Evermore - Die Unsterblichen - Alyson Noël - E-Book

Evermore - Die Unsterblichen E-Book

Alyson Noel

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Beschreibung

Seit dem tragischen Autounfall, bei dem ihre gesamte Familie ums Leben kam und sie als Einzige überlebte, ist die sechzehnjährige Ever in sich gekehrt und lässt niemanden an sich heran. Doch seit diesem traumatischen Ereignis, hat sie eine Gabe: Sie hört die Gedanken der Menschen in ihrer Nähe und kann ihre Aura sehen...

Auftakt der erfolgreichen Evermore-Serie von New York Times Bestsellerautorin Alyson Noël - der Autorin der Gray Wolf Academy Reihe.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

AURA-FARBEN

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

VIERUNDDREISSIG

FÜNFUNDDREISSIG

SECHSUNDDREISSIG

SIEBENUNDDREISSIG

ACHTUNDDREISSIG

DANKSAGUNG

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Leseprobe

Impressum

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Über dieses Buch

Seit dem tragischen Autounfall, bei dem ihre gesamte Familie ums Leben kam und sie als Einzige überlebte, ist die sechzehnjährige Ever in sich gekehrt und lässt niemanden an sich heran. Doch seit diesem traumatischen Ereignis, hat sie eine Gabe: Sie hört die Gedanken der Menschen in ihrer Nähe und kann ihre Aura sehen ...

Auftakt der erfolgreichen Evermore-Serie von Alyson Noël.

Alyson Noël

Evermore –Die Unsterblichen

Aus dem Englischen vonMarie-Luise Bezzenberger

FÜR JOLYNN »SNARKY« BENN –

meine Freundin während vieler, vieler Leben.(Beim nächsten Mal sind wir Rockstars!)

The only secret people keepis immortality.

Emily Dickinson

AURA-FARBEN

Rot:

Energie, Kraft, Zorn, Sexualität, Leidenschaft, Furcht, Ego

Orange:

Selbstbeherrschung, Ehrgeiz, Mut, Bedachtsamkeit, Willensschwäche, apathisch

Gelb:

Optimistisch, glücklich, intellektuell, freundlich, unschlüssig, leicht zu beeinflussen

Grün:

Friedlich, heilend, Mitgefühl, hinterlistig, eifersüchtig

Blau:

Spirituell, loyal, kreativ, empfindsam, liebenswürdig, launisch

Violett:

Hochgradig spirituelle Weisheit, Intuition

Indigo:

Wohlwollen, hochgradig intuitiv, auf der Suche

Rosa:

Liebe, Aufrichtigkeit, Freundschaft

Grau:

Depression, Traurigkeit, Erschöpfung, wenig Energie, Skepsis

Braun:

Habgier, selbstbezogen, rechthaberisch

Schwarz:

Mangelnde Energie, Krankheit, unmittelbar bevorstehender Tod

Weiss:

Vollkommenes Gleichgewicht

EINS

Wer ist das?«

Havens warme, feuchte Handflächen pressen sich fest auf meine Wangen, während der Rand ihres angelaufenen Silberrings eine Schmutzschliere auf meiner Haut hinterlässt. Und obwohl mir die Augen zugehalten werden und sie geschlossen sind, weiß ich, dass ihr schwarz gefärbtes Haar in der Mitte gescheitelt ist und dass sie ihr schwarzes Vinylkorsett über einem Rollkragenpulli trägt (und sich so an die Bekleidungsvorschriften unserer Schule hält). Dass ihr brandneuer, bodenlanger schwarzer Satinrock schon ein Loch hat, ganz unten am Saum, wo sie mit der Spitze ihrer Springerstiefel darin hängen geblieben ist. Und dass ihre Augen scheinbar golden sind, doch das kommt nur daher, weil sie gelbe Kontaktlinsen trägt.

Außerdem weiß ich, dass ihr Dad gar nicht auf »Geschäftsreise« ist, wie er behauptet hat, dass der Personal Trainer ihrer Mom sehr viel mehr »Personal« als »Trainer« ist und dass ihr kleiner Bruder ihre Evanescence-CD kaputt gemacht hat, sich aber nicht traut, es ihr zu sagen.

Aber all das weiß ich nicht, weil ich ihr nachspioniere oder sie heimlich beobachte, auch nicht, weil sie es mir erzählt hat. Ich weiß es, weil ich hellsehen kann.

»Na los! Es klingelt gleich!«, drängt sie; ihre Stimme ist heiser und kratzig, als würde sie eine ganze Packung am Tag rauchen, dabei hat sie es nur ein einziges Mal probiert.

Ich spiele auf Zeit, überlege, mit wem sie am allerwenigsten verwechselt werden möchte. »Hilary Duff?«

»Iiih! Noch mal!« Sie drückt fester und hat keine Ahnung, dass ich nichts zu sehen brauche, um Bescheid zu wissen.

»Mrs. Marylin Manson?«

Sie lacht und lässt mich los, dann leckt sie an ihrem Daumen und zielt auf die Schmutzschliere, die ihr Silberring auf meiner Wange hinterlassen hat, doch ich hebe die Hand und bin schneller. Nicht, weil ich mich beim Gedanken an ihre Spucke ekle (ich meine, ich weiß, dass sie gesund ist), sondern weil ich nicht will, dass sie mich noch einmal anfasst. Berührungen sind zu verräterisch, zu anstrengend, also versuche ich, sie um jeden Preis zu vermeiden.

Sie packt die Kapuze meines Sweatshirts und schlägt sie zurück, dann betrachtet sie blinzelnd meine Ohrknöpfe und fragt: »Was hörst du denn da?«

Ich greife in die iPod-Tasche, die ich in alle meine Kapuzenpullover eingenäht habe, um die allgegenwärtigen weißen Kabel vor den Augen der Lehrer zu verbergen. Dann reiche ich ihr den iPod und sehe zu, wie ihr fast die Augen aus dem Kopf quellen, als sie hervorstößt: »Was ist das denn? Ich meine, geht's überhaupt noch lauter? Und wer ist das?«

Sie lässt den Player zwischen uns baumeln, so dass wir beide hören können, wie Johnny Rotten etwas von Anarchie in England brüllt. Und die Wahrheit ist, ich weiß nicht, ob Johnny dafür oder dagegen ist. Ich weiß nur, dass er beinahe laut genug ist, um meine übermäßig geschärften Sinne abzustumpfen.

»Sex Pistols«, antworte ich, schalte den iPod aus und stecke ihn wieder in seine Geheimtasche.

»Wundert mich ja, dass du mich überhaupt hören konntest.« Sie lächelt im selben Moment, als die Klingel ertönt.

Doch ich zucke lediglich mit den Schultern. Ich muss nicht hinhören, um zu hören. Allerdings werde ich das nicht laut aussprechen. Ich sage bloß zu ihr, dass wir uns beim Lunch sehen, und mache mich quer über das Schulgelände auf den Weg zum Unterricht. Innerlich krümme ich mich, während ich merke, wie diese beiden Typen sich von hinten an sie heranschleichen und auf ihren Rocksaum treten, so dass sie beinahe hinfällt. Doch als sie sich umdreht, das Zeichen des Bösen macht (okay, eigentlich ist es nicht das Zeichen des Bösen, bloß irgendetwas, das sie erfunden hat) und sie mit ihren gelben Augen anfunkelt, machen sie sofort einen Rückzieher und lassen sie in Ruhe. Und ich stoße einen Seufzer der Erleichterung aus, als ich die Klassentür aufdrücke; ich weiß, dass es nicht lange dauern wird, bis die Energie, die von Havens Berührung geblieben ist, vergeht.

Ich gehe zu meinem Platz ganz hinten im Klassenraum und steige dabei über den Rucksack hinweg, den Stacia Miller mir mit voller Absicht in den Weg gestellt hat, während ich ihre tägliche »Versaa-ger»-Serenade nicht beachte, die sie leise vor sich hinträllert. Dann lasse ich mich auf meinen Stuhl rutschen, hole Buch, Ringbuch und Stift aus meiner Tasche, stecke mir den Knopf ins Ohr und ziehe mir die Kapuze wieder über den Kopf. Ich lasse meinen Rucksack auf den freien Platz neben mir plumpsen und warte darauf, dass Mr. Robins auftaucht.

Mr. Robins kommt immer zu spät. Hauptsächlich deshalb, weil er zwischen den Unterrichtsstunden gern einen Schluck aus seinem kleinen silbernen Flachmann nimmt. Doch das tut er nur, weil seine Frau ihn ständig anschreit, seine Tochter ihn für einen Volltrottel hält und er sein Leben ziemlich zum Kotzen findet. All das habe ich an meinem ersten Schultag herausgefunden, als ich ihm meinen Zugangsschein von der Schulbehörde gegeben habe. Wenn ich jetzt etwas abgeben muss, lege ich es deshalb immer einfach auf seinen Schreibtisch, ganz an den Rand.

Ich schließe die Augen und warte; dabei merke ich, wie meine Finger sich unter mein Sweatshirt schieben und von dem grölenden Johnny Rotten auf etwas Leiseres, Sanfteres umschalten. Der Krach ist jetzt, da ich im Klassenzimmer sitze, nicht mehr nötig. Wahrscheinlich hält die geringe Schüleranzahl pro Lehrer die übersinnliche Energie ein wenig in Grenzen.

Ich war nicht immer ein Freak. Früher war ich mal ein ganz normaler Teenager. Eins von den Mädchen, die zu Schulfeten gehen, für irgendwelche Stars schwärmen und sich so viel auf ihre langen blonden Haare einbilden, dass es mir nicht im Traum eingefallen wäre, sie zu einem straffen Pferdeschwanz zurückzubinden und mich unter einem großen Kapuzensweatshirt zu verstecken. Ich hatte eine Mom, einen Dad, eine kleine Schwester namens Riley und einen lieben blonden Labrador namens Buttercup. Ich habe in einem schönen Haus in Eugene gewohnt, in Oregon. Ich war beliebt, glücklich und konnte es kaum erwarten, dass das elfte Schuljahr anfing, denn ich war gerade zum Cheerleader der Universitätsmannschaft gemacht worden. Mein Leben war vollkommen, und der Himmel war die einzige Grenze. Und obgleich Letzteres das totale Klischee ist, ist es ironischerweise auch wahr.

Doch was mich betrifft, ist das alles Hörensagen. Denn seit dem Unfall ist Sterben das Einzige, woran ich mich deutlich erinnern kann.

Ich hatte etwas, was man eine Nahtoderfahrung nennt. Nur liegt man da zufällig falsch. Denn glaubt mir, das Ganze hatte nichts »Nahes« an sich. Irgendwie ist es, als hätten meine kleine Schwester Riley und ich eben noch hinten im Geländewagen meines Vaters gesessen, und Buttercup hätte den Kopf in Rileys Schoß liegen gehabt, während ihr Schwanz gegen mein Bein klopfte. Und dann waren sämtliche Airbags aufgeblasen, das Auto war Schrott, und ich sah das Ganze von außen. Ich starrte das Wrack an – die Glasscherben, die verbogenen Türen, die vordere Stoßstange, die in tödlicher Umarmung eine Kiefer umklammerte –, fragte mich, was schiefgegangen war, und betete, dass die anderen auch aus dem Wagen herausgekommen waren. Dann hörte ich ein vertrautes Bellen, drehte mich um und sah sie alle einen Pfad entlanggehen, Buttercup schwanzwedelnd vorneweg.

Ich folgte ihnen. Versuchte zuerst, zu rennen und sie einzuholen, dann jedoch wurde ich langsamer und beschloss, ein wenig zu trödeln. Wollte durch diese riesige duftende Wiese voller blühender Bäume und Blumen wandern, die vor mir bebten, schloss die Augen vor dem blendenden Nebel, der spiegelte und leuchtete und alles schimmern ließ.

Ich nahm mir fest vor, dass ich mich nur einen Moment lang aufhalten würde. Dass ich bald zurückgehen und sie suchen würde. Doch als ich endlich aufschaute, geschah das gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sie lächelten und winkten und eine Brücke überquerten, nur Sekunden, bevor sie alle verschwanden.

Ich geriet in Panik. Rannte hierhin und dorthin, aber es sah alles gleich aus – warmer, weißer, glänzender, schimmernder, wunderschöner, blöder ewiger Nebel. Und ich fiel zu Boden, meine Haut prickelte vor Kälte, mein ganzer Körper zuckte, und ich weinte und schrie, fluchte, bettelte und versprach alles Mögliche, von dem ich genau wusste, dass ich es niemals würde halten können.

Und dann hörte ich jemanden sagen: »Ever? Ist das dein Name? Mach die Augen auf, und sieh mich an.«

Ich stolperte zurück an die Oberfläche. Zurück dorthin, wo alles Schmerz und Elend war, und nasses Brennen auf meiner Stirn. Und ich schaute den jungen Mann an, der sich über mich beugte, blickte in seine dunklen Augen und flüsterte: »Ich bin Ever«, ehe ich von Neuem das Bewusstsein verlor.

ZWEI

Sekunden, bevor Mr. Robins hereinkommt, nehme ich meine Kapuze ab, schalte meinen iPod aus und tue so, als würde ich in meinem Buch lesen. Ich mache mir gar nicht die Mühe, aufzublicken, als er sagt: »Leute, das ist Damen Auguste. Er ist gerade aus New Mexico hierhergezogen. Okay, Damen, du kannst dich da hinten hinsetzen, auf den freien Platz neben Ever. Ihr werdet euch ein Buch teilen müssen, bis du selbst eins hast.«

Damen sieht toll aus. Das weiß ich, ohne hochzuschauen. Ich konzentriere mich auf mein Buch, während er auf mich zukommt, denn ich weiß sowieso schon viel zu viel über die anderen in meiner Klasse. Soweit es mich betrifft, ist ein zusätzlicher Moment der Unwissenheit wirklich die reine Seligkeit.

Doch den innersten Gedanken von Stacia Miller zufolge, die nur zwei Reihen vor mir sitzt – ist Damen Auguste ja so was von scharf.

Ihre beste Freundin Honor ist ganz ihrer Meinung.

Honors Freund Craig auch, aber das ist eine ganz andere Geschichte.

»Hey.« Damen gleitet auf den Platz neben mir; mein Rucksack macht ein dumpfes Geräusch, als er ihn zu Boden fallen lässt.

Ich nicke und weigere mich, weiter aufzublicken als bis zu seinen glatten schwarzen Motorradstiefeln. Stiefel von der Sorte, die mehr Männer Vogue als Hell's Angels ist. Von der Sorte, die zwischen den Reihen bunter Flipflops ungemein fehl am Platze wirkt, die gegenwärtig den mit grünem Spannteppich ausgelegten Boden zieren.

Mr. Robins fordert uns alle auf, Seite 133 aufzuschlagen, was Damen dazu veranlasst, sich zu mir herüberzubeugen und zu fragen: »Was dagegen, wenn ich mit reingucke?«

Ich zögere, weil ich diese Nähe fürchte, doch ich schiebe mein Buch ganz hinüber, bis es am Rand meines Stuhlpultes liegt. Und während er seinen Stuhl näher heranrückt und die kleine Lücke zwischen uns schließt, rutsche ich auf meinem Platz ganz nach außen und verstecke mich unter meiner Kapuze.

Er lacht leise, aber da ich ihn noch gar nicht angesehen habe, habe ich keine Ahnung, was das bedeutet. Alles, was ich weiß, ist, dass das Lachen locker und belustigt klingt, aber so, als läge noch etwas anderes darin.

Ich sinke noch tiefer in meinen Stuhl, die Wange in die Hand gestützt, den Blick auf die Uhr gerichtet. Fest entschlossen, all die vernichtenden Blicke und die kritischen Bemerkungen zu ignorieren, die auf mich abgeschossen werden. Sachen wie: Dieser arme, knallgeile, rattenscharfe Neue muss neben der Irren sitzen! Das kommt von Stacia, Honor, Craig und so ziemlich allen anderen im Klassenraum.

Außer von Mr. Robins, der das Ende der Stunde fast ebenso sehr herbeisehnt wie ich.

Beim Lunch reden alle über Damen.

Hast du den Neuen gesehen, diesen Damen? Der ist ja so was von scharf. so sexy ... Ich hab gehört, er kommt aus Mexiko ... Nein, ich glaube, aus Spanien ... Egal, jedenfalls Ausländer ... Den frage ich ganz bestimmt, ob er mit mir zum Winter-Schulfest geht... Du kennst ihn doch noch gar nicht... Keine Angst, den lerne ich schon noch kennen ...

»O Gott, hast du den Neuen gesehen, diesen Damen?« Haven sitzt neben mir und schielt durch ihren Pony, den sie gerade wachsen lässt, und dessen stachelige Spitzen bis dicht über ihre dunkelroten Lippen reichen.

»Oh, bitte, du nicht auch noch.« Ich schüttele den Kopf und beiße in meinen Apfel.

»Das würdest du ganz bestimmt nicht sagen, wenn du ihn mal gesehen hättest«, gibt sie zurück, holt ihr Vanilletörtchen aus der rosa Pappschachtel und leckt die Glasur ab. Das macht sie immer beim Lunch, obwohl sie sich so kleidet wie jemand, der lieber Blut trinken als süße kleine Kuchen essen würde.

»Redet ihr über Damen?«, flüstert Miles, lässt sich auf die Bank gleiten und stützt die Ellenbogen auf den Tisch. Seine braunen Augen zucken zwischen uns hin und her, sein Babyface verzieht sich zu einem Grinsen. »Umwerfend! Habt ihr die Stiefel gesehen? Total Vogue. Ich glaube, ich biete ihm an, meine nächste Flamme zu werden.«

Haven mustert ihn mit zusammengekniffenen gelben Augen. »Zu spät, den habe ich mir schon reserviert.«

»Sorry, ich wusste nicht, dass du auf Nicht-Gothic-Typen stehst.« Er feixt und verdreht die Augen, während er sein Sandwich auswickelt.

Haven lacht. »Wenn sie so aussehen schon. Ich schwör's, der ist so wahnsinnig toll, den musst du einfach sehen.« Sie schüttelt den Kopf und ist sauer, weil ich mich nicht in den ganzen Spaß einklinken kann. »Er ist irgendwie – entflammbar!«

»Du hast ihn noch nicht gesehen?« Miles umklammert sein Sandwich und starrt mich fassungslos an.

Ich schaue auf die Tischplatte hinunter und überlege, ob ich einfach lügen soll. Sie machen so einen Aufstand um das Ganze, dass ich glaube, das wäre der einzige Ausweg für mich. Nur kann ich sie nicht anlügen. Sie nicht. Haven und Miles sind meine besten Freunde. Meine einzigen Freunde. Und ich habe das Gefühl, dass ich ohnehin schon genug Geheimnisse hüte. »Ich hab in Englisch neben ihm gesessen«, sage ich schließlich. »Wir mussten uns ein Buch teilen. Aber ich habe ihn mir nicht wirklich richtig anschauen können.«

»Mussten?« Haven schiebt ihren Pony zur Seite, um freie Sicht auf die Verrückte zu haben, die dergleichen zu sagen wagt. »Oh, das muss ja schrecklich für dich gewesen sein, das war bestimmt echt das Letzte.« Sie rollt die Augen und seufzt. »Ich schwör's, du hast keine Ahnung, was für ein Glück du hast. Und du weißt das noch nicht mal zu schätzen.«

»Was für ein Buch?«, erkundigt sich Miles, als würde der Titel etwas Bedeutsames verraten.

»Wuthering Heights.« Ich lege das Kerngehäuse des Apfels in die Mitte meiner Serviette und falte die Ränder darum herum.

»Und deine Kapuze? Auf oder nicht auf?«, will Haven wissen.

Ich überlege, mir fällt wieder ein, wie ich sie hochgezogen habe, während er auf mich zukam. »Äh, auf«, antworte ich. »Ja, definitiv auf.«

»Na, vielen Dank«, knurrt sie und bricht ihr Vanilletörtchen in der Mitte durch. »Das Letzte, was ich brauche, ist Konkurrenz von der blonden Göttin.«

Ich winde mich innerlich und starre auf den Tisch. Es ist mir peinlich, wenn die Leute so etwas sagen. Offenbar bin ich mal total darauf abgefahren, aber jetzt nicht mehr. »Und was ist mit Miles? Ist der für dich denn keine Konkurrenz?«, gebe ich zu bedenken, um die Aufmerksamkeit von mir weg und auf jemanden zu lenken, der wirklich etwas damit anfangen kann.

»Jawoll.« Miles fährt sich mit der Hand durch das kurze braune Haar, dreht sich und beehrt uns mit seinem allerbesten Profil. »Schließ das bloß nicht aus.«

»Total irrelevant«, wehrt Haven ab und klopft sich weiße Krümel vom Schoß. »Damen und Miles spielen nicht in derselben Liga. Was bedeutet, dass sein ach so umwerfend gutes Aussehen, das für jedes Model reichen würde, nicht zählt.«

»Woher weißt du denn, in wessen Mannschaft er spielt?«, verlangt Miles zu wissen, während er mit zusammengekniffenen Augen die Verschlusskappe von seinem Vitaminwasser schraubt. »Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Schwulen-Radar«, erwidert sie und tippt sich an die Stirn. »Und, glaubt mir, der Typ taucht da nicht drauf auf.«

Damen hat nicht nur in der ersten Stunde Englisch und in der sechsten Kunst mit mir zusammen (nicht dass er da neben mir gesessen hätte, und nicht dass ich nach ihm Ausschau gehalten hätte, aber die Gedanken, die überall im Raum herumwirbelten, sogar von unserer Lehrerin Ms. Machado, verrieten mir alles, was ich wissen musste), jetzt hat er allem Anschein nach auch noch genau neben mir geparkt. Und obwohl ich es geschafft habe, bisher nicht mehr als seine Stiefel zu Gesicht zu bekommen, weiß ich, dass meine Schonfrist soeben zu Ende gegangen ist.

»O mein Gott, da ist er! Genau neben uns!«, quietscht Miles in jenem hohen Singsang-Flüsterton, den er sich für die aufregendsten Momente des Lebens aufhebt. »Und sieh dir die Karre an – ein blitzblanker schwarzer BMW mit extradunkel getönten Scheiben, hübsch, sehr hübsch. Okay, die Nummer läuft folgendermaßen, ich mach meine Tür auf und stupse damit ganz aus Versehen seine an, dann habe ich einen Grund, mit ihm zu reden.« Er dreht sich um und wartet auf meine Zustimmung.

»Zerkratz ja mein Auto nicht. Oder seins. Oder irgendein anderes«, wehre ich kopfschüttelnd ab und hole meine Schlüssel hervor.

»Schön.« Er schmollt. »Mach nur meine Träume zunichte, von mir aus. Aber tu dir selbst einen Gefallen, und sieh ihn dir doch mal an! Und dann schau mir in die Augen, und sag mir, dass du bei diesem Anblick nicht ausrasten und in Ohnmacht fallen möchtest.«

Ich verdrehe die Augen und quetsche mich zwischen meinem Wagen und dem grottenschlecht geparkten VW-Käfer hindurch, der so schief dasteht, dass es aussieht, als wolle er meinen Miata besteigen. Und gerade in dem Moment, in dem ich die Tür aufschließen will, reißt Miles mir die Kapuze vom Kopf, schnappt sich meine Sonnenbrille und saust zur Beifahrerseite, wo er mich mit nicht gerade subtilem Kopfrucken und Daumenzeigen drängt, Damen anzusehen, der hinter ihm steht.

Also tue ich es. Ich meine, ich kann es ja nicht bis in alle Ewigkeit vermeiden. Ich atme also tief durch und schaue hin.

Und was ich sehe, lässt mich wie vom Donner gerührt erstarren, unfähig, zu sprechen, zu blinzeln oder mich zu bewegen.

Und obwohl Miles anfängt zu winken und mich wütend anfunkelt und mir im Großen und Ganzen jedes nur denkbare Zeichen gibt, die Mission abzubrechen und zum Hauptquartier zurückzukehren – ich kann nicht. Ich meine, ich würde ja gern, weil ich weiß, dass ich mich genau wie die Verrückte benehme, für die alle Welt mich hält, aber es ist vollkommen unmöglich. Und zwar nicht nur, weil Damen unbestreitbar schön ist, mit seinem glänzenden dunklen Haar, das ihm fast bis zu den Schultern reicht und sich um seine hohen, fein gemeißelten Wangenknochen schmiegt. Doch als er mich ansieht, als er seine dunkle Sonnenbrille anhebt und sein Blick dem meinen begegnet, sehe ich, dass seine mandelförmigen Augen tief, dunkel und seltsam vertraut sind, umrahmt von so üppigen Wimpern, dass sie fast künstlich aussehen. Und seine Lippen! Seine Lippen sind voll und einladend, mit vollendetem Schwung. Und der Körper, auf dem das alles ruht, ist lang, schlank, straff und ganz in Schwarz gekleidet.

»Äh, Ever? Hallooo? Du kannst jetzt aufwachen. Bitte.« Miles dreht sich zu Damen um und lacht nervös. »Tut mir leid, das mit meiner Freundin hier, normalerweise hat sie ihre Kapuze auf.«

Es ist ja nicht so, als wüsste ich nicht, dass ich damit aufhören muss. Ich muss damit aufhören, sofort. Aber Damens Augen blicken unverwandt in meine, und ihre Farbe wird leuchtender, während sein Mund sich allmählich zu einem Lächeln verzieht.

Doch nicht sein umwerfendes Aussehen schlägt mich so in Bann. Damit hat das gar nichts zu tun, sondern, dass die unmittelbare Umgebung seines Körpers, von seinem prachtvollen Kopf bis ganz zu seinen Motorradstiefeln, aus nichts als leerem Raum besteht.

Keine Farben. Keine Aura. Keine pulsierende Lightshow.

Jeder hat eine Aura. Der Körper eines jeden Lebewesens sondert Farbenwirbel ab. Ein regenbogenbuntes Energiefeld, dessen sie sich gar nicht bewusst sind. Und es ist nicht so, als wären Auren gefährlich oder unheimlich oder irgendwie schlecht, sie sind ganz einfach Teil des sichtbaren (also, wenigstens für mich sichtbaren) Magnetfeldes.

Vor dem Unfall wusste ich nichts von solchen Dingen. Und sehen konnte ich sie erst recht nicht. Doch von dem Augenblick an, als ich im Krankenhaus aufwachte, sah ich überall Farben.

»Fühlst du dich einigermaßen gut?«, erkundigte sich die rothaarige Schwester und schaute besorgt auf mich herab.

»Ja, aber warum sind Sie denn ganz rosa?« Ich blinzelte zu ihr empor, verwirrt von dem pastellfarbenen Leuchten, das sie umgab.

»Warum bin ich was?« Sie gab sich alle Mühe, ihr Erschrecken zu verbergen.

»Rosa. Überall um Sie herum, wissen Sie, besonders am Kopf.«

»Okay, Schätzchen, du ruhst dich jetzt erst mal aus, und ich gehe den Arzt holen«, sagte sie, tappte rückwärts aus dem Zimmer und rannte den Flur hinunter.

Erst nachdem man mich einem wahren Trommelfeuer von Augenuntersuchungen, Gehirn-CTs und psychologischen Begutachtungen unterzogen hatte, lernte ich, es für mich zu behalten, dass ich diese Farbenräder sah. Und als ich anfing, Gedanken zu hören, mit einer einzigen Berührung ganze Lebensgeschichten in Erfahrung zu bringen und regelmäßig Besuch von meiner toten Schwester Riley zu bekommen, war ich klug genug, das niemandem mitzuteilen.

Ich habe mich wohl so sehr daran gewöhnt, derart zu leben, dass ich vergessen habe, wie es auch anders geht. Aber Damen so zu sehen, umgeben von nichts anderem als dem glänzenden schwarzen Lack seines teuren, coolen Wagens, ist eine vage Erinnerung an glücklichere, normalere Tage.

»Ever, stimmt's?«, sagt Damen, und sein Gesicht erwärmt sich zu einem Lächeln, das eine weitere Vollkommenheit an ihm enthüllt – blendend weiße Zähne.

Ich stehe da und versuche, meine Augen mit reiner Willenskraft dazu zu zwingen, sich von den seinen zu lösen, während Miles sich theatralisch räuspert. Und weil mir wieder einfällt, wie sehr er es hasst, nicht beachtet zu werden, mache ich eine Geste in seine Richtung und sage: »Oh, tut mir leid. Miles, das ist Damen. Damen, Miles.« Und die ganze Zeit bleibt mein Blick fest auf Damen geheftet.

Damen wirft Miles einen raschen Blick zu und nickt knapp, ehe er wieder mich ansieht. Obwohl ich weiß, dass sich das völlig verrückt anhört, ist mir während des Sekundenbruchteils, in dem seine Augen sich von mir abwenden, seltsam kalt und flau.

Doch sobald sein Blick wieder zu mir zurückkehrt, ist alles wieder warm und schön. »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?« Er lächelt. »Würdest du mir dein Buch leihen, Wuthering Heights? Ich muss nachholen, was ihr schon gelesen habt, und ich schaffe es heute nicht mehr in die Buchhandlung.«

Ich greife in meinen Rucksack, hole das von Eselsohren verunstaltete Buch hervor und halte es mit den Fingerspitzen. Ein Teil von mir sehnt sich danach, seine Finger mit den meinen zu streifen, Kontakt zu diesem wunderschönen Fremden aufzunehmen, während der andere Teil, der stärkere, klügere hellseherische Teil, sich angstvoll krümmt und den schrecklichen Blitz der Erkenntnis fürchtet, der bei jeder Berührung aufzuckt.

Erst als er das Buch in sein Auto wirft, die Sonnenbrille wieder herunterklappt und sagt: »Danke, bis morgen dann«, wird mir klar, dass abgesehen von dem leichten Kribbeln in den Fingerspitzen nichts passiert ist. Und ehe ich auch nur antworten kann, setzt er aus seiner Parklücke zurück und fährt davon.

»Entschuldigung«, sagt Miles kopfschüttelnd, während er neben mir einsteigt, »aber als ich gesagt habe, du würdest ausrasten, wenn du ihn siehst, da war das nicht als Vorschlag gemeint, das solltest du nicht wörtlich nehmen. Mal ganz ernsthaft, Ever, was ist da eben passiert? Weil, das war echt megaverspannte Verlegenheit, so ein richtiger Augenblick Marke Hallo, ich heiße Ever, und ich bin ab jetzt deine neue Stalkerin. Ich mein's so was von ernst. Ich dachte schon, wir müssten dich gleich wiederbeleben. Und glaub mir, du hast extremes Glück, dass unsere liebe Freundin Haven nicht dabei war, denn ich sag's dir ja nur ungern, aber sie hat da eine Reservierung ...«

Miles quasselt weiter, redet und redet, den ganzen Nachhauseweg lang. Aber ich lasse ihn sich einfach ausquatschen, während ich uns durch den Verkehr lotse und mein Finger gedankenverloren über die dicke, rote Narbe auf meiner Stirn streicht, die Narbe, die unter meinem Pony verborgen ist.

Ich meine, wie kann ich denn erklären, dass seit dem Unfall die einzigen Menschen, deren Gedanken ich nicht hören, über deren Leben ich nicht Bescheid wissen und deren Aura ich nicht sehen kann, schon tot sind?

DREI

Ich schließe die Haustür auf, hole mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und gehe dann nach oben in mein Zimmer. Dabei brauche ich mich gar nicht weiter umzuschauen, um zu wissen, dass Sabine noch bei der Arbeit ist. Sabine ist immer bei der Arbeit, was bedeutet, dass ich dieses riesige Haus so ziemlich die ganze Zeit für mich allein habe, obwohl ich normalerweise in meinem Zimmer bleibe.

Sabine tut mir leid. Es tut mir leid, dass das Leben, für das sie so schwer gearbeitet hat, sich an dem Tag für immer verändert hat, als sie mich aufgehalst bekam. Aber da meine Mom ein Einzelkind war und all meine Großeltern gestorben waren, ehe ich zwei Jahre alt war, blieb ihr eben nicht viel anderes übrig.

Ich meine, entweder wäre ich bei ihr – der einzigen Schwester meines Vaters – geblieben, oder ich wäre in eine Pflegefamilie gekommen, bis ich achtzehn bin. Und obgleich sie keine Ahnung davon hat, wie man Kinder großzieht, war ich noch nicht mal aus dem Krankenhaus entlassen worden, als sie schon ihre Eigentumswohnung verkauft, dieses große Haus erstanden und einen der besten Innenarchitekten von Orange County angeheuert hatte, um mein Zimmer einzurichten.

Ich meine, ich habe all die üblichen Sachen, zum Beispiel ein Bett, eine Kommode und einen Schreibtisch. Aber ich habe auch einen Flachbildschirmfernseher, einen riesengroßen begehbaren Kleiderschrank, ein Riesenbad mit Whirlpoolwanne und separater Duschkabine, einen Balkon mit einem unglaublichen Blick aufs Meer und mein ganz privates Wohn- und Spielzimmer, ebenfalls mit Flachbildschirmfernseher, Bar, Mikrowelle, Mini-Kühlschrank, Geschirrspülmaschine, Stereoanlage, Sofas, Tischchen, Sitzsäcken – das volle Programm.

Komisch, früher hätte ich für so ein Zimmer alles gegeben.

Doch jetzt würde ich alles dafür geben, dass es wieder so ist wie früher.

Weil Sabine den größten Teil ihrer Zeit mit anderen Anwälten und all diesen VIP-Geschäftsleuten verbringt, die ihre Kanzlei vertritt, hat sie wohl wirklich geglaubt, all dieser Kram wäre nötig oder so was. Und ich wusste nie genau, ob sie keine Kinder hat, weil sie die ganze Zeit arbeitet und sie nicht in ihrem Tagesplan unterkriegt, ob sie einfach noch nicht dem richtigen Mann begegnet ist oder ob sie von Anfang an nie welche wollte. Oder ob es eine Mischung aus allen drei Gründen ist.

Wahrscheinlich scheint es, als sollte ich das alles wissen, da ich doch hellsehen kann und so. Aber ich kann nicht unbedingt die Beweggründe eines anderen Menschen sehen, meistens nur die Ereignisse. Als ob eine ganze Serie von Bildern das Leben von jemandem widerspiegelt. Allerdings sehe ich manchmal auch Symbole, die ich entschlüsseln muss, um zu wissen, was sie bedeuten. So ähnlich wie Tarotkarten.

Ist allerdings alles andere als idiotensicher, und manchmal liege ich auch voll daneben. Aber wenn das passiert, kann ich das Ganze immer direkt zu mir zurückverfolgen, und zu der Tatsache, dass manche Bilder mehr als eine Bedeutung haben. Wie damals, als ich ein großes Herz mit einem Sprung in der Mitte für Liebeskummer gehalten habe – bis die Frau mit einem spontanen Herzstillstand umgekippt ist. Manchmal kann es ein bisschen verwirrend sein, wenn man versucht, das alles auseinanderzudröseln. Nur die Bilder selbst lügen niemals.

Jedenfalls brauche ich wohl keine Hellseherin zu sein, um zu wissen, dass die Leute normalerweise an kleine pastellfarbene Wonnebündel denken, wenn sie davon träumen, Kinder zu kriegen, und nicht an eine eins dreiundsechzig große, blauäugige, blonde Halbwüchsige mit paranormalen Fähigkeiten und tonnenweise emotionalen Problemen im Gepäck. Deswegen bemühe ich mich, ruhig und respektvoll zu sein und Sabine nicht in die Quere zu kommen.

Und ich lasse mir definitiv nicht anmerken, dass ich fast jeden Tag mit meiner toten kleinen Schwester spreche.

Als Riley zum ersten Mal erschien, stand sie mitten in der Nacht am Fußende meines Krankenhausbettes, hielt eine Blume in einer Hand und winkte mit der anderen. Ich weiß noch immer nicht genau, was mich damals aufweckte, denn es war nicht etwa so, als hätte sie etwas gesagt oder irgendein Geräusch gemacht. Wahrscheinlich habe ich ihre Gegenwart gespürt oder so, wie eine Veränderung im Zimmer, oder als hätte sich die Luft elektrisch aufgeladen.

Zuerst dachte ich, ich hätte Halluzinationen – noch so eine Nebenwirkung von den Schmerzmitteln, die ich einnehmen musste. Doch nachdem ich ohne Ende geblinzelt und mir die Augen gerieben hatte, war sie immer noch da, und ich kam wohl gar nicht erst auf den Gedanken, zu schreien oder um Hilfe zu rufen.

Ich sah zu, wie sie um das Bett herumkam, auf die Gipsverbände an meinen Armen und meinem Bein zeigte und lachte. Ich meine, es war ein lautloses Lachen, aber komisch fand ich das Ganze trotzdem nicht. Doch sobald sie meine wütende Miene bemerkte, sortierte sie ihren Gesichtsausdruck neu und gestikulierte, als wolle sie fragen, ob es wehtäte.

Ich zuckte mit den Schultern, ein bisschen sauer auf sie, weil sie gelacht hatte, und mehr als nur ein bisschen erschrocken über ihre Anwesenheit. Obwohl ich nicht ganz überzeugt war, dass sie es wirklich war, hielt mich das nicht davon ab zu fragen: »Wo sind Mom und Dad und Buttercup?«

Sie legte den Kopf schief, als stünden sie gleich neben ihr, doch alles, was ich sehen konnte, war leere Luft.

»Das verstehe ich nicht.«

Sie lächelte nur, legte die Handflächen aneinander und neigte den Kopf zur Seite, als Zeichen dafür, dass ich weiterschlafen sollte.

Also schloss ich die Augen, obwohl ich mir früher von ihr niemals etwas hätte sagen lassen. Dann riss ich sie genauso schnell wieder auf und sagte: »Hey, wer hat gesagt, dass du meinen Pullover anziehen darfst?«

Und plötzlich war sie weg.

Ich gebe es zu, ich war den ganzen Rest der Nacht über wütend auf mich, weil ich sie so etwas Dämliches, Herzloses, Selbstsüchtiges gefragt hatte. Da hatte ich nun die Gelegenheit, Antworten auf einige der größten Fragen des Lebens zu bekommen, möglicherweise jene Art Einblick zu gewinnen, über die seit Menschengedenken gerätselt worden war. Stattdessen vergeudete ich den Augenblick damit, meine kleine Schwester zusammenzustauchen, weil sie in meinem Kleiderschrank gewildert hatte. Alte Gewohnheiten sind wohl wirklich schwer zu überwinden.

Als sie zum zweiten Mal auftauchte, war ich so froh, sie zu sehen, dass ich kein Wort darüber verlor, dass sie nicht nur meinen Lieblingspullover trug, sondern auch meine beste Jeans (die so lang war, dass die Hosenbeine sich wie Ziehharmonikas um ihre Knöchel knautschten). Und außerdem das Armband mit den Glücksbringern, das ich zu meinem dreizehnten Geburtstag bekommen hatte, und von dem ich wusste, dass sie schon immer scharf darauf gewesen war.

Stattdessen lächelte und nickte ich bloß und tat so, als bemerke ich das alles gar nicht, als ich mich zu ihr vorbeugte und die Augen zusammenkniff. »Also, wo sind Mom und Dad?«, fragte ich und dachte im Stillen, sie würden auftauchen, wenn ich nur genau genug hinsah.

Aber Riley lächelte nur und wedelte neben dem Körper mit den Armen.

»Du meinst, sie sind Engel?« Meine Augen wurden riesengroß.

Sie verdrehte die Augen, schüttelte den Kopf und drückte die Hände in die Seite, während sie sich vor stummem Lachen krümmte.

»Okay, schön, wie du willst.« Ich warf mich rückwärts gegen die Kissen und fand, dass sie sich wirklich eine Menge herausnahm, auch wenn sie tot war. »Also, erzähl doch mal, wie ist es so da drüben?«, fragte ich, fest entschlossen, nicht zu streiten. »Seid ihr, na ja, ist es, also, wie im Himmel?«

Sie schloss die Augen und hob die Hände, als balanciere sie einen Gegenstand darauf, und dann erschien aus dem Nichts ein Gemälde.

Ich beugte mich vor und betrachtete ein Bild, das ganz sicher das Paradies darstellte, eierschalfarben mattiert und goldgerahmt. Das Meer war tiefblau, die Klippen zerklüftet, der Sand golden, die Bäume blühten, und der schattenhafte Umriss einer fernen kleinen Insel war am Horizont zu sehen.

»Und warum bist du jetzt nicht dort?«, erkundigte ich mich.

Sie zuckte mit den Schultern, und das Gemälde verschwand. Und sie auch.

Ich lag über einen Monat lang im Krankenhaus, mit Knochenbrüchen, einer Gehirnerschütterung, inneren Blutungen, Abschürfungen und Prellungen sowie einer ziemlich tiefen Platzwunde auf der Stirn. Während ich also mit Verbänden und Medikamenten flachlag, fiel Sabine die undankbare Aufgabe zu, unser Haus auszuräumen, die Beerdigungen zu arrangieren und meine Sachen für den großen Umzug nach Süden zusammenzupacken.

Sie bat mich, eine Liste von allen Dingen zu machen, die ich mitnehmen wollte. All die Dinge, die ich vielleicht aus meinem vollkommenen Leben in Eugene, Oregon, mitschleifen wollte in mein beängstigendes neues Leben in Laguna Beach, Kalifornien. Doch abgesehen von ein paar Klamotten wollte ich nichts haben. Ich konnte nicht ein einziges Andenken an all das ertragen, was ich verloren hatte; es war ja nicht so, als würde irgendein blöder Pappkarton voller Schrott mir jemals meine Familie wiederbringen.

Während ich in diesem sterilen Raum festsaß, kam die ganze Zeit regelmäßig ein Psychologe zu mir, irgend so ein übereifriger Praktikant mit beigefarbener Strickjacke und einem Klemmbrett, der unsere Sitzungen immer mit derselben hirnlosen Frage begann, wie ich mit meinem »schweren Verlust« umginge (seine Formulierung, nicht meine). Danach versuchte er, mich dazu zu überreden, im Zimmer 618 vorbeizuschauen, wo die Trauerberatung stattfand.

Aber da wollte ich auf gar keinen Fall mitmachen. Auf gar keinen Fall wollte ich mit einem Haufen gequälter Leute in einem Kreis sitzen und darauf warten, allen vom schlimmsten Tag meines Lebens zu erzählen. Ich meine, was sollte das denn helfen? Wie könnte ich mich besser fühlen, wenn ich bestätigte, was ich bereits wusste – nicht nur, dass ich ganz allein schuld an dem war, was meiner Familie zugestoßen war, sondern dass ich auch noch dumm genug, egoistisch genug und faul genug gewesen war, mich durch Bummeln, Zaudern und Trödeln glatt selbst um die Ewigkeit zu bringen?

Sabine und ich sprachen auf dem Flug von Eugene nach Orange County nicht viel, und ich tat so, als wären mein Kummer und meine Verletzungen der Grund, dabei brauchte ich in Wirklichkeit einfach nur ein bisschen Abstand. Ich wusste genau Bescheid über ihre widerstreitenden Gefühle, dass sie einerseits unbedingt das Richtige tun wollte, während sie andererseits nicht aufhören konnte, im Stillen zu denken: Warum ich?

Ich frage wohl niemals: Warum ich?

Meistens frage ich: Warum sie und nicht ich?

Doch ich wollte auch nicht riskieren, sie zu kränken. Nach all der Mühe, die sie sich gemacht hatte, nachdem sie mich aufgenommen und versucht hatte, mir ein schönes Zuhause zu schaffen, konnte ich es nicht riskieren, sie wissen zu lassen, wie sehr sie all ihre Arbeit und all ihre guten Absichten an mich verschwendet hatte. Dass sie mich genauso gut in irgendeiner alten Absteige hätte deponieren können und dass es für mich nicht den geringsten Unterschied bedeutet hätte.

Die Fahrt zu dem neuen Haus war ein undeutlicher Wirbel aus Sonne, Meer und Sand, und als Sabine die Tür öffnete und mich nach oben in mein Zimmer führte, schaute ich mich einmal kurz um und murmelte dann etwas, das vage wie Danke klang.

»Tut mir leid, dass ich dich allein lassen muss«, sagte sie, ganz offensichtlich heftig bestrebt, wieder in ihre Kanzlei zu kommen, wo alles geordnet und stimmig war und keinerlei Ähnlichkeit mit der zersplitterten Welt eines traumatisierten Teenagers hatte.

Und in dem Augenblick, als sich die Tür hinter ihr schloss, warf ich mich aufs Bett, begrub das Gesicht in den Händen und fing an, mir die Augen aus dem Kopf zu heulen.

Bis jemand sagte: »Also bitte, jetzt schau sich einer das an. Hast du dir das Zimmer überhaupt angesehen? Den Flachbildschirm, den Kamin, die Sprudelwanne? Ich meine, hallo?«

»Ich dachte, du kannst nicht sprechen?« Ich rollte mich auf die andere Seite und sah meine Schwester wütend an, die übrigens einen pinkfarbenen Juicy-Trainingsanzug, goldfarbene Nikes und eine leuchtend rote Perücke trug.

»Natürlich kann ich reden, sei doch nicht blöd.« Sie verdrehte die Augen.

»Aber die letzten paar Mal –«, setzte ich an.

»Da habe ich nur Spaß gemacht. Knall mich meinetwegen dafür ab.« Sie pirschte in meinem Zimmer umher, fuhr mit den Händen über den Schreibtisch, befingerte den neuen Laptop und den iPod, die Sabine dort hingelegt haben musste. »Ich glaub's einfach nicht, dass du so eine Hütte hast. Das ist ja so was von unfair!«

Sie stemmte die Hände in die Hüften und machte ein finsteres Gesicht. »Und du freust dich noch nicht mal darüber! Ich meine, hast du schon den Balkon gesehen? Hast du dir überhaupt die Mühe gemacht, mal zu gucken, wie die Aussicht ist?«

»Die Aussicht ist mir egal«, gab ich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte sie an. »Und ich glaub's einfach nicht, dass du mich auf die Tour reingelegt hast. So zu tun, als könntest du nicht sprechen.«

Doch sie lachte nur. »Du kriegst dich schon wieder ein.«

Ich sah zu, wie sie durchs Zimmer ging, die Vorhänge zur Seite schob und sich abmühte, die Balkontür zu öffnen. »Und wo hast du überhaupt all die Klamotten her?«, wollte ich wissen und musterte sie von Kopf bis Fuß, verfiel sofort wieder in unsere übliche Routine aus Anzicken und Nachtragen. »Erst kreuzt du in meinen Sachen auf, und jetzt trägst du Juicy, und ich weiß genau, dass Mom dir diesen Trainingsanzug nicht gekauft hat.«

Sie lachte. »Bitte, als würde ich immer noch Moms Erlaubnis brauchen, wenn ich einfach in den großen Himmelsschrank gucken und mir alles nehmen kann, was ich will. Umsonst«, erwiderte sie und drehte sich lächelnd um.

»Im Ernst?«, fragte ich und riss die Augen auf; ich fand, dass sich das nach einem ziemlich guten Deal anhörte.

Sie schüttelte lediglich den Kopf und winkte mich zu sich. »Komm schon, komm her, und sieh dir deine coole neue Aussicht an.«

Also tat ich es. Ich stand vom Bett auf, wischte mir mit dem Ärmel über die Augen und ging auf den Balkon. Ich drängte mich an meiner kleinen Schwester vorbei, und meine Augen wurden riesengroß, als ich auf die Steinplatten trat und die Szenerie vor mir in mich aufnahm.

»Soll das vielleicht witzig sein?«, fragte ich, während ich auf eine Aussicht starrte, die eine genaue Replik des goldgerahmten Paradies-Bildes war, das sie mir im Krankenhaus gezeigt hatte.

Doch als ich mich wieder zu ihr umdrehte, war sie schon fort.

VIER

Riley war es, die mir half, meine Erinnerungen wiederzufinden. Sie lotste mich durch Geschichten aus meiner Kindheit, rief mir das Leben ins Gedächtnis, das wir geführt, die Freunde, die wir gehabt hatten, bis allmählich alles wieder an die Oberfläche kam. Außerdem half sie mir dabei, Gefallen an meinem neuen Leben in Südkalifornien zu finden. Mitzuerleben, wie toll sie mein neues Zimmer, mein leuchtend rotes Cabrio, die phantastischen Strände und meine neue Schule fand, ließ mich begreifen, dass dies hier, wenngleich es auch nicht das Leben war, das mir lieber gewesen wäre, trotz allem lebenswert war.

Und obwohl wir immer noch genauso viel streiten und uns gegenseitig auf die Nerven gehen wie früher, lebe ich in Wahrheit für ihre Besuche. Sie wiedersehen zu können, heißt, dass ich einen Menschen weniger vermissen muss. Und die Zeit, die wir miteinander verbringen, ist der beste Teil des Tages.

Das einzige Problem ist, dass sie das weiß. Also bestraft sie mich jedes Mal, wenn ich ein Thema anschneide, das sie für strikt tabu erklärt hat – Fragen wie: Wann kann ich Mom, Dad und Buttercup sehen? Und wo gehst du hin, wenn du nicht hier bist? –, indem sie wegbleibt.

Ihre Weigerung, über dergleichen zu reden, geht mir wirklich auf den Geist, dennoch bin ich klug genug, sie nicht zu drängen. Es ist ja nicht so, als hätte ich ihr von meinen neuen Fähigkeiten Aurasehen und Gedankenlesen erzählt. Oder davon, wie sehr mich das verändert hat, einschließlich der Art und Weise, wie ich mich kleide.

»Du kriegst nie einen Freund, wenn du so angezogen herumläufst«, bemerkt sie und aalt sich auf meinem Bett, während ich hastig mein übliches Morgenritual absolviere und versuche, mich einigermaßen pünktlich für die Schule fertig zu machen und loszufahren.

»Ja, na ja, wir können nicht alle einfach die Augen zumachen, und puff!, schon haben wir eine tolle neue Garderobe«, erwidere ich, während ich meine Füße in abgetragene Tennisschuhe ramme und die zerfransten Schnürsenkel zubinde.

»Bitte, als würde Sabine dir nicht sofort ihre Kreditkarte in die Hand drücken und sagen, du sollst es krachen lassen. Und was soll das mit der Kapuze? Bist du in 'ner Gang oder was?«

»Ich hab keine Zeit für so was«, wehre ich ab, schnappe mir meine Bücher, den iPod und den Rucksack und marschiere zur Tür. »Kommst du jetzt mit oder nicht?« Damit drehe ich mich zu ihr um; mir geht echt die Geduld aus, als sie die Lippen spitzt und sich mit ihrer Entscheidung Zeit lässt.

»Okay«, verkündet sie endlich. »Aber nur, wenn du das Verdeck aufmachst. Ich spür so gern den Wind im Haar.«

»Schön.« Ich gehe zur Treppe. »Aber sorg dafür, dass du weg bist, wenn wir bei Miles ankommen. Es macht mich total irre, zu sehen, wie du ohne seine Erlaubnis auf seinem Schoß sitzt.«

Als Miles und ich vor der Schule ankommen, wartet Haven bereits am Tor. Ihr Blick huscht wild umher, sucht das Schulgelände ab, während sie sagt: »Okay, es klingelt in weniger als fünf Minuten, und noch immer keine Spur von Damen. Glaubt ihr, er hat die Schule geschmissen?«

»Wieso sollte er, er hat doch gerade erst angefangen?«, antworte ich und mache mich auf den Weg zu meinem Spind. Haven hüpft neben mir dahin, die dicken Gummisohlen ihrer Stiefel prallen vom Pflaster ab.

»Äh, weil wir ihn nicht verdient haben? Weil er wirklich zu schön ist, um wahr zu sein?«

»Aber er muss doch zurückkommen. Ever hat ihm ihr Buch geliehen, das heißt, er muss es zurückgeben«, wendet Miles ein, ehe ich ihn daran hindern kann.

Ich schüttele den Kopf und drehe unter der Wucht von Havens wütendem Blick an meinem Zahlenschloss. »Wann war das denn?« Sie stemmt die Hand in die Hüfte und funkelt mich an. »Weil, du weißt doch, dass ich ihn mir reserviert habe, oder? Und wieso kriege ich kein Update? Warum hat mir das niemand erzählt? Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass du ihn noch nicht mal gesehen hattest.«

»Oh, sie hat ihn gesehen, und wie«, bemerkt Miles. »Ich musste fast den Notarzt rufen, so sehr ist sie ausgerastet.«

Wieder schüttele ich den Kopf, schließe meinen Spind ab und gehe den Flur hinunter.

»Na, stimmt doch.« Er zuckt mit den Schultern und eilt neben mir her.

»Lass mich das mal klarstellen, du bist also mehr eine Belastung als eine Bedrohung?« Haven mustert mich eingehend aus zusammengekniffenen, mit dickem Lidstrich umrandeten Augen; die Eifersucht verfärbt ihre Aura zu einem stumpfen Kotzgrün.

Ich hole tief Luft und denke, dass ich ihnen ja sagen würde, wie lächerlich das Ganze ist, wenn sie nicht meine Freunde wären. Ich meine, seit wann kann man sich denn einen anderen Menschen reservieren? Außerdem ist es ja wirklich nicht so, als wäre ich unter meinen gegenwärtigen Umständen auf Dates aus, mit Stimmenhören, Aurasehen und schlabbrigen Sweatshirts. Doch ich spreche nichts davon aus. Stattdessen sage ich: »Ja, ich bin eine Belastung. Ich bin eine riesige, nicht versicherungsfähige, jederzeit bevorstehende Katastrophe. Aber ich bin definitiv keine Bedrohung. Hauptsächlich, weil er mich nicht interessiert. Und ich weiß, dass das wahrscheinlich schwer zu glauben ist, wo er doch so toll und sexy und affengeil und rattenscharf und entflammbar ist, oder wie immer du ihn sonst noch bezeichnen willst. Doch die Wahrheit ist, ich mag Damen Auguste nicht, und ich weiß nicht, wie ich das sonst sagen soll.«

»Äh, ich glaube, du brauchst gar nichts mehr zu sagen«, nuschelt Haven mit verstörter Miene, während sie starr geradeaus schaut.

Ich folge ihrem Blick, bis dorthin, wo Damen steht, glänzendes Haar, leuchtende Augen, phantastischer Body und wissendes Lächeln. Und ich fühle, wie mein Herz zwei Schläge aussetzt, als er die Tür aufhält und sagt: »Hi, Ever, nach dir.«

Ich stürme zu meinem Platz und weiche gerade eben noch dem Rucksack aus, den Stacia mir in den Weg gestellt hat, während mein Gesicht vor Scham brennt und ich genau weiß, dass Damen direkt hinter mir ist, und er jedes einzelne grässliche Wort gehört hat, das ich eben gesagt habe.

Ich lasse meinen Rucksack fallen, ziehe meine Kapuze hoch und drehe meinen iPod auf, in der Hoffnung, die Geräusche zu übertönen und mich gegen das abzuschotten, was gerade passiert ist. Dabei versichere ich mir, dass ein Typ wie er – ein so selbstsicherer, so gut aussehender, so absolut umwerfender Junge – zu cool ist, um sich wegen der unbedachten Worte eines Mädchens wie mir Gedanken zu machen.

Doch genau in dem Moment, in dem ich anfange, mich zu entspannen, lässt mich ein überwältigender Schlag zusammenfahren – elektrischer Strom durchfährt meine Haut, zuckt durch meine Adern und lässt meinen ganzen Körper kribbeln.

Und das alles nur, weil Damen seine Hand auf meine gelegt hat.

Es ist schwer, mich zu überrumpeln. Seit ich Hellseherin geworden bin, ist Riley die Einzige, der das gelingt, und, glaubt mir, sie wird es nie leid, neue Methoden zu erfinden. Doch als ich von meiner Hand zu Damens Gesicht schaue, lächelt er bloß und sagt: »Ich wollte das hier zurückgeben.« Dann reicht er mir mein Exemplar von Wuthering Heights.

Und obgleich ich weiß, dass sich das komisch anhört, in dem Moment, in dem er sprach, wurde es im ganzen Raum still. Ernsthaft, irgendwie war eben noch alles voller unzusammenhängender Gedanken und Stimmen, und dann:___.

Doch da ich weiß, wie lächerlich das ist, schüttele ich den Kopf und antworte: »Bist du sicher, dass du es nicht behalten möchtest? Ich brauche es nämlich nicht, ich weiß schon, wie es ausgeht.«

Er nimmt die Hand von meiner weg, trotzdem dauert es eine Weile, bis all das Kribbeln vergeht.

»Ich weiß auch, wie es ausgeht«, sagt er und schaut mich auf so eindringliche, so vertrauliche Art und Weise an, dass ich schnell den Blick abwende.

Als ich mir wieder die Kopfhörer in die Ohren stopfen will, um die ewige Tonschleife von Stacias und Honors gemeinen Bemerkungen zu überlagern, legt Damen die Hand erneut auf meine und fragt: »Was hörst du da?«

Und das Klassenzimmer verstummt abermals. Ganz im Ernst, diese wenigen kurzen Sekunden lang waren keinerlei herumwirbelnde Gedanken zu vernehmen, kein gedämpftes Flüstern, nur der Klang seiner leisen, gefühlvollen Stimme. Ich meine, als das vorhin passiert ist, da dachte ich, ich hätte es mir nur eingebildet. Aber diesmal weiß ich, dass es wahr ist. Denn obwohl die anderen immer noch reden und denken und all das Übliche tun, wird das doch vom Klang seiner Worte vollkommen ausgeblendet.

Ich blinzele, merke, dass mein Körper ganz warm und elektrisiert ist, und frage mich, woher das kommt. Ich meine, nicht dass es nicht schon vorgekommen wäre, dass meine Hand berührt worden ist, allerdings habe ich noch nie so etwas erlebt wie das hier.

»Ich habe gefragt, was du dir anhörst.« Er lächelt. Ein so vertrauliches Lächeln, dass ich fühle, wie mein Gesicht rot anläuft.

»Ach, äh, das ist nur so ein Gothic-Mix, den hat meine Freundin Haven gemacht. Vor allem alte Sachen, du weißt schon, The Cure, Siouxie and the Banshees, Bauhaus.« Ich zucke mit den Schultern und kann den Blick nicht abwenden, während ich ihm starr in die Augen sehe und versuche, ihre genaue Farbe zu ergründen.

»Stehst du auf Gothic?«, fragt er mit hochgezogenen Brauen und skeptischem Blick, während er meinen langen blonden Pferdeschwanz mustert, mein dunkelblaues Sweatshirt und mein Make-up-freies Gesicht.

»Nein, eigentlich nicht. Haven fährt voll darauf ab.« Ich lache, ein nervöses Gackern, bei dem man sich krümmen möchte und das von allen vier Wänden direkt zu mir zurückgeworfen wird.

»Und du? Worauf fährst du ab?« Noch immer ruht sein Blick auf meinen Augen, seine Miene ist eindeutig belustigt.

Und gerade als ich zu einer Antwort ansetze, kommt Mr. Robins herein. Seine Wangen sind gerötet, allerdings nicht vom flotten Gehen, wie alle glauben. Und dann lehnt Damen sich auf seinem Stuhl zurück, und ich hole tief Luft, schlage meine Kapuze zurück und versinke von Neuem in der vertrauten Geräuschkulisse von Teenagerbeklemmungen, Prüfungsstress, Körperfeindlichkeit, von Mr. Robins' unerfüllten Träumen und von Stacias, Honors und Craigs Gegrübel, was dieser Supertyp nur an mir finden kann.

FÜNF

An unserem Lunchtisch warten Haven und Miles schon Auf mich. Als ich Damen neben ihnen sitzen sehe, bin ich schwer versucht, wieder davonzurennen.

»Du darfst dich gern zu uns setzen, aber nur, wenn du versprichst, den Neuen nicht anzustarren.« Miles lacht. »Es ist sehr unhöflich, andere Leute anzustarren. Hat dir das nie jemand gesagt?«

Ich verdrehe die Augen und rutsche neben ihn auf die Bank, wild entschlossen zu zeigen, wie gleichgültig mir Damens Gegenwart ist. »Was soll ich sagen, ich bin von Wölfen aufgezogen worden?« Geschäftig hantiere ich mit dem Reißverschluss meiner Lunchtasche.

»Ich bin von einem Transvestiten und einer Liebesromanautorin aufgezogen worden«, meint Miles und streckt die Hand aus, um eine Zuckerkugel von Havens HalloweenTörtchen zu klauen.

»Sorry, das warst nicht du, Süßer, das war Chandler in Friends.« Haven lacht. »Ich dagegen bin in einem Hexenzirkel aufgewachsen. Ich war eine wunderschöne Vampirprinzessin, von allen geliebt, verehrt und bewundert. Ich habe in einem luxuriösen Spukschloss gewohnt, und ich habe keine Ahnung, wie ich mit euch Pennern an diesem Plastiktisch gelandet bin.« Sie nickt Damen zu. »Und du?«

Er nippt an seinem Getränk, irgendeine schillernde rote Flüssigkeit in einer Glasflasche. Dann sieht er uns drei an und sagt: »Italien, Frankreich, England, Spanien, Belgien, New York, New Orleans, Oregon, Indien, New Mexico, Ägypten und dazwischen noch ein paar Stationen.«

»Kann man auch ›Soldatenbalg‹ sagen?« Lachend puhlt Haven eine Zuckerkugel ab und wirft sie Miles zu.

»Unsere Freundin Ever hier«, meint Miles und legt die Zuckerkugel genau auf die Mitte seiner Zunge, ehe er sie mit einem Schluck Vitaminwasser hinunterspült. »Na ja, sie hat früher in Oregon gewohnt«, erklärt er und fängt sich einen scharfen Blick von Haven ein, die mich sogar nach meinem Fettnäpfchentritt vorhin noch immer als größtes Hindernis auf ihrem Weg zu wahrer Liebe betrachtet und es nicht schätzt, wenn die Aufmerksamkeit irgendwie auf mich gelenkt wird.

Damen lächelt und sieht mir in die Augen. »Wo denn?«

»Eugene«, murmele ich und konzentriere mich auf mein Sandwich anstatt auf ihn, denn wenn er spricht, ist es jedes Mal das Einzige, was ich höre, genau wie im Klassenzimmer.

Und jedes Mal, wenn sich unsere Blicke begegnen, wird mir warm.

Und als sein Fuß gerade gegen meinen gestoßen ist, hat mein ganzer Körper gekribbelt.

Und das macht mich allmählich wirklich wahnsinnig.

»Wie bist du denn hier gelandet?« Er beugt sich zu mir herüber, woraufhin Haven noch dichter an ihn heranrückt.

Stumm starre ich auf die Tischplatte und presse die Lippen zusammen, eine Angewohnheit von mir, wenn ich nervös bin. Ich will nicht über mein altes Leben reden; ich sehe keinen Sinn darin, sämtliche schaurige Details zu schildern. Erklären zu müssen, wie ich, obwohl es absolut meine Schuld ist, dass meine ganze Familie umgekommen ist, es irgendwie geschafft habe, am Leben zu bleiben. Also reiße ich schließlich einfach nur die Rinde von meinem Sandwich ab und sage: »Ist 'ne lange Geschichte.«

Ich kann Damens Blick spüren – schwer, warm und einladend –, und das macht mich so nervös, dass meine Handflächen schweißfeucht werden und mir meine Wasserflasche aus der Hand rutscht. Sie fällt so schnell, ich kann nichts dagegen machen, alles, was ich tun kann, ist auf das Krachen und Spritzen zu warten.

Doch noch ehe sie auf der Tischplatte aufschlägt, hat Damen sie schon aufgefangen und mir zurückgegeben. Und ich sitze da, starre die Flasche an und weiche seinem Blick aus. Ich frage mich, ob ich die Einzige bin, die bemerkt hat, wie schnell er sich bewegt hat, so schnell, dass seine Glieder tatsächlich nur noch verschwommen zu sehen waren.

Dann fragt Miles Damen über New York aus, und Haven rückt so nahe an ihn heran, dass sie ihm praktisch auf dem Schoß sitzt. Ich atme tief durch, esse mein Sandwich auf und rede mir ein, dass ich mir das alles nur eingebildet habe.

Als es endlich klingelt, schnappen wir uns alle unsere Sachen und gehen zum Unterricht. Sobald Damen außer Hörweite ist, wende ich mich an meine Freunde und frage: »Wie ist der denn an unseren Tisch gekommen?« Dabei schäme ich mich dafür, wie schrill und anklagend meine Stimme klingt.

»Er wollte gern im Schatten sitzen, also haben wir ihm einen Platz angeboten«, meint Miles achselzuckend, wirft seine Flasche in die Recycling-Tonne und geht zum Schulgebäude voraus. »Keine krumme Tour, keine heimtückische Verschwörung, um dich in Verlegenheit zu bringen.«

»Also, auf den Spruch mit dem Anstarren hätte ich durchaus verzichten können«, knurre ich und weiß, dass das albern und überempfindlich klingt. Ich möchte nicht aussprechen, was ich wirklich denke, möchte meine Freunde nicht mit der durchaus angebrachten, aber unfreundlichen Frage kränken: Warum gibt sich ein Typ wie Damen mit uns ab?

Im Ernst. Unter allen Schülern an dieser Schule, all den coolen Cliquen, denen er sich anschließen könnte, warum in aller Welt sollte er sich ausgerechnet zu uns setzen – zu den drei größten Außenseitern?

»Reg dich ab, er fand es witzig«, erwidert Miles. »Außerdem kommt er heute Abend bei dir vorbei. Ich hab ihm gesagt, er soll so gegen acht da sein.«

»Du hast was?« Ungläubig starre ich ihn an, und plötzlich fällt mir wieder ein, wie Haven während der ganzen Mittagspause darüber nachgedacht hat, was sie anziehen soll, während Miles überlegt hat, ob er noch Zeit für einmal SprayBräunen hat. Jetzt wird alles klar.