hat mich eingeschüchtert! Und du hättest mal die Mädels sehen müssen, die er kennt – die waren alle perfekte, hochgewachsene, schlanke Göttinnen. Mit perfekt proportionierten Brüsten … im Gegensatz zu jemandem, den du kennst.«
»Oh mein Gott, Cass. Hör auf damit. Du weißt, was ich davon halte, wenn du dich selbst fertigmachst.«
»Ja, ja, du willst mir dafür ins Gesicht schlagen. Aber ich kann nichts dafür. Ganz im Ernst, diese Mädchen waren unglaublich schön.«
»Genau wie du.« Ein erschöpfter Laut hallt durch den Hörer. »Weißt du, ich hasse deine Mutter wirklich.«
»Was hat meine Mutter denn jetzt damit zu tun?« Ich kichere.
»Nimmst du mich auf den Arm? Ich war schon mal bei euch zu Hause. Ich höre, wie sie mit dir spricht. Tatsächlich habe ich letztens mit meiner Mom darüber gesprochen, und sie sagt, dieser ganze verletzende Mist, den sie von sich gibt, muss ja dein Selbstwertgefühl beeinflussen.«
»Warum sprichst du mit deiner Mom über mich?«, möchte ich wissen, während mir die Verlegenheit die Kehle hinaufklettert.
Manchmal ist es ganz schön nervig, eine beste Freundin zu haben, deren Mutter klinische Psychologin ist. Ich kenne Peyton, seitdem wir elf waren – wir haben uns kurz nach meinem Umzug nach Boston kennengelernt –, und Peytons Mutter hat ständig in meiner Psyche gewühlt. Sie wollte immer, dass ich über die Scheidung meiner Eltern spreche, wie ich mich damit fühle, wie die Kritik meiner Mutter mich beeinflusst. Bla, bla, bla. Ich brauche keine Seelenklempnerin, die mir sagt, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen meinen Unsicherheiten und den verbalen Angriffen meiner Mutter gibt. Oder dass meine Mutter eine gewaltige Bitch ist. Das weiß ich auch selbst.
Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen Dad und ich über sie gesprochen haben, hat er zugegeben, dass Mom auf der Altruismus-Skala schon immer tendenziell in Richtung ich-ich-ich gegangen ist. Aber die Scheidung hat etwas in ihr verzerrt. Es schlimmer gemacht. Es hat definitiv auch nicht geholfen, dass Dad innerhalb von eineinhalb Jahren wieder geheiratet hat und jetzt noch zwei weitere Töchter hat.
»Mom denkt, wir müssen deine innere Kritikerin zum Schweigen bringen. Auch bekannt als die schreckliche Stimme deiner Mutter in deinem Kopf.«
»Ich bringe meine innere Kritikerin ständig zum Schweigen. Silberstreifen, weißt du noch?« Denn während es die wichtigste Regel meiner Großmutter ist, immer sicherzugehen, dass man in seinem besten Sonntagsoutfit ermordet wird, lautet mein Lebensmotto: Sieh stets das Positive. Finde immer den Silberstreifen am Horizont, denn die Alternative – in der Dunkelheit zu verweilen – wird dich irgendwann zerstören.
»Natürlich, Little Miss Sunshine«, sagt Peyton spöttisch. »Such immer nach dem Silberstreifen am Horizont – wie könnte ich das vergessen?« Ihre Stimme nimmt einen herausfordernden Ton an. »Okay, gut. Dann sag mir mal, wo war der Silberstreifen, als du dir den Hottie hast entgehen lassen?«
Darüber muss ich kurz nachdenken. »Er ist zu heiß«, antworte ich schließlich.
Schallendes Gelächter dröhnt aus dem Hörer. »Das wäre wohl eher ein Grund, ihn dir nicht entgehen zu lassen.« Sie ahmt einen lauten Buzzer nach. »Neuer Versuch.«
»Nein, das ist wirklich der Grund«, beharre ich. »Stell dir nur vor, wenn der erste Typ, mit dem ich schlafe, so heiß ist? Dann wird mir nie wieder einer gut genug sein! Dann erwarte ich, dass alle, die nach ihm kommen, eine perfekte Zehn sind. Und wenn da niemand rankommt, werde ich am Boden zerstört sein.«
»Du bist unmöglich. Hast du wenigstens seine Nummer?«
»Nein, ich habe dir doch gesagt, dass ich weggelaufen bin wie ein nervös brabbelndes Häschen.«
Sie stößt einen lauten schweren Seufzer aus. »Das ist inakzeptabel, Cassandra Elise.«
»Tut mir aufrichtig leid, Peyton Marie.«
»Wenn du ihn wiedersehen solltest, bittest du ihn um ein Date, verstanden?« Meine beste Freundin ist zum Befehlshabermodus übergegangen. »Kein Schwafeln. Keine Ausreden. Versprich es mir.«
»Werde ich. Versprochen«, sage ich locker, aber auch nur, weil ich sicher bin, dass ich ihn nie wiedersehen werde.
Der Witz geht allerdings auf mich.
Denn als Grandma und ich fünf Minuten später das Haus verlassen, sehe ich keinen Geringeren als Tate in unserer Einfahrt stehen.
Es dauert eine Minute, bis ich raffe, dass die süße Rothaarige auf der Veranda das Mädchen von gestern ist. Sie hatte recht – ihr Haar ist tatsächlich eher kupferfarben. Das Lagerfeuer hat es wohl heller wirken lassen. Dann huscht mein Blick zu ihrer Brust, nur ganz kurz, um sicherzugehen, dass ich gestern nicht in eine Teenagerfantasie verfallen bin. Aber nein, das war kein Traum. Ihr Vorbau ist, objektiv betrachtet, spektakulär. Verklagt mich doch. Ich bin eben ein Mann. Ein großartiger Vorbau fällt mir immer gleich auf.
Sie trägt ein kurzes Sommerkleid, das ihr bis zur Mitte der Oberschenkel reicht und dessen Farbe sich mit den rot lackierten Fußnägeln beißt, die aus ihren Riemchensandalen lugen. Und sie starrt mich an, als wüsste sie nicht so genau, was sie von meiner Anwesenheit halten soll.
»Mr Bartlett, was bringt Sie denn heute Morgen her?«
Mein Blick wandert zu der älteren Dame neben Cassie. »Morgen, Mrs Tanner.« Ich schenke ihr das lockere Lächeln, von dem meine Freunde immer behaupten, es könnte einen Diktator entwaffnen. Nicht dass Lydia Tanner eine Diktatorin wäre. Sie ist eine absolut freundliche Dame, soweit ich das von unseren Interaktionen in den Jahren beurteilen kann, in denen ich das Haus nebenan gesittet habe. Das ist jetzt mein vierter Sommer auf dem luxuriösen Strandanwesen von Gil und Shirley Jackson. Darauf freue ich mich schon seit Wochen.
»Ich bin nur vorbeigekommen, um Sie wissen zu lassen, dass ich den Sommer über wieder auf das Haus der Jacksons aufpasse«, teile ich ihr mit. »Wenn Sie also zu seltsamen Uhrzeiten Licht im Haus sehen, oder sagen wir mal attraktive Männer, die nackt herumlaufen, machen Sie sich keine Sorgen … und sehen Sie gerne weiter hin.« Ich zwinkere ihr zu.
Cassie schnaubt ein sarkastisches Lachen.
»Cassandra«, tadelt Lydia. »Lass den Jungen in dem Glauben, er hätte Charme.«
»Glauben?«, scherze ich freundlich. »Wir wissen beide, dass Sie mich verehren, Mrs Tanner.«
»Wie ich schon letztes Jahr gesagt habe, können Sie mich Lydia nennen. Das hier ist meine Enkelin Cassandra.«
»Cassie«, korrigiert sie.
»Eigentlich sind wir uns gestern Abend schon begegnet«, informiere ich Lydia. »Auf einer Party. Wie geht’s, Rotschopf?«
»Nenn mich nicht so.« Cassie funkelt mich an.
Lydia wendet sich ihrer Enkelin zu. »Na, siehst du, Liebes. Wir haben gerade erst über deinen Mangel an Freunden hier gesprochen, und siehe da – jetzt hast du einen gleich nebenan! Und er hat dir auch schon einen amüsanten Spitznamen gegeben! Das ist einfach wunderbar.« Dann tätschelt sie Cassies Arm, als würde sie ein gestresstes Hündchen beruhigen.
Cassies Wangen werden rot. »Du bist schrecklich«, grummelt sie ihrer Großmutter zu.
Leise lachend geht Lydia die Stufen der Veranda herunter. »Ich starte schon mal den Wagen.«
»Das hat sie mit Absicht gesagt, nur um mich in Verlegenheit zu bringen«, murmelt Cassie, bevor sie mich aus schmalen Augen ansieht. »Ich habe Freunde.«
Ich blinzele sie unschuldig an. »Klar, klingt auch so.«
»Ich habe Freunde«, beharrt sie mit einem Knurren in der Kehle.
Da muss ich mir ein Lachen verkneifen. Fuck, ist die süß. Lächerlich süß. Ich stehe auf Mädels mit Sommersprossen. Und darauf, dass sie rot werden, wenn ich sie anlächle.
»Heißt das etwa, du willst nicht mit mir befreundet sein?«, frage ich und sehe sie amüsiert an.
»Freundschaft ist eine große Verpflichtung. Wir sollten es lieber bei Nachbarn belassen. Aber du hast Glück, denn das bedeutet, wir können ganz viele nachbarliche Dinge machen.« Sie hält inne. »Keine Ahnung, welche. Vielleicht an zwei gegenüberliegenden Fenstern stehen und uns mit Taschenlampen Nachrichten in Morsecode schicken?«
»Du glaubst, Nachbarn machen so was?«
»Weiß ich nicht. Das Zimmer in meinem Wohnheim geht auf eine Backsteinwand raus, also schickt mir niemand geheime Nachrichten. Außer du zählst den betrunkenen Verbindungstypen dazu, der sich immer auf der Greek Row verirrt und dann torkelnd rumschreit, dass der Mond nicht echt ist. Und mit den Nachbarn bei Mom in Boston bin ich nicht befreundet. Nicht dass du und ich Freunde wären. Ich meine, ich kenne dich ja gar nicht. Wir sind uns völlig fremd. Auch wenn ich miterlebt habe, wie du einen Korb kassiert hast – was ziemlich erschütternd für uns beide war, und diese Art von Demütigung führt zu einer erzwungenen Form von Intimität, die niemand jemals erleben sollte …« Sie unterbricht sich. »Weißt du was? Ich gehe jetzt. Grandma und ich fahren in die Stadt. Tschüss, Tate.«
Meine Lippen zucken, da es mir sehr schwerfällt, nicht zu grinsen. »Uh-huh. Cool. Bis dann, Nachbarin.«
Sie schnaubt, und während ich zusehe, wie sie davonmarschiert, spüre ich mein breites Grinsen. Ich senke den Blick, um ihr kurz auf den Hintern zu gucken. Verdammt, einen großartigen Vorbau und einen sexy Hintern. Allerdings ist sie eher klein. Normalerweise ziehen mich eher große Frauen an. Bei einem Meter sechsundachtzig will ich mir nicht den Nacken verrenken müssen, um jemanden zu küssen. Cassie ist höchstens eins sechzig, aber irgendwas an ihren Schultern und der Art, wie sie geht, verleihen ihr Größe. Und sie ist lustig. Ein wenig seltsam vielleicht. Aber lustig. Ich hatte mich sowieso auf die nächsten acht Wochen bei den Jacksons gefreut, aber Cassie den ganzen Sommer über nebenan zu haben ist das Sahnehäubchen auf dem ohnehin schon leckeren Kuchen.
Der weiße Range Rover fährt mit Mrs Tanner am Steuer auf das Ende der runden Einfahrt zu. Ich sehe noch zu, wie er verschwindet, und gehe dann ins Haus. Da die Gebäude an diesem Stück der Küste auf einem Abhang stehen, ist nicht viel Platz zwischen den einzelnen Häusern, jedenfalls nicht auf der Straßenseite. Das bedeutet, dass man seine Nachbarn häufig sieht. Aber die hohe westliche Lage bietet außerdem eine spektakuläre Aussicht auf Avalon Bay und unvergleichliche Sonnenuntergänge.
Das Haus der Jacksons hat beim letzten Sturm einiges abbekommen, doch Gil hat sofort ein Bauunternehmen für die Reparaturen beauftragt und einen Landschaftsgärtner, der die umgestürzten Bäume und die Trümmer beseitigt hat. Jetzt stehen hier nur noch die moosbedeckten Eichen und andere ausgewachsene Bäume, die schon seit Jahrzehnten standhalten. Das Grundstück hat eine Menge Charme. Das haut mich jedes Mal um, wenn ich hier bin.
Ich gehe zwischen den eleganten weißen Säulen hindurch auf die überdachte Veranda und schließe die Eingangstür auf. Drinnen sehe ich mir das makellose Erdgeschoss lange genau an. Es macht mich immer paranoid, in diesem Haus zu wohnen, da ich ständig Angst habe, irgendetwas Unbezahlbares zu zerdeppern oder Bier auf die teuren Teppiche zu schütten. In der Küche gehe ich auf die längste Kücheninsel zu, die ich je gesehen habe. Mit den Fingerspitzen streiche ich über die glatte Eichenplatte, die marineblau gestrichen ist. Die Haushälterin Mary war gestern hier, also ist alles sauber und staubfrei. Der Geruch nach Zitrone und Kiefer vermischt sich mit der salzigen Luft, die durch die Hintertüren hereinweht. Als ich hereingekommen bin, habe ich zuallererst die drei Balkontüren geöffnet, die die ganze Rückwand des Wohnzimmers einnehmen. Meine Laune ist immer gleich tausendmal besser, wenn ich das Meer riechen kann.
Mein Handy vibriert, also fische ich es aus meiner Tasche und sehe eine Nachricht von meiner Mutter.
Mom: Schon eingerichtet?
Schnell tippe ich eine Antwort.
Ich: Yep. Ausgepackt und bereit für zwei Monate Freiheit. Ihr habt mich schon ganz schön eingeengt.
Mom: Ja, ich bin sicher, die ganze Hausmannskost war eine Qual.
Ich: Mist. Na gut. Die werde ich vermissen. Aber Gil hat seiner privaten Flotte eine Fountain Lightning hinzugefügt, die könnte das ganze fettige Essen ausgleichen, das ich bestellen werde.
Mom: Ich werde dir ein paar tiefgefrorene Lasagnen vorbeibringen. Eine Fettleber ist nicht zum Spaßen.
Ich: Wie geht’s meinen Kindern? Vermissen sie mich schon?
Mom: Na ja … Fudge hat gerade vier Stunden geschlafen, und Polly hat eben einen Käfer gegessen. Also würde ich sagen … nein?
Ich: Ach was, das klingt nach einem Bewältigungsmechanismus. Du solltest sie in deinem Bett schlafen lassen, solange ich weg bin, damit sie sich nicht einsam fühlen.
Mom: Sicher nicht!
Ich grinse das Handy an. Meine Eltern sind Sadisten, die unseren Hunden verbieten, in ihrem Bett zu schlafen. Das werde ich niemals verstehen.
Ich: Na jedenfalls, ich muss los. Ich schreibe dir morgen.
Mom: Hab dich lieb.
Ich: Ich dich auch.
Es ist mir egal, ob es mich zum größten Loser auf diesem Planeten macht, aber manchmal glaube ich, meine Mom ist meine beste Freundin. Ungelogen, sie ist die coolste Person, die ich kenne. Und ich erzähle ihr so gut wie alles. Ich meine, klar, mein Sexleben behalte ich für mich, aber es gibt nur wenig anderes, was ich Mom nicht anvertraue. Dad auch. Tatsächlich könnte er ebenfalls mein bester Freund sein.
Mein Gott, vielleicht bin ich ein verdammter Loser.
Ich lege mein Handy auf den Tresen und schlendere zu den Balkontüren, um hinauszublicken. Hinter der steinernen Essterrasse, dem Grill und dem Außenkamin führt eine kurze Holztreppe zur oberen Terrasse. Und dahinter führt ein Weg zur unteren Terrasse, wo die Jacksons ihren privaten Anlegeplatz haben, der mit einem elektrischen Bootslift und einem überdachten Molenkopf ausgestattet ist. Ich konzentriere den Blick auf das Ende des Stegs und bewundere die beiden Boote, die momentan dort vertäut sind. Gils geschätzte Hallberg-Rassy, die Surely Perfect, liegt in der Marina des Jachtclubs, aber sein Hochleistungsmotorboot und sein Boston Whaler Sport Fisherman bleiben während der Saison beim Haus.
Ein Schauer fährt mir über den Rücken, während ich das rot-weiße Motorboot angaffe. Die Lightning. Herrgott, ich würde töten, um einmal mit ihr zu fahren, aber sie ist lächerlich teuer, und ich würde Gil nicht mal im Traum fragen, ob ich sie fahren darf.
Ich beneide diesen Mann wirklich um sein Leben. Gil ist ein millionenschwerer Immobilienunternehmer, der mehrere Immobilien rund um den Globus und so ziemlich eine ganze Bootsflotte besitzt. Er und Shirley verbringen die nächsten zwei Monate in Neuseeland, wo sie ein weiteres Haus in ihr Portfolio aufnehmen wollen. Und, wie ich Gil kenne, ein weiteres Segelboot. Die glücklichen Penner. Ihr Leben klingt für mich wie der reinste Himmel – um die Welt segeln, neue Orte erkunden …
Vor allem der Teil mit dem Segeln bringt mein Blut so richtig in Wallung. Seit Jahren sehne ich mich danach, Vollzeit auf dem Wasser zu sein, aber das ist einfach nicht machbar, nicht wenn ich auch noch die Stunden bei Bartlett Marine, dem Familienunternehmen, ableisten muss. Versteht mich nicht falsch, es ist kein schlechter Job. Und es ist immer wieder erstaunlich, wie viel Geld die Leute bereit sind, für ihre Boote auszugeben. Aber trotzdem würde ich lieber auf einem Boot sein, als die Schlüssel einem anderen zu überlassen.
Da ich den Tag frei habe – und Gils Erlaubnis, den Whaler und den Sea-Doos-Jet zu benutzen –, hole ich mir mein Handy vom Küchentisch. Das Wetter ist perfekt für einen Tag auf dem Wasser, und ich scrolle durch meine Nachrichten, um zu entscheiden, welchem meiner Jungs ich schreiben soll.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Danny, ein Kollege aus dem Club, heute arbeitet.
Luke sollte zwar zu Hause sein, aber ich habe da so ein Gefühl, dass er von der Party gestern noch zu verkatert ist. Als ich gegen zwei Uhr nachts abgehauen bin, hat er noch Tequila-Shots mit unseren Freundinnen Steph und Heidi gekippt.
Normalerweise würde ich unseren Kumpel Wyatt fragen, der Tätowierer hier im Ort, aber momentan ist es etwas angespannt zwischen uns. Ist allerdings nicht meine Schuld. Ich habe nur mein Ding gemacht, ab und zu mit Alana abgehangen, als Wyatt plötzlich mit seiner langjährigen Freundin Schluss gemacht und entschieden hat, dass er auch auf Alana steht. Und bevor ich mich’s versah, war ich mitten in einer Dreieckssache, von der ich nie Teil sein wollte, und das auch noch wegen einer Frau, die keinen von uns beiden will.
Also schreibe ich zuerst Luke, der geradeheraus antwortet.
Luke: Bro, ich hab einen Mordskater. Wenn ich jetzt aufs Meer rausfahre, kotze ich dir ins Gesicht.
Als Nächstes schreibe ich Evan Hartley, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass er gestern gesagt hat, er wäre mit seinem Bruder Cooper heute bei einer ihrer Baustellen. Ich schreibe ihm trotzdem, da er der Zwilling ist, der sich eher vor seinen Verpflichtungen drückt, um mit mir auf einem Boot was zu trinken.
Evan: Geht nicht. Wir hängen bei diesem blöden Auftrag total hinterher.
Verdammt. Dann bin ich heute wohl auf mich allein gestellt.
Evan: Aber wir zischen nachher noch ein paar Bierchen mit Danny. Rip Tide. Gegen 7. Bist du dabei?
Darauf tippe ich schnell eine Antwort.
Ich: Bin dabei. Bis dann.
»Glaubst du, das würde einer Sechsjährigen gefallen?« Ich halte ein rotes T-Shirt hoch, auf dessen Mitte das Bild eines Einhorns auf einem Surfbrett prangt. »Auf was stehen Kinder heute so? Ich habe keine Ahnung, was für ihr Alter angebracht ist.«
Meine Großmutter lacht amüsiert. »Und ich schon? Ich bin gerade vierundsiebzig geworden, Liebes. Als ich sechs war, liefen hier noch Dinosaurier herum.«
Ich schnaube. »Vierundsiebzig ist nicht alt. Und du siehst sowieso jünger aus.«
Ich lege das Shirt zurück, denn ich habe das Gefühl, die Farben sind zu schrill. Als ich die Mädchen zu Ostern gesehen habe, waren sie beide in Pastelltöne gekleidet. Hmmm. Das könnte allerdings auch an Ostern gelegen haben. Ich weiß, dass meine Stiefmutter Nia die beiden für Feiertage gern herausputzt. Bei meinem Besuch letztes Weihnachten haben die Mädchen die gleichen roten Kleidchen getragen und dazu niedliche Haarreifen aus Mistelzweigen.
Uff. Das ist einfach viel zu schwierig, aber es zeigt auch, wie wenig ich meine Halbschwestern eigentlich kenne. Allerdings ist das nicht verwunderlich, da ihre Mutter stets sichergeht, dass ich möglichst wenig Zeit mit ihnen verbringe. Himmel, ich wette, wenn es nach ihr ginge, wäre ich nicht mal Teil der Geburtstagsfeierlichkeiten nächsten Monat. Arme Nia. Insgeheim war sie wahrscheinlich fuchsteufelswild, dass ihre Zwillinge an meinem Geburtstag zur Welt gekommen waren. Und, Gott, welch Ironie … Dads neue Töchter wurden am gleichen Tag geboren wie seine alte, womit sie mich praktisch aus seinem Leben löschen und …
Silberstreifen!, ruft die Stimme in meinem Kopf, bevor ich noch tiefer versinke.
Richtig. Ich atme gleichmäßig ein und aus. Das Positive an dem gemeinsamen Geburtstag mit meinen Schwestern ist … es gibt nur eine Party anstelle von zwei. Eine Zusammenlegung ist immer etwas Gutes.
»Ich weiß nicht.« Mein Blick schweift ein weiteres Mal über die Auslage mit den Kinderkleidern. »Vielleicht sollten wir besser zu dem Geschäft mit den Gesellschaftsspielen gehen? Das neben dem Smoothie-Laden?« Die Suche nach einem Geschenk ist überraschend entmutigend geworden.
Grandma und ich verlassen das Geschäft und treten hinaus in die drückende Julihitze. Ich habe ganz vergessen, wie heiß es hier im Sommer wird. Und in was für ein Irrenhaus sich die Haupteinkaufsstraße verwandelt. Allerdings machen mir weder die drückende Luft noch die Menschenmenge etwas aus. Avalon Bay ist nicht nur der Inbegriff einer Küstenstadt mit ihrer Promenade, den Touristenshops und dem jährlichen Jahrmarkt – es ist auch meine Heimat. Hier wurde ich geboren. All meine Kindheitserinnerungen sind an diese Stadt gebunden. Selbst wenn ich für fünfzig Jahre fortginge, würde das Gefühl der Vertrautheit, der Zugehörigkeit bei meiner Rückkehr immer noch da sein.
»Wann triffst du deinen Vater?«, fragt Grandma, während wir über den Gehweg schlendern. Die Luft ist so heiß und schwül, dass der Asphalt unter unseren Füßen praktisch vor Hitze zischt.
»Am Freitag«, antworte ich. »Ich bin zum Abendessen dort. Und am Samstagabend gehen wir wahrscheinlich mit den Mädchen irgendwohin. Vielleicht zum Minigolf.«
»Das klingt nach Spaß. Dieses Wochenende hatte er keine Zeit?«
Obwohl keine Wertung in ihrer Stimme mitklingt, komme ich nicht dagegen an, Dad zu verteidigen. »Die Mädchen mussten zu allen möglichen Geburtstagspartys. Ihr ganzer Freundeskreis besteht wohl aus Julikindern.«
Und er konnte sich keine Stunde Zeit nehmen, um mit dir zu Mittag zu essen?
Zu Abend?
Haben die Mädchen keine Mutter, die mal auf sie aufpassen kann?
Gehen sie nicht um acht Uhr schlafen?
Das wären alles berechtigte Fragen, aber Grandma hat Taktgefühl und weiß, dass meine Beziehung zu Dad kompliziert ist.
Ganz ehrlich, ich bin es gewohnt, nur nebensächlich für ihn zu sein. Seit Jahren gibt er sich alle Mühe dabei, möglichst nicht allein mit mir zu sein. Er greift nach jeder Gelegenheit, Nia und die Zwillinge als Puffer dabeizuhaben. Sicherlich weiß er, dass mir das auffällt, aber er spricht es nicht an, genauso wenig wie ich. Und so wächst er stetig an, dieser Berg aus Worten, die ich ihm nicht sagen kann. Er hat als kleiner Worthügel angefangen und ist nun ein Gipfel unausgesprochenen Ausmaßes. Mit Emotionen belegt und von Hindernissen gespickt. Kleinen Anschuldigungen, die ich niemals laut aussprechen werde.
Warum hast du nicht um das Sorgerecht gekämpft?
Warum wolltest du mich nicht?
»Freust du dich, deine Schwestern wiederzusehen?«
Ich schiebe die trüben Gedanken beiseite und setze für Grandma ein strahlendes Lächeln auf. »Ich freue mich immer auf die Zwillinge. Sie sind so süß.«
»Sprechen sie immer noch fließend Französisch?«, fragt sie neugierig.
»Yep. Französisch und Englisch.« Meine Stiefmutter ist Haitianerin, und ihre Muttersprache ist Französisch. Sie hat darauf bestanden, dass auch ihre Töchter mit dieser Sprache aufwachsen. Es ist immer lustig, wenn Roxanne und Monique sich auf Französisch unterhalten. Manchmal spricht Roxy Französisch, und Mo antwortet auf Englisch, manchmal umgekehrt, und das ergibt dann besonders lustige einseitige Gespräche. Ich habe meine Schwestern wirklich sehr lieb und wünschte, ich könnte mehr Zeit mit ihnen verbringen.
Grandma geht jetzt etwas langsamer, also passe ich mich ihrem Tempo an. »Alles okay?«, frage ich.
Wir shoppen nun schon seit zwei Stunden. Wir haben schon längere Einkaufstouren hinter uns gebracht, aber heute sind es achtunddreißig Grad, und sie ist von Kopf bis Fuß in Seide gekleidet. Ein Wunder, dass ihr die Kleider noch nicht am Körper kleben. Ich wäre schon längst eine einzige Schweißpfütze. Doch Grandma ist stets die Kultiviertheit in Person, auch wenn sie in der Sonne schmort.
»Die Hitze macht mir zu schaffen«, gesteht sie, während sie ihren Schal abnimmt und sich dann mit einer Hand Luft zufächelt. Die Sonne brennt unaufhörlich auf uns herab. Grandma trägt einen Hut mit breiter Krempe, aber ich bin – auch nach unserem Besuch im Hutgeschäft – hutlos geblieben.
»Dann lass uns schnell noch zu dem Geschäft mit den Gesellschaftsspielen gehen und dann nach Hause«, schlage ich vor.
Sie nickt. »Das ist eine gute Idee.«
Wir nähern uns dem Smoothie-Laden, als eine Verräterin am Fenster auftaucht. Joy tippt an die Scheibe und winkt mir. Dann hält sie einen Finger hoch, um mir zu signalisieren, dass sie in einer Sekunde herauskommt.
»Oh, Joy kommt gleich raus«, sage ich meiner Großmutter.
Ich nehme ihren Arm und führe sie vom Gehweg, um eine Gruppe Passanten vorbeizulassen. Es ist ein niemals endender Strom an Menschen – Avalon Bay zur Touristenhochzeit. Familien, Paare und Gruppen ausgelassener Teenager schwärmen durch die Straßen und belagern den Strand, und da der Jahrmarkt am Ende der Promenade gerade erst aufgebaut worden ist, wird die Stadt in den nächsten Wochen noch voller sein. Ich habe diesen Ort wirklich vermisst.
Joy kommt mit einem Smoothie heraus, den sie durch einen Strohhalm schlürft. Sie trägt ein weißes Minikleid, das ihrer dunklen Haut schmeichelt, Keilsandalen und eine gigantische Sonnenbrille. Gucci, ihre Standard-Marke.
»Wie schön, dass wir uns hier treffen«, trällert sie fröhlich, ihre Augen glänzen hell. »Ich wollte dir gerade schreiben und fragen, ob du heute Abend ausgehen willst.«
Ich sehe sie gespielt wütend an. »Warum? Damit du mich wieder hängen lassen kannst?«
Sie stöhnt reumütig. »Argh, ich weiß ja, tut mir leid wegen gestern.«
»Was sollte das überhaupt? Erst willst du unbedingt, dass ich zu der Party von irgendeinem Townie gehe, und dann tauchst du nicht mal auf«, grummle ich.
»Tut mir leid«, wiederholt sie, allerdings klingt sie jetzt lockerer und ohne eine Spur von Reue. Joy war schon immer flatterhaft, und sie verschwendet nicht viel Zeit damit, zu Kreuze zu kriechen. Sobald sie sich einmal für ihre Sünde entschuldigt hat, zieht sie in Windeseile weiter. »Nachdem ich den Club verlassen habe, bin ich nach Hause, um mich für die Party umzuziehen, wie ich dir geschrieben habe. Aber als ich da angekommen bin, habe ich Isaiah vor meiner Tür angetroffen.«
Isaiah ist der Typ, mit dem sie eine On-off-Beziehung hat, seitdem wir sechzehn sind. Als ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe, hat sie allerdings geschworen, dass sie damit durch ist. Enttäuscht schnalze ich mit der Zunge. »Bitte sag mir nicht, dass du wieder mit ihm zusammen bist.«
»Nein, nein. Er hat nur einen Karton mit Sachen vorbeigebracht, die ich noch bei ihm hatte. Darin waren einige Fotos, die ich mal ausgedruckt habe, und während wir die durchgeguckt haben, führte eins zum anderen, und – halten Sie sich die Ohren zu, Mrs Tanner – wir haben gevögelt.«
Meine Großmutter lacht schallend. »Es ist auch schön, dich zu sehen, Joy.« Sie tätschelt zärtlich meinen Arm. »Cass, warum fahre ich nicht nach Hause, und Joy kann meinen Part als deine Shoppingbegleitung übernehmen?«
»Bist du sicher?« Ich kräusele die Stirn. »Schaffst du die Fahrt alleine?«
»Ich habe uns doch hergefahren«, erinnert sie mich und bedenkt mich mit dieser würdevoll hochgezogenen Augenbraue, die mir sagen soll: Stelle deine älteren Verwandten niemals infrage, Liebes.
Ich tue es trotzdem. »Ja, aber du hast auch gesagt, dass dir die Hitze zu schaffen macht. Was, wenn du einen Sonnenstich hast …«
»Mir geht’s gut. Geh schon. Habt Spaß. Klingt, als hättet ihr einiges zu bereden.« Mit funkelnden Augen lässt Grandma uns zurück.
Ich sehe ihr nach, und ihre entschlossenen Schritte und die geraden Schultern beruhigen mich. Manchmal ist es schwer, sich daran zu erinnern, dass sie hart im Nehmen ist, wenn es so aussieht, als könnte schon ein kräftiger Luftzug sie umwehen.
»Also, was kaufen wir?«, fragt Joy.