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Sie will ihn hinter sich lassen. Doch er reißt jede Mauer um ihr Herz ein ...
Als Genevieve West für die Beerdigung ihrer Mutter nach Avalon Bay zurückkommt, hat sie nur ein Ziel: sich von ihrem Ex-Freund Evan Hartley fernzuhalten. Der Bad Boy ist immer noch so sexy und unwiderstehlich wie früher, aber Gen hat mit ihrem alten Leben abgeschlossen. Keine wilden Partys, keine unverantwortlichen Fehler mehr. Sie wird ihren Vater in seinem Geschäft unterstützen, bis dieser einen Ersatz gefunden hat, und dann ihrer Heimatstadt den Rücken kehren. Doch Evan hat da andere Pläne: Er ist fest entschlossen, für das einzige Mädchen zu kämpfen, das er je geliebt hat.
»Eine süße und gleichzeitig sexy Story mit vielen Gefühlen, die sich ins Herz schleicht.« VI KEELAND, SPIEGEL-Bestseller-Autorin
Band 2 der AVALON-BAY-Reihe von Bestseller-Autorin Elle Kennedy
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Seitenzahl: 475
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Elle Kennedy bei LYX
Impressum
Elle Kennedy
Ever Since I Needed You
Roman
Ins Deutsche übertragen von Silvia Gleißner
Seit der Highschool sind Genevieve West und Evan Hartley ein Paar. Sie streiten sich, sie versöhnen sich, und doch wissen sie, dass sie zusammengehören. Ihre Chemie ist magisch, ihre Anziehung unwiderstehlich, aber sie bringen sich immer wieder in Schwierigkeiten und tun sich gegenseitig nicht gut. Auf dem Tiefpunkt beschließt Gen, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie bricht den Kontakt zu Evan und ihrer Vergangenheit ab und beginnt ein neues Leben in Charleston. Aber als nur ein Jahr später ihre Mutter stirbt, kehrt sie für die Beerdigung nach Avalon Bay zurück und steht dort Evan wieder gegenüber. Obwohl die Anziehungskraft nach wie vor da ist, will Gen die Fehler ihrer Jugend nicht wiederholen: keine wilden Partys mehr, keine falschen Entscheidungen. Sie wird nur in der Stadt bleiben, um ihrem Vater im Geschäft auszuhelfen, bis dieser einen Ersatz gefunden hat, und dann ihrer Heimat den Rücken kehren. Doch da hat Gen die Rechnung ohne Evan gemacht. Er weiß, dass sie füreinander bestimmt sind, und kämpft mit allem, was er hat, um das Mädchen, das er schon immer geliebt hat und immer lieben wird.
Dieses Buch enthält Elemente, die triggern können. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Jeder, der auch nur weitläufig mit mir verwandt ist, befindet sich gerade in diesem Haus. Sie alle drängen sich in Schwarz gekleidet um Käseplatten und Auflaufgerichte, vertieft in unbehagliche Unterhaltungen. An der Wand hängen Babyfotos von mir. Hin und wieder klopft jemand mit einer Gabel an eine Flasche Guinness oder ein Glas Jameson, um einen Toast auszusprechen und eine unangebrachte Anekdote zu erzählen, wie Mom am Unabhängigkeitstag einmal oben ohne auf einem Jetski quer durch die Bootsparade gefahren ist. Während mein Dad unbehaglich dreinblickt und aus dem Fenster starrt, sitze ich bei meinen Brüdern und tue so, als wären wir vertraut mit diesen alten Geschichten über unsere Mutter, die lebenslustige Laurie Christine West, die das Leben in vollen Zügen genossen hat … obwohl wir sie in Wahrheit überhaupt nie wirklich gekannt haben.
»Wir sind also auf dem Weg nach Florida und sitzen mit unseren Joints hinten in einem alten Eiswagen«, fängt Cary an, ein Cousin meiner Mom. »Und irgendwo südlich von Savannah hören wir plötzlich dieses Geräusch von hinten, so was wie ein Rascheln …«
Ich umklammere meine Wasserflasche und habe Angst vor dem Moment, da ich nichts mehr in meinen Händen halte. Ich habe mir echt einen verdammt guten Zeitpunkt ausgesucht, um vom Alkohol loszukommen. Alle, denen ich begegne, wollen mir einen Drink in die Hand drücken, weil sie nicht wissen, was sie sonst zu dem armen, mutterlosen Mädchen sagen sollen.
Ich habe darüber nachgedacht, mich mit einer Flasche Hochprozentigem hinauf in mein altes Zimmer zu schleichen und sie zu leeren, bis dieser Tag vorbei ist. Allerdings bereue ich noch immer das letzte Mal, als ich mir einen Fehltritt erlaubt habe.
Aber es würde die ganze Tortur auf jeden Fall ein klein wenig erträglicher machen.
Großtante Milly kreist die ganze Zeit durchs Haus wie ein Goldfisch im Glas. Jedes Mal, wenn sie an mir vorbeikommt, bleibt sie kurz vor dem Sofa stehen, um mir den Arm zu tätscheln, schwach mein Handgelenk zu drücken und mir zu sagen, dass ich genauso aussähe wie meine Mutter.
Na toll.
»Jemand muss sie stoppen«, flüstert mein jüngerer Bruder Billy neben mir. »Sonst klappt sie noch zusammen mit ihren dünnen Knöcheln.«
Sie ist wirklich lieb, aber so langsam jagt sie mir Angst ein. Wenn sie mich jetzt noch mit dem Namen meiner Mutter anspricht, könnte es sein, dass ich durchdrehe.
»Ich sage Louis also, er soll das Radio leiser machen«, erzählt Cousin Cary weiter und steigert sich langsam in seine Geschichte hinein. »Weil ich herausfinden will, wo das Geräusch genau herkommt. Ich dachte mir, vielleicht schleifen wir irgendwas hinter uns her.«
Mom war schon monatelang krank, als bei ihr Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert wurde. Laut Dad hatte sie mit chronischen Schmerzen in Rücken und Bauch zu kämpfen, die sie aber ignoriert hat, weil sie sie für die Zipperlein des Älterwerdens hielt – und dann, einen Monat später, war sie tot. Aber für mich hat das alles erst vor einer Woche angefangen. Ein Anruf am Nachmittag von meinem Bruder Jay, der mich drängte, nach Hause zu kommen, gefolgt von einem weiteren Anruf von meinem Dad, der mir sagte, dass Mom nicht mehr lange bei uns sein würde.
Sie haben mich alle im Dunkeln gelassen, weil meine Mom nicht wollte, dass ich es erfahre.
Wie verkorkst ist das denn?
»Ich meine, dieses Klopfen war über Meilen zu hören. Und wir sind alle schon ziemlich bekifft, okay? Muss man dazu wissen. Wir waren vorher diesem alten Hippiefreak begegnet, in Myrtle Beach, und der hat uns Gras besorgt …«
Jemand hüstelt und murmelt etwas vor sich hin.
»Wir wollen die anderen nicht mit den Details langweilen«, meint Cousin Eddie, und die Cousins wechseln wissende Blicke und ein verschwörerisches Grinsen.
»Auf jeden Fall …«, fängt Cary wieder an und bringt die anderen zum Schweigen. »Wir hören also dieses Geräusch, was immer es ist. Tony fährt, und eure Mom«, er deutet mit seinem Glas zu uns Kindern, »steht vor der Kühlkammer mit einer Bong über dem Kopf, als wollte sie damit einen Waschbären totprügeln oder so.«
Mein Kopf ist weit, weit weg von dieser lächerlichen Anekdote, ein einziges Durcheinander aus Gedanken, die um meine Mutter kreisen. Sie hat wochenlang im Bett gelegen und sich auf den Tod vorbereitet. Ihr letzter Wunsch war, dass ihre einzige Tochter so spät wie nur möglich erfahren sollte, dass sie krank war. Nicht einmal meine Brüder durften während dieser qualvollen Zeit, bevor ihre letzten Tage anbrachen, an ihrem Bett sitzen. Mom zog es wie immer vor, in Stille zu leiden und ihre Kinder dabei auf Distanz zu halten. Oberflächlich mag es so aussehen, als hätte sie das zum Wohl ihrer Kinder getan, aber ich vermute, sie hat es um ihrer selbst willen getan – sie wollte all diese emotionalen, intimen Momente vermeiden, die ihr nahender Tod zweifellos mit sich gebracht hätte. Auch zu ihren Lebzeiten hatte sie diese Momente immer vermieden.
Am Ende war sie erleichtert, dass sie eine Ausrede hatte, sich nicht wie unsere Mutter verhalten zu müssen.
»Keiner von uns will die Kühlkammer aufmachen, und irgendwer ruft Tony zu, er soll rechts ranfahren, aber der flippt aus, weil er ein paar Autos hinter uns einen Cop sieht, und dann wird ihm klar, dass wir ja gerade verbotene Ware über die Staatengrenze transportieren, also …«
Aber ich kann ihr verzeihen. Sie war sie selbst, bis zum letzten Atemzug. Sie hat nie so getan, als wäre sie etwas anderes. Seit unserer Kindheit war uns klar, dass sie nicht besonders an uns interessiert war, also haben wir nie viel von ihr erwartet. Aber mein Dad und meine Brüder – die hätten mir von ihrer Krankheit erzählen sollen. Wie verheimlicht man so was vor seiner Tochter, seiner Schwester? Auch wenn ich einhundert Meilen entfernt gewohnt habe. Sie hätten es mir sagen müssen, verdammt! Vielleicht gab es ja Dinge, die ich ihr noch sagen wollte. Wenn ich Zeit gehabt hätte, mehr darüber nachzudenken.
»Am Ende sagt Laurie zu mir: ›Du öffnest die Klappe, wir ziehen ganz schnell die Seitentür auf, und Tony fährt langsam genug, dass wir was immer da ist auf die Straße hinausschubsen können.‹«
Unter den Gästen bricht Gekicher aus.
»Also, wir zählen bis drei, ich mache die Augen zu, öffne dann die Klappe und rechne mit Fell und Krallen, die mir ins Gesicht springen. Stattdessen sehen wir, dass da drin ein Typ schläft. Der hat sich wer weiß wann da reingeschlichen, vielleicht irgendwo in Myrtle Beach. Hat sich einfach da eingerollt und ein Nickerchen gemacht.«
So hatte ich mir meine Rückkehr nach Avalon Bay nicht vorgestellt. Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, ist voll mit Trauernden. Blumengestecke und Beileidskarten auf allen Tischen. Wir sind vor Stunden vom Begräbnis nach Hause gekommen, aber ich nehme an, all das wird uns noch weiter verfolgen. Tagelang. Wochenlang. Woher soll man wissen, wann es akzeptabel ist, zu sagen: Okay, genug, lebt euer Leben weiter und lasst mich meins weiterleben? Wie entsorgt man überhaupt ein Blumenherz, das einen Meter groß ist?
Während Carys Geschichte zu Ende geht, tippt mein Dad mir auf die Schulter und nickt in Richtung Hausflur, weil er mich beiseitenehmen möchte. Er trägt einen Anzug, zum vielleicht dritten Mal in seinem Leben, und ich kann mich nicht an den Anblick gewöhnen. Noch so etwas, das nicht in Ordnung ist. Ich komme nach Hause, an einen Ort, den ich kaum wiedererkenne, als würde ich in einer alternativen Realität aufwachen, wo alles irgendwie vertraut ist und zugleich eben nicht. Nur ein wenig versetzt. Ich schätze, ich habe mich auch verändert.
»Ich wollte dich eine Minute für mich haben«, sagt er, während wir uns von den Trauerfeierlichkeiten davonschleichen. Er kann die Hände nicht von seiner Krawatte lassen oder aufhören, an seinem Hemdkragen herumzuzupfen. Erst lockert er ihn, doch dann scheint er sich selbst zu ermahnen, ihn wieder zu richten und zuzuknöpfen, als würde er sich schuldig fühlen. »Sieh mal, ich weiß, dass es keinen guten Zeitpunkt gibt, um davon anzufangen, also frage ich einfach.«
»Was ist los?«
»Na ja, ich wollte hören, ob du vielleicht vorhast, eine Weile hierzubleiben.«
Mist.
»Ich weiß nicht, Dad. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.« Ich hatte nicht erwartet, so schnell Rede und Antwort stehen zu müssen. Ich dachte, ich hätte etwas Zeit, vielleicht ein paar Tage, um zu sehen, wie es läuft, und könnte dann entscheiden. Ich hatte gute Gründe, als ich Avalon Bay vor einem Jahr verließ, und unter anderen Umständen wäre ich auch lieber fortgeblieben. Ich habe ein Leben in Charleston. Einen Job, eine Wohnung. Und Online-Bestellungen, die sich vor meiner Tür stapeln.
»Weißt du, ich hatte gehofft, du könntest im Geschäft helfen. Deine Mom hat den ganzen Bürokram gemacht, und da herrscht ein ziemliches Chaos, seit …« Er verstummt. Keiner von uns weiß, wie wir darüber reden sollen – über sie. Es fühlt sich falsch an, egal, auf welche Art wir es versuchen. Also schweigen wir und nicken einander zu, um zu sagen: Ja, ich weiß es auch nicht, aber ich verstehe es. »Ich dachte, falls du es nicht zu eilig hast, dass es dir vielleicht nichts ausmacht, einzuspringen und Ordnung in das Ganze zu bringen.«
Ich hatte erwartet, dass er eine Weile deprimiert sein und etwas Zeit brauchen würde, um mit allem klarzukommen und es zu verarbeiten. Vielleicht dass er abhaut und angeln geht oder so. Aber das hier ist … ganz schön viel verlangt.
»Was ist mit Kellan oder Shane? Die müssen doch beide mehr Ahnung davon haben, den Laden zu schmeißen, als ich. Die wollen doch sicher nicht, dass ich da ankomme und mich einmische.«
Meine beiden älteren Brüder arbeiten seit Jahren für Dad. Zusätzlich zu einem kleinen Baumarkt hat er einen Steinhandel, der auf Landschaftsgärtner und Leute ausgerichtet ist, die ihr Zuhause renovieren wollen. Seit ich ein Kind war, hat meine Mom sich um den ganzen Bürokram gekümmert – Aufträge, Rechnungen, Gehaltsabrechnungen –, damit Dad sich mit der schmutzigen Arbeit draußen befassen konnte.
»Kellan ist der beste Vorarbeiter, den ich habe, und bei all den Wiederaufbauarbeiten nach dem Hurrikan entlang der Südküste kann ich es mir nicht leisten, ihn von den Baustellen abzuziehen. Und Shane ist das ganze letzte Jahr mit abgelaufenem Führerschein gefahren, weil der Junge nie seine verdammten Mails liest. Wenn ich den auch nur in die Nähe der Bücher lasse, bin ich in einem Monat bankrott.«
Da hat er nicht unrecht. Ich meine, ich liebe meine Brüder, aber das einzige Mal, als unsere Eltern Shane zum Babysitter für uns bestimmten, ließ er Jay und Billy mit einer Schachtel Feuerwerkskörper aufs Dach steigen. Nachdem die Jungs die Böller mit einer Schleuder auf die Teenagersöhne der Nachbarn in deren Pool geschossen haben, tauchte die Feuerwehr auf. Mit zwei jüngeren und drei älteren Brüdern aufzuwachsen war unterhaltsam, um es mal vorsichtig auszudrücken.
Trotzdem will ich mich nicht dazu breitschlagen lassen, Mom dauerhaft zu ersetzen.
Ich kaue an meiner Unterlippe. »An wie lange denkst du da?«
»Einen Monat, vielleicht zwei?«
Verdammt.
Ich denke einen Moment lang darüber nach und seufze dann. »Unter einer Bedingung«, sage ich. »Du musst dich nach einer neuen Bürokraft umsehen, die in den nächsten Wochen hier anfängt. Ich bleibe, bis du jemand Passendes gefunden hast, aber das wird keine Langzeitlösung. Deal?«
Dad legt einen Arm um meine Schulter und gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Danke, Kleines. Damit hilfst du mir echt aus der Klemme.«
Bei ihm kann ich nie Nein sagen, selbst wenn ich weiß, dass ich über den Tisch gezogen werde. Ronan West mag ja als harter Kerl rüberkommen, aber er war mir immer ein guter Vater. Er ließ uns Kindern genug Freiheit, um in Schwierigkeiten zu geraten, aber er war immer da, um uns rauszuhauen. Selbst wenn er sauer auf uns war, wussten wir, dass wir ihm wichtig waren.
»Hol doch mal deine Brüder, ja? Wir müssen über ein paar Dinge reden.«
Er schickt mich los mit einem Tätscheln auf den Rücken – und einer Vorahnung. Die Erfahrung der Vergangenheit hat mich gelehrt, dass Besprechungen in der Familie selten positiv verlaufen. Sie bringen meist nur mehr Unruhe. Was erschreckend ist, denn bestand die große Bitte denn nicht schon darin, dass ich mein Leben auf den Kopf stelle, um vorübergehend wieder nach Hause zu ziehen? In meinem Kopf gehe ich schon alle möglichen Themen durch, wie Miete pausieren oder einen Untermieter finden, meinen Job kündigen oder um ein Sabbatical bitten, und mein Dad hat noch mehr auf dem Zettel?
»Hey, Mistbiene.« Jay, der auf der Armlehne des Sofas im Wohnzimmer sitzt, kickt mir gegen mein Schienbein, als ich näher komme. »Hol mir noch ein Bier.«
»Hol es dir selber, Dumpfbacke.«
Er hat schon Jackett und Krawatte ausgezogen, das weiße Anzughemd oben aufgeknöpft und die Ärmel hochgekrempelt. Die anderen sind nicht viel besser, sondern haben sich mehr oder weniger ihres Anzugs entledigt, seit sie vom Friedhof zurück sind.
»Habt ihr Miss Grace gesehen? Von der Highschool?« Billy, der immer noch nicht alt genug ist, um Alkohol zu trinken, bietet mir eine Flasche an, aber ich winke ab. Dafür nimmt Jay sie. »Sie ist vor einer Minute hier aufgetaucht, mit Corey Doucette, der ihren doofen kleinen Handtaschenhund trägt.«
»Schnurrbart Doucette?« Ich grinse, als ich mich an ihn erinnere. Im ersten Highschool-Jahr hatte sich Corey diese gruselige Serienkiller-Rotzbremse auf der Oberlippe wachsen lassen und sich einfach geweigert, das Ding abzurasieren, bis es so weit eskalierte, dass man ihm mit Suspendierung drohte, wenn er den Schnurrbart nicht wegmachte. Er jagte den Lehrern Angst ein damit. »Miss Grace muss doch an die siebzig sein, oder?«
»Ich glaube, sie war schon siebzig, als ich sie in der neunten Klasse hatte«, meint Shane und schaudert.
»Also, was machen sie miteinander? Vögeln?« Craig verzieht entsetzt das Gesicht. Seine Klasse war die letzte, die sie vor ihrem Ruhestand noch unterrichtet hat. Mein jüngster Bruder ist jetzt Highschool-Absolvent. »Das ist so abartig.«
»Kommt mit«, sage ich zu ihnen. »Dad will mit uns reden.«
Als wir alle versammelt sind, fängt Dad wieder an, an seiner Krawatte und seinem Hemdkragen herumzufummeln, bis Jay ihm die Flasche gibt und er erleichtert einen Schluck trinkt. »Also, ich sage es jetzt einfach: Ich werde das Haus verkaufen.«
»Was?« Kellan, der Älteste, spricht für uns alle, als er mit seinem Ausbruch Dads Ankündigung unterbricht. »Wo kommt das denn her?«
»Jetzt wohnen nur noch Craig und ich hier«, sagt Dad, »und da er in ein paar Monaten aufs College geht, ergibt es nicht viel Sinn, an diesem großen leeren Haus festzuhalten. Es ist Zeit für etwas Kleineres.«
»Dad, komm schon«, wirft Billy ein »Wo soll Shane denn schlafen, wenn er mal wieder vergisst, wo er wohnt?«
»Nur ein einziges Mal«, knurrt Shane und boxt ihn in den Arm.
»Ja von wegen, nur ein Mal«, meint Billy und schubst ihn. »Wie war das, als du am Strand geschlafen hast, weil du dein Auto nicht finden konntest, das keine fünfzig Meter weiter geparkt war?«
»Wollt ihr wohl damit aufhören? Ihr benehmt euch wie ein Haufen Idioten. Da draußen sind immer noch Leute, die eure Mutter betrauern.«
Das bringt alle auf der Stelle zum Schweigen. Wir hatten es vergessen, nur eine Minute oder zwei. Genau das passiert immer wieder. Wir vergessen es, und dann rammt uns der Laster, und wir sind mit einem Schlag zurück in der Gegenwart, in dieser seltsamen Realität, die sich nicht richtig anfühlt.
»Wie gesagt, das Haus ist zu groß für eine Person. Ich habe mich entschieden.« Dads Tonfall ist entschlossen. »Aber bevor ich es auf den Markt bringen kann, müssen wir es ein wenig herrichten. Ein bisschen aufpolieren.«
Sieht so aus, als würde sich alles viel zu schnell verändern, und ich komme da nicht mehr mit. Ich hatte kaum Zeit, zu verarbeiten, dass Mom krank war, als wir sie auch schon beerdigten, und jetzt muss ich mein ganzes Leben wieder nach Hause verlegen, nur um zu erfahren, dass es mein Zuhause auch nicht mehr lange geben wird. Ich kriege ein regelrechtes Schleudertrauma davon, aber ich stehe nur still da und sehe zu, wie sich alles um mich herum dreht.
»Es hat keinen Sinn, es auszuräumen, bevor Craig im Herbst ins Wohnheim am College einzieht«, meint Dad, »also dauert es noch ein wenig. Aber so ist der Plan, und ich dachte mir, ihr solltet es besser früher als später erfahren.«
Damit dreht er sich um und geht. Die Bombe ist geplatzt. Er lässt uns hier zurück mit dem angerichteten Schaden, alle sind zutiefst erschüttert.
»Mist«, sagte Shane, als wäre ihm gerade eingefallen, dass er seine Schlüssel bei Flut am Strand liegen gelassen hat. »Ihr wisst schon, wie viele Pornos und altes Gras in diesem Haus versteckt sind?«
»Stimmt.« Mit ernster Miene klatscht Billy in die Hände. »Also werden wir anfangen, Bodendielen herauszureißen, sobald Dad eingeschlafen ist.«
Während die Jungs debattieren, wer Anspruch auf den Stoff hat, falls sie welchen finden, versuche ich immer noch zu Atem zu kommen. Ich vermute, ich war nie gut im Umgang mit Veränderungen. Außerdem habe ich noch alle Hände voll damit zu tun, meine eigene Veränderung zu verarbeiten, seit ich die Stadt verlassen habe.
Ich unterdrücke ein Seufzen, lasse meine Brüder stehen und gehe hinaus auf den Flur – und da fällt mein Blick auf die wahrscheinlich einzige Person hier, die sich kein bisschen verändert hat.
Meinen Ex-Freund. Evan Hartley.
Der Kerl hat vielleicht Nerven, hier aufzutauchen und dabei so auszusehen. Diese eindringlichen dunklen Augen, die immer noch in den tiefsten Winkeln meiner Erinnerung lauern. Braunes, fast schwarzes Haar, das ich noch immer zwischen meinen Fingern fühlen kann. Er ist so herzzerreißend umwerfend wie die Bilder von ihm, die nach wie vor hinter meinen Lidern aufblitzen. Es ist ein Jahr her, seit ich ihn zuletzt gesehen habe, aber meine Reaktion auf ihn hat sich nicht geändert. Er betritt einen Raum, und mein Körper bemerkt ihn noch vor mir. Es ist eine Störung der Statik in der Luft, die über meine Haut tanzt.
Es ist einfach unerträglich. Und dass mein Körper die Dreistigkeit besitzt, auf ihn zu reagieren, jetzt, auf der Trauerfeier meiner Mutter, ist noch verstörender.
Evan steht neben seinem Zwillingsbruder Cooper und blickt prüfend durch den Raum, bis er mich bemerkt. Die beiden sehen identisch aus, nur dass sich ihr Haarschnitt gelegentlich unterscheidet. Aber die meisten können sie ausschließlich an ihren Tattoos auseinanderhalten. Cooper hat Full-Sleeve-Tattoos an beiden Armen, während sich die meisten von Evans Tattoos auf seinem Rücken befinden. Was mich angeht, ich erkenne Evan an den Augen. Ob der Schalk darin aufblitzt, oder Freude, Verlangen, Frust … ich weiß es immer, wenn es Evans Augen sind, die mich ansehen.
Unsere Blicke treffen sich. Er nickt. Ich nicke zurück, und mein Puls geht schneller. Keine drei Sekunden später treffen Evan und ich im Flur aufeinander, wo es keine Zeugen gibt.
Es ist seltsam, wie vertraut wir mit manchen Menschen sind, egal wie viel Zeit vergeht. Erinnerungen an uns beide streichen wie eine tröstliche Brise über meine Haut: wie ich mit ihm durch dieses Haus gehe, als wären wir wieder in der Highschool, wie ich mich zu allen möglichen Zeiten hinausgeschlichen habe, stolpernd, die Hand an der Wand, um mich aufrecht zu halten, leise lachend, um nicht das ganze Haus aufzuwecken.
»Hey«, sagt er und breitet die Arme aus, ein zögerndes Angebot, das ich annehme, weil es viel peinlicher wäre, es nicht zu tun.
Seine Umarmungen waren immer gut.
Ich zwinge mich, nicht zu lange in seinen Armen zu bleiben und bloß nicht seinen Duft einzuatmen. Sein Körper ist warm und muskulös und mir so vertraut wie mein eigener. Ich kenne jeden Zentimeter dieses großen, wundervollen Leibs.
Hastig trete ich einen Schritt zurück.
»Ja, also … ich habe davon gehört. Offensichtlich. Ich wollte mein Beileid ausdrücken.« Evan ist verlegen, fast schüchtern, die Hände in den Taschen und den Kopf gesenkt, als er mich unter dichten Wimpern ansieht. Ich kann mir vorstellen, wie viel Zuspruch es gebraucht hat, um ihn hierherzubringen.
»Danke.«
»Und, na ja, also.« Er holt einen blauen Blow-Pop-Lolli aus der Tasche. »Den hier habe ich dir mitgebracht.«
Ich habe nicht geweint, seit ich erfahren habe, dass Mom krank war. Aber als ich dieses bescheuerte Geschenk von Evan annehme, ist meine Kehle wie zugeschnürt, und meine Augen brennen.
Ich denke sofort an das erste Mal, als ein Lolli dieser Art den Besitzer gewechselt hat. Bei einer anderen Beerdigung. Ein anderes totes Elternteil. Das war, als Evans Dad Walt bei einem Autounfall starb. Er war betrunken gefahren, denn so leichtsinnig und selbstzerstörerisch war Walt Hartley eben. Zum Glück wurde niemand sonst verletzt, doch Walts Leben endete in jener Nacht auf der dunklen Straße, als er die Kontrolle über den Wagen verlor und gegen einen Baum krachte.
Damals war ich zwölf Jahre alt und hatte keine Ahnung, was man zu einer Trauerfeier mitbringt. Meine Eltern nahmen Blumen mit, aber Evan war ein Kind wie ich. Was sollte er mit Blumen anfangen? Ich wusste nur, dass mein bester Freund und der Junge, für den ich schon immer total geschwärmt hatte, schwer litt, und alles, was ich besaß, war ein armseliger Dollar. Das Beste, was ich mir leisten konnte, war ein Lolli.
Evan hatte geweint, als ich ihm den Lolli in die zitternde Hand gedrückt und mich schweigend neben ihn auf die hintere Veranda des Hauses gesetzt hatte. Er hatte geflüstert: »Danke, Gen«, und dann saßen wir über eine Stunde schweigend da und starrten auf die Wellen, die an den Strand schlugen.
»Halt die Klappe«, brumme ich vor mich hin und umklammere den Lutscher. »Du bist so doof.« Aber trotz meiner Worte wissen wir beide, dass ich tief gerührt bin.
Evan schenkt mir ein wissendes Lächeln und streicht mit einer Hand seine Krawatte glatt. Er hat sich ordentlich zurechtgemacht, aber nicht zu sehr. Irgendwie wirkt an diesem Typen selbst ein Anzug gefährlich.
»Du hast Glück, dass ich dich zuerst gefunden habe«, sage ich, als ich wieder sprechen kann. »Ich bin nicht sicher, ob meine Brüder auch so freundlich zu dir wären.«
Er zuckt mit den Schultern und lächelt unbekümmert. »Kellan schlägt zu wie ein Mädchen.«
Typisch. »Ich werde ihm erzählen, dass du das gesagt hast.«
Ein paar umherstreifende Cousins sehen uns um die Ecke stehen und scheinen einen Grund zu suchen, um herüberzukommen und mit mir zu reden. Also packe ich Evan am Revers und schiebe ihn zur Waschküche. Ich presse mich an den Türrahmen und schaue dann nach, ob die Luft wieder rein ist.
»Ich kann mich nicht noch mal in ein Gespräch verwickeln lassen, wie sehr ich alle an meine Mom erinnere«, stöhne ich. »Ich meine, Leute, als ihr mich zum letzten Mal gesehen habt, hatte ich noch Windeln an.«
Evan richtet wieder seine Krawatte. »Sie denken, sie würden dir damit helfen.«
»Tja, tun sie aber nicht.«
Alle wollen mir erzählen, was für eine tolle Frau meine Mom war und wie viel ihr die Familie bedeutet hat. Es ist schon fast unheimlich, die anderen über eine Frau reden zu hören, die keinerlei Ähnlichkeit mit der Frau hat, die ich kannte.
»Wie kommst du zurecht?«, fragt er mit rauer Stimme. »Ich meine, in Wirklichkeit?«
Ich reagiere mit einem Schulterzucken. Denn das ist doch die große Frage, nicht wahr? Das bin ich in den letzten Tagen auf ein Dutzend verschiedene Arten gefragt worden, und ich habe immer noch keine passende Antwort. Oder zumindest nicht die, die alle hören wollen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt irgendwas fühle. Keine Ahnung. Vielleicht stehe ich immer noch unter Schock oder so. Man rechnet damit, dass so was von einer Sekunde auf die andere passiert oder aber über viele Monate hinweg. Aber das? Das war irgendwie die falsche Dosis an Vorwarnung. Ich kam nach Hause, und eine Woche später war sie tot.«
»Das verstehe ich«, sagt er. »Kaum Zeit, um dich zu orientieren, bevor es auch schon vorbei ist.«
»Ich weiß seit Tagen nicht mehr, wo oben und unten ist.« Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Langsam frage ich mich, ob mit mir etwas nicht stimmt.«
Er schaut mich ungläubig an. »So ist der Tod nun einmal, Fred. Mit dir ist alles in Ordnung.«
Ich lache schnaubend, als er seinen Spitznamen für mich verwendet. Es ist so lange her, seit ich ihn gehört habe, dass ich fast vergessen habe, wie es klingt. Es gab eine Zeit, da habe ich eher auf Fred reagiert als auf meinen richtigen Namen.
»Aber im Ernst. Ich warte die ganze Zeit darauf, dass die Traurigkeit kommt, aber das tut sie nicht.«
»Es ist schwer, viele Gefühle für jemanden zu empfinden, der nicht viele für dich hatte. Selbst wenn es deine Mom war.« Er zögert. »Vielleicht gerade weil es deine Mom war.«
»Stimmt.«
Evan begreift es. So war es schon immer. Eins der Dinge, die wir gemeinsam haben, ist eine ungewöhnliche Beziehung zu unseren Müttern, und zwar weil es keine nennenswerte Beziehung gibt. Während seine Mom eine unbeständige Idee in seinem Leben ist – immer abwesend bis auf die wenigen Male im Jahr, wo sie in der Stadt auftaucht, um einen Rausch auszuschlafen oder um Geld zu bitten –, war meine zwar nicht körperlich, aber geistig abwesend. Meine Mutter war so kalt und gleichgültig, dass sie selbst in meinen frühesten Erinnerungen kaum zu existieren schien. Ich wuchs auf mit Eifersucht auf die Blumenbeete im Vorgarten, um die sie sich kümmerte.
»Ich bin fast erleichtert, dass sie weg ist.« Ich habe einen Kloß in der Kehle. »Nein, mehr als fast. Es ist schrecklich, das zu sagen, ich weiß. Aber … jetzt kann ich aufhören, mir Mühe zu geben, weißt du? Ich muss mich nicht mehr bemühen, nur um mich dann wertlos zu fühlen, wenn sich nichts ändert.«
Mein ganzes Leben lang habe ich mir Mühe gegeben, eine Verbindung zu ihr aufzubauen. Ich wollte immer herausfinden, warum meine Mutter mich anscheinend nicht sehr mochte. Eine Antwort habe ich nie bekommen. Vielleicht kann ich jetzt aufhören zu fragen.
»Das ist nicht schrecklich«, meint Evan. »Manche Menschen sind beschissene Eltern. Es ist nicht unsere Schuld, dass sie nicht wissen, wie sie uns lieben sollen.«
Außer Craig – wie sie ihn lieben sollte, wusste Mom auf jeden Fall. Nach fünf vergeblichen Versuchen hatte sie bei ihm endlich das richtige Rezept gefunden. Er war der eine perfekte Sohn, den sie mit einem ganzen Leben voll Mutterliebe überschütten konnte. Ich liebe meinen kleinen Bruder, aber er und ich hätten ebenso gut von zwei verschiedenen Menschen aufgezogen werden können. Er ist der Einzige von uns, der hier mit roten, verquollenen Augen herumläuft.
»Kann ich dir etwas sagen?«, fragt Evan mit einem Grinsen, das mich misstrauisch macht. »Aber du musst mir versprechen, dass du mich nicht schlägst.«
»Tja, das kann ich nicht.«
Er lacht in sich hinein und leckt sich über die Lippen – eine unbewusste Gewohnheit, die mich schon immer verrückt gemacht hat, weil ich weiß, wozu dieser Mund fähig ist.
»Du hast mir gefehlt«, gesteht er. »Bin ich ein Arsch, weil ich irgendwie froh bin, dass jemand gestorben ist?«
Ich boxe ihn in die Schulter, worauf er so tut, als wäre er schwer verletzt. Er meint es nicht so. Nicht wirklich. Aber auf eine seltsame Art weiß ich das Gefühl zu schätzen, und sei es nur, weil es mir gestattet, eine Sekunde oder zwei zu lächeln. Zu atmen.
Ich spiele an dem dünnen silbernen Armband um mein Handgelenk herum. Ich will ihm nicht in die Augen sehen. »Du hast mir auch gefehlt. Ein bisschen.«
»Ein bisschen?« Er macht sich über mich lustig.
»Nur ein bisschen.«
»Mmm-mmm. Also hast du an mich gedacht … wie oft? Ein- oder zweimal am Tag, als du weg warst?«
»Eher ein- oder zweimal insgesamt.«
Er lacht leise.
Ehrlich gesagt habe ich mich nach meinem Weggang monatelang bemüht, die Gedanken an ihn zu verdrängen. Ich habe die Bilder ignoriert, die kamen, wenn ich nachts die Augen schloss oder ein Date hatte. Irgendwann wurde es einfacher. Ich hatte es beinahe geschafft, ihn zu vergessen. Beinahe.
Und jetzt ist er hier, und es ist, als wäre nicht eine Sekunde vergangen. Noch immer baut sich diese Energie zwischen uns auf wie eine Blase. Sie ist offensichtlich in der Art, wie sein Körper sich meinem nähert, wie meine Hand länger als nötig auf seinem Arm liegt. Wie es wehtut …
»Tu das nicht«, befehle ich ihm, als ich seinen Gesichtsausdruck bemerke. Seine Augen halten mich gefangen. Ich hänge fest, als hätte sich mein Shirt an einem Türgriff verhakt, nur dass es hier eine Erinnerung ist, die meinem Kopf ein Bein stellt.
»Was denn?«
»Du weißt genau, wovon ich rede.«
Evans Mundwinkel heben sich, nur ein klein wenig. Denn ihm ist klar, wie er mich ansieht.
»Du siehst gut aus, Gen.« Er tut es schon wieder. Die Herausforderung in seinen Augen, die Andeutungen in seinem Blick. »Die Zeit weg von hier hat dir gutgetan.«
Der kleine Mistkerl. Das ist nicht fair. Ich hasse ihn, noch während meine Finger seinen Oberkörper berühren und vorn über sein Hemd gleiten.
Nein, im Grunde hasse ich es nur, wie leicht er mich haben kann.
»Wir sollten das nicht tun«, flüstere ich.
Wir stehen abseits, aber immer noch sichtbar für alle, falls jemand einen Blick in unsere Richtung werfen sollte. Evans Hand wandert an meinem Kleid hinunter. Er schiebt sie unter den Stoff und fährt mit den Fingerspitzen sanft über meinen Po.
»Nein«, flüstert er mir ins Ohr. »Das sollten wir nicht.«
Also – natürlich – tun wir es doch.
Wir schlüpfen ins Badezimmer neben der Waschküche und schließen hinter uns ab. Mir stockt der Atem, als er mich auf den Waschtisch hebt.
»Das ist eine schreckliche Idee«, sage ich, als er meine Taille umfasst.
»Ich weiß.« Und dann presst er seine Lippen auf meine.
Sein Kuss ist drängend und hungrig. Gott, wie hat mir das gefehlt. Mir haben seine Küsse gefehlt, die gierigen Stöße seiner Zunge, wild und ungezügelt. Wir verschlingen einander, fast zu grob, und ich kann immer noch nicht genug von ihm kriegen.
Die Vorfreude und das verzweifelte Verlangen sind zu viel. Ich öffne die Knöpfe seines Hemdes, um mit meinen Fingernägeln über seine Brust zu kratzen, bis ihn der Schmerz dazu bringt, meine Arme hinter meinem Rücken festzuhalten. Es ist heiß und grob. Vielleicht ein wenig wütend. All die nie geklärten Dinge brechen jetzt hervor. Ich schließe die Augen und halte mich fest, verliere mich in dem Kuss, in seinem Geschmack. Er küsst mich inniger, tiefer, bis ich nur noch Verlangen fühle.
Ich halte es nicht mehr aus.
Ich befreie meine Arme, um seinen Gürtel zu öffnen. Evan mustert mich. Meine Augen. Meine Lippen.
»Das habe ich vermisst«, flüstert er.
Ich auch, aber ich kann mich nicht dazu bringen, es laut auszusprechen.
Ich schnappe nach Luft, als er seine Hand zwischen meine Beine gleiten lässt. Meine eigene Hand zittert, als ich sie in seine Boxershorts schiebe und …
»Alles okay da drin?« Eine Stimme. Dann ein Klopfen. Meine gesamte erweiterte Familie steht vor dieser Tür.
Ich erstarre.
»Alles bestens«, ruft Evan, und seine Fingerspitzen schweben kaum einen Zentimeter von der Stelle entfernt, wo ich mich gerade so schmerzhaft nach ihm gesehnt habe.
Aber jetzt gleite ich von dem Waschtisch, schiebe seine Hand von mir und ziehe meine aus seinen Boxershorts. Noch bevor meine flachen Schuhe auf den Fliesenboden treffen, hasse ich mich. Kaum bin ich mal zehn Minuten mit ihm im selben Raum, und schon verliere ich jede Selbstbeherrschung.
Scheiße, beinahe hätte ich bei der Trauerfeier für meine Mutter Sex mit Evan Hartley gehabt. Wären wir nicht unterbrochen worden, hätte ich mich hier und jetzt von ihm vögeln lassen, daran besteht kein Zweifel. Das ist ein ganz neuer Tiefpunkt, sogar für mich.
Verdammt.
Ich habe das ganze letzte Jahr damit verbracht zu trainieren, wie ich zumindest ungefähr wie eine normale Erwachsene funktionieren kann. Nicht jedem zerstörerischen Instinkt nachgebe, sobald er mir durch den Kopf schießt, sondern mich ein wenig zurückhalte. Und dann leckt sich Evan Hartley einmal über die Lippen, und ich bin wieder für jeden Mist zu haben.
Echt jetzt, Gen?
Während ich mein Haar vor dem Spiegel richte, sehe ich, wie er mich mustert, mit einer Frage auf der Zunge.
Schließlich spuckt er sie aus. »Alles okay bei dir?«
»Ich kann nicht glauben, dass wir es fast getan hätten«, murmle ich, und die Scham schnürt mir die Kehle zu. Dann finde ich meine Fassung wieder und ziehe meine Schutzmauern hoch. Ich hebe den Kopf. »Also, nur damit das klar ist: Das hier ist nicht von Bedeutung.«
»Was zum Teufel soll das denn heißen?« Sein gekränkter Blick trifft im Spiegel auf meinen.
»Es heißt, dass ich für meinen Dad eine Zeit lang in der Stadt bleiben muss, aber so lange ich hier bin, werden wir uns nicht sehen.«
»Im Ernst?« Als er meine entschlossene Miene sieht, wird sein Gesichtsausdruck ärgerlich. »Was soll der Quatsch, Gen? Du schiebst deine Zunge in meinen Hals, und dann erzählst du mir, dass ich verschwinden soll? Das ist echt bescheiden.«
Ich drehe mich zu ihm um und zucke scheinbar gleichgültig die Schultern. Er will, dass ich mit ihm streite, weil er weiß, dass hier eine Menge Emotionen im Spiel sind, und je mehr er die aus mir herauskitzelt, umso besser stehen seine Chancen. Aber das tue ich mir nicht wieder an, nicht dieses Mal. Das hier war ein Fehler. Temporäre geistige Umnachtung. Aber jetzt geht es mir besser, und ich habe wieder einen klaren Kopf. Ich werde das alles hinter mir lassen.
»Du weißt, dass wir uns nicht voneinander fernhalten können«, sagt er. Mein Entschluss frustriert ihn. »Wir haben es immer wieder versucht. Es klappt nicht.«
Da hat er nicht unrecht. Bis zu dem Tag, an dem ich schließlich die Stadt verließ, hatten wir eine On-off-Beziehung, seit dem ersten Jahr auf der Highschool. Ein ständiges Hin und Her von Liebe und Streit. Manchmal bin ich die Motte, manchmal das Licht.
Aber am Ende habe ich eins herausgefunden: Der einzige Weg, um zu gewinnen, ist der, nicht zu spielen.
Ich schließe die Tür auf und bleibe stehen, um einen kurzen Blick über die Schulter zu werfen. »Es gibt für alles ein erstes Mal.«
Das habe ich nun davon, dass ich versuche, ein netter Kerl zu sein. Sie wollte für einen kurzen Moment alles vergessen – das ist okay. Ich würde mich niemals darüber beschweren, Genevieve zu küssen. Aber sie hätte danach wenigstens nett sein können. Lass uns später treffen, etwas trinken und darüber reden, was so alles passiert ist. Mich einfach so stehen zu lassen ist sogar für sie krass.
Gen hatte schon immer ihre Ecken und Kanten. Verdammt, das ist eine ihrer Eigenschaften, die mich zu ihr hinziehen. Aber sie hat mich noch nie mit so absolutem Desinteresse angesehen – als wäre ich niemand für sie.
Brutal.
Als wir das Haus der Wests verlassen und zu Coopers Truck gehen, wirft er mir einen misstrauischen Blick zu. Abgesehen von unserer äußeren Erscheinung sind wir völlig gegensätzliche Typen.
Wären wir keine Brüder, wären wir wahrscheinlich nicht einmal Freunde. Aber wir sind Brüder – noch schlimmer: Zwillinge –, was bedeutet, dass wir mit nur einem kurzen Blick die Gedanken des anderen lesen können.
»Du willst mich doch verarschen«, meint er seufzend mit diesem Gesichtsausdruck, der mir – wie fast ständig in letzter Zeit – sagt, dass er mein Verhalten verurteilt. Seit Monaten nervt er mich schon wegen jeder Kleinigkeit.
»Lass es.« Ich bin echt nicht in der Stimmung, um mir das anzuhören.
Er schert aus der langen Reihe der Autos aus, die wegen der Trauerfeier am Bordstein parken. »Unglaublich. Ihr habt rumgemacht.« Er wirft mir einen Seitenblick zu, den ich ignoriere. »Herr im Himmel. Ihr wart nur zehn Minuten weg. Was hast du gesagt: ›Mein Beileid, aber hier, nimm meinen Penis?‹«
»Leck mich, Coop.« Wenn er es so beschreibt, klingt es tatsächlich irgendwie übel.
Irgendwie?
Na schön. In Ordnung. Vielleicht war es nicht die beste aller Ideen, auf der Trauerfeier ihrer Mutter beinahe Sex mit ihr zu haben, aber … aber sie hat mir gefehlt, verdammt. Gen wiederzusehen, nach über einem Jahr der Trennung, war wie ein Schlag in die Magengrube. Mein Verlangen, sie zu berühren und zu küssen, grenzte schon an Verzweiflung.
Vielleicht bin ich deshalb ein schwaches Arschloch, aber so ist es eben.
Zähneknirschend zwinge ich mich dazu, aus dem Fenster zu schauen. Die Sache mit Cooper ist folgende … Als unser Vater starb und meine Mom uns Kinder danach im Grunde uns selbst überließ, hat Cooper sich irgendwie in den Kopf gesetzt, dass er die Rolle der beiden in meinem Leben übernehmen müsste: ein ständig nörgelnder, mürrischer Bastard, der immer enttäuscht von mir ist. Eine Zeit lang wurde es besser, nachdem er mit seiner Freundin Mackenzie zusammenkam. Sie schaffte es, ihm den Stock aus dem Hintern zu ziehen. Aber da er jetzt endlich zum ersten Mal in einer stabilen Beziehung lebt, scheint er wieder zu glauben, er wäre qualifiziert, über mein Leben zu urteilen.
»So war das nicht«, sage ich, denn ich spüre, dass er wütend auf mich ist. »Manche Leute heulen, wenn sie trauern. Gen ist keine Heulsuse.«
Er schüttelt leicht den Kopf und umklammert das Lenkrad, während er derart mit den Zähnen knirscht, dass er sich noch die Backenzähne abschleift. Dabei konnte ich ohnehin hören, was er denkt.
»Verpass dir nicht selbst ein Aneurysma, Bruderherz. Spuck es einfach aus.«
»Sie ist seit kaum einer Woche in der Stadt, und du steckst schon wieder bis zum Hals drin. Ich habe dir gesagt, dass es eine schlechte Idee ist hinzugehen.«
Ich würde Cooper nie die Befriedigung gönnen und es vor ihm zugeben, aber er hat recht. Genevieve taucht auf, und ich verliere meinen verdammten Verstand. So war es schon immer mit uns. Wir sind zwei größtenteils harmlose Chemikalien, aber vermischt werden wir zu einer explosiven Verbindung, die einen Häuserblock dem Erdboden gleichmacht.
»Du tust ja so, als hätten wir einen Schnapsladen ausgeraubt. Entspann dich. Wir haben uns nur geküsst.«
Coopers Missbilligung ist förmlich greifbar. »Heute ist es nur ein Kuss. Morgen ist es eine ganz andere Geschichte.«
Na und? Es ist ja nicht so, als würden wir irgendwem wehtun. Ich mustere ihn stirnrunzelnd. »Mann, welche Rolle spielt das für dich?«
Er und Genevieve kamen immer gut miteinander aus, waren sogar Freunde. Ich begreife schon, dass er vielleicht sauer deswegen ist, wie sie die Stadt verlassen hat, aber es ist ja nicht so, als hätte sie ihm das angetan. Überhaupt, es ist ein Jahr her. Wenn ich kein Ding mehr daraus mache, warum sollte er es dann tun?
An einer roten Ampel wendet er sich mir zu und blickt mir in die Augen. »Weißt du, du bist mein Bruder, und ich liebe dich, aber wenn sie in der Nähe ist, wirst du zum Scheißkerl. Die letzten Monate hast du dein Leben echt mal auf die Reihe bekommen. Wirf das nicht alles weg für ein Mädchen, das nie was anderes als Chaos bedeuten wird.«
Etwas daran – keine Ahnung, vielleicht die Verachtung in seiner Stimme, die Herablassung – geht mir total gegen den Strich. Wenn er will, kann Cooper ein echt selbstgerechter Mistkerl sein.
»Ist ja nicht so, als würde ich wieder mit ihr zusammenkommen, okay? Sei nicht so dramatisch.«
Wir halten vor unserem Haus, das seit drei Generationen im Besitz unserer Familie ist. Es ist zweistöckig, direkt am Strand und im für diese Gegend typischen Cottagestil erbaut. Bevor wir in den letzten Monaten mit Renovierungsarbeiten anfingen, war es kurz vor dem Auseinanderfallen. Es kostet uns den Großteil unserer Ersparnisse und noch mehr von unserer Zeit, aber wir machen Fortschritte.
»Ja, rede dir das nur weiter ein.« Cooper macht mit einem gereizten Seufzer den Motor aus. »Dasselbe alte Muster: Sie haut ab, wann sie will, platzt dann plötzlich wieder rein, und du bist sofort bereit, Plätzchen mit ihr zu backen. Klingt das nicht irgendwie so ähnlich wie bei einer anderen Frau, die du kennst?« Damit steigt er aus und schlägt die Tür zu.
Das war jetzt echt unnötig.
Von uns beiden hegt Cooper den größeren Groll gegen unsere Mutter. Er ist daher sogar sauer auf mich, weil ich sie nicht so sehr hassen will, wie er es tut. Aber beim letzten Vorfall mit ihr habe ich mich auf seine Seite gestellt. Ich habe ihr gesagt, dass sie hier nicht mehr willkommen ist, nicht nach dem, was sie ihm angetan hatte. Am Ende hatte Shelley Hartley eine Grenze zu viel überschritten.
Aber ich vermute, es reicht nicht aus, dass ich mich dieses eine Mal auf Coopers Seite geschlagen habe – er lässt mich dennoch nicht in Ruhe. Heute gibt es von allen Seiten nur Tiefschläge.
Später beim Abendessen kann Cooper das Thema Genevieve immer noch nicht gut sein lassen. Es liegt nicht in seiner Natur.
Er ist verdammt nervig. Ich versuche, meine Spaghetti zu essen, und der Bastard erzählt Mackenzie, die seit einigen Monaten bei uns wohnt, dass ich im Grunde meine Ex auf dem noch warmen Sarg ihrer toten Mutter gevögelt hätte.
»Evan sagt, er sei nur eine Minute lang weg, und lässt mich dann allein stehen, damit ich ihrem Dad und den fünf Brüdern mein Beileid ausspreche, die alle so ziemlich der Meinung sind, dass es Evans Schuld ist, dass sie vor einem Jahr die Stadt verlassen hat«, grummelt Cooper und spießt mit seiner Gabel ein Fleischbällchen auf. »Sie fragen mich, wo er denn sei, und währenddessen vögelt er die kleine Tochter von Mr West über die Badewanne gebeugt oder wo auch immer.«
»Wir haben uns bloß geküsst«, sage ich sauer.
»Coop, komm schon«, meint Mac und verzieht das Gesicht, während ihre Gabel mit einem Happen aufgerollter Nudeln vor ihr in der Luft hängt. »Ich möchte gerne essen.«
»Ja, hab mal ein bisschen Taktgefühl, Vollidiot«, schimpfe ich.
Als sie nicht hinsehen, stecke ich Daisy, dem jungen Golden Retriever zu meinen Füßen, ein Stück Fleischbällchen zu. Cooper und Mac haben sie letztes Jahr von den Felsen beim Pier gerettet, und seitdem ist sie fast doppelt so groß geworden. Zuerst war ich nicht sehr begeistert von der Idee, sich um diese Kreatur zu kümmern, die Coopers neue Freundin uns aufgehalst hatte, aber dann hat sie eine Nacht lang am Fußende meines Bettes geschlafen und Welpenträume gehabt, und das hat mich kaputtgemacht wie ein billiges Spielzeug. Seitdem hat der Hund mich um die Pfote gewickelt. Sie ist das einzige Mädchen, dem ich trauen kann, dass es mir nicht abhaut. Zum Glück läuft es zwischen Coop und Mac gut, sodass wir keinen Sorgerechtsstreit ausfechten mussten.
Ist schon komisch, wie das Leben manchmal so spielt. Letztes Jahr haben Cooper und ich einen zugegeben gemeinen Plan ausgeheckt, um Macs Beziehung mit ihrem damaligen Freund zu sabotieren. Zu unserer Verteidigung: Der Typ war ein Idiot. Doch dann musste Cooper den ganzen Spaß verderben und Gefühle für das reiche Collegemädchen entwickeln. Zuerst konnte ich sie nicht ausstehen, aber dann stellte sich heraus, dass ich Mackenzie Cabot ganz falsch eingeschätzt hatte. Zumindest war ich Manns genug, das zuzugeben. Cooper hingegen kann seine Gedanken nicht für sich behalten, soweit es Gen betrifft. Typisch.
»Also, wie sieht die wahre Geschichte von euch beiden aus?«, fragt Mac, und in ihren dunkelgrünen Augen blitzt Neugier auf.
Die wahre Geschichte? Wo soll ich da überhaupt anfangen? Genevieve und ich haben eine Geschichte. Eine Menge Geschichte. Manches davon ist toll. Manches nicht so toll. Das mit uns war immer kompliziert.
»Wir kamen im ersten Jahr auf der Highschool zusammen«, erzähle ich Mac. »Sie war im Prinzip meine beste Freundin. Wir hatten immer viel Spaß miteinander, und sie war für alles zu haben.«
Plötzlich wird mein Verstand überflutet von Bildern, wie wir um zwei Uhr nachts auf Fahrrädern und mit einer Flasche Tequila zwischen uns herumgemacht haben. Wir waren Wellenreiten, während ein Hurrikan aufzog, und haben den Sturm dann auf dem Rücksitz des Jeeps ihres Bruders ausgesessen. Gen und ich haben ständig gegenseitig unsere Abenteuerlust herausgefordert und sind in so einige gefährliche Situationen geraten, aus denen wir eigentlich nicht heil hätten herauskommen dürfen. In der Beziehung gab es keinen Erwachsenen, also gab es auch nie einen Punkt, an dem irgendwer mal Stopp sagte. Wir waren immer auf der Jagd nach dem Rausch.
Und Gen war selbst berauschend. Furchtlos und unerschrocken. Unmissverständlich sie selbst, und zur Hölle damit, was irgendwer dazu zu sagen hatte. Sie machte mich verrückt. Ich habe mir mehr als einmal die Hand gebrochen bei Prügeleien mit irgendeinem Mistkerl, der sie in einer Bar bedrängte. Ja, vielleicht war ich besitzergreifend, aber nicht mehr als sie. Sie konnte eine Tussi an den Haaren nach draußen zerren, weil die mich falsch angeschaut hatte. Das meiste davon hatte etwas mit dem On-off-Teil unserer Beziehung zu tun – eifersüchtig werden, streiten und sich dann nach jemand anderem umsehen, um den anderen eifersüchtig zu machen. Es war schon ziemlich verkorkst, aber das war unsere Sprache. Ich gehörte ihr und sie mir. Wir waren süchtig nach Versöhnungssex.
Doch die stillen Momente machten genauso süchtig. Wenn wir auf einer Decke am Strand lagen, an unserer Lieblingsstelle in der Bay, ihr Kopf an meiner Schulter, mein Arm um sie gelegt, während wir zu den Sternen hinaufblickten. Wenn wir uns unsere finstersten Geheimnisse zuflüsterten, wussten wir, dass der eine den anderen niemals verurteilen würde. Himmel, abgesehen von Cooper ist sie der einzige Mensch, der mich je hat weinen sehen.
»Es gab jede Menge Trennungen und Versöhnungen«, gebe ich zu. »Aber das war unser Ding. Und dann, letztes Jahr, war sie plötzlich weg. Eines Tages hat sie einfach ihre Sachen gepackt und die Stadt verlassen. Ohne irgendwem ein Wort zu sagen.«
Bei der Erinnerung zieht sich mein Herz schmerzvoll zusammen. Zuerst hielt ich es für einen Scherz und dachte, dass Gen mit ihren Freundinnen abgehauen wäre und wollte, dass ich ausflippe und nach Florida oder so fahre, um sie aufzuspüren, dann ein bisschen mit ihr streite und wir es anschließend ausvögeln. Bis die Mädchen mir schworen, dass sie nichts von ihr gehört hätten.
»Später fand ich heraus, dass sie in Charleston ein neues Leben angefangen hat. Einfach so.« Ich schlucke die Bitterkeit in meiner Kehle hinunter.
Mac mustert mich einen Moment lang nachdenklich. Seit sie hier eingezogen ist, sind wir ziemlich enge Freunde geworden, daher erkenne ich, wenn sie mir auf nette Art sagen möchte, dass ich eine Katastrophe bin. Es ist ja nicht so, als wüsste ich das nicht.
»Mach nur, Prinzessin. Sag, was du denkst.«
Sie legt ihre Gabel hin und schiebt den Teller weg. »Klingt nach einer toxischen Situation für euch beide. Vielleicht hatte Gen recht damit, es endgültig zu beenden. Vielleicht ist es besser, wenn ihr beide euch voneinander fernhaltet.«
Darauf wirft mir Cooper einen finsteren Blick zu, weil es fast nichts gibt, das er noch mehr liebt als ein Ich-hab’s-dir-doch-gesagt.
»Dasselbe habe ich zu Cooper gesagt, als es um dich ging«, erinnere ich sie. »Und jetzt seht euch beide an.«
»Zum Teufel noch mal.« Cooper wirft sein Besteck auf seinen Teller, und sein Stuhl quietscht über den Holzboden. »Das kannst du doch nicht vergleichen. Nicht mal annähernd. Genevieve ist eine Katastrophe. Das Beste, was sie je für dich getan hat, war, deine Anrufe nicht mehr zu beantworten. Lass es bleiben, Mann. Sie ist nicht deinetwegen hier.«
»Ja, du findest das richtig großartig«, sage ich und wische mir mit der Serviette den Mund ab, bevor ich sie auf den Tisch werfe. »Denn das ist die Rache, richtig?«
Er seufzt und reibt sich die Augen, als wäre ich ein Hund, der nicht stubenrein werden will. Herablassender Arsch. »Ich versuche, auf dich aufzupassen, weil du zu schwanzgesteuert bist, um zu sehen, wo das enden wird. Da, wo ihr zwei immer endet.«
»Weißt du«, sage ich und stehe vom Tisch auf. »Vielleicht solltest du mal aufhören, alle deine Komplexe auf mich zu projizieren. Genevieve ist nicht Shelley. Hör auf, mich bestrafen zu wollen, weil du wütend bist, dass deine Mami dich verlassen hat.«
Ich bereue die Worte, noch während sie aus meinem Mund kommen, aber ich drehe mich nicht mehr um, während ich mit Daisy, die mir zur Küchentür folgt, hinaus- und zum Strand marschiere. Die Wahrheit ist – niemand weiß besser als ich, welchen verkorksten Mist Gen und ich alles durchgemacht haben. Wir sind unausweichlich. Aber so ist es eben. Nun, da sie zurück ist, kann ich sie nicht ignorieren.
Diese Sache zwischen uns, diese Anziehung – sie wird es nicht zulassen.
Ich bereue es jetzt schon. Mein erster Tag im Büro von Dads Steinhandel ist schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Über Wochen, vielleicht Monate, sind die Jungs hier reingekommen und haben Rechnungen in einem unordentlichen Stapel auf dem Schreibtisch vor einem leeren Stuhl zurückgelassen. Post landete im Papierkorb, ohne dass jemand auch nur einen Blick darauf geworfen hat, von wem sie kam. Auf dem Aktenschrank steht immer noch ein Becher mit einer Brühe darin, die vermutlich mal Kaffee war, und im Mülleimer liegen offene Zuckerpackungen, die schon längst von Ameisen geplündert wurden.
Und Shane ist wahrlich keine Hilfe. Während ich am Computer sitze und versuche, Moms System für Dateibenennung zu entschlüsseln, um irgendeine Art von Dokumentation bezahlter und noch ausstehender Beträge zu finden, sitzt mein zweitältester Bruder am Handy und ist in irgendeinem TikTok-Loch versunken.
»Hey, du Arsch«, sage ich und schnippe mit den Fingern. »Hier sind so um die sechs Rechnungen mit deinem Namen darauf. Sind die bezahlt oder noch ausstehend?«
Er macht sich nicht die Mühe, den Blick vom Display abzuwenden. »Woher soll ich das wissen?«
»Weil es deine Baustellen sind.«
»Das ist nicht meine Abteilung.«
Shane sieht nicht, wie ich die Hände in der Luft schüttle, weil ich so tue, als würde ich ihn erwürgen. Arsch.
»Hier sind drei Mails von Jerry wegen einer Terrasse für sein Restaurant. Du musst mit ihm telefonieren und einen Termin vereinbaren für eine Besichtigung und einen Kostenvoranschlag.«
»Ich muss gar nichts«, nuschelt er, während er weiter auf das kleine blinkende Gerät in seinen Händen starrt. Er verhält sich wie ein Fünfjähriger.
Ich schnippe ihm mit einem Gummi eine Büroklammer an den Kopf, mitten auf die Stirn. Volltreffer.
»Scheiße, Gen. Was soll das?«
Nun habe ich seine Aufmerksamkeit.
»Hier!« Ich schiebe die Rechnungen über den Tisch und schreibe Jerrys Telefonnummer auf. »Da du dein Handy ja schon in der Hand hast, ruf an.«
Absolut empört über meinen Tonfall grinst er mich spöttisch an. »Dir ist schon klar, dass du im Prinzip Dads Sekretärin bist.«
Shane stellt meine Liebe zu ihm und meinen Wunsch, ihn am Leben zu lassen, auf die Probe. Ich habe noch vier andere Brüder. Einer weniger würde kaum auffallen.
»Du kannst mich nicht herumkommandieren«, motzt er.
»Dad hat mich zur Bürochefin gemacht, bis er jemand anderen dafür findet.« Ich stehe vom Schreibtisch auf, drücke ihm die Papiere in die Hand und schiebe ihn aus dem Büro. »Also bin ich jetzt dein Gott. Gewöhn dich daran.« Dann schlage ich die Tür hinter ihm zu.
Ich wusste, dass das passieren würde. Wir sind in einem Haus mit sechs Kindern aufgewachsen und haben immer um die beste Position in der Familie gekämpft. Wir haben alle einen Autonomiekomplex, und jeder versucht, seine Unabhängigkeit zu verteidigen, während er von den oberen Sprossen der Altersleiter Mist an den Kopf geworfen kriegt. Und diese Situation ist noch schlimmer, weil ich das zweiundzwanzigjährige mittlere Kind bin, das den großen Brüdern klarmacht, wo der Hammer hängt. Trotzdem hatte Dad recht: Der Laden ist ein Wrack. Wenn ich das alles nicht auf die Schnelle sortiert kriege, ist er in null Komma nichts pleite.
Nach der Arbeit treffe ich mich mit meinem Bruder Billy auf einen Drink bei Ronda’s, einer örtlichen Kneipe für die ganzen Golfspieler im Rentenalter, die ihre Tage damit verbringen, Avalon Bay im Golfwagen rauf und runter zu fahren und Swingerpartys mit Poker zu veranstalten. Die steigenden Temperaturen im Mai bedeuten, dass in der Bay haufenweise Touristen und reiche Schnösel die Uferpromenade verstopfen, sodass der Rest von uns auf andere Orte ausweichen muss.
Während Billy bei dem ledergesichtigen Barkeeper mit einem Lächeln ein Bier ordert – niemand in dieser Stadt verlangt einen Ausweis von den Einheimischen –, bestelle ich einen Kaffee. Draußen ist es für die Jahreszeit ungewöhnlich heiß, sogar noch bei Sonnenuntergang, und mir kleben die Klamotten an der Haut, aber eine Tasse heißes Koffein kann ich immer trinken. Daran erkennt man, dass jemand aus dem Süden kommt.
»Ich hab gesehen, wie du mit Jay gestern Abend ein paar Kartons reingebracht hast«, meint Billy. »Waren das die letzten?«
»Ja, ich lasse das meiste von meinen Sachen in einem Lagerraum in Charleston. Es ergibt nicht viel Sinn, meine Möbel hierherzuschleppen, nur um dann in ein paar Monaten alles wieder zurückzubringen.«
»Du hast immer noch vor zurückzugehen?«
Ich nicke. »Aber ich muss mir eine andere Wohnung suchen.«
Mein Vermieter war ein totaler Arsch, weil ich meinen Mietvertrag kurzfristig beenden wollte, also bezahle ich ihn noch eine Weile weiter, während ich hier in meinem Kinderzimmer wohne. Meinen Job zu kündigen lief nicht viel besser. Mein Boss im Immobilienbüro hat mich regelrecht ausgelacht, als ich um eine Freistellung bat. Ich hoffe, Dad wird mich gut bezahlen. Auch wenn er ein trauernder Witwer ist, arbeite ich nicht gratis.
»Also, rate mal, wer neulich im Baumarkt war?«, fragt Billy mit einem Blick, der mir sagt, dass ich mich wappnen sollte. »Deputy Arschloch kam rein und hat mich wegen des Schilds auf dem Gehweg angemacht. Irgendwas mit Stadtverordnungen und Behinderung des Fußgängerverkehrs.«
Meine Fingernägel bohren sich in den abgenutzten Bartresen. Selbst nach einem Jahr weckt die Erwähnung von Deputy Rusty Randall immer noch eine ganz besondere Wut in mir.
»Das Schild steht da doch seit mindestens zwanzig Jahren«, meint Billy.
Auf jeden Fall solange ich denken kann. Es geht um ein dreieckiges Holzschild auf dem Gehweg, auf dem ein Comic-Handwerker verkündet: JA, WIRHABENGEÖFFNET!, und dabei mit einer Rohrzange winkt. Auf der Rückseite befindet sich eine Tafel mit dem Angebot der Woche oder neuen Produkten. Als ich noch klein war und es liebte, Dad zur Arbeit zu begleiten, hat er mir immer von drinnen zugebrüllt, dass ich nicht auf das Schild malen soll. Daraufhin habe ich mein Kunstwerk hastig abgewischt und angefangen, auf den Gehweg zu zeichnen. Ich gab immer mein Bestes, den Verkehr um meine Meisterwerke herumzuleiten, und war bereit, den Touristen in die Beine zu beißen, die durch meine Bürgersteiggalerie trampelten.
»Der Typ wollte nicht verschwinden, bis ich das Schild schließlich reingeholt habe«, grummelt Billy. »Er stand fünfzehn Minuten lang da, während ich so tat, als würde ich Kunden bedienen, und wegen dieser bescheuerten Verordnung mit ihm verhandelt habe. Ich war schon drauf und dran, Dad anzurufen, damit er ihm ein bisschen Vernunft beibringt, aber dann hat er nach seinen Handschellen gegriffen, als wollte er mich verhaften, also habe ich mir gesagt: Pfeif drauf. Als er weg war, habe ich ein paar Minuten gewartet und es dann wieder rausgestellt.«
»Arschloch«, brumme ich in meinen Kaffee. »Du weißt, dass ihm dabei einer abgeht.«
»Ich bin überrascht, dass er dich nicht bis in die Stadt hinein beschattet hat. Ich hab schon halb damit gerechnet, dass er mitten in der Nacht vor dem Haus sitzt.«
Das hätte ich ihm zugetraut. Vor etwa einem Jahr wurde Deputy Randall zu meinem Warnschuss. Die Nacht damals war mein Tiefpunkt, der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich so nicht weiterleben konnte: zu viel Alkohol, jede Nacht eine andere Party, getrieben von meinen Dämonen. Ich musste etwas dagegen unternehmen und mein Leben in den Griff bekommen, bevor es zu spät war. Also entwarf ich einen Plan, und ein paar Monate später packte ich alles, was ich brauchte, und machte mich auf den Weg nach Charleston. Billy war der Einzige, dem ich von dieser Nacht mit Rusty erzählt habe. Obwohl er zwei Jahre jünger ist als ich, war er immer mein engster Vertrauter.