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Die beliebtesten Tropes von #booktok: Enemies to Lovers und Dark Academia! Die Schülerinnen und Schüler der Gray Wolf Academy genießen eine besondere Ausbildung: Sie werden in der Kunst des Zeitreisens unterrichtet und »befreien« für ihren Schulleiter wertvolle Gegenstände aus der Vergangenheit. Nach ihrer triumphalen Rückkehr freut Natasha sich auf ihren neuen Auftrag im Italien der Renaissance, wo sie jene Artefakte finden soll, mit deren Hilfe man nichts weniger erhält als die totale Kontrolle über den Lauf der Zeit. Statt Braxton wird jedoch Killian mit ihr reisen und seine Aufgabe lautet ganz anders als ihre, denn er ist nicht dort, um für den Schulleiter seltene Kunstwerke zu beschaffen. Das größte Mysterium ist und bleibt dennoch Natashas eigene Geschichte. Um das zu lösen, wird sie die Unterstützung von Braxton benötigen, der weiterhin Geheimnisse vor ihr hat – und von Killian, der entweder die einzig ehrliche Person an der Academy ist oder der größte Lügner von allen … - Die mitreißende Fortsetzung greift den Cliffhanger von ›Stealing Infinity‹ nahtlos auf - Spannung und Romantik erreichen neue Höhen - Für Fans von Tracy Wolff und Kerstin Gier »Ein süchtig machendes, cleveres, modernes Fantasy-Epos.« Tracy Wolf Alle bisher erschienenen Bände der ›Stealing Infinity‹-Reihe: Band 1: Stealing Infinity Band 2: Ruling Destiny Die Bände sind nicht unabhängig voneinander lesbar.
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Seitenzahl: 537
Wer die Vergangenheit bestiehlt, bezahlt mit der Zukunft
Nach ihrer triumphalen Rückkehr aus der Vergangenheit, freut Natasha sich auf ihren neuen Auftrag im Italien der Renaissance. Statt Braxton wird jedoch Killian mit ihr reisen und seine Aufgabe lautet ganz anders als ihre. Er ist nicht dort, um für den Schulleiter seltene Kunstwerke zu beschaffen, sondern um als sein Attentäter zu fungieren.
Das größte Mysterium bleibt jedoch ihre eigene Geschichte. Um das zu lösen, wird Natasha die Unterstützung von Braxton benötigen, der weiterhin Geheimnisse vor ihr hat – und von Killian, der entweder die einzig ehrliche Person an der Academy ist oder der größte Lügner von allen. Als Natasha beginnt, die Puzzleteile zusammenzusetzen, entdeckt sie die erschreckende Wahrheit hinter den Plänen des Schulleiters, denn wer die Zeit kontrolliert, beherrscht die Welt.
Von der Autorin sind bei dtv außerdem lieferbar:
Stealing Infinity (Band 1)
Alyson Noël
Band 2
Roman
Aus dem amerikanischen Englischvon Michelle Landau
Für Saint, immer
Anmerkung der Autorin
Dieses Buch stellt Aspekte von sexueller/sexualisierter Gewalt, gewalttätige Handlungen, Armut und Verlust eines Elternteils dar. Ich hoffe, dass ich diese Elemente sensibel und angemessen behandelt habe.
Oh, in ihrer Wut ist sie verwegen und klug!
Schon in der Schule war sie die reinste Plag.
So klein und doch so ungestüm ist sie.
– William Shakespeare,
Ein Sommernachtstraum
Fakt:
Sämtliche Kunstwerke und Artefakte, die in diesem Roman erwähnt werden, sind real.
Braxton
Basilique Royale de Saint-Denis, Frankreich
1741
ICH STEHE NEBEN DEM TOTEN und hebe meine Fackel, mein Blick huscht von seinen leeren, leblosen Augen zu der blutigen Wunde in seiner Brust, wo sich der Dolch tief in sein Herz gegraben und ihm den letzten Atemzug geraubt hat.
Ich wollte nicht, dass es so weit kommt. Ich wollte nicht …
Im verzweifelten Versuch, diesen Anblick auszublenden, schließe ich die Augen, doch das grauenhafte Bild hat sich schon in mein Gehirn gebrannt – ein düsteres, elendes Stillleben, das mich bis ans Ende meiner Tage verfolgen wird.
»Merde.« Ich ziehe eine Grimasse. Als ich mich umdrehe, sehe ich Killian neben mich treten, eine Zigarette zwischen den Lippen.
»Lass den Quatsch.« Seine Stimme hallt durch das uralte Gemäuer. »Gibt keinen Grund mehr, Französisch zu sprechen. Außer uns ist niemand hier.«
Er packt mich am Handgelenk, benutzt die Flamme meiner Fackel wie ein Streichholz, um seine Zigarette zu entzünden, und nimmt einen tiefen Zug, der sofort einen heftigen Hustenanfall auslöst.
»Gibt doch nichts Besseres als ’ne ordentliche Kippe«, röchelt er. »Mein Paps hat mich das erste Mal probieren lassen, als ich neun war.« Mit einem Seitenblick zu mir lacht Killian auf. »Mir war gar nicht klar, wie sehr ich das vermisst habe. Das Rauchen meine ich. Nicht meinen Paps.« Um seine Aussage zu unterstreichen, bläst er eine Reihe Rauchringe in die Luft, die kurz über der Leiche schweben bleiben. »Manchmal frage ich mich, ob dieses Jahrhundert nicht besser zu mir passen würde. Du weißt schon, bevor es all diese Regeln, Vorschriften und Warnungen vom Gesundheitsministerium gab.«
Unbehaglich sehe ich zu, wie er neben dem Toten in die Hocke sinkt und mit der Fingerspitze dessen Augenlider schließt.
»Echt gruselig, wenn der einen so angafft.«
»Meinst du, er hat recht?« Ich starre auf meine Stiefel, deren Zehenkappen mit Erbrochenem und Blut bespritzt sind. Mein erster Instinkt ist, die Sauerei sofort wegzuwischen, trotzdem weiß ich, dass ich es nicht tun werde.
Primär weil ich niemals vergessen darf, dass ein junges Mädchen aufgrund meiner Tat seinen Vater verloren hat und nie den Grund dafür herausfinden wird. Ich schüttle den Kopf, schüttle den Gedanken ab und kehre zu meiner Frage zurück. »Damit, dass die Sonne eine Fälschung ist – was meinst du?«
Killian schnippt die Asche seiner Zigarette auf die Wange des Toten. In diesem Moment hasse ich ihn mehr denn je. Respektloses, abartiges Stück Sch…
»Glaubst du wirklich, Arthur würde uns für eine Fälschung losschicken?« Er schnaubt amüsiert.
Mein Blick fällt wieder auf die Leiche. Das ist ein Mensch, eine Person. Ein Mann, der eine Frau und eine Tochter hatte. Ein Mann, der dank mir ein grausames und viel zu frühes Ende gefunden hat.
Und doch ist er nicht einfach irgendein Mann, sondern ein Zeitwächter. Ein Zeitwächter, der unerschütterlich geblieben ist, obwohl er gespürt hat, was ihn erwartet. Er hat das Schicksal einfach akzeptiert, ein Schicksal, das er nicht ändern konnte.
Zumindest bis er die Drohung gegen sein kleines Mädchen gehört hat. Denn in diesem Moment hat er sich von einem loyalen, eingeschworenen Zeitwächter in einen verzweifelten Vater verwandelt, der alles tun würde, um seine Tochter zu retten.
»Hey, Posh Spice …«
Mit zusammengezogenen Brauen sehe ich Killian an. Seine ständigen Sticheleien gegen meinen Oberschichtakzent gehen mir gewaltig auf die Nerven.
Er baut sich zu seiner vollen Größe auf, sodass er mich um gute sieben Zentimeter überragt. Mit seinen vierzehn Jahren ist er ein bisschen älter als ich und zudem groß für sein Alter. Und muskulös. »Falls es dir entgangen ist …« Er greift in seine Tasche und zieht einen gravierten, silbernen Flachmann hervor. »Wir haben’s geschafft, verdammt. Also entspann dich mal – trink was. Wir haben noch genug Zeit, die Leiche wegzuschaffen und uns auf den Rückweg zu machen.«
Ich will nichts trinken, weiß aber, dass es leichter ist, einfach mitzuspielen, also nehme ich den Flachmann und tue so, als würde ich einen großen Schluck runterkippen. Doch Killian kennt mich zu gut und bevor ich ihn aufhalten kann, drückt er den Boden des Flachmanns nach oben, sodass ein Schwall Whisky in meinen Mund fließt und eine feurige Spur meine Kehle hinabzieht.
»Schon besser«, brummt er, bevor er den Flachmann zurücknimmt und selbst einen großen Schluck trinkt. »Ein Zeitwächter ist erledigt, einer wartet noch auf uns«, ruft er. Als er meinen verwirrten Blick bemerkt, fügt er hinzu: »Ich rede von dem Mädchen. Was sonst?«
»Aber das ist unmöglich«, sage ich. »Es gibt keine weiblichen Zeitwächter.«
»Jetzt schon.« Er zuckt mit den Schultern. »Als sein erstgeborenes und einziges Kind muss seine Tochter eine Zeitwächterin sein. Und ich für meinen Teil kann es nicht erwarten, dieses Wundermädchen kennenzulernen. Ich werde ihr das einzig wahre Wunder dieser Welt zeigen, bevor ich sie um die Ecke bringe. Sie wird mit einem gehörigen Bang abtreten, wie man so schön sagt.«
Mein Magen rebelliert, während ich zusehe, wie er das Becken vor und zurück bewegt und dabei geschmacklose Gesten mit den Fingern und der Zunge macht. Dieser Typ ist so widerlich, so vulgär und abstoßend, dass ich mir hier und jetzt schwöre, dieses Mädchen unter allen Umständen vor ihm zu beschützen – falls ich diese angebliche Zeitwächterin denn jemals finde.
Wobei … Vielleicht sollte ich hier und jetzt dafür sorgen, dass er sie niemals in die Finger bekommt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand ihn vermissen wird. Zumindest nicht lange. Es verschwinden schließlich dauernd Leute. Was macht einer mehr da schon aus?
»Komm schon«, fordert er mich auf. »Hilf mir, die Leiche wegzuschaffen, damit wir endlich zurück nach Gray Wolf kommen und anständig feiern können.«
»Wo willst du ihn denn verstecken?« Kaum habe ich die Frage gestellt, kenne ich die Antwort. König Dagoberts Grab. Es steht offen, seit der Zeitwächter die Sonne aus ihrem jahrhundertealten Versteck geholt hat. Und auch wenn noch ein Haufen alter königlicher Knochen darin liegt, hat eine weitere Leiche Platz.
Aber passen da auch drei rein?
»Ich nehme ihn an den Schultern, du an den Füßen«, sagt Killian.
Wir zählen bis drei, schleifen die Leiche zum Sarkophag und hieven sie hinein. Als der Kopf des Zeitwächters mit einem dumpfen Krachen auf König Dagoberts Schädel landet, spüre ich brennende Galle in meiner Kehle aufsteigen.
Dieser Mann hat etwas Besseres verdient und wenn ich meinen Anteil an seinem Tod jemals wieder gutmachen will, muss ich jetzt handeln, bevor es zu spät ist.
Ich beobachte, wie Killian seinen glimmenden Zigarettenstummel in das Grab wirft, ganz das überhebliche Arschloch, das er nun mal ist. Dann zieht er die goldene Kugel aus seiner Tasche und gönnt sich einen Moment, um unser Werk zu bewundern. »Arthur wird sehr zufrieden sein, wenn er dieses Zielobjekt sieht!«
Ich starre Killians Hinterkopf an. »Wieso sollte er zufrieden sein?«, frage ich, mein Tonfall so düster wie meine Stimmung. »Die Sonne ist nicht echt.«
Killian wirbelt zu mir herum. »Was laberst du da?« Er hält mir die goldene Kugel vors Gesicht, aber ich wedle seine Hand schnell weg.
»Der Zeitwächter hatte recht. Die Sonne war nur eine Attrappe«, beharre ich, fest entschlossen, meinen neuen Plan in die Tat umzusetzen.
Etwas Schlimmeres kann ein Springer seinem Partner kaum antun, aber nach dem, was ich diesem Mädchen genommen habe, ist es das Mindeste, was ich für sie tun kann.
Außerdem hat Killian nicht gerade selbst gesagt, dass er viel besser in dieses Jahrhundert passt? Dann ist das jetzt seine Chance, diese Theorie auf die Probe zu stellen.
Killians Augen funkeln. »Und woher, verdammt noch mal, willst du das wi…«, beginnt er.
Doch bevor er den Satz zu Ende bringen kann, hole ich zum Schlag aus und treffe ihn hart am Kinn.
Sein Kopf fliegt zur Seite und seine Knie geben nach. Kraftlos sackt er zu Boden. Ein schneller, simpler K.o.-Schlag. Doch da ich nicht weiß, wie lange er bewusstlos bleiben wird, lasse ich mich schnell auf die Knie fallen, reiße ihm das Lederband mit dem Kreuzanhänger vom Hals und springe dann wieder auf die Füße, um zum Portal zu rennen.
Während meine Fingerknöchel noch schmerzhaft pulsieren und meine blut- und kotzebefleckten Stiefel laut über den uralten Boden trommeln, schwirren Gedanken an das Mädchen durch meinen Kopf.
Ist sie wirklich eine Zeitwächterin? Die erste Frau in einer jahrhundertelangen Blutlinie aus Männern?
Der Ansatz eines Lächelns huscht über meine Lippen und ich hoffe, dass ich eines Tages die Gelegenheit bekommen werde, sie kennenzulernen. Denn das wäre wirklich etwas Besonderes.
Sie zu kennen, wäre etwas Besonderes.
So oder so habe ich es zumindest geschafft, sie vor Killian fucking de Luce zu bewahren.
Als ich das leuchtende Portal beinahe erreicht habe, werfe ich einen Blick über die Schulter und sehe, dass Killian wieder auf den Beinen ist und hinter mir herjagt.
»Wehe, du gehst ohne mich!«, schreit er mit wildem Blick und wutverzerrter Miene. »Ich bringe dich um! Ich …«
Ich hebe das Kreuz, das bei diesem Sprung als Klicker dient, und mit einem kurzen Druck auf dessen Mitte rase ich zweieinhalb Jahrhunderte in der Zeit nach vorn … und lasse Killian weit hinter mir zurück.
Natasha
Gray Wolf Academy
Heute
EIN SCHMALER LICHTSTRAHL FÄLLT durch den Schlitz zwischen den Vorhängen und trifft mich mitten im Gesicht.
Doch das ist nicht der Grund, wieso ich wach bin.
Es ist Braxton. Wieder einmal gefangen in einem seiner Albträume wirft er sich hin und her, schlägt nach einem unsichtbaren Gegner, während er größtenteils unverständliche Worte vor sich hinmurmelt.
Ich habe nicht … Ich hätte … Merde …
»Alles gut«, flüstere ich und rolle mich auf die Seite. Ich lege eine Hand auf seine Brust. Seine Haut ist kühl, aber schweißnass, und sein Herz schlägt so heftig, dass ich es durch seinen Brustkorb spüren kann. »Es ist nur ein Albtraum. Es ist nicht echt.«
Ich sehe zu, wie er langsam ein Auge öffnet. Kurz darauf auch das zweite. Und einen Moment lang bin ich mir sicher, den Ansatz von Angst und Reue in seinem Blick zu sehen, mehr noch, einen Ausdruck, der mich an absolutes Grauen erinnert. Doch dann wischt er sich mit einer Hand übers Gesicht und wispert meinen Namen und was immer ich gerade gesehen habe, ist verschwunden.
»Tasha«, sagt er. »Tut mir leid. Ich …«
»Schon okay«, erwidere ich. »War nur ein Albtraum, mehr nicht.« Ich drücke ihm einen Kuss auf die Schulter, dann noch einen in seine Halsbeuge. »Ich bin hier, falls du darüber reden willst.«
Er dreht den Kopf in meine Richtung und als er meinem Blick begegnet, rechne ich fest damit, dass er mir endlich verraten wird, was ihn beinahe jede Nacht in seinen Träumen heimsucht. Doch dann schlingt er die Arme um meine Taille und zieht mich an sich. »Du meinst, deine Psychatriebude ist offen?«
Diese Anspielung auf Lucy von den Peanuts bringt mich jedes Mal zum Lachen, vor allem weil die Gray-Wolf-Psychiaterin zufälligerweise ebenfalls Lucy heißt.
»Apropos …« Ich lasse meine Finger zu seinem Nabel gleiten, umkreise ihn mit der Spitze meines Daumens. »Heute ist mein letzter Tag.« Ich halte inne und hebe den Kopf, um seine Miene lesen zu können. Der verwirrte Blick, den ich dort vorfinde, lässt mich hinzufügen: »Die Therapie. Heute ist mein letzter Tag der Therapie.«
Braxton spannt die Kiefermuskeln an und runzelt besorgt die Stirn. Ich bin mir nicht sicher, mit welcher Reaktion ich gerechnet habe, aber sicher nicht mit dieser.
»Aber … Bist du schon so weit? Es ist noch nicht lange her.«
Ich rolle mich auf den Rücken und starre hinauf zu den waldgrünen Stoffbahnen, die über unseren Köpfen hängen. »Genau genommen ist mein letzter Sprung nach Versailles schon fast drei Wochen her. Oder sechs Sitzungen mit Dr. Lucy – wie immer man es formulieren will. Aber ja.« Ich hebe die Schultern. »Ich bin mir so sicher, wie ich es sein kann.«
»Und was sagt Dr. Lucy?« Braxton dreht sich zu mir, stopft ein Kissen unter seinen Kopf und sieht auf mich herab.
»Keine Ahnung und interessiert mich auch nicht.« Ich verziehe das Gesicht. »Es ist meine Entscheidung. Und ganz im Ernst, inzwischen bin ich es echt leid, darüber zu reden. Was für Gefühle hat das in dir ausgelöst? Wie beeinträchtigt dieses Erlebnis deine tägliche Routine? Willst du noch mal über den Tag sinnieren, an dem dein Dad dich für immer verlassen hat?« Ich verdrehe die Augen. »Nein, ich will über nichts davon sinnieren. Ich habe alles gesagt, was es zu sagen gibt, jetzt ist es Zeit, weiterzumachen.«
Braxton gibt ein leises Geräusch von sich – ein Geräusch, das ich nicht so recht zuordnen kann. Wenn ich es beschreiben müsste, würde ich sagen, es ist eine Mischung aus Keuchen und Stöhnen.
Aus irgendeinem Grund rutscht Braxtons Laune immer in den Keller, sobald wir auf meinen Vater zu sprechen kommen. Fast als ginge ihm sein Verschwinden näher als mir.
»Wieeee auch immer …« Ich ziehe das erste Wort in die Länge. »Manchmal frage ich mich, ob all dieses Gerede das Trauma nicht erst recht lebendig hält. Ich meine, vielleicht hat Arthur ja recht – wir schreiben unsere eigenen Geschichten und die, die wir immer und immer wieder abspielen, bestimmen unser Schicksal. Und wenn es wirklich so ist, zementiere ich dann nicht meinen Status als Opfer einer brutalen Attacke, indem ich den Vorfall in Versailles immer wieder durchlebe?«
»Aber du bist kein Opfer.« Braxton schüttelt den Kopf. »Du hast es diesem Herzog richtig gezeigt.«
Trotz des stolzen Blicks, der sein Gesicht zum Leuchten bringt, wünschte ich, diese ganze schreckliche Geschichte für mich behalten zu haben. Um meine Verletzungen zu erklären, hätte ich ihn auch einfach daran erinnern können, dass ein Solosprung ins Versailles des Jahres 1745 – eine Zeit, in der Frauen kaum Wert und quasi keinerlei Rechte hatten – für eine Frau nun mal noch gefährlicher ist, als es Zeitreisen ohnehin schon sind.
Ich hätte ihm nicht erzählen müssen, dass ich ins Gefängnis geworfen, belästigt und beinahe vergewaltigt wurde, bevor ich mich befreit habe, indem ich mit einer selbstgebastelten Klinge auf den Herzog eingestochen habe.
Immerhin war ich klug genug, für mich zu behalten, dass es Killian war, der mich davon abgehalten hat, meinen Angreifer umzubringen.
Ich kann den fauligen Gestank der Zelle immer noch riechen, spüre immer noch die scharfen Kanten der improvisierten Klinge in meiner Hand, bevor ich sie dem Herzog in die Brust gerammt habe. Ich hatte gerade zu einer erneuten Attacke ausgeholt, als Killian aufgetaucht ist und mich vor mir selbst gerettet hat. Er hat gesagt, dass ich niemals wieder dieselbe sein werde, nachdem ich einmal getötet habe, und dass es nicht an mir ist, den Lauf der Geschichte zu ändern – und noch jede Menge anderen Mist in der Art.
Nur dass es wahrscheinlich gar kein Mist war.
Vermutlich hatte er recht.
Trotzdem frage ich mich manchmal, ob es ein Fehler war, den Herzog am Leben zu lassen.
Jedenfalls bin ich froh, dass ich dieses ganze Killian-Thema für mich behalten habe. Denn aus mir nicht ganz verständlichen Gründen sind Braxton und Killian erklärte Todfeinde. Und da keiner von beiden ins Detail gehen will, weiß ich nur, dass Killian Braxton beschuldigt, ihn im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts zurückgelassen zu haben, während Braxton behauptet, Killian sei ein Lügner und regelrechter Psychopath.
»Wo bist du denn gerade?« Braxtons geschliffener englischer Akzent holt mich aus Versailles zurück nach Gray Wolf, in Braxtons luxuriöse Suite und sein edles Himmelbett. »Denn hier bist du ganz eindeutig nicht mehr.«
Ich stütze mich auf die Ellbogen und wende mich ihm zu. »Ich habe darüber nachgedacht, was Arthur gesagt hat.«
Braxton verzieht die Lippen zu einem Grinsen. »Arthur sagt viel, wenn der Tag lang ist, da musst du schon etwas präziser sein.«
Ich lege eine Hand auf meinen Bauch und sage mit tiefer Stimme: »Du allein bist die Alchemistin der Realität, die du erschaffst.« Ich bemühe mich um die beste Imitation unseres … Chefs, Anführers, Mentors, Königs. Ganz sicher bin ich mir immer noch nicht, wie ich den zurückgezogenen Tech-Billionär bezeichnen soll, der mich hierhergebracht hat. Den Mann, dessen erste Initiale auf dem goldenen Siegelring steht, den ich trage und der mich als Mitglied der AAD ausweist, Arthur’s Artful Dodgers. Den Mann, der – wie ich allmählich vermute – jede meiner Bewegungen verfolgt. Und obwohl ich nicht mal ansatzweise klang wie er, lacht Braxton und das allein fühlt sich an wie ein kleiner Sieg.
»Ah, ja«, sagt Braxton. »Amor Fati.«
»Was hast du gesagt?« Ich drehe mich auf die Seite, lasse meinen Blick über sein unfassbar hübsches Gesicht wandern, von den ozeanblauen Augen über den leichten Knick in seiner Nase zu den warmen, einladenden Lippen, die wirklich fantastisch küssen können.
»Amor …«
»Nein«, falle ich ihm ins Wort, »ich kenne den Spruch. Ich meinte nur … woher kennst du ihn?«
»Das hat mein Dad oft gesagt. Es bedeutet, zu lernen, das Beste aus dem zu machen, was passiert – unerwünschte Erfahrungen in etwas Bedeutungsvolles zu verwandeln.«
Staunend sehe ich ihn an. Die Verbindung zwischen uns ließ sich von Anfang an nicht leugnen, egal wie sehr ich mich dagegen gewehrt habe. Aber das … Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Es ist zu merkwürdig und konkret, um Zufall zu sein.
»Was ist?« Mit fragendem Blick legt er eine Hand an meine Wange. »Wieso siehst du mich so an?«
»Weil mein Dad das früher auch oft gesagt hat. Unwahrscheinlicher Zufall, oder?«
Braxtons Blick brennt sich in meinen. »Auch nicht unwahrscheinlicher, als dass wir beide hier in diesem goldenen Käfig zueinanderfinden.«
Angenehme Wärme breitet sich in meiner Brust aus, als er die Finger nach dem Talisman ausstreckt, der an einer dünnen Goldkette um meinen Hals hängt. Das Geschenk, das er zu meinem achtzehnten Geburtstag extra in Auftrag gegeben hat. Der blaue Lapislazuli-Mond und der kleine Diamantstern in einem zierlichen goldenen Käfig sind zugleich ein Symbol unseres gemeinsamen Lebens in dieser schneekugelartigen Festung und dienen als eine Art Schutz gegen den Erinnerungsverlust, davor, mich für immer in der Zeit zu verlieren.
So wie es Anjou ergangen ist, vermutlich auch Song und irgendwann wohl auch Killian. Die Vorstellung allein ist so grauenhaft, dass ich instinktiv schaudere.
»Alles in Ordnung?« Mit einer Hand streicht Braxton über meinen Arm, vertreibt die Gänsehaut. Und als sein Blick meinem begegnet, ist der Ausdruck darin so offen, so liebevoll, dass ich tief in meinem Herzen einfach weiß, Killian lügt entweder oder liegt vollkommen falsch. Braxton wäre nicht dazu fähig, jemanden in einer fremden Zeit zurückzulassen.
»Natürlich ist alles in Ordnung«, versichere ich ihm. »Schließlich bin ich hier bei dir.« Ich sehe ihm direkt in die Augen und werde nicht mal rot dabei.
Braxton gegenüber muss ich meine Gefühle nicht verbergen oder, schlimmer noch, so tun, als gingen sie ihn nichts an. Vor ihm ist es mir nicht peinlich, mein echtes, mangelhaftes, absolut authentisches Selbst zu zeigen.
Was das große L-Wort angeht … Ganz so weit sind wir noch nicht. Aber wie bei allem anderen zwischen uns besteht kein Grund zur Eile. Hier in Gray Wolf haben wir alle Zeit der Welt.
Braxton lässt den Talisman los und sieht zu, wie er über meine Brust gleitet, schließlich im V-Ausschnitt meines Seidentops verschwindet. Dann schiebt er einen Finger unter den Träger, zieht ihn über meine Schulter und verteilt eine Reihe Küsse entlang meines Schlüsselbeins.
Obwohl wir uns bis spät in die Nacht geküsst haben, sogar küssend eingeschlafen sind, bekomme ich einfach nicht genug von seinen warmen Lippen, dem elektrischen Prickeln, das seine Fingerspitzen auf meiner Haut hinterlassen.
Ich schmiege mich enger an ihn, schiebe meine Hände in seine weichen, wirren Haare. Und als sein Mund endlich meinen findet, öffne ich sofort die Lippen, gebe mich dem Kuss vollkommen hin – der hitzigen Vibration, die tief in mir beginnt, durch meine Haut dringt und direkt in seine sinkt.
»Spürst du das?«, flüstert er an meinen Lippen. »Diese Energie zwischen uns. Dieses Kribbeln.«
»Immer«, murmle ich. »Immer, wenn ich bei dir bin.«
Ich löse mich etwas von ihm, muss einfach in seine wunderschönen, tiefen Augen sehen.
Doch statt Braxtons Gesicht starrt mir die hässliche Fratze des Herzogs entgegen.
MEIN MUND KLAPPT AUF, doch nichts kommt heraus.
Mein Körper ist erstarrt, meine Kehle wie zugeschnürt.
»Tasha …« Braxton spricht in beruhigendem Flüsterton, wie man ihn auch bei kleinen Kindern oder Schlafwandlern benutzt. »Darling.« Behutsam legt er eine Hand auf meinen Arm. »Bitte … sieh mich an.«
Ich will ja, aber ich kann nicht. Nicht solange der Herzog noch einen Teil von mir in seinen Klauen hat.
Ich lasse mich gegen das Kopfteil des Betts sinken, vergrabe das Gesicht in den Händen und kämpfe mit allem, was ich habe, darum, das Bild des Herzogs aus meinem Kopf zu verdrängen.
Nein, weise ich sein arrogantes Gesicht stumm zurecht. Verschwinde, verdammt noch mal. Du bist für mich gestorben und ich werde nie wieder über dich sprechen oder an dich denken …
»Es ist nicht real«, sagt Braxton. »Du hattest nur einen Flashback. Er kann dir nie wieder wehtun, kann dir nie wieder nahe kommen. Arthur wird dich nie wieder in diese Zeit zurückschicken.«
Es dauert noch ein paar Augenblicke, bis mein Atem sich beruhigt hat und mein Herz wieder regelmäßig schlägt. Als ich die Augen schließlich öffne und Braxtons eindringlichen, besorgten Blick sehe, bin ich entschlossener denn je, diesen bescheuerten Herzog aus meinen Gedanken zu verbannen, egal was es mich kostet.
»Vielleicht muss die Therapiestunde heute nicht deine letzte sein.« Braxton mustert mich vorsichtig.
Ich wende den Blick ab, versuche, meine Demütigung zu verbergen. Eben habe ich noch behauptet, geheilt zu sein, nur um ein paar Sekunden später einen heftigen Rückfall zu bekommen. Mehr als peinlich.
»Okay.« Als ich sehe, wie besorgt er um mich ist, fühle ich mich gleich noch schlechter. »Keine schnelle Lösung, keine voreiligen Schlüsse. Versprochen.«
»Tasha …« Braxtons Stimme ist voller Sorge. »Es geht hier nicht um mich – die Therapie ist für dich. Ich will einfach nur, dass du dich wieder vollständig und sicher fühlst. Außerdem habe ich selbst ab und zu eine Sitzung mit Dr. Lucy, das ist nichts, was einem peinlich sein muss.«
»Wir haben wohl alle unsere Albträume.« Ich seufze, hoffe, dass ich das Thema damit abhaken kann, doch da spüre ich das verräterische Brennen in den Augenwinkeln. Schnell senke ich das Kinn, blinzle so lange gegen die drohenden Tränen an, bis ich mir sicher bin, dass ich sie erfolgreich zurückgedrängt habe.
Nach all den Jahren, in denen ich mich um meine Mom gekümmert und meine eigenen Bedürfnisse dafür zurückgestellt habe, ist es extrem ungewohnt, plötzlich diejenige zu sein, die umsorgt und beschützt wird. Und auch wenn ich besser darin geworden bin, meine Gefühle zu teilen und mich Braxtons Gefühlen zu öffnen … Wenn ich ganz ehrlich bin, wirft er mich mit der offenen Zurschaustellung seiner Zuneigung manchmal so aus der Bahn, dass ich gegen den Drang ankämpfen muss, ihn wegzustoßen.
So viele Jahre lang hat es sich sicher angefühlt, allein zu sein. Und auch jetzt noch, trotz all der Arbeit, die ich investiert habe, ist da dieser düstere Teil von mir, der darauf beharrt, dass ich Braxtons Zuneigung nicht verdiene – dass ich nicht die Art Mädchen bin, für die es sich lohnt, zu bleiben.
Natürlich weiß ich irgendwo tief in mir, dass das nicht stimmt. Doch das reicht nicht immer, um diese hartnäckige, dunkle Stimme zum Schweigen zu bringen.
Stille breitet sich zwischen uns aus wie ein Ozean, bis ich schließlich das Kinn hebe, ihm direkt in die Augen sehe und das Schweigen breche, indem ich sage: »Ich werde mich wieder sicher fühlen. Bald. Aber für den Moment hoffe ich erstmal, dass du mich daran erinnerst, wo wir gerade stehengeblieben sind.«
Ich versuche mich an einem sexy Lächeln, doch es fühlt sich so merkwürdig auf meinem Gesicht an, dass ich sicher kläglich gescheitert bin. Doch was mir an Talent fehlt, mache ich mit Entschlossenheit wieder wett. Ich drücke mich vom Kopfteil des Betts ab und beuge mich zu ihm, bis meine Fingerspitzen die Kurve seines Bizeps erreichen.
Früher gab es mal eine Zeit, in der ich mit willkürlichen Jungs rumgeknutscht habe, um der Monotonie meines Lebens zu entkommen.
Tue ich gerade dasselbe?
Suche ich körperliche Zuneigung, um echten Emotionen und ernsten Gesprächen aus dem Weg zu gehen?
Vielleicht.
Vermutlich.
Vertrauliche Gespräche sind in meinen Augen eher ein Risiko als ein intimer Akt.
Aber ich weiß auch, was ich will. Und in diesem Moment will ich Braxton.
Ich lasse meine Finger seinen Arm hinaufwandern und auch wenn ich mir sicher bin, dass er mich ebenfalls will, lassen sich seine zusammengebissenen Zähne und die angespannte Wirbelsäule nicht ignorieren, auch nicht die Art, wie er sich zurückhält, sich weigert, nachzugeben.
»Darling …« Er zieht die Brauen zusammen und die Mundwinkel nach unten. »Du musst nicht …«
Aber ich lasse ihn nicht ausreden. Ich habe etwas zu beweisen, zum Teil ihm, vor allem aber mir selbst. Ich muss uns beiden beweisen, dass wir einen romantischen Moment genießen können, ohne dass der Herzog ständig dazwischenfunkt.
»Alles gut«, sage ich, flehe ihn regelrecht an, mir zu glauben, damit ich es vielleicht selbst glauben kann. »Ehrlich. Das war nur ein kurzer Ausrutscher. Wird nicht noch mal passieren.«
Ich lasse meine Hände über seine Schultern gleiten und falle über seinen Mund her. Mit der Zunge dränge ich spielerisch gegen seine Lippen, bis er sich schließlich öffnet – mir, dem Kuss und dem unausgesprochenen Versprechen, das auf uns wartet.
Ein leises Stöhnen vibriert tief in seiner Kehle, als er mich enger an sich zieht und mich so leidenschaftlich küsst, dass sämtliche Erinnerungen an den Herzog verblassen. Dann zieht er mich mit sich hinunter, dreht unsere Körper so, dass ich auf ihm liege, verliert keine Zeit, bevor er sich wieder über meinen Mund hermacht, meinen Hals, meine Ohrläppchen. Seine Lippen hinterlassen eine kribbelnde Spur, die meinen ganzen Körper in Brand setzt.
»Das hier«, flüstere ich, presse meinen Körper an seine harten Konturen. »Das hier ist genau das, was ich will.« Ich grabe die Zähne in seine Schulter, ein spielerischer Biss, der trotzdem einen leichten halbmondförmigen Abdruck hinterlässt.
Das hier und noch mehr. So. Viel. Mehr. Die Worte klingen in meinem Kopf, doch ich spreche sie nicht aus. Ich zeige ihm lieber, was ich will.
Es gab so viele Nächte, in denen wir uns eine gefühlte Ewigkeit geküsst haben – bis wir von unseren heiß tanzenden Zungen und süßen Berührungen unserer erkundenden Finger erschöpft waren. Wir haben alles getan, um es langsam anzugehen – um eine solide Grundlage aus Wohlfühlen und Vertrauen aufzubauen. Doch jetzt scheint der Moment gekommen zu sein, einen Schritt weiterzugehen … alles auszuprobieren.
Und ich weiß, dass er genauso empfindet. Ich kann es in den erhitzten Bewegungen seiner Hüften spüren, dem drängenden Streicheln seiner Daumen, als er sie unter mein Oberteil schiebt, meine Taille hinauf, wo er schließlich am Ansatz meiner Brüste innehält.
Ich presse eine Hand auf seine Brust und drehe mich so, dass ich mit dem Blick der anderen Hand folgen kann, mit der ich langsam über das muskulöse Tal seines Bauchs fahre, genüssliche Kreise direkt unter seinem Nabel ziehe, die seinen Puls so sehr in die Höhe treiben, dass ich ihn unter seiner Haut spüre.
Dann schiebe ich meine Hand weiter nach unten.
Und noch weiter.
Meine Finger gleiten unter den Bund seiner Boxershorts, bis ich ihn finde, den wärmsten Teil seines Körpers in Besitz nehme. Ein aufgeregtes Lächeln zupft an meinen Lippen, als ich sehe, wie er unter meiner Berührung erbebt, sich sofort ergibt, willig, alles mitzumachen, was ich will.
»Tasha.« Er dreht den Kopf, bis unsere Lippen sich treffen, zu einem Kuss, der schnell so hitzig wird, dass wir uns voneinander lösen müssen. »Du hast keine Ahnung, wie sehr ich das will«, sagt er. »Wie sehr ich dich will.«
Wieder fällt er über meinen Mund her, hart und heiß, bevor er sich mit den Lippen einen Weg meinen Hals hinab bahnt, immer weiter hinunter, bis er seine Hände erreicht, die inzwischen um meine Brüste liegen.
»Zeig’s mir. Zeig mir, wie sehr du mich willst«, verlange ich und Braxton gehorcht sofort.
Sein lockender, drängender Kuss, der süße Rhythmus unserer kreisenden Hüften – ich will nicht, dass es endet. Ich will mehr. Mehr von uns. Mehr von ihm.
Ich zerre an seiner Boxershorts, will sämtliche Barrieren loswerden, die noch zwischen uns stehen. »Siehst du?«, sage ich, bevor ich meine Zunge über seine Ohrmuschel gleiten lasse, sehe, wie sein Blick glasig wird, als ich meine Hand bewege. »Kein Grund zur Sorge. Ich bin ganz offensichtlich geheilt.«
Mit leicht geöffnetem Mund nimmt Braxton einen tiefen, gequälten Atemzug. Und genau in dem Moment, als ich mir sicher bin, dass wir es wirklich, tatsächlich, endlich tun werden, schließt er die Finger um mein Handgelenk und stoppt mich.
»Aber Tasha … bist du sicher?« Seine heisere Stimme verrät mir, dass es ihn all seine Kraft kostet, sich zu bremsen und das Richtige zu tun. Das zu tun, was ein Gentleman tun würde. Was Braxton tun würde.
Und genau deswegen will ich ihn noch mehr.
Ich grabe die Zähne in meine Unterlippe. Ich bin so was von bereit.
»Bist du sicher?«, frage ich. Mein Ton ist neckend, denn ich bin überzeugt, die Antwort schon zu kennen.
Er nimmt mein Gesicht zwischen seine Hände, in seinem Blick liegt so viel Ehrfurcht, dass es mir gleichzeitig Angst macht und mein Herz singen lässt.
Wir schließen die Lücke zwischen uns und unsere Lippen finden sich erneut, als wie aus dem Nichts ein Schwall Beethoven durchs Zimmer dröhnt.
SOBALD DIE MARKANTEN VIER NOTEN »da-da-da-dum« erklingen, die das Leitmotiv von Beethovens fünfter Symphonie eröffnen, weiß ich, dass es eine Nachricht von Arthur ist.
Was auch die Geschwindigkeit erklärt, mit der Braxton sich unter mir hervorrollt, zu seinem Nachttisch hechtet, um sein Gray-Wolf-Tablet zu holen, und dem Gerät dann seine volle Aufmerksamkeit schenkt.
Ich stütze meinen Kopf in die Hände und stoße ein frustriertes Seufzen aus. Da alles, was in Gray Wolf passiert, Arthurs Vorgaben folgt, ist es sicher kein Zufall, dass er dieses Stück als sein musikalisches Markenzeichen gewählt hat. Wenn man Beethovens Sekretär und Biograph glauben darf, hatte der Komponist bei diesem Stück das Schicksal vor Augen, das an die Tür klopft. Indem Arthur seine Anrufe und Nachrichten mit dieser Symphonie des Schicksals ankündigt, erinnert er uns also wieder mal daran, dass wir nur wegen ihm hier sind.
Arthur herrscht über unser aller Schicksal.
Ich starre Braxtons Rücken an, während er sich über das Tablet beugt. Seine Aufmerksamkeit ist voll und ganz auf das gerichtet, was Arthur von ihm will – was auch immer das sein mag.
Und wäre ich an seiner Stelle, würde ich genau dasselbe tun.
Hier auf dieser abgelegenen Felsinsel, einem Ort, der nahezu durchgehendem Wind, Regen und Nebel ausgesetzt ist, nimmt Arthur die Rolle der Sonne ein, um die wir alle kreisen.
Meine Gedanken wandern zu dem Mädchen, das ich früher einmal war, bevor ich hierhergekommen bin. Damals hatte ich null Interesse an der Vergangenheit. Die Gegenwart einen Tag nach dem anderen zu überleben, war schon Herausforderung genug. Doch hier in Gray Wolf stecke ich bis über beide Ohren in der Vergangenheit, da Arthur keine Mühen scheut, uns von der modernen Welt außerhalb dieser Mauern abzuschirmen.
Zu Beginn war ich fest entschlossen, gegen alles hier zu rebellieren. Doch je länger ich hier war, desto mehr habe ich erkannt, dass die altertümlichen Regeln und Gebräuche, denen wir hier folgen müssen, dazu dienen, uns besser tarnen zu können, wenn wir durch die Zeit reisen – oder springen, wie wir es nennen. Was wiederum unserem eigenen Schutz dient.
»Sorry.« Braxton wirft einen zerknirschten Blick über die Schulter. »Du weißt ja, dass ich antworten muss.« Er wendet sich wieder seinem Slab zu, tippt mit den Daumen rasch eine Antwort.
»Ich weiß auch, dass Sonntag ist«, grummle ich. Mein Körper prickelt immer noch überall dort, wo Braxton mich berührt hat, und dort, wo er mich beinahe berührt hätte. »Was auch immer Arthur will, es kann warten.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er das auch so sieht.« Braxton fährt sich mit einer Hand durch die vom Schlaf verwuschelten Haare, als er aufsteht und seufzt. »Ich muss duschen«, sagt er und bevor ich anbieten kann, mitzukommen, fügt er hinzu: »Glaub mir, es wird eine sehr kalte Dusche.« Er grinst.
Ich ziehe ein Kissen an meine Brust und setze eine übertriebene Schmollschnute auf. Doch Braxton lacht nur und drückt mir einen Kuss auf die Stirn, bevor er Richtung Bad geht. »Fortsetzung folgt«, ruft er noch.
Einen Moment später höre ich Wasser plätschern und steige aus dem Bett, um mich in seinem Schrank auf die Suche nach etwas zu machen, das ich anziehen kann, damit ich nicht im Kleid von gestern Abend durch die Flure von Gray Wolf laufen muss.
Nicht dass sich irgendjemand dafür interessieren würde. In Gray Wolf gelten vollkommen andere Regeln als an normalen Schulen. Trotzdem ist das Kleid ziemlich kurz und mir ist jetzt eher nach was Warmem zumute. Und wenn dieses warme Kleidungsstück auch noch nach Braxton riecht, umso besser.
Wie alles andere hier ist auch Braxtons Kleiderschrank der Inbegriff von Luxus. Natürlich begehbar und mit so vielen Designerstücken vollgestopft, dass man sich fühlt wie in einer noblen Herrenboutique. Ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um ans oberste Regalbrett zu gelangen und ein schwarzes Sweatshirt mit dem Gray-Wolf-Logo herunterzuholen. Dabei komme ich nicht umhin, mich zu fragen, wofür die Farbe steht.
Neuankömmlinge in Gray Wolf tragen Grün. Und ich habe jeden Moment als Neue gehasst. Nicht dass der Aufstieg zu Gelb viel verbessert hätte. Es bedeutete eigentlich nur, dass ich keine Grüne mehr war, aber auch noch nicht zu den Blauen gehörte. Was auch bedeutete, dass ich allein essen musste. Hätte Braxton mich nicht regelmäßig an seinen Tisch eingeladen, weiß ich nicht, wie ich diese Zeit überstanden hätte.
Aber das ist vorbei. Nachdem ich mir den Arsch aufgerissen habe, um endlich zu den Blauen aufzusteigen, genieße ich die Mahlzeiten jetzt mit meinen Freunden und springe in jede Zeit der Vergangenheit, die Arthur mir vorgibt.
Zuerst kam mir die Vorstellung von Zeitreisen natürlich wie die größte Verarsche vor. Doch dann habe ich meinen ersten Sprung nach Versailles im Jahr 1745 gemacht und wurde eines Besseren belehrt.
Ich ziehe das Akademie-Sweatshirt über den Kopf und atme wie gehofft einen Hauch von Braxtons warmem, würzigem Duft ein. Nachdem ich kurz das Gesicht im Ärmel vergraben und noch mal tief eingeatmet habe, schnappe ich mir eine alte Jogginghose, zurre sie in der Taille zusammen und will mich gerade auf die Suche nach meinen Schuhen machen, als ich in der hintersten Ecke des Schranks ein Paar staubige Stiefel entdecke und die scharfen Kanten einer Erinnerung durch meine Gedanken schneiden.
Das letzte Mal, als ich diese Stiefel gesehen habe, meinte ich scherzhaft, dass ich sie anziehen sollte, weil sie offensichtlich zu klein für Braxton sind. Es sollte ein unbekümmerter Witz sein, doch seine Reaktion darauf war so merkwürdig, dass mir der Moment in Erinnerung geblieben ist.
Er ist blass geworden. Sein Blick leer und düster. Dann hat er mir die Stiefel aus der Hand gerissen und sie in die Ecke geschleudert, in der sie immer noch liegen.
Und als ich sie jetzt wieder sehe … spüre ich dasselbe Prickeln im Nacken, dasselbe Ziehen im Magen, erinnere mich daran, was er geantwortet hat, als ich ihn wegen seiner merkwürdigen Reaktion zur Rede gestellt habe.
Sie erinnern mich einfach an etwas, das vor langer Zeit passiert ist und über das ich lieber nicht nachdenke, hat er gesagt.
Wieso hebst du sie dann überhaupt auf?, habe ich gefragt.
Weil ich nicht vergessen darf.
Ein kurzes Drehen an seinem Siegelring, ein deutliches Hervortreten seines Akzents – all seine üblichen Anzeichen von Nervosität.
Mit der Unterlippe zwischen den Zähnen starre ich die Stiefel an. Dann, nach einem verstohlenen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass das Wasser immer noch läuft und Braxton nirgendwo zu sehen ist, schleiche ich mich vor, gehe neben den Schuhen in die Hocke und … stoße ein leises Seufzen aus.
Es sind einfach nur Stiefel. Gewöhnliche Stiefel.
Hoch, aus edlem, schwarzem Leder, in einem Stil, der zu einem Reiter passen würde. Sie sind noch genauso staubig wie das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, doch dieser nähere Blick zeigt, dass sie zudem krustige, dunkle Flecken aufweisen.
Schlamm vielleicht?
Oder etwas … anderes?
Ich packe die Stiefel am Schaft und hebe sie hoch, entschlossen, dieser Sache ein für alle Mal auf den Grund zu gehen, als ich in dem großen dreiteiligen Spiegel einen Blick auf mich erhasche und nach Luft schnappe.
Ich meine, jetzt mal im Ernst. Als ich mich so sehe, die zerzausten Haare, den verschmierten Eyeliner von gestern Abend und die Art, wie meine Hände zittern, als ich Braxtons Stiefel untersuche wie eine misstrauische Freundin, die das Handy ihres Partners knackt, um nach verbotenen Fotos oder Nachrichten zu scrollen, überkommt mich ein tiefes Gefühl der Scham, dass ich so weit gesunken bin.
Doch so lächerlich ich mir auch vorkomme, ich kann nicht aufhören. Denn eins weiß ich mit Sicherheit: Es gibt einen Grund, wieso Braxton so extrem reagiert hat, als er mich mit den Stiefeln in der Hand gesehen hat.
Aber was kann das für ein Grund sein?
Ich hebe die Stiefel höher, inspiziere den Spann, die Zehenkappe, versuche, einen besseren Blick auf die Flecken zu bekommen, als plötzlich ohne jede Vorwarnung das Licht zu flackern beginnt und der Boden bebt.
Mir stockt der Atem. Doch bevor die Panik überhandnehmen kann, rufe ich mir in Erinnerung, dass es vermutlich gar nicht das ist, was ich denke.
Es ist gut möglich, dass einfach gerade jemand einen Sprung macht, denn für Zeitreisen wird eine so große Menge an Energie benötigt, dass jedes Mal der Boden bebt und die Lichter flackern.
Doch als ich versuche, mich zu bewegen, muss ich feststellen, dass meine Füße wie festgeklebt und meine Knie steif sind und da weiß ich, dass es genauso schlimm ist, wie ich befürchtet habe.
Mein Herz gerät aus dem Takt, fühlt sich an, als würde es in einer Faust zusammengequetscht, als mir klar wird, was gleich passieren wird – und dass es kaum einen schlechteren Zeitpunkt dafür gibt.
Ich kann hören, wie Braxton das Wasser in der Dusche abdreht. Gleich wird er mich erstarrt in seinem Schrank vorfinden, mit seinen alten Stiefeln in der Hand und …
Ich bekomme nicht mehr die Chance, diesen Gedanken zu Ende zu bringen, bevor die Stiefel sich aufheizen, die Wände sich auflösen und der Boden unter mir wegbricht.
ICH FALLE.
Stürze durch Zeit und Raum – ein bodenloser Abgrund – und es gibt keine Möglichkeit, meinen Sturz zu bremsen.
Mein Magen wölbt sich in meinen Brustkorb, ein ungehörter Schrei bleibt weit oben in meiner Kehle stecken und ich schließe fest die Augen, versuche, alles auszublenden. Doch das hat noch nie funktioniert und auch jetzt wird es nichts bringen.
Eine Erinnerung zuckt durch meinen Kopf.
Ich habe gerade meine erste Fragmentierung erlebt und mein Dad findet mich weinend und zitternd im Wohnzimmer auf dem Boden, so verschreckt von dem, was passiert ist, dass ich mir tatsächlich in die Hose gemacht habe.
Nachdem er mir beim Umziehen geholfen hat, setzt er sich mit mir aufs Sofa und versucht, mir zu erklären, was mir da gerade Seltsames widerfahren ist.
Vermutlich wird es wieder passieren, versichert er mir, was ich jedoch alles andere als beruhigend finde. Aber hab keine Angst davor. Mir passiert das auch manchmal. Trotzdem gibt es Regeln, an die du dich halten musst, wenn du dich in einer Fragmentierung befindest. Eine dieser Regeln lautet, ruhig zu bleiben und auf die Auflösung zu warten. Die andere: Du musst mir versprechen, weder deiner Mutter noch sonst irgendjemandem zu erzählen, dass du durch die Zeit sehen kannst.
Ich habe getan, was mein Dad verlangt hat. Habe niemandem ein Sterbenswörtchen verraten. Doch leider weiß Killian Bescheid. Er hat versprochen, mein Geheimnis zu wahren, aber ich bin mir nicht sicher, ob er das tatsächlich tun wird.
Einen Augenblick später verblasst die Erinnerung und ich realisiere, dass ich nicht mehr falle.
Vorsichtig öffne ich die Augen. Die Szene vor mir stürmt auf mich ein. Und was ich da sehe, raubt mir den Atem.
Ich starre in ein uraltes Gewölbe, nur vom Schein einer einzelnen Fackel erleuchtet. Es ist ein Ort voller Tod und Verfall, überall Gräber und mittendrin …
Ich schlucke schwer, kämpfe darum, meine Augen offen zu halten, denn ich muss genau hinsehen, muss sichergehen …
Nein. Das ist nicht möglich. Absolut ausgeschlossen.
Und doch …
Da ist er. Mein Vater.
Mit seinem lockigen braunen Haar und seinen Augen, die genauso grün sind wie meine, steht er vor mir, sieht genauso aus wie an dem Tag, als er das Haus verlassen hat und nie wieder zurückgekommen ist.
Nichts hiervon ergibt Sinn, doch seit ich in Arthur Blackstones Welt geworfen wurde, kommen immer wieder lang verdrängte Erinnerungen an meinen Vater an die Oberfläche – tief vergrabene Geister, die sich weigern, vergessen zu werden.
Seine geheimnisvollen Lehren – all die Dinge, die zu der Zeit überhaupt keinen Sinn ergeben haben – sind plötzlich relevant, haben Einfluss auf das, was wir hier tun, die Rätsel, die ich für Arthur lösen soll.
Ich beuge mich vor, versuche, einen besseren Blick zu erhaschen, als wie aus dem Nichts eine Hand nach mir greift und die Szene sich auflöst. Zitternd und wimmernd starre ich auf die Stelle, an der eben noch mein Vater stand.
»Tasha?«, erklingt eine Stimme. »Geht’s dir gut?«
Die Stiefel gleiten aus meinen Fingern, landen polternd auf dem Boden, als meine Augen sich von der Vergangenheit lösen und sich wieder auf die Gegenwart richten, in der Braxton neben mir steht, mit einem Handtuch um die Hüfte und einem unleserlichen Ausdruck im Gesicht.
»Ich …« Mein Blick huscht durch den Schrank. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen, geschweige denn wie ich mich erklären soll.
Zum einen weiß Braxton nichts von der Fragmentierung.
Zum anderen hat er mich jetzt schon zum zweiten Mal dabei erwischt und diesmal muss ich ihn überzeugender abwimmeln als beim letzten Mal.
Ich schlucke schwer, setze wieder zu einer Erklärung an, doch die Worte wollen nicht kommen.
Mit einer Hand an seinem Handtuch bückt Braxton sich nach den Stiefeln und wirft sie gegen die Rückwand seines Schranks, wo sie von einem Skateboard abprallen und auf einem Fahrradhelm landen.
Als er sich wieder mir zuwendet, ist das heftige Heben und Senken seiner Brust ebenso wenig zu übersehen wie die Schatten der Trauer, die seinen Blick verdüstern. Und wieder einmal frage ich mich, was es mit diesen Stiefeln auf sich hat, dass sie so eine Reaktion in ihm auslösen.
Was verheimlicht er mir?
Nur eins weiß ich mit Sicherheit: Was ich gerade erlebt habe, war nur zum Teil eine Fragmentierung. Denn es war auch teilweise Psychometrie – ein Begriff, den mein Dad benutzt hat, um mir zu erklären, wie man auf das Energiefeld in Objekten zugreifen kann.
Alles besteht aus Energie, aber darüber hinaus können Gegenstände auch Energie speichern, hat er gesagt. Und wenn du dich konzentrierst, ganz genau hinhörst und an der Oberfläche vorbeisiehst, kannst du diese darin verborgenen Nachrichten lesen.
In Versailles ist mir das zum ersten Mal passiert und jetzt wieder. Aber wieso um alles in der Welt sollten Braxtons alte Stiefel etwas damit zu tun haben, dass mein Dad in irgendeiner uralten Grabkammer feststeckt?
Abgesehen von seinen eher esoterischen Interessen war mein Dad ein ziemlich gewöhnlicher Typ. Ehemann, Vater, Buchhalter, der samstags Donuts geholt und jeden Sonntag Golf gespielt hat.
Als ich Braxtons Blick begegne, weiß ich sofort, dass ich niemals die Wahrheit erfahren werde, selbst wenn ich auf Antworten dränge.
Genauso wie ich mir lieber irgendeine Lüge ausdenke, statt zuzugeben, dass manchmal, wenn ich am wenigsten damit rechne, die Zeit erstarrt, die Welt sich auflöst und ein Fenster aufgeht, das mir einen Blick in die Vergangenheit gewährt.
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag.
Die ganze Zeit über hatte ich den falschen Eindruck.
Braxton und ich sind nicht annähernd so ehrlich zueinander, wie ich dachte.
Ich meine, wie gut kann ich ihn wirklich kennen, wenn ich ihn genau genommen noch nicht sehr lange kenne?
Alles ist so schnell passiert – meine Ankunft in Gray Wolf, unsere Entscheidung, zusammen zu sein. Und in letzter Zeit, wenn ich in den Stunden nach Mitternacht aufwache, weil er sich in einem weiteren seiner Albträume hin und her wirft, frage ich mich, ob wir uns diese Verbindung, diese Nähe, die wir angeblich beide spüren, vielleicht noch nicht verdient haben.
Vielleicht haben wir uns zu schnell in diese Sache gestürzt, getrieben von einer körperlichen Anziehungskraft, die zu überwältigend war, um sich dagegen zu wehren.
Ich schüttle den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden, denn in diese Richtung will ich nicht denken. Da ich es zum ersten Mal ernst mit jemandem meine, mehr als eine Woche mit jemandem verbringen will, bin ich definitiv keine Beziehungsexpertin.
Dennoch, als ich jetzt vor Braxton stehe, komme ich nicht umhin, mich zu fragen, ob wir vielleicht nicht so besonders sind, wie ich dachte.
Vielleicht sind wir keinen Deut besser oder schlechter als alle anderen auf dieser Felsinsel.
Und nun, da ich uns allmählich klarer sehe, weiß ich tief in meinem Herzen, dass ich recht habe.
Wir alle hier in Gray Wolf – inklusive Braxton und definitiv auch mir –, wir alle sind Lügner.
MANCHMAL GIBT ES GRÜNDE, ZU LÜGEN.
Gute Gründe.
Logische Gründe.
Wie das Versprechen, das ich meinem Dad gegeben habe und das mich jetzt zwingt, Braxton eine erfundene Geschichte zu erzählen.
Das Problem ist nur, dass ich mich schrecklich dabei fühle, die eine Person anzulügen, die mir hier wirklich etwas bedeutet. Doch Braxton sieht mich immer noch an, wartet auf eine Antwort und ich muss schnell etwas sagen.
Ich räuspere mich übertrieben, bevor ich einfach das ausspreche, was mir als Erstes in den Sinn kommt. »Ich dachte, ich hätte … keine Ahnung, eine Spinne gesehen oder so …« Ich schlucke schwer, spüre die Scham heiß in meine Wangen steigen. Lügen ist mir noch nie leicht gefallen.
Ich hoffe, dass Braxton sich damit zufriedengibt, die Lücken einfach selbst füllt. Doch er bleibt reglos vor mir stehen, Wasser tropft von seinem Haar auf seine Schultern, rinnt dann langsam über seine Brust, folgt den harten Linien seiner Muskeln.
Ich zwinge mich, den Blick abzuwenden, atme tief durch. Dann blase ich meine Backen auf und versuche es erneut. »Ich … ich hab mir einfach das Erste geschnappt, was ich gesehen habe, und …« Meine Stimme bricht, ich ziehe die Schultern ein. Ich kann ihn nicht ansehen. Wir wissen beide, dass ich lüge.
Braxton sieht zwischen mir und den Stiefeln hin und her. Und gerade, als ich damit rechne, dass er mich zur Rede stellt, sagt er: »Du sahst so panisch aus. Ich dachte, etwas wirklich Schlimmes wäre passiert.« Seine Stimme ist ruhig, sein Blick fest.
Unwillkürlich lege ich die Hände auf meinen Bauch, fahre mit den Fingern nervös die Linien des Gray-Wolf-Logos nach. »Tja, ich war noch nie ein Fan von achtbeinigen Viechern.« Meine Stimme schnellt so weit in die Höhe, dass ich das Gesicht verziehe. Das ist eins meiner verräterischen Zeichen und ich frage mich, ob Braxton das inzwischen weiß. So wie mir aufgefallen ist, dass er mit seinem Siegelring spielt und dass sein Akzent plötzlich klingt wie bei einem Charakter aus Oliver Twist, wenn er nervös ist oder etwas verbirgt.
»Und wo ist sie jetzt?«, fragt er. »Die Spinne, die du gesehen hast.« Fragend legt er den Kopf schief, doch ich presse nur die Lippen zusammen und hebe halbherzig die Schultern.
Einen nervenaufreibenden Moment lang mustert mich Braxton. Mir wird klar, dass ich überzeugender sein muss, also deute ich vage ans andere Ende des Schranks, beobachte dann, wie er hinübergeht und so tut, als würde er sich dort genau umsehen.
Oder vielleicht sieht er sich tatsächlich um. Nicht einmal das kann ich noch mit Sicherheit sagen. Ich will einfach nur aus dieser Situation entkommen, einen Ausweg aus diesem lächerlichen Spiel finden.
»Und wie groß ist deine Abneigung gegen achtbeinige Viecher?« Braxton dreht sich wieder zu mir, die Lippen zu einem Grinsen verzogen, das seine Augen nicht erreicht. »Muss ich ausziehen? Arthur bitten, mir ein anderes Zimmer zu besorgen? Weiter oben vielleicht? Soll ich hier am besten alles niederbrennen?«
Er kommt auf mich zu, mit nackten Füßen überquert er den Webteppich, die stürmischen Augen fest auf mich gerichtet.
»Ähm, nein«, murmle ich. Mein Herz rast so schnell, dass es laut in meinen Ohren dröhnt. »Halt einfach nur die Augen offen, das reicht schon.«
Direkt vor mir bleibt er stehen, so nah, dass ich die kleinen violetten Sprenkel in seinen Augen sehen kann und die exakte Stelle, an der sich seine Nase leicht krümmt. Der nach der Dusche frische Duft seiner Haut dringt in meine Nase.
Mein Kinn bebt, meine Knie zittern, doch ich bin mir nicht sicher, ob es daran liegt, dass nur noch ein plüschiges weißes Handtuch uns trennt, oder daran, dass uns beiden klar ist, wie sehr ich mich in meinem eigenen Lügennetz verfangen habe.
Braxton legt einen Finger unter mein Kinn, presst seine Stirn an meine. »Solange es dir gut geht. Das ist alles, was mir wirklich wichtig ist.«
Dann, bevor ich etwas erwidern kann, dreht er sich um und sammelt die Klamotten zusammen, die er heute tragen will.
Ich sehe zu, wie er einen dunkelblauen Kaschmirpulli über den Kopf zieht und das kreisförmige Tattoo in seiner Armbeuge unter dem Ärmel verschwindet.
Als ich ihn darauf angesprochen habe, hat er das Tattoo als Fehler bezeichnet. Wie bei den Stiefeln hat er schnell das Thema gewechselt, wollte offensichtlich nicht darüber sprechen. Und auch wenn ich ihn nicht weiter gedrängt habe, war da so viel angestaute Energie spürbar, dass ich es mit all den anderen merkwürdigen Dingen abgespeichert habe.
Und je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher sehe ich, wie schnell sich diese merkwürdigen Dinge zu einem großen Stapel auftürmen.
Wie viele Geheimnisse hat dieser Junge vor mir?
Er steigt in dunkle Jeans und als er sich auf eine Ottomane fallen lässt, um sich Socken anzuziehen, frage ich: »Dann fällt unser Tag am Strand wohl aus?«
»Tut mir leid«, sagt er und sein Blick wirkt tatsächlich aufrichtig. »Aber ich mache es wieder gut, versprochen. Du weißt, dass ich dir nicht mehr verraten darf.«
»Natürlich«, erwidere ich und auch wenn das Wort eine gewisse Schärfe hat, weiß ich, wie es läuft. Braxton ist schon länger hier als ich, was bedeutet, dass er kein Schüler mehr ist, aber auch noch kein Lehrer. Im Prinzip geht er einfach überallhin, wo Arthur ihn braucht und manchmal sind diese Orte eben geheim.
Mein Blick wandert zurück zu den Stiefeln.
Was zur Hölle war das für eine Vision?
Ich meine, wie ist es möglich, dass eine Verbindung zwischen diesen schwarzen Lederstiefeln und meinem Dad besteht, wenn er doch aus meinem Leben verschwunden ist, bevor ich Braxton überhaupt kennengelernt habe?
»Was ist mir dir?« Der Klang von Braxtons Stimme holt mich aus meinen Gedanken. »Du kannst trotzdem an den Strand gehen. Jago hilft dir bestimmt gern dabei, surfen zu lernen.«
Ich sehe zu, wie er die Schnürsenkel seiner Sneaker bindet, bevor er sich auf die Suche nach einem Gürtel macht. Jago ist super und in den letzten Wochen zu einem guten Freund geworden. Das letzte Mal war ich mit Oliver und Finn in der Gray Wolf Cove. Diesmal hatte ich gehofft, die riesige Halle – eine unbegreifliche Verbindung aus Hightech und Natur voll weißem Sand und türkisem Wasser samt richtigen Wellen – mit meinem Freund zu besuchen. Doch da dieser Plan nun geplatzt ist, muss ich mir wohl überlegen, wie ich den Tag allein verbringe.
Einen Besuch in der Bibliothek wird das nicht beinhalten, so viel ist sicher. Nachdem ich mit der Sonne – einem der fehlenden Teile des Mechanismus von Antikythera, den Arthur wiederherstellen will – aus Versailles zurückgekehrt bin, nur um herauszufinden, dass ich bald auf der Suche nach dem Mond in die italienische Renaissance reisen werde, habe ich die letzten drei Wochen mit der Recherche verbracht. Und mein Gehirn braucht wirklich mal eine Pause von all dem Auswendiglernen und der Faktensuche, zu der ich mich zwinge.
»Vielleicht schaue ich kurz im Wellnessbereich vorbei. Und danach bei den Ställen«, sage ich, obwohl ich an keinem von beidem wirklich interessiert bin.
Ich will mich gerade auf die Suche nach meinen Schuhen machen, als Braxton seinen Talisman aus einer Schublade holt. Während ich zusehe, wie er den kleinen goldenen Kompass in seine Tasche steckt, schrillen in meinem Kopf plötzlich Alarmglocken los.
»Musst du …« Die Frage bleibt auf meiner Zunge kleben. »Musst du heute … springen?«, frage ich.
Seit Song verschwunden ist, erfüllt mich der Gedanke an einen Sprung durch die Zeit mit Panik. Natürlich weiß ich, dass Zeitreisen mit jeder Menge Gefahren einhergehen, und in der Vergangenheit festzustecken ist nur eine davon. Mir selbst wäre das schon zwei Mal beinahe passiert, doch zum Glück habe ich es beide Male sicher zurückgeschafft. Offensichtlich hatte Song nicht so viel Glück.
Braxton zuckt mit den Schultern und reibt sich über den Hinterkopf. »Bei Arthur weiß man das nie. Ich gehe lieber auf Nummer sicher.«
Meine Lippen sind fest zusammengepresst und obwohl ich versuche, mich gelassen zu geben, ist Braxton sofort an meiner Seite.
»Hey, was ist los?« Er schlingt einen Arm um meine Taille und zieht mich an sich. »Geht es um Song?«
Ich lehne meine Stirn an seine Brust, bin dankbar für seine Unterstützung, komme mir aber gleichzeitig lächerlich vor, weil ich sie so sehr brauche. Springen ist nun mal das, was wir hier tun, und ich kann nicht jedes Mal eine Panikattacke bekommen, wenn er durch die Zeit reist. Trotzdem erwidere ich: »Es ist, als wäre es allen egal.« Ich lege den Kopf in den Nacken, um ihm in die Augen sehen zu können. »Oder zumindest versucht niemand, sie zu finden.«
»Das weißt du nicht.« Mit einer Hand streicht Braxton über mein Haar. »Wir wissen nur, was Arthur uns wissen lässt, und es ist ihm wichtig, uns nicht zu sehr zu beunruhigen.«
»Aber findest du nicht, dass das Schweigen viel schlimmer ist?« Ich suche nach einem Hinweis in seinem Blick, ob er wirklich glaubt, was er gerade gesagt hat. »Ich meine, eben macht man noch Pläne mit jemandem und im nächsten Moment ist derjenige verschwunden und man hört und sieht nie wieder was von ihm. Was, wenn das mit dir passiert?« Ich reiße die Augen auf. »Ich kann mir nicht mal vorstellen, was ich dann tun würde.«
»Mir wird das aber nicht passieren«, sagt Braxton. »Es gibt keinen Grund zur Sorge.«
Ich atme tief durch, hoffe, dass er recht hat, während ich mich damit zu beruhigen versuche, dass Arthur Braxton niemals aufgeben würde. Er ist schon zu lange hier, ist zu wichtig. Selbst wenn das Schlimmste passiert, würde er jemanden auf die Suche nach ihm schicken.
Wie Jago mir an meinem ersten Tag hier gesagt hat: In Gray Wolf darf man nie seinen eigenen Wert aus den Augen verlieren. Je mehr sie in dich investieren, desto weniger wollen sie dich verlieren, hat er gesagt.
Tja, und Arthur hat nicht nur eine ganze Menge in Braxton investiert, sondern sieht auch mich als eine seiner wertvollsten Schülerinnen. Primär weil er denkt, dass ich die Einzige hier bin, die finden kann, was er sucht. Was bedeutet, dass sowohl Braxton als auch ich in Sicherheit sind.
Aber was ist mit den anderen – dem Rest meiner Freunde?
Sind sie in Arthurs Augen wirklich so leicht zu ersetzen?
Ich brauche dringend einen Themenwechsel, deswegen frage ich: »Meinst du, es ist zu früh, um noch mal zu versuchen, mit Mason zu sprechen?«
Braxtons Miene wird weicher, doch das Zucken an seinem Kinn entgeht mir nicht. »Es ist nie zu früh, um mit einem Freund Frieden zu schließen«, sagt er. »Ob Mason allerdings irgendwas davon wissen will …« Er hebt die Schultern, lässt den unfertigen Satz in der Luft zwischen uns hängen. »Gib ihm Zeit. Er wird sich beruhigen.«
»Ich hoffe, du hast recht.« Ich seufze.
»Und jetzt …« Braxton drückt mir einen Kuss auf den Scheitel. »… muss ich mich fertig machen. Darf ich dich zur Tür bringen?«
Das ist das Äquivalent zu einem Also, ich sollte dann mal … am Telefon. Aber ich nehme es ihm nicht übel. »Alles gut«, sage ich. »Ich finde den Weg.«
Braxton verschwindet zurück ins Bad und ich gehe ins Schlafzimmer, wo ich meine Schuhe am Fuß des Betts finde.
Nachdem ich sie angezogen habe, will ich gerade das Zimmer verlassen, als mir ein kleiner Stapel ledergebundener Bücher auf dem Tisch neben der Tür ins Auge fällt – dem Anschein nach alles Erstausgaben.
Ich betrachte das Cover des obersten Buchs, Jane Eyre. Versonnen lächle ich, nehme dieses Buch als weiteren Beweis dafür, was für ein traditioneller Romantiker Braxton ist.
Mit einem Finger streiche ich über den Buchdeckel, klappe ihn dann auf und stelle fest, dass Charlotte Brontë selbst es signiert hat, mitsamt persönlicher Nachricht an Braxton.
Für Braxton,
dein Wille soll dein Schicksal bestimmen.
C.B.
Meine Sicht verschwimmt.
Meine Hand zittert.
Bevor ich weiß, wie mir geschieht, rutscht mir das Buch aus den Fingern, doch ich kann es gerade noch auffangen und auf den Stapel zurücklegen.
Dann stürme ich aus der Tür, angetrieben von der Erinnerung an ein anderes ledergebundenes Buch, das ich einmal gesehen habe. Die Erinnerung ist so lebhaft – unfassbar, dass ich bis eben nicht daran gedacht habe.
Diese Mauern beherbergen so viele Geheimnisse und es ist höchste Zeit, dass ich ein paar Antworten auf meine lange Liste von Fragen bekomme.
Ganz oben mit dabei: Was zur Hölle geht hier wirklich vor sich und wie genau hängt das mit meinem Dad zusammen?
AUFREGUNG VIBRIERT DURCH MEINEN KÖRPER, als ich um die Ecke biege, die in meinen Korridor führt. Obwohl niemand außer mir hier ist und ich versucht bin, loszurennen, tue ich es nicht. In Gray Wolf rennt man nicht durch die Gänge und in diesem Moment kann ich es mir nicht erlauben, unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen.
Schon seit meinem ersten Tag hier habe ich das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden. Und auch wenn bisher niemand bereit war, meine Vermutung zu bestätigen, hat sie auch noch niemand abgestritten.
Als ich meine Tür erreiche, sehe ich erstaunt, wie Freya aus Songs Zimmer kommt. Sonntag ist für gewöhnlich der einzige Tag der Woche, an dem das Putzpersonal freihat.
»Ist sie wieder da?«, frage ich, weil mir keine andere Erklärung für Freyas Anwesenheit einfällt.
Freya dreht sich so schnell um, dass sich ein paar kupferrote Locken aus ihrem Dutt lösen. Ihre leuchtend grünen Augen fixieren mich sofort. »Wie bitte?«, fragt sie mit diesem Akzent, den ich nicht wirklich zuordnen kann.
»Song«, sage ich. »Ist sie wieder da?«
Ihr Blick verdüstert sich, als sie begreift. Einen Moment später schüttelt sie den Kopf. »Ich wurde geschickt, um das Zimmer auszuräumen und frisch herzurichten«, erklärt sie, ist sich der vollen Wucht ihrer Worte offenbar nicht bewusst. Dass sie mich wie ein Schlag in die Magengrube treffen und ich mir in den Hintern treten könnte, weil mir diese Idee erst so spät gekommen ist.
Ich hätte früher nachsehen sollen, aber ich war so in meine Recherche vertieft …
»Und ihre Sachen?«, frage ich in der Hoffnung, dass es noch nicht zu spät ist, obwohl ich genau das vermute. »Was hast du mit ihren persönlichen Sachen gemacht?«