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Ever weiß keinen Ausweg mehr: Das Mittel gegen den Fluch, der auf der Liebe von Damen und ihr lastet, ist zerstört worden. Noch dazu gibt ihre beste Freundin Haven, Ever die Schuld an dem Tod ihrer großen Liebe Roman. Haven ist auf Rache aus. Und Ever sieht sich gezwungen, einen weiteren geliebten Menschen zu verlieren.
Band 5 der erfolgreichen Evermore-Serie von Alyson Noël.
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Seitenzahl: 444
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
AURA-FARBEN
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREISSIG
EINUNDDREISSIG
ZWEIUNDDREISSIG
DREIUNDDREISSIG
VIERUNDDREISSIG
FÜNFUNDDREISSIG
SECHSUNDDREISSIG
SIEBENUNDDREISSIG
ACHTUNDDREISSIG
NEUNUNDDREISSIG
VIERZIG
EINUNDVIERZIG
DANKSAGUNG
Leseprobe
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Ever weiß keinen Ausweg mehr: Das Mittel gegen den Fluch, der auf der Liebe von Damen und ihr lastet, ist zerstört worden. Noch dazu gibt ihre beste Freundin Haven Ever die Schuld an dem Tod ihrer großen Liebe Roman. Haven ist auf Rache aus. Und Ever sieht sich gezwungen, einen weiteren geliebten Menschen zu verlieren.
Band 5 der erfolgreichen Evermore-Serie von Alyson Noël.
Alyson Noël
Evermore –Der Stern der Nacht
Aus dem Englischen von Ariane Böckler
FÜR BILL CONTARDI
Bester. Agent. Aller Zeiten
Wenn es am dunkelsten ist, sehen die Menschen die Sterne.
Ralph Waldo Emerson
Rot:
Energie, Kraft, Zorn, Sexualität, Leidenschaft, Furcht, Ego
Orange:
Selbstbeherrschung, Ehrgeiz, Mut, Bedachtsamkeit, Willensschwäche, apathisch
Gelb:
Optimistisch, glücklich, intellektuell, freundlich, unschlüssig, leicht zu beeinflussen
Grün:
Friedlich, heilend, Mitgefühl, hinterlistig, eifersüchtig
Blau:
Spirituell, loyal, kreativ, empfindsam, liebenswürdig, launisch
Violett:
Hochgradig spirituelle Weisheit, Intuition
Indigo:
Wohlwollen, hochgradig intuitiv, auf der Suche
Rosa:
Liebe, Aufrichtigkeit, Freundschaft
Grau:
Depression, Traurigkeit, Erschöpfung, wenig Energie, Skepsis
Braun:
Habgier, selbstbezogen, rechthaberisch
Schwarz:
Mangelnde Energie, Krankheit, unmittelbar bevorstehender Tod
Weiss:
Vollkommenes Gleichgewicht
Du wirst mich nie schlagen. Diesmal gewinnst du garantiert nicht, Ever. Ausgeschlossen. Das schaffst du nicht. Also, warum verschwendest du deine Zeit?«
Ich mustere sie aufmerksam – erfasse ihr kleines, blasses Gesicht, ihren dunklen Haarwust und das Fehlen jeglichen Lichts in ihren hasserfüllten Augen.
Mit zusammengebissenen Zähnen antworte ich bedächtig: »Sei dir da nicht so sicher. Du läufst massiv Gefahr, dich zu überschätzen. Ja, das tust du ganz bestimmt. Das weiß ich hundertprozentig.«
Sie schnaubt höhnisch. Laut und verächtlich, sodass das Geräusch durch den ganzen leeren Raum hallt, von dem hölzernen Dielenboden bis zu den kahlen weißen Wänden, die mir Angst machen oder mich zumindest einschüchtern und mich von meinem Kurs abbringen sollen.
Doch das wird nicht funktionieren.
Es kann nicht funktionieren.
Dazu bin ich zu konzentriert.
Meine ganze Energie ist auf einen einzigen Punkt fixiert, bis alles andere in den Hintergrund tritt und es nur noch mich gibt, meine geballte Faust und Havens drittes Chakra – auch das Solarplexus-Chakra genannt –, den Sitz von Zorn, Furcht, Hass und dem Hang, zu viel Gewicht auf Macht, Anerkennung und Rache zu legen.
Mein Blick ist auf dieses Ziel gerichtet wie auf eine Schießscheibe, genau auf die Mitte ihres in Leder gehüllten Oberkörpers.
Und ich weiß, dass es nur einen schnellen, gut gezielten Schlag braucht, um ein jämmerliches Stückchen Geschichte aus ihr zu machen.
Ein warnendes Beispiel für missbrauchte Macht.
Weg.
Im Handumdrehen.
Ohne mehr zurückzulassen als ein Paar schwarze Stiefel mit Stiletto-Absätzen und ein kleines Häufchen Staub – die einzige reale Erinnerung daran, dass sie je hier war.
Obwohl ich nie wollte, dass es so weit kommt, obwohl ich versucht habe, die Sache zu klären, versucht habe, mit ihr zu reden und sie zur Vernunft zu bringen, damit wir uns irgendwie einigen, irgendeine Abmachung treffen können, hat sie sich schließlich geweigert, einzulenken.
Sich geweigert, nachzugeben.
Sich geweigert, von ihrem irregeleiteten Rachedurst abzulassen.
Mir keine andere Wahl gelassen, als zu töten oder getötet zu werden.
Mich nicht im Zweifel darüber gelassen, wie das Ganze ausgehen wird.
»Du bist zu schwach.« Sie umkreist mich. Bewegt sich langsam, vorsichtig und ohne je den Blick von mir abzuwenden. Ihre Stiletto-Absätze attackieren den Fußboden, während sie sagt: »Du kannst dich nicht mit mir messen. Konntest du nie und wirst du auch nie können.« Sie bleibt stehen, stemmt die Hände in die Hüften, neigt den Kopf zur Seite, und eine üppige Welle dunkel glänzender Haare fällt ihr über die Schulter bis zur Taille. »Du hättest mich schon vor Monaten sterben lassen können. Du hast deine Chance gehabt. Aber stattdessen hast du dich dafür entschieden, mir das Elixier zu geben. Und jetzt bereust du es? Weil dir nicht gefällt, was aus mir geworden ist?« Sie hält inne und verdreht die Augen. »Tja, Pech gehabt. Das hast du nur dir selbst zuzuschreiben. Du bist doch diejenige, die mich so hat werden lassen. Ich meine, welche Schöpferin tötet schon ihre eigene Schöpfung?«
»Ich mag dich ja zur Unsterblichen gemacht haben, aber den Rest hast du alleine zu verantworten«, sage ich, indem ich meine Worte fest und verbissen hervorstoße, obwohl mir Damen eingeschärft hat, ruhig zu bleiben, die Konzentration zu wahren, es schnell und sauber hinter mich zu bringen und mich nicht unnötig von ihr in ein Gespräch verwickeln zu lassen.
Spar dir deine Reue für später auf, hat er gesagt.
Doch die Tatsache, dass wir hier aufeinandergetroffen sind, bedeutet, dass es in Bezug auf Haven kein Später gibt. Und trotz allem, was geschehen ist, versuche ich immer noch mit allen Mitteln, zu ihr durchzudringen, sie zu erreichen, ehe es zu spät ist.
»Wir müssen das nicht tun.« Ich fixiere sie mit meinem Blick, in der Hoffnung, sie zu überzeugen. »Wir können auf der Stelle aufhören, augenblicklich. Es muss nicht so weitergehen.«
»Ha, das hättest du wohl gern«, höhnt sie genüsslich. »Ich sehe es dir doch an. Du schaffst es nicht. Ganz egal, wie sehr du auch davon überzeugt bist, dass ich es verdient habe, du bist zu weich. Also wie kommst du überhaupt auf die Idee, dass es dieses Mal anders sein könnte?«
Weil du jetzt gefährlich bist – und zwar nicht nur für dich selbst, sondern auch für alle anderen. Dieses Mal ist es anders, ganz anders. Wie du noch erkennen wirst ...
Ich balle die Fäuste so fest, dass meine Knöchel ganz weiß werden, und gönne mir eine Sekunde, um mich zu sammeln, mein Gleichgewicht zu finden und mich erneut mit Licht zu erfüllen – genau wie Ava es mich gelehrt hat – und zugleich meine Hände ruhig unten zu lassen. Dabei halte ich den Blick weiterhin fest auf sie gerichtet, den Kopf von sämtlichen überflüssigen Gedanken befreit, das Gesicht von sämtlichen überflüssigen Gefühlen befreit – so wie es mir Damen kürzlich beigebracht hat.
Das Wichtigste ist, nichts preiszugeben, hat er mir erklärt, und schnell und gezielt zu agieren. Den Schlag zu setzen, bevor sie ihn überhaupt kommen sieht, sodass sie erst, wenn es längst zu spät ist, begreift, was mit ihr passiert ist.
Wenn ihr Körper sich aufgelöst hat und ihre Seele an jenen düsteren, trostlosen Ort weitergezogen ist.
Ihr jede Möglichkeit nehmen, einzugreifen oder sich zu wehren.
Eine auf einem lange zurückliegenden Schlachtfeld gelernte Lektion, von der ich nie gedacht hätte, dass sie sich auf mein Leben anwenden ließe.
Doch obwohl mich Damen davor gewarnt hat, kann ich es mir nicht verkneifen, mich zu entschuldigen. Kann es nicht lassen, die Worte Verzeih mir von meinem Geist zu ihrem zu senden. Ich sehe, wie kurz Mitleid in ihrem Blick aufwallt, ehe es von der gewohnten Mischung aus Hass und Verachtung schnell wieder ausgelöscht wird.
Sie hebt die Faust und zielt auf mich, aber es ist zu spät. Meine ist bereits in Fahrt und bewegt sich mit voller Kraft vorwärts. Trifft sie mitten in den Solarplexus und schickt sie schwankend und in Auflösung begriffen direkt in den unendlichen Abgrund.
Das Schattenland.
Die ewige Heimat für verlorene Seelen.
Ich schnappe hastig nach Luft, während ich zusehe, wie schnell sie sich auflöst. Sie zerfällt so mühelos, dass man sich kaum vorstellen kann, dass sie je von fester Gestalt war.
Mein Magen rebelliert, mein Herz rast und mein Mund ist so trocken und ausgedörrt, dass mir keine Worte über die Lippen kommen. Mein Körper reagiert, als wäre das, was soeben vor meinen Augen abgelaufen ist – die Tat, die ich gerade begangen habe –, nicht nur eine Manifestation gewesen, sondern schreckliche Realität.
»Gut gemacht. Du hast dein Ziel getroffen, mitten ins Schwarze«, sagt Damen und durchquert in einem Sekundenbruchteil den Raum, ehe er seine starken Arme um mich schlingt und mich dicht an sich zieht. Mit leiser Stimme flüstert er mir noch ins Ohr: »Allerdings solltest du dir das mit dem Verzeih mir aufsparen, bis sie weg ist. Glaub mir, ich weiß, dass du ein schlechtes Gewissen hast, Ever, und ich kann dir das nicht einmal zum Vorwurf machen, aber es ist eben, wie wir schon besprochen haben. In einem Fall wie diesem heißt es du oder sie. Nur eine kann überleben. Und falls du nichts dagegen hast, wäre es mir lieber, wenn du diejenige wärst.« Er fährt mir mit der Fingerspitze über die Wange und schiebt eine meiner Haarsträhnen hinters Ohr. »Du kannst es dir nicht leisten, ihr in irgendeiner Weise zu signalisieren, was kommt. Also bitte spar dir die Entschuldigung für hinterher auf, okay?«
Ich nicke und löse mich aus seinen Armen, wobei ich immer noch damit zu kämpfen habe, meine Atmung zu beruhigen. Dann sehe ich mich um und betrachte den Haufen aus schwarzem Leder und Spitze auf dem Fußboden. Das, was von der Haven geblieben ist, die ich manifestiert habe. Schließlich blinzele ich alles weg und lösche sämtliche Spuren aus.
Ich dehne den Hals nach beiden Seiten und schüttele meine Gliedmaßen, was man entweder als Dampf ablassen oder als Vorbereitung auf die nächste Runde auffassen kann. Damen schließt Letzteres daraus und lächelt mich an. »Noch ein Testlauf?«
Doch ich sehe ihn nur an und schüttele den Kopf. Ich habe genug für heute. Genug davon, die gespenstische, seelenlose Hülle meiner einst besten Freundin zu töten.
Es ist unser letzter Sommertag, unser letzter Tag der Freiheit, und es gibt wesentlich bessere Arten, ihn zu verbringen.
Ich betrachte die Mähne aus langen, welligen dunklen Haaren, die ihm über die Stirn und bis in seine erstaunlichen braunen Augen fallen, lasse den Blick über seine Nasenwurzel und die hohen Wangenknochen bis zur Wölbung seiner Lippen wandern, wo ich lange genug innehalte, um mich daran zu erinnern, wie wundervoll sie sich auf meinen anfühlen.
»Gehen wir doch zum Pavillon«, sage ich, während ich seinen Blick suche und schließlich erneut sein schlichtes schwarzes T-Shirt mustere und das Seidenband mit den Kristallen, das unter dem Stoff verborgen ist, und weiter über seine ausgebleichte Jeans und die braunen Flipflops an seinen Füßen sehe. »Gehen wir uns amüsieren«, dränge ich ihn, schließe die Augen und manifestiere mir ein komplett neues Kostüm. T-Shirt, Shorts und Sneakers, die ich zum Training getragen habe, weichen der Kopie eines der schönsten tief dekolletierten Korsagenkleider aus meinem Pariser Leben.
Ein kurzer Blick in seine verträumten Augen genügt mir, um mir zu versichern, dass es so gut wie abgemacht ist. Der Zauber des Pavillons ist praktisch unwiderstehlich.
Es ist der einzige Ort, wo wir uns richtig berühren können, ohne den störenden Energieschild – wo unsere Haut aufeinandertreffen und sich unsere DNA vermischen darf, ohne dass Damens Seele unmittelbare Gefahr droht.
Der einzige Ort, wo wir in eine andere Welt verschwinden können, die keine der Gefahren derer birgt, in der wir leben.
Und obwohl ich nicht mehr mit den Beschränkungen unseres hiesigen Lebens hadere und keine große Notiz mehr von ihnen nehme, seit ich weiß, dass sie eine direkte Folge dessen sind, dass ich die richtige Wahl getroffen habe, die einzige Wahl, und dass meine Entscheidung, Damen dazu zu zwingen, Romans Elixier zu trinken, die einzige Ursache dafür ist, dass er heute noch an meiner Seite ist – das Einzige, was ihn vor einem ewigen Dasein im Schattenland gerettet hat –, bin ich froh über jede seiner Berührungen, egal in welcher Form.
Doch nun, da ich einen Ort kenne, an dem es noch um so vieles besser ist, will ich unbedingt dorthin, und zwar am liebsten jetzt gleich.
»Aber was ist mit den Übungen? Morgen fängt die Schule an, und ich will nicht, dass du unvorbereitet erwischt wirst«, sagt er, bemüht, das Gute und Richtige zu tun, auch wenn klar auf der Hand liegt, dass unser Ausflug zum Pavillon so gut wie abgemacht ist. »Wir haben keine Ahnung, was sie vorhat, also müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen. Außerdem haben wir noch kein Tai Chi gemacht, und ich finde, dass sollten wir noch tun. Du wirst erstaunt sein, wie sehr es dir dabei hilft, deine Energie ins Gleichgewicht zu bringen – sie auf eine Art und Weise aufzuladen, dass ...«
»Weißt du, was außerdem gut ist, um meine Energie aufzuladen?«, frage ich lächelnd und lasse ihm keine Zeit zu antworten, sondern drücke meine Lippen auf seine und versuche, ihm seine Einwilligung abzuringen, damit wir den Ort aufsuchen können, an dem ich ihn richtig küssen kann.
Sein warmer Blick erfüllt mich mit jenem herrlichen Gefühl von prickelnder Hitze, das nur er hervorrufen kann. Er macht sich von mir los und sagt: »Gut. Du hast gewonnen. Aber das tust du ja eigentlich immer, oder?« Er lächelt und strahlt mich glücklich an.
Dann nimmt er meine Hand und schließt die Augen, und wir treten gemeinsam durch einen schimmernden Schleier aus weichem, goldenem Licht.
Wir landen mitten im Tulpenfeld, umgeben von Hunderttausenden herrlicher Blumen. Ihre roten Blütenblätter leuchten in dem stets vorhandenen leichten Nebelglanz, und ihre langen grünen Stängel wiegen sich in der Brise, die Damen gerade manifestiert hat.
Wir legen uns auf den Rücken, schauen in den Himmel und rufen eine Wolkengruppe herbei, die wir dann – einfach durch unsere Vorstellungskraft – zu allen möglichen Tieren und Objekten formen, ehe wir alles wieder wegwischen und in den Pavillon gehen. Nebeneinander lassen wir uns auf die große, weiße, marshmallowweiche Couch fallen. Ich schmiege mich tief in die Kissen, während Damen nach der Fernbedienung greift und sich an mich kuschelt.
»Also, wo fangen wir an?«, fragt er und zieht die Brauen auf eine Weise hoch, die mir sagt, dass er ebenso begierig darauf ist wie ich.
Ich schlage die Beine unter, stütze den Kopf auf die Hand und sehe ihn kokett an. »Hmmm ... schwere Frage. Sag mir noch mal, was für Wahlmöglichkeiten ich habe.« Meine Finger kriechen unter sein Hemd, und ich weiß, dass ich ihn schon sehr bald richtig berühren kann.
»Tja, da wäre einmal dein Pariser Leben, für das du ja zufälligerweise schon richtig angezogen bist.« Er nickt zum Ausschnitt meines Kleides hin und lässt den Blick auf dem tiefen Dekolletee verweilen. »Dann gibt es natürlich noch dein Puritanerleben, das aber nicht zu meinen Favoriten gehört ...«
»Hat das irgendwas mit der Kleidung zu tun? Mit den tristen, gedeckten Farben und den hochgeschlossenen Kragenformen?«, frage ich und muss an das hässliche Kleid denken, das ich in jener Zeit getragen habe, daran, wie unbequem es war und wie der Stoff mich auf der Haut gekratzt hat. Es ist definitiv auch nicht meine Lieblingszeit. »Wenn das nämlich zutrifft, dann muss ich dir ja in meinem Londoner Leben als verwöhnte Tochter eines reichen Landadligen mit einer unerschöpflichen Garderobe aus spektakulären Kleidern und Bergen von sagenhaften Schuhen besonders gut gefallen haben.« Auf jeden Fall ist es eine meiner Lieblingszeiten, wenn auch vielleicht nur aufgrund der schieren Einfachheit meines damaligen Alltagslebens, denn die einzigen Dramen, mit denen ich konfrontiert war, waren diejenigen, die ich selbst ausgelöst habe.
Damen lässt den Blick über mein Gesicht schweifen und streichelt mir mit einer Hand die Wange, während hartnäckig dieser Energieschleier zwischen uns vibriert, jedoch nur so lange, bis wir eine Szene auswählen.
»Tja, wenn du es unbedingt wissen willst, muss ich sagen, dass ich ein besonderes Faible für Amsterdam habe. Damals, als ich der Künstler war und du die Muse, und ...«
»... und ich die meiste Zeit praktisch nackt war, bedeckt lediglich von meinem langen roten Haar und einem dünnen Seidenunterrock.« Ich schüttele den Kopf und lache. Seine Wahl überrascht mich nicht im Geringsten. »Aber ich bin mir trotzdem sicher, dass das nicht der wahre Grund ist. Oder? Es ist doch bloß ein Zufall, stimmt’s? Ich meine, bestimmt warst du wesentlich mehr an den künstlerischen Aspekten interessiert als an irgendetwas anderem ...«
Ich lehne mich an ihn und lenke ihn mit einem raschen Kuss auf die Wange ab, dann nehme ich ihm die Fernbedienung aus der Hand. Sofort zeichnet sich auf seiner Miene gespielte Empörung ab, und ich gönne mir den Spaß, ihn mit der geklauten Fernbedienung zu necken.
»Was machst du denn?«, fragt er und sieht auf einmal ganz besorgt aus, während er sich ernsthaft darum bemüht, das Teil wiederzukriegen.
Doch ich gebe nicht auf. Und ich gebe nicht nach. Schon allein aus dem Grund, weil er jedes Mal, wenn wir hierherkommen, die Kontrolle darüber hat, und ich ausnahmsweise auch einmal diejenige sein möchte, die ihn überrascht.
Ich halte mir das Ding hoch über den Kopf und wechsle es von einer Hand in die andere, entschlossen, es stets außer Reichweite zu lassen. Vor Anstrengung atme ich ein bisschen schwerer, sehe ihn an und sage: »Tja, nachdem wir uns offenbar unmöglich auf eine Lieblingsepoche einigen können, kann ich doch auch gleich irgendeine x-beliebige Taste drücken und dann sehen, wo wir landen.«
Sein Gesicht ist auf einmal kreidebleich und sein Blick grimmig. Seine ganze Miene, ja seine ganze Stimmung hat sich auf einen Schlag verändert, er wirkt regelrecht erschüttert, was mir, ehrlich gesagt, wie eine totale Überreaktion auf die Situation erscheint, sodass ich schon nahe daran bin, ihm das Gewünschte zu überlassen. Aber dann reitet mich der Teufel und ich drücke stattdessen eine Taste.
Ich nuschele vor mich hin, wie typisch es doch für einen Mann sei, unbedingt die Kontrolle über die Fernbedienung haben zu müssen, während der Bildschirm aufleuchtet und ein Bild erscheint ...
Auf dem etwas ist, was ich noch nie gesehen habe.
»Ever!« Damen schnappt nach Luft, und er spricht mit leiser, gefasster Stimme, doch es kann kein Zweifel daran bestehen, wie ernst es ihm mit seinem Anliegen ist. »Ever, bitte, bitte gib mir die Fernbedienung – ich ...«
Er greift erneut danach, aber es ist zu spät, ich habe sie schon unters Kissen geschoben.
Vor ihm in Sicherheit gebracht.
Habe die Bilder bereits gesehen, die da ablaufen.
Es ist – es sind die Südstaaten vor dem Sezessionskrieg. Und auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, wo es genau ist, sehe ich es an den Häusern, an dem Stil, in dem sie gebaut sind und der, glaube ich, Plantagenstil heißt – und daran, wie sich die Atmosphäre verändert hat. Der Himmel wirkt heiß, hell und unglaublich schwül, so wie ich es in keinem meiner anderen Leben jemals gesehen oder gefühlt habe, und mir ist einfach klar, dass dies der tiefe Süden ist. Wie die Einführungstotale in einem Film – eine Einstellung, die einem zeigt, wo die Geschichte spielt.
Und dann, ebenso schnell, sind wir im Haus. Blicken direkt auf die Nahaufnahme eines Mädchens vor einem Fenster, das es eigentlich putzen soll, aus dem es jedoch stattdessen mit verträumter Miene hinaussieht.
Sie ist groß für ihr Alter und schlank und hat schmale Schultern. Glänzende dunkle Haut und lange, schlaksige Gliedmaßen, die meterlang zu sein scheinen, bis sie in einem Paar dünner Knöchel enden, die aus dem Saum ihres einfachen Kattunkleids hervorsehen. Einem Kleidungsstück, das so viel getragen wurde, dass es offenbar wieder und wieder geflickt werden musste. Doch es ist sauber und gebügelt, und auch sie selbst ist sauber und gepflegt, denn obwohl ich sie nur im Profil sehe, da sie sich zur Seite gewandt hat, erkenne ich, dass ihr das lange, dunkle Haar in einer komplizierten Abfolge von Knoten und Zöpfen über den Rücken fällt.
Doch erst als sie sich umdreht, und zwar so, dass ich ihr Gesicht deutlich sehen kann und ihr direkt in die tiefbraunen Augen sehe, begreife ich ...
Ich sehe mich selbst an!
Ich schnappe nach Luft – so laut, dass es von den gerundeten weißen Marmorwänden widerhallt –, während ich in ein junges und schönes Gesicht sehe, das jedoch weit über ihre/meine Jahre hinaus betrübt ist. Und einen Moment später, als ein wesentlich älterer, weißer Mann erscheint, wird mir die Bedeutung des Ganzen schlagartig klar.
Er ist der Herr. Ich bin seine Sklavin. Und hier ist keine Zeit für Tagträume.
»Ever, bitte«, fleht Damen mich an. »Gib mir die Fernbedienung, jetzt gleich, bevor du etwas siehst, was du bereuen wirst – etwas, was du nie wieder aus deinem Gedächtnis wirst löschen können.«
Doch ich gebe sie ihm nicht.
Das kann ich nicht.
Ich muss einfach zusehen, wie dieser fremde Mann, den ich aus keinem meiner Leben kenne, sie – mich –nur wegen des Traums von einem besseren Leben genüsslich verprügelt.
Ich bin nicht dort, um zu hoffen oder zu träumen oder dergleichen. Ich bin nicht dort, um mir weit entfernte Orte auszumalen oder eine Liebe, die mich retten wird.
Es gibt keine Rettung für mich.
Keinen besseren Ort.
Es wird keine Liebe kommen.
So lebe ich – und so sterbe ich.
Für mich und meinesgleichen ist die Freiheit nicht vorgesehen.
Und je eher ich mich damit abfinde, desto besser, erklärt er mir und bekräftigt es mit jedem Hieb seiner Peitsche.
»Warum hast du mir das nie erzählt?«, flüstere ich fast unhörbar. Völlig perplex von den Bildern vor mir verfolge ich, wie ich mit schrecklicher Härte geschlagen werde. Jeden einzelnen Hieb nehme ich hin, fast ohne mit der Wimper zu zucken, mit unerschütterlichem Schweigen und einer Würde, die ich entschlossen aufrechterhalte.
»Wie du siehst, ist es keines deiner romantischen Leben«, sagt Damen, dessen Stimme vor Mitgefühl ganz heiser klingt. »Teile davon – wie der Ausschnitt, den du gerade siehst – sind extrem unerfreulich, und ich bin noch nicht dazu gekommen, das hier zu korrigieren oder in irgendeiner Form zu bearbeiten. Einzig und allein aus dem Grund habe ich es dir bisher vorenthalten. Doch sobald ich das erledigt habe, verspreche ich dir, dass ich es dich sehen lasse. Ob du es glaubst oder nicht, es gab auch glückliche Momente. Es war nicht immer so. Aber Ever, bitte tu dir selbst den Gefallen und schalte es ab, ehe es noch schlimmer wird.«
»Es wird noch schlimmer?« Ich drehe mich um und habe Tränen in den Augen wegen des hilflosen Mädchens, das ich vor mir sehe – des Mädchens, das ich einmal war.
Er nickt nur, angelt die Fernbedienung unter dem Kissen hervor und schaltet aus. Und dann sitzen wir beide da, erschüttert von den grauenhaften Szenen, die wir soeben gesehen haben. Entschlossen, das lastende Schweigen zu brechen, frage ich: »Und meine anderen Leben – all die Szenen, die wir gern immer wieder ansehen – sind die auch bearbeitet?«
Er sieht mich an, seine Brauen sind besorgt zusammengezogen. »Ja. Ich dachte, das hätte ich dir schon beim ersten Mal erklärt, als wir hier waren. Ich wollte nie, dass du etwas so Verstörendes wie das hier siehst. Es ist sinnlos, traumatische Ereignisse, die wir nicht ändern können, noch mal zu durchleben.«
Ich schüttele den Kopf und schließe die Augen, doch das kann die brutalen Bilder nicht stoppen, die weiterhin in meinem Geist ablaufen. »Irgendwie war mir nicht klar, dass du derjenige warst, der es bearbeitet hat. Ich dachte, der Ort macht es irgendwie – als würde das Sommerland nicht gestatten, dass etwas Schlimmes einfließt – oder etwas ...«
Ich verstumme und lasse den unvollendeten Satz einfach so stehen. Ich muss an den dunklen, verregneten, gruseligen Teil denken, auf den ich einmal gestoßen bin, und weiß, dass wie Yin und Yang jedes Licht seine Finsternis hat, offenbar auch das Sommerland.
»Ich habe diesen Ort geschaffen, Ever. Speziell für dich – für uns. Was bedeutet, dass auch ich derjenige bin, der die Szenen bearbeitet.« Er stellt es wieder an, hat aber gezielt einen angenehmeren Anblick ausgewählt, bei dem wir beide uns in Abendgarderobe von einem Ball davonschleichen. Ein glücklicher Ausschnitt aus dem leichten Londoner Leben, das ich so gern mag – ein offenkundiger Versuch, die Stimmung zu heben und die Düsternis zu vertreiben, die wir alle beide soeben durchlebt haben –, doch es funktioniert nicht richtig. Wenn man sie einmal gesehen hat, lassen sich die schrecklichen Bilder nicht so leicht verdrängen.
»Es gibt viele Gründe, warum wir uns nicht an unsere früheren Leben erinnern, wenn wir wiedergeboren werden – und das, was du gerade erlebt hast, ist definitiv einer davon. Manchmal sind sie einfach zu schmerzhaft, um sich damit zu befassen – es ist zu schwer, darüber hinwegzukommen. Erinnerungen sind hartnäckig. Ich muss es wissen, mir gehen nämlich auch einige davon nach. Seit über sechshundert Jahren.«
Obwohl er auf den Bildschirm zeigt, auf eine erheblich fröhlichere Version von mir – es hat keinen Zweck. Es gibt keine unmittelbare Schnellkur für das, was ich jetzt weiß.
Bis zu diesem Moment war ich mir sicher, dass mein Leben als niedrige Pariser Dienstmagd das Schlimmste war, was meine Vergangenheit zu bieten hatte. Aber eine richtige Sklavin? An so etwas hätte ich niemals gedacht – wäre nicht im Traum darauf gekommen. Und ehrlich gesagt hat mir die Brutalität der Szene den Atem stocken lassen.
»Der Zweck der Wiedergeburt ist, so viele verschiedene Leben kennen zu lernen wie möglich«, sagt Damen, während er meine Gedanken liest. »So lernen wir die wichtigsten Lektionen der Liebe und des Mitleids – indem wir buchstäblich in die Haut des anderen schlüpfen, die dann letztlich unsere eigene wird.«
»Ich dachte, du hättest gesagt, es ginge darum, unser Karma ins Gleichgewicht zu bringen.« Ich runzele die Stirn und versuche, aus alldem schlau zu werden.
Er nickt mit geduldiger, freundlicher Miene. »Wir entwickeln unser Karma durch die Entscheidungen, die wir treffen, dadurch, wie schnell – oder wie langsam – wir erfassen, was in der Welt wirklich zählt – wie schnell wir uns dem wahren Grund dafür unterwerfen, aus dem wir hier sind.«
»Und der wäre?«, frage ich, immer noch reichlich durcheinander. »Der wahre Grund, meine ich?«
»Einander zu lieben.« Er zuckt die Achseln. »Nicht mehr und nicht weniger. Es klingt recht einfach, als müsste es ziemlich einfach zu bewerkstelligen sein. Doch ein intensiver Blick auf unsere Geschichte, einschließlich der Geschichte, die du gerade gesehen hast, macht einem, denke ich, begreiflich, wie schwer es manchen fällt, diese Lektion zu lernen.«
»Dann hast du also versucht, mich vor alldem zu schützen?«, frage ich, da mich mittlerweile die Neugier plagt. Ein Teil von mir will mehr sehen, sehen, wie sie/ich das alles überstanden hat – und ein Teil von mir weiß, dass jeder, der gelernt hat, eine solche Tracht Prügel mit solcher Würde und solcher Ungerührtheit zu ertragen, bereits viel, viel mehr davon durchlitten hat.
»Trotz der Szene, die du gesehen hast, musst du wissen, dass es auf jeden Fall auch helle Seiten gab. Du warst so schön, so strahlend, und als ich es erst einmal geschafft hatte, dich dort herauszuholen ...«
»Warte – du hast mich gerettet?« Ich sehe ihn an, die Augen weit aufgerissen, als betrachtete ich meinen ganz persönlichen Märchenprinz. »Du hast mich frei bekommen?«
»Gewissermaßen ...« Er nickt, aber sein Blick weicht meinem aus, seine Stimme wird belegt, und es ist offensichtlich, dass er die Sache nicht weiter vertiefen möchte.
»Und, waren wir ... glücklich?«, frage ich, da ich es aus seinem Mund hören muss. »Ich meine, wirklich richtig glücklich?«
Er nickt erneut. Hebt rasch den Kopf und senkt ihn wieder, doch das ist alles.
»Bis Drina mich umgebracht hat«, sage ich und ergänze damit den Teil, den er verschweigt. Immer ist sie es gewesen, die meinen Tod beschleunigt hat, also warum sollte ein Leben als Sklavin anders enden? Ich registriere, wie sich seine Miene grimmig verzerrt und er unruhig die Hände ringt, doch ich lasse mich nicht einfach so abspeisen. »Also, dann erzähl mir mal, wie sie es dieses Mal gemacht hat. Hat sie mich vor eine Kutsche geschubst, mich von einem Felsen gestoßen, mich in einem See ertränkt, oder hat sie etwas Neues ausprobiert?«
Er begegnet meinem Blick, und obwohl er lieber nicht antworten möchte, ist ihm klar, dass ich nicht lockerlassen werde, bis er mir antwortet. »Du brauchst nur zu wissen, dass sie sich niemals wiederholt hat«, sagt er schließlich seufzend und mit todernstem Gesicht. »Wahrscheinlich weil es ihr so großen Spaß gemacht hat, sich immer neue Methoden auszudenken. Und vermutlich wollte sie nicht, dass ich argwöhnisch werde. Aber vergiss nicht, Ever, obwohl das, was du gesehen hast, unglaublich dramatisch war, habe ich dich geliebt und du mich, und es war wundervoll und herrlich, solange es anhielt.«
Ich wende mich ab, muss das alles erst einmal verarbeiten. Doch es ist viel. Zu viel auf einmal, das steht fest.
»Wirst du es mir eines Tages zeigen?« Ich sehe ihn wieder an.
Ein Versprechen liegt in seinem Blick, als er mich ansieht. »Ja, aber lass mir erst ein bisschen Zeit, es zu bearbeiten, okay?«
Ich nicke und beobachte, wie er die Schultern sinken lässt und den Kiefer lockert, und weiß, dass das alles für ihn fast genauso hart war wie für mich.
»Aber was hältst du davon, wenn wir erst einmal auf weitere Überraschungen verzichten? Gehen wir doch an einen fröhlicheren Ort, wenn du Lust hast.«
Ich sitze einen Moment lang da und fühle mich so allein mit meinen Gedanken, dass es so ist, als wäre Damen gar nicht da.
Doch dann reißt mich seine Stimme heraus, die dicht an meinem Ohr flüstert: »Hey, schau mal, jetzt kommt der gute Teil – was hältst du davon, wenn wir sie werden?«
Mein Blick wandert zum Bildschirm, von dem eine ganz andere Version von mir herunterstrahlt. In meinem glänzenden dunklen Haar blinken zahlreiche Spangen und juwelenbesetzte Nadeln, die extra angefertigt wurden, um zu meinem herrlichen, smaragdgrünen Kleid zu passen. Selbstbewusst stehe ich da – mir meiner Schönheit und meiner Privilegiertheit ebenso bewusst wie meines Rechts, mir alles zu erträumen, was ich will, alles zu bekommen, was ich will, und mir zu nehmen, wen ich will – auch diesen gut aussehenden Unbekannten, den ich gerade kennen gelernt habe.
Der, gegenüber dem die zahlreichen Verehrer, die ich drinnen zurückgelassen habe, entsetzlich langweilig wirken.
Eine Version von mir, die in so starkem Gegensatz zu derjenigen steht, die ich einen Augenblick zuvor gesehen habe, dass ich es kaum fassen kann. Und obwohl ich fest entschlossen bin, dieses andere Ich bald wieder aufzusuchen, kann es fürs Erste warten.
Wir sind hierhergekommen, um noch ein bisschen Sommerspaß zu genießen, und ich werde dafür sorgen, dass wir das auch tun.
Mit verschlungenen Händen erheben wir uns von der Couch, gehen auf den Bildschirm zu und bleiben nicht stehen, bis wir mit den Personen auf dem Schirm verschmelzen und ganz in der Szenerie aufgehen.
Mein Pariser Kleid wird augenblicklich durch ein für mich maßgeschneidertes, smaragdgrünes Ballkleid ersetzt, meine Lippen berühren Damens hartes Kinn, ich flirte, liebkose ihn mit der Zungenspitze, ehe ich herumwirbele, meine Röcke lüfte und ihn tiefer und tiefer in den dunkelsten Teil des Gartens führe, an eine Stelle, wo uns niemand finden kann – nicht mein Vater, nicht die Diener, nicht meine Verehrer, nicht meine Freundinnen ...
Ich will nichts weiter als diesen dunklen, gut aussehenden Unbekannten küssen, der stets wie aus dem Nichts auftaucht, der offenbar immer meine Gedanken lesen kann und der mich mit seinem Kribbeln und seiner Hitze vom ersten Moment an in seinen Bann gezogen hat.
Vom ersten Moment an, als er mir in die Seele blickte.
Musst du nicht langsam zur Schule aufbrechen?«
Ich drehe den Deckel von der Flasche mit meinem Elixier ab und schaue zum Küchentisch, wo Sabine sitzt. Sie hat das schulterlange, blonde Haar ordentlich hinter die Ohren gesteckt, ist geschmackvoll und dezent geschminkt und trägt ein sauberes, frischgebügeltes und perfekt sitzendes Kostüm – und ich frage mich zwangsläufig, wie es wohl ist, sie zu sein. Wie es wohl ist, in einer Welt zu leben, in der alles so ordentlich, so methodisch und so akkurat eingerichtet ist.
In der es für jedes Problem eine logische Lösung gibt, für jede Frage eine akademische Erklärung und jeder Zweifel mit dem simplen Urteilsspruch schuldig oder nicht schuldig aufgelöst werden kann.
Eine Welt, in der alles schwarz oder weiß ist und in der sämtliche Schattierungen von Grau schleunigst weggewischt werden.
Es ist schon sehr lange her, dass ich in dieser Welt gelebt habe, und nach allem, was ich inzwischen gesehen habe, ist es ausgeschlossen, dass ich je wieder dort einziehen werde.
Sie sieht mich unverwandt an, mit strenger Miene und verkniffenem Mund und will sich gerade wiederholen, als ich sage: »Damen nimmt mich heute mit. Er müsste bald da sein.«
Ihr ganzer Körper verkrampft sich, als sie nur seinen Namen hört. Sie macht ihn für meinen Sündenfall verantwortlich, obwohl er an dem Tag nicht einmal in der Nähe des Ladens war.
Sie nickt und lässt den Blick langsam über mich streifen, wobei sie jede Einzelheit registriert. Beginnend an meinem Kopf, arbeitet sie sich bis zu den Zehen hinab, ehe sie erneut oben anfängt. Auf der Suche nach schlechten Vorzeichen, Warnleuchten, Alarmsignalen, eben irgendetwas, das neuen Ärger prophezeit. Die Art von verräterischen Symptomen, vor denen sie ihre Bücher über Kindererziehung gewarnt haben. Doch sie bekommt wenig mehr zu sehen als das Bild eines leicht gebräunten, blonden und blauäugigen Mädchens in einem weißen Sommerkleid und ohne Schuhe.
»Ich hoffe, wir kriegen dieses Jahr nicht noch mehr Ärger.« Sie hebt den Becher an die Lippen und späht mich über dessen Rand hinweg an.
»Und welche Art von Ärger meinst du damit?«, frage ich und hasse es, dass meine Stimme so leicht eine sarkastische Färbung annimmt, aber ich habe es langsam ein bisschen satt, dass sie mich ständig in die Defensive drängt.
»Ich denke, das weißt du.« Ihre Worte klingen abgehackt, und ihre Stirn ist gefurcht, während ich tief Luft hole und mir verkneife, so mit den Augen zu rollen, dass sie es sehen kann.
Ich bin hin und her gerissen zwischen tiefem Gram darüber, dass es so weit gekommen ist – die lange Liste täglicher Schuldzuweisungen, die nie wieder gelöscht werden kann –, und Wut darüber, dass sie sich weigert, mich beim Wort zu nehmen – das, was ich sage, als die Wahrheit zu akzeptieren und einzusehen, dass das die Person ist, die ich wirklich, ehrlich bin, mit allen Vor- und Nachteilen.
Doch ich zucke nur die Achseln, bevor ich ihr antworte. »Tja, dann wird es dich ja freuen zu hören, dass ich nicht mehr trinke. Ich habe kurz nach der Suspendierung damit aufgehört. In erster Linie weil es mir nicht besonders gutgetan hat, und auch wenn du das jetzt wahrscheinlich nicht hören willst, ja vielleicht nicht einmal glaubst, es hat meine Begabungen in übelster Art und Weise beeinträchtigt.«
Sie wird wütend. Als sie mich das Wort Begabungen aussprechen hört, stellt sie förmlich die Stacheln auf. Nachdem sie mich bereits als erbärmliche, geltungssüchtige Betrügerin abgestempelt hat, die unmissverständlich um Hilfe ruft, ist ihr meine Verwendung dieses Worts zutiefst verhasst. Es ist ihr unerträglich, dass ich mich weigere, klein beizugeben, dass ich mich weigere, mich ihr zu unterwerfen.
»Außerdem«, sage ich und tippe mit meiner Flasche gegen die Arbeitsfläche, während ich sie aus schmalen Augen ansehe, »hast du wahrscheinlich ohnehin schon Mr. Muñoz überredet, mich auszuspionieren und dir jeden Abend einen vollständigen Bericht zu liefern.« Ich bereue meine Worte, sowie ich sie ausgesprochen habe, denn selbst wenn das auf Sabine zutreffen sollte, ist es Mr. Muñoz gegenüber echt nicht fair. Er ist immer nett und hilfsbereit mir gegenüber gewesen und hat mir kein einziges Mal ein schlechtes Gewissen deswegen gemacht, wie ich bin. Wenn überhaupt, dann ist er eher neugierig, fasziniert und erstaunlich gut informiert. Ein Jammer, dass er seine Freundin nicht auch davon überzeugen kann.
Aber trotzdem, wenn es ihr dermaßen widerstrebt, mich so zu akzeptieren, wie ich bin, warum soll ich dann so schnell akzeptieren, dass sie in meinen alten Geschichtslehrer verliebt ist?
Abgesehen davon, dass es mir gut anstünde.
Und zwar nicht nur, weil ein zweifaches Unrecht so gut wie nie ein Recht ergibt, sondern weil ich im Endeffekt, ganz egal, was sie denkt, und ganz egal, was ich sage, in Wirklichkeit nur will, dass sie glücklich ist.
Tja, das und dass sie über all das hinwegkommt, damit wir wieder so leben können wie zuvor.
»Hör mal«, sage ich, bevor sie reagieren kann, da ich unbedingt verhindern muss, dass die Situation noch schlimmer wird, als sie schon ist. Ehe das Ganze zu einer Brüllorgie ausartet, wie wir sie schon oft hatten, seit sie mich dabei ertappt hat, wie ich ihrer Freundin unter dem Decknamen Avalon die Zukunft vorhergesagt habe. »Ich hab’s nicht so gemeint. Ehrlich. Es tut mir leid.« Ich nicke. »Können wir also bitte Waffenstillstand schließen? Einen, bei dem du mich akzeptierst und ich dich und wir danach glücklich und zufrieden leben, in Frieden und Freude und Harmonie und so weiter?«
Ich flehe sie praktisch mit Blicken an, nachzugeben, doch sie schüttelt den Kopf und murmelt etwas kaum Verständliches. Es geht irgendwie darum, dass ich von jetzt an sofort nach der Schule nach Hause kommen soll, bis sie mir andere Anweisungen erteilt.
Doch obwohl ich sie liebe – obwohl ich ihr dankbar für alles bin, was sie getan hat –, es wird keine Einschränkungen geben, keinen Hausarrest, nichts dergleichen. Denn schließlich muss ich nicht hier wohnen. Ich muss mich nicht mit all diesem Kram abfinden. Ich habe Alternativen – und zwar jede Menge. Und Sabine hat keine Ahnung, was ich alles auf mich nehme, um ihr etwas anderes vorzugaukeln.
Ich gebe vor zu essen, obwohl ich nicht mehr essen muss, ich gebe vor zu lernen, obwohl es nicht mehr nötig ist, ich gebe vor, genau wie jedes andere normale siebzehnjährige Mädchen zu sein, das in Bezug auf Essen, Wohnen und Unterhalt und so ziemlich ihr gesamtes Wohlergehen auf die Erwachsenen angewiesen ist – obwohl ich nicht einmal annähernd ein solches Mädchen bin. Ich bin so weit davon entfernt wie nur irgend möglich. Und es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie niemals mehr herausfindet, als sie bereits herausgefunden hat.
»Wie wär’s damit?«, frage ich, lasse mein Elixier in der Flasche herumwirbeln und sehe zu, wie es glitzert und leuchtet, während es an den Seiten hinauf- und hinunterläuft. »Ich werde mich mit aller Kraft darum bemühen, keinen Ärger mehr zu kriegen und dir keinen Stress zu machen – wenn du einwilligst, das Gleiche zu tun. Abgemacht?«
Sie sieht mich mit zusammengezogenen Brauen an und versucht offenbar zu ergründen, ob ich es ernst meine oder gerade eine Drohung ausgestoßen habe. Einen Moment lang schürzt sie die Lippen, lange genug, um ihre Worte zu wählen, ehe sie antwortet. »Ever – ich – ich mache mir einfach nur solche Sorgen um dich.« Sie schüttelt den Kopf und fährt mit einem Finger den Rand ihres Bechers entlang. »Ob du es nun zugibst oder nicht, du hast ganz massive Probleme, und ich bin mit meiner Weisheit am Ende. Ich weiß nicht mehr, wie ich mit dir umgehen soll, wie ich an dich rankommen soll, wie ich dir helfen kann ...«
Ich knalle den Deckel auf die Flasche. Mein letztes Quäntchen guter Wille hat sich in Luft aufgelöst. »Ja, gut, vielleicht hilft das ja. Erstens – wenn du mir wirklich helfen willst, dann könntest du schon mal damit anfangen, dass du mich nicht als verrückt bezeichnest.« Ich schüttele den Kopf und streife die Sandalen über die Füße, da ich spüre, wie Damen in unsere Einfahrt einbiegt, und das keine Sekunde zu früh. »Und zweitens ...« Ich werfe mir die Tasche über die Schulter und erwidere ihren bösen Blick mit einem ebensolchen meinerseits. »Du könntest dir auch abgewöhnen, mich als geltungssüchtige, schwer gestörte, bedürftige Betrügerin oder Ähnliches zu bezeichnen. Die beiden Punkte allein wären schon ein sehr guter Anfang, um mir zu helfen, Sabine.«
Ich lasse ihr keine Zeit, zu reagieren, stürme aus der Küche und aus dem Haus, schlage die Tür wesentlich fester zu als beabsichtigt und eile auf Damens Auto zu.
Ich lasse mich auf den weichen Ledersitz gleiten und zwinkere ihm zu.
»So weit ist es also schon gekommen«, sagt er.
Ich folge seinem ausgestreckten Zeigefinger bis zu dem Fenster, hinter dem Sabine steht. Sie macht sich nicht die Mühe, durch die Jalousien zu spähen oder durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Sie versucht nicht einmal zu verbergen, dass sie mich beobachtet – uns beobachtet, sondern steht einfach nur da mit zusammengepressten Lippen und ernster Miene, die Hände in die Hüften gestemmt, und starrt uns beide an.
Ich seufze und weiche ihrem Blick aus. »Sei bloß froh, dass ich dir das Verhör erspart habe, das dir geblüht hätte, wenn du reingekommen wärst.« Ich schüttele den Kopf. »Glaub mir, ich hatte meine Gründe, als ich dich gebeten habe, draußen zu warten.«
»Reitet sie immer noch darauf rum?«
Ich nicke und verdrehe die Augen.
»Bist du sicher, dass ich nicht mit ihr reden soll? Vielleicht würde es helfen.«
»Vergiss es.« Ich schüttele den Kopf und wünschte, er würde schnellstens zurücksetzen und mich von hier wegbringen. »Man kann nicht mit ihr reden – sie ist komplett außer sich, und glaub mir, wenn du versuchst, mit ihr zu reden, machst du es nur schlimmer.«
»Schlimmer als der böse Blick, den sie mir gerade von ihrem Spähposten am Fenster zugeworfen hat?« Er schaut zwischen Rückspiegel und mir hin und her und fährt aus der Einfahrt, wobei er den Mund auf eine Weise verzieht, die mir eindeutig zu neckisch ist.
Das hier ist ernst.
Ich meine es ernst.
Und auch wenn das alles für ihn nicht so ernst erscheinen mag, ist es für mich ein ganz schöner Brocken.
Doch als ich ihn erneut ansehe, beschließe ich, nachsichtig mit ihm zu sein. Ich rufe mir in Erinnerung, dass ihn die Anzahl seiner Lebensjahre, der Reichtum seiner sechs Jahrhunderte Lebenserfahrung, den kleinen Alltagsdramen, die immer so viel Raum einnehmen, mehr oder weniger ungerührt gegenüberstehen lässt.
In Damens Augen fällt so ziemlich alles andere außer mir in die Kategorie »Nicht der Mühe wert«. Das geht so weit, dass es den Anschein hat, als wäre das Einzige, was ihm momentan überhaupt noch am Herzen liegt, das Einzige, worauf er sich überhaupt noch konzentriert – noch mehr als darauf, ein Gegengift zu finden, damit wir nach vierhundert Jahren Warten endlich zusammen sein können –, meine Seele vor dem Schattenland zu bewahren. In seinen Augen spielt alles andere daneben kaum eine Rolle.
Und auch wenn ich durchaus kapiere, dass es ums große Ganze geht, kann ich trotzdem nicht aufhören, mir auch über die kleineren Dinge den Kopf zu zerbrechen.
Und zu Damens Pech kriege ich das am besten geregelt, indem ich immer und immer wieder darüber rede.
Glaub mir, du bist verschont worden, und zwar so was von verschont. Wenn du darauf bestanden hättest, reinzukommen, wäre es noch viel schlimmer geworden. Die Worte strömen von meinem Geist in seinen, während ich durch die Windschutzscheibe starre und erstaunt feststelle, wie unglaublich hell, heiß und sonnig der Tag bereits ist, obwohl es erst kurz nach acht Uhr morgens ist. Und immer wieder frage ich mich, ob ich mich je daran gewöhnen werde – ob ich je aufhören werde, mein neues Leben in Laguna Beach, Kalifornien, mit demjenigen zu vergleichen, das ich in Eugene, Oregon, zurückgelassen habe.
Ob ich je aufhören kann, zurückzublicken.
Immer wieder kehren meine Gedanken zu dem Thema zurück, bis mir Damen das Knie drückt und sagt: »Mach dir keinen Kopf, sie beruhigt sich schon wieder.«
Obwohl seine Stimme zuversichtlich klingt, sagt seine Miene etwas anderes. Seine Worte beruhen wesentlich mehr auf Hoffnung als auf Überzeugung – sein Wunsch, mich zu beruhigen, sticht seine Wahrheitsliebe locker aus. Denn in Wirklichkeit sieht es doch so aus: Wenn Sabine sich jetzt noch nicht beruhigt hat, ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie es je tun wird – zumindest nicht in absehbarer Zeit.
»Weißt du, was mich am meisten stört?«, sage ich, wobei mir natürlich klar ist, dass er es weiß, denn er hat es schon öfter gehört, dennoch fahre ich fort: »Ganz egal, was ich ihr sage, ganz egal, wie oft ich versuche, es ihr zu beweisen, indem ich ihre Gedanken lese und ihr alle möglichen kleinen Ausschnitte aus ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft präsentiere, die ich gar nicht wissen könnte, wenn ich nicht hellsehen könnte – all das ändert irgendwie überhaupt nichts. Ja, es hat eher den Anschein, als würde es das genaue Gegenteil bewirken. Es bestärkt sie bloß darin, noch störrischer zu reagieren und keines meiner Argumente oder irgendetwas, was ich sonst in der Angelegenheit zu sagen habe, zu berücksichtigen. Sie lehnt es komplett ab, sich auch nur ein klein bisschen zu öffnen. Stattdessen wirft sie mir diesen grimmigen, abwertenden Blick zu und ist restlos davon überzeugt, dass ich schwindele und mir die ganze Geschichte bloß aus jämmerlicher Geltungssucht ausgedacht habe. Als hätte ich völlig den Verstand verloren.«
Bei diesem Thema komme ich immer richtig in Fahrt, ich kriege ein rotes Gesicht und rege mich wahnsinnig auf. »Selbst nachdem ich sie gefragt hatte, warum ich eigentlich so viel Zeit und Mühe darauf verwenden soll, meine Fähigkeiten zu verbergen, wenn ich nur scharf darauf bin, dadurch Aufmerksamkeit zu bekommen – selbst nachdem ich sie gebeten hatte, sich noch einmal ihr eigenes dämliches Argument durch den Kopf gehen zu lassen, damit sie begreift, dass es vollkommen unsinnig ist –, hat sie immer noch nicht nachgegeben. Ich meine, sie hat mir allen Ernstes Betrug vorgeworfen!« Ich schließe die Augen und runzele die Stirn und sehe den Moment so klar vor mir, als würde sich alles gerade jetzt abspielen.
Sabine, wie sie am Morgen nach Romans Tod in mein Zimmer gestürzt kam, an dem Morgen, nachdem ich jegliche Hoffnung verloren hatte, jemals wirklich mit Damen zusammen zu sein oder jemals das Gegengift zu bekommen. Wie sie mir nicht mal Zeit gelassen hat, richtig aufzuwachen, mir das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen und mich irgendwie zu wappnen.
Wie sie mich mit einem Schwall selbstgerechter Wut konfrontiert, mich aus schmalen Augen angefunkelt und mich angeblafft hat: »Ever, findest du nicht, dass du mir für gestern Abend eine Erklärung schuldig bist?«
Ich schüttele die Erinnerung daran ab und schaue zu Damen. »Ihrer Meinung nach«, fahre ich fort, »gibt es nämlich keine übersinnlichen Kräfte, keine außersinnliche Wahrnehmung oder irgendetwas dergleichen. Ihr zufolge kann niemand in die Zukunft sehen. Es ist nur eine erlogene Behauptung von geldgierigen, skrupellosen, betrügerischen Scharlatanen wie mir! Und ich habe mutwillig von dem Augenblick an Betrug betrieben, als ich für meine erste Sitzung als Wahrsagerin Geld genommen habe. Und nur für den Fall, dass du es nicht weißt, so etwas hat juristische Konsequenzen, die sie mir natürlich postwendend genüsslich aufgelistet hat. Als sie es dann gestern Abend fertiggebracht hat, mir die Sache noch mal aufs Butterbrot zu schmieren, hab ich sie gefragt, ob sie mir einen guten Anwalt empfehlen könne, da mir langsam klar würde, dass ich in großen Schwierigkeiten stecke.« Ich verdrehe die Augen beim Gedanken daran, wie schlecht das angekommen ist.
Nervös zupfe ich am Saum meines kurzen, weißen Baumwollkleids und balanciere die offene Flasche mit Elixier auf dem Knie, während ich mich ermahne, mich zu beruhigen und es einfach so stehen zu lassen. Wir haben das Ganze schon zigmal durchgekaut, und trotzdem bringt es mich jedes Mal nur noch mehr aus der Fassung.
Ich sehe aus dem Fenster, während Damen langsam abbremst, um eine ältere Frau mit einem Surfbrett in der einen Hand und einer Hundeleine mit einem gelben Labrador in der anderen über die Straße zu lassen. Der Hund erinnerte mich so sehr an meinen alten Hund Buttercup mit seinem wedelnden Schwanz, dem glänzend gelben Fell, den fröhlichen braunen Augen und der niedlichen rosa Schnauze, dass ich zweimal hinsehen muss und sich der altbekannte Schmerz wieder meldet – die stetige Erinnerung an alles, was ich verloren habe.
»Hast du sie daran erinnert, dass sie diejenige ist, die dich mit Ava bekannt gemacht hat, was dich ja dann unbeabsichtigterweise zu dem Job bei MYSTICS & MOONBEAMS geführt hat?«, fragt Damen und holt mich damit in die Gegenwart zurück.
Ich nicke, schaue auf meiner Seite aus dem Fenster und sehe den Hund im Spiegel immer kleiner werden. »Ich habe es gestern Abend erwähnt, und weißt du, was sie gesagt hat?«
Ich lasse die Szene aus meinem Geist in seinen strömen. Sabine steht am Küchentresen, vor sich einen Berg Gemüse, das sie putzen und zerkleinern will. Ich habe meine Joggingsachen angezogen, weil ich ausnahmsweise einmal ohne Theater das Haus verlassen will. Doch alle beiden Vorhaben werden brutal sabotiert, als sie in ihrem endlosen Kampf gegen mich die fünfzehnte Runde einläutet.
»Sie hat gesagt, es sei ein Gag gewesen. Ein Partyspaß. Rein zu Unterhaltungszwecken. Dass man es keinesfalls ernst nehmen soll.«
Eigentlich will ich noch weiterreden, da ich noch nicht einmal annähernd am Ende angelangt bin, da sieht er mich an und sagt: »Ever, wenn ich in meinen sechshundert Lebensjahren eines gelernt habe, dann ist es das, dass die Menschen Veränderungen fast ebenso sehr hassen, wie sie es hassen, wenn man ihre Überzeugungen infrage stellt. Ehrlich. Sieh dir nur an, wie es meinem armen Freund Galileo ergangen ist. Er wurde gnadenlos niedergemacht, weil er die Kühnheit besaß, zu behaupten, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums sei. Es ging so weit, dass er vor Gericht gestellt, der Ketzerei schuldig gesprochen und zum Widerruf gezwungen wurde, und dann musste er den Rest seines Lebens unter Hausarrest verbringen, obwohl wir doch heute alle genau wissen, dass er absolut Recht hatte. Also wenn du’s dir genau überlegst, bist du noch ziemlich gut weggekommen, würde ich sagen.« Er lacht und wirft mir einen Blick zu, der praktisch einer Aufforderung gleichkommt, es leichtzunehmen und mitzulachen, aber ich bin einfach noch nicht so weit. Eines Tages kann ich das vielleicht lustig finden, doch dieser Tag existiert in einer weit entfernten Zukunft, die ich noch nicht sehe.
»Glaub mir«, sage ich und lege meine Hand auf seine, nicht ohne den vibrierenden Energieschleier zwischen uns zu registrieren. »Sie hat es auch mit Hausarrest versucht, doch da war sie bei mir an der falschen Adresse. Ich meine, es ist einfach unfair, dass ich sie und die Schwarz-Weiß-Welt, in der sie lebt, von vornherein akzeptieren soll, während sie mir überhaupt keine Chance gibt, mich zu erklären. Sie ist nicht einmal bereit, meinen Standpunkt auch nur in Betracht zu ziehen, sondern stempelt mich automatisch zu einem verrückten, bedürftigen, überspannten Teenager ab, nur weil ich zufällig Fähigkeiten besitze, die in ihrem engstirnigen Denken keinen Platz haben. Und manchmal macht mich das so wütend, dass ich echt ...« Ich halte inne und presse die Lippen fest zusammen, da ich nicht weiß, ob ich es wirklich laut aussprechen soll.
Damen sieht mich abwartend an.
»Manchmal-kann-ich-es-gar-nicht-erwarten-bis-dieses-Jahr-um-ist-und-wir-die-Schule-hinter-uns-haben-und-irgendwo-hin-ganz-weit-weg-gehen-können-wo-wir-unser-eigenes-Leben-führen-und-das-alles-hinter-uns-lassen-können.« Ich stoße die Worte so hastig hervor, dass sie alle ineinander übergehen und sich eines praktisch nicht mehr vom anderen trennen lässt. »Ich meine, ich habe ein schlechtes Gewissen dabei, erst recht nach allem, was sie für mich getan hat, aber Tatsache ist doch, dass sie nicht einmal die Hälfte davon weiß, was ich alles tun kann. Sie weiß bloß, dass ich übersinnliche Kräfte habe – weiter nichts! Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie sie reagieren würde, wenn ich ihr die ganze Wahrheit sage? Dass ich unsterblich bin und körperliche Kräfte habe, die sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen kann? Wie zum Beispiel die Macht der sofortigen Manifestation, ach und nicht zu vergessen die kleine Zeitreise, die ich neulich unternommen habe, ganz zu schweigen davon, dass ich meine Freizeit gern in der reizenden, etwas abgelegenen alternativen Dimension namens Sommerland verbringe, wo ich in Kostümen aus vergangenen Epochen mit meinem unsterblichen Freund herumknutsche. Kannst du dir vorstellen, wie sie das aufnehmen würde?«
Damen sieht mich lächelnd an, und seine Augen glitzern auf eine Art, die mich augenblicklich mit Kribbeln und Hitze erfüllt. »Was hältst du davon, wenn wir das lieber gar nicht erst ausprobieren?«, fragt er.
Er hält an der Ampel und zieht mich an sich. Seine Lippen streifen über meine Stirn, meine Wange und meinen Hals, bis sie endlich, endlich mit meinen verschmelzen.
Nur Sekundenbruchteile, ehe die Ampel grün wird, löst er sich von mir, sieht mich noch einmal an und fragt: »Bist du dir sicher, dass du das durchziehen willst?«
Die Wärme seines tiefen Blicks brennt sich ein bisschen länger als nötig in meine Augen ein. Er lässt mir genug Zeit, um Nein zu sagen, zu sagen, dass ich noch nicht bereit bin, ja noch nicht einmal nahe daran, damit er wenden und woandershin fahren kann. Irgendwohin, wo es schöner, freundlicher, wärmer ist – zum Beispiel an einen weit entfernten Strand oder vielleicht sogar zu einem geheimen Ort im Sommerland –, weil er noch die schwache Hoffnung hegt, dass ich dann einwillige.
Er ist längst über die ganze Highschool-Szene hinaus – schon seit Jahrhunderten. Ich bin der einzige Grund, warum er hier ist. Der einzige Grund, warum er bleibt. Und jetzt, da wir zusammen sind, glücklich vereint nach mehreren schmerzhaften Jahrhunderten, in denen wir wieder und wieder auseinandergerissen wurden, begreift er einfach nicht, was für einen Sinn das alles haben soll. Sieht es als eine Art nutzlose Scharade an.