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Natasha Clarke ist die totale Außenseiterin an ihrer Highschool, als sie unvermittelt eine Einladung in einen mysteriösen Club erhält. Dort entdeckt sie einen Grabstein mit ihrem Namen. Kurz darauf wird es um sie schwarz. Alles nur ein Traum? Als sie am nächsten Morgen erwacht, ist Natashas Leben vollkommen auf den Kopf gestellt. Ihr wird Diebstahl vorgeworfen, sie fliegt von der Schule – und erhält das überraschende Angebot, an die Gray Wolf Academy zu wechseln. Dort stehen allerdings nicht nur Geschichte und Kunst auf dem Lehrplan. Mithilfe von Braxton, ihrem gut aussehenden Mitschüler, will Natasha das Mysterium der Academy lüften und merkt bald: Die Eliteschule hütet noch mehr dunkle Geheimnisse …
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Seitenzahl: 638
Warum sich Zeit lassen, wenn man sie stehlen kann?
Natasha Clarke ist die totale Außenseiterin an ihrer Highschool, als sie unvermittelt eine Einladung in einen mysteriösen Club erhält. Am nächsten Morgen ist ihr Leben vollkommen auf den Kopf gestellt. Natasha wird Diebstahl vorgeworfen, sie fliegt von der Schule – und erhält das überraschende Angebot, an die renommierte Gray Wolf Academy zu wechseln. Dort stehen allerdings nicht nur Geschichte und Kunst auf dem Lehrplan. Mithilfe von Braxton, ihrem gut aussehenden Mitschüler, will Natasha das Mysterium der Academy lüften und merkt bald: Die Eliteschule hütet mehr als ein dunkles Geheimnis …
Von Alyson Noël sind bei dtv außerdem lieferbar:
Ruling Destiny (Band 2)
Alyson Noël
Band 1
Aus dem amerikanischen Englisch von Michelle Landau
Für Elizabeth Bewley,
so viele Jahre und so viele Gründe.
Dieses Buch behandelt Themen, die potenziell belastend wirken können. Es stellt Aspekte von sexueller/sexualisierter Gewalt, gewalttätige Handlungen, Armut und Verlust eines Elternteils dar. Ich hoffe, dass ich diese Elemente sensibel und angemessen behandelt habe.
To see a world in a grain of sand
And a heaven in a wild flower
Hold infinity in the palm of your hand
And eternity in an hour.
Willst du die Welt sehen in einem Körnchen Sand
Und den Himmel auf einer wilden Blüte Grund
Halte die Unendlichkeit in deiner flachen Hand
Und die Ewigkeit in einer Stund.
– William Blake
ab einem gewissen Punkt in der folgenden Geschichte werden wir ein wenig in die Numerologie eintauchen (kein Spoiler, versprochen!). Und da ich davon ausgehe, dass nicht jeder mit dieser altertümlichen Wahrsagemethode vertraut ist, wollte ich eine kleine Einführung in das Thema bieten, damit du dein Geburtsdatum umrechnen und herausfinden kannst, wie sich die Numerologie auf dich auswirkt.
Wenn du dich lieber nicht mit Mathe rumschlagen willst (was ich absolut verstehe!), dann kannst du die nächsten Seiten einfach überspringen. Es wird absolut keinen Einfluss auf dein Leseerlebnis haben, versprochen.
Falls du dich entscheidest, dein Geburtsdatum umzurechnen, schick mir das Ergebnis auf Instagram @alyson_noel, und lass mich wissen, ob es auf dich zutrifft!
(Ich bin übrigens eine Acht!)
Wie man die numerologische Lebenszahl errechnet und deutet
Ganz ähnlich wie das Sternzeichen in der Astrologie reflektiert die Lebenszahl deine Stärken, Schwächen, Interessen, Talente, Ziele, Träume und den allgemeinen Tenor deiner Lebenserfahrung und -mission.
Um diese Zahl zu errechnen, addiere erst dein vollständiges Geburtsdatum (Tag, Monat, Jahr) und dann die einzelnen Zahlen des Ergebnisses so lange, bis du eine einstellige Zahl erreichst. Ausgenommen davon sind die Zahlen 11, 22 und 33, die sogenannten Masterzahlen.
Ein Beispiel:
Geburtsdatum: 24. Mai 2004 oder 24.05.2004
2 + 4 + 5 + 2 + 0 + 0 + 4 = 17
Ist das Ergebnis zweistellig (mit der Ausnahme von 11, 22 und 33), addiere die zwei einzelnen Zahlen, um eine einstellige Zahl zu erhalten.
1 + 7 = 8
Die Lebenszahl für dieses Geburtsdatum ist 8.
Okay, nachdem du deine Zahl jetzt kennst, was zur Hölle bedeutet sie denn?
Zahl 1 (10/1, 19/1): Als Eins bist du ein Mensch der Tat. Du bist selbstbewusst, unabhängig, hast eine erfinderische Seite und ein natürliches Talent dafür, andere zu führen. Du fängst Sachen an und sorgst dafür, dass sie auch zu Ende gebracht werden.
Zahl 2 (11/2, 20/2): Zweier sind Naturtalente in Sachen Beziehungen und Zusammenarbeit, sie schaffen Harmonie, wann und wo immer sie nötig ist. Als Zwei hast du ein Gespür für Energien und bist bekannt für deine ausgeprägte Intuition, weswegen sich deine Freunde gern an dich wenden, wenn sie Rat brauchen.
Zahl 3 (12/3, 21/3): Dreier kommunizieren gern. Ganz egal, ob in mündlicher oder schriftlicher Form, durch Zeichnen, Tanzen, Komponieren oder was auch immer. Als Drei macht es dir große Freude, dich auszudrücken, und deine Kreationen dienen anderen als Inspiration.
Zahl 4 (13/4, 22/4, 31/4): Vierer sind durch und durch praktikabel. Sie mögen es logisch und geordnet und besitzen eine starke erdgebundene Energie. Als Vier hast du vermutlich eine beruhigende Ausstrahlung und schaffst es, andere zu erden. Auf dich können sich deine Freunde wirklich verlassen.
Zahl 5 (14/5, 23/5, 32/5): Fünfer leben für Freiheit und Abenteuer. Als Fünf hast du wahrscheinlich einen unstillbaren Appetit, Neues zu lernen, und bist neugierig auf so ziemlich alles. Fünfer lernen ihr Leben lang und lieben es, zu reisen.
Zahl 6 (15/6, 24/6, 33/6): Als Sechs bist du vermutlich jemand, zu dem andere kommen, wenn sie Hilfe, Heilung oder Pflege brauchen oder einfach nur ein offenes Ohr oder eine Schulter zum Anlehnen. Tiere und Menschen fühlen sich gleichermaßen von deiner fürsorglichen, gefühlvollen Aura angezogen.
Zahl 7 (16/7, 25/7, 34/7): Siebener sind die Erkunder, die Analytiker, diejenigen, die einer Sache wirklich auf den Grund gehen. Als Sieben dreht sich für dich alles um die Recherche, denn du weißt, dass Details der Schlüssel zum Verstehen sind.
Zahl 8 (17/8, 26/8, 35/8): Die Acht ist entschlossen und erfolgsorientiert. Als Acht machst du dir vermutlich gern Listen, auf denen du deine Ziele abhaken kannst, nachdem du sie erreicht hast. Deine harte Arbeit bringt dir oft den Status, Reichtum und Erfolg ein, den du dir erträumt hast.
Zahl 9 (18/9, 27/9, 36/9): Neuner sind alte Seelen. Häufig sind sie selbstlose Menschenfreunde, die mehr daran interessiert sind, dem Allgemeinwohl zu dienen als sich selbst. Als Neun siehst du das große Gesamtbild des Lebens, und andere schätzen die Weisheit, die du mit ihnen teilst.
Masterzahl 11 (11/2): Bei Elfern dreht sich wie bei den Zweiern alles um Kommunikation und Verbindungen, nur dass die Energie einer Elf noch viel intensiver ist. Als Elf bist du künstlerisch, kreativ, und deine Intuition ist häufig eine Nebenwirkung deiner extremen Lebenserfahrungen.
Masterzahl 22 (22/4): Die Masterzahl 22 ist die gesteigerte Version einer Vier, mit einer zusätzlichen stark ausgeprägten künstlerischen Begabung. Sie sind die Architekten, die ihre Visionen wahr werden lassen. Als Zweiundzwanzig bist du vermutlich sehr gut darin, negative Erfahrungen in pures Gold zu verwandeln.
Masterzahl 33 (33/6): Mit der fürsorglichen Energie der Sechs und der doppelten Kommunikationsfähigkeit einer Drei sind Dreiunddreißiger begnadete Lehrer und geniale Visionäre. Sowohl Freunde als auch Fremde fühlen sich zu der intensiv heilenden Aura einer Dreiunddreißig hingezogen.
Der Mechanismus von Antikythera: Ein antikes Modell des Sonnensystems aus dem alten Griechenland, das vor über zweitausend Jahren auf See verschollen ist. Es wird allgemein für das älteste Beispiel eines analogen Computers gehalten, mit dem astronomische Ereignisse und Sonnenfinsternisse Jahrzehnte im Voraus vorhergesagt werden konnten. Viele Einzelteile des Mechanismus bleiben auch heute verschwunden – unter anderem das hölzerne Etui, in dem er aufbewahrt wurde, die Knöpfe, mit denen sich die fehlenden Zahnräder bewegen ließen, verschiedene Steine, die für Sonne, Mond und andere Planeten standen, Ziffernblätter und mehr. Viele der verborgenen Inschriften konnten noch nicht übersetzt werden.
Die ägyptischen Mystiker: Diese uralte Gesellschaft beschützte innerhalb ihrer Tempel uraltes Wissen. Ihre Geheimnisse wurden innerhalb der Priesterschaft weitergegeben, waren den Normalsterblichen jedoch verboten.
Tarot: Die ältesten erhaltenen Tarotkarten, bekannt als das Visconti-Sforza Tarocchi Deck, stammen aus dem fünfzehnten Jahrhundert und wurden von Filippo Maria Visconti, dem Herzog von Mailand, und seinem Nachfolger Francesco Sforza in Auftrag gegeben. Die zweiundzwanzig Karten der großen Arkana zeigen in ihren Darstellungen sinnbildlich die Lebensreise eines Jungen, der symbolisch stirbt und letztendlich wiedergeboren wird. Ursprünglich dienten die Karten als Gesellschaftsspiel, ihr Gebrauch zur Weissagung hat sich erst im späten sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhundert etabliert.
Henricus Martellus: Im Jahr 1491 erschuf der deutsche Kartograf eine Weltkarte, die Europa und die Länder rund ums Mittelmeer zeigte. Es wird angenommen, dass Christoph Kolumbus diese Karte verwendet hat, um den Atlantik zu überqueren. Moderne Technologien haben vor Kurzem unleserliche Texte auf der Karte sichtbar gemacht, die bisher verborgen waren.
Sämtliche Kunstwerke, die in diesem Roman erwähnt werden, sind real.
Der Zeitwächter
Basilique Royale de Saint-Denis, Frankreich
1741
VOLLKOMMENE DUNKELHEIT EMPFÄNGT mich, als ich erwache, und die kalte, scharfe Spitze eines Dolchs, die in meine gefesselten Handgelenke sticht.
»Steh auf«, erklingt eine laute Stimme. »Je schneller die Sache erledigt ist, desto schneller bin ich hier wieder weg.« Mit einem einzigen Schnitt durchtrennt die Klinge das Seil um meine Hände.
Ächzend schüttle ich meine Finger aus, als ich von einem Paar grober Hände auf die Füße gezerrt werde. Die abrupte Bewegung lässt eine so gewaltige Welle der Übelkeit in mir aufsteigen, dass ich vornübersacke und meinen Magen entleere.
»Großer Gott!«, ruft mein Entführer. Er reißt mir die Augenbinde vom Gesicht und schlägt mir hart auf den Hinterkopf. »Jetzt sieh dir nur an, was du angerichtet hast!«
Ein stechender Schmerz schießt durch meinen Schädel, doch wenigstens beginnt der Nebel der Betäubung sich allmählich zu lichten. Schwankend starre ich auf das Erbrochene, das die schwarz glänzenden Stiefel meines Entführers besudelt.
Neue Stiefel, noch nicht eingetragen. Wer solche Stiefel trägt, ist entweder jung, eitel oder extrem unerfahren. Als ich den Blick hebe und meinem Entführer in die Augen sehe, erkenne ich, dass er alle drei Kriterien erfüllt. Die blauen Augen, die mir entgegenstarren, gehören einem Jungen, der kaum älter als vierzehn sein kann.
Zu Hause wäre er nur ein Kind, behütet von seinen Eltern und reguliert von Gesetzen, die ihn vor genau der Art Menschen beschützen sollen, für die er zweifellos arbeitet.
Aber hier …
Ich sehe mich um, versuche herauszufinden, wo ich bin. Wieso ich entführt worden bin, ist mir schon klar.
Zwei Jungs haben mich auf der Straße gepackt und mir eine Nadel in den Arm gerammt. Einer der beiden trug das Zeichen, oder zumindest den ersten Teil des Symbols, das habe ich noch gesehen, bevor ich das Bewusstsein verloren habe, trotzdem hat er mir nicht geholfen. Jetzt steht nur noch einer der Jungen vor mir, der andere kann sich aber genauso gut irgendwo in der Nähe verborgen halten.
»In welchem Jahr befinden wir uns?«, frage ich, die Angst in meiner spröden Stimme hallt durch das alte Gewölbe. Irgendetwas fühlt sich komisch an. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Ort.
»1741«, faucht der Junge.
Also ist es wahr. Ein eisiger Schauder kriecht meinen Rücken hinunter, mein Atem geht hektisch und flach. Ich habe gehört, dass es möglich sein soll – rückwärts durch die Zeit zu reisen. Zu schade, dass ich jetzt, da ich es selbst getan habe, nicht lange genug leben werde, um irgendjemandem davon zu erzählen.
»Du musst das nicht tun«, sage ich. »Du wirst benutzt. Du wurdest von einem Feigling auf diese Mission geschickt. Du …«
»Sei still!« Der Junge lässt seinen Dolch aufblitzen, kann es offensichtlich kaum erwarten, ihn zu benutzen. Noch ist er nicht gewillt, ihn gegen mich einzusetzen. Nicht, bis er bekommt, weswegen er hier ist.
Danach ist eine Flucht so gut wie ausgeschlossen.
Obwohl ich mich mein ganzes Leben lang auf exakt diesen Moment vorbereitet habe, bin ich doch überrascht, unter dem Bedauern eine stille Akzeptanz meines düsteren Schicksals zu spüren. Haben meine Vorfahren sich auch so gefühlt, als sie mit dem Schicksal der Zeitwächter konfrontiert wurden?
Ich beobachte, wie der Junge ein Pergament aufrollt und auf die verblichene Skizze eines Skeletts deutet, das einen Wirbelknochen in der Hand hält.
Mein Gott. Ich schnappe nach Luft, als ich die Karte erkenne, die einst Kolumbus gehörte. Auch wenn das Symbol erst ein ganzes Jahrhundert nachdem der berühmte Entdecker mit dieser Karte den Atlantik überquert hatte, hinzugefügt worden ist. Wie zur Hölle hat er die in die Finger bekommen?
»Die Karte des Todes«, sagt der Junge, seine blauen Augen funkeln, als er mich an der Schulter packt und auf eine einzelne Krypta an der gegenüberliegenden Wand zustößt.
Natürlich – wir sind in der königlichen Nekropolis. Wo jahrhundertelang der französische Adel begraben wurde. Der Junge und wer auch immer ihm diesen Auftrag gegeben hat, haben das Tarot falsch gedeutet und damit genau das getan, was der Orden der Zeitwächter wollte. Der Schatz ist in Sicherheit. Und zumindest für den Moment wird er das auch bleiben.
»Der Mechanismus von Antikythera ist fast vollendet. Es fehlt nur noch ein Teil.« Der Junge grinst selbstzufrieden, doch seine Behauptung ist gelogen. Der Mechanismus wird niemals vollständig sein. Die Zeitwächter gehen zurück auf die großen Mystiker Ägyptens – wir verstehen die wahren Mechanismen der Zeit und haben unser Leben dem Ziel verschrieben, ebendie Teile zu beschützen, die dieser Junge sucht.
»Offenbar hast du alle Rätsel gelöst«, sage ich, »lass dich also nicht von mir davon abhalten, das Spiel zu gewinnen.«
Diese Herausforderung kann der Junge nicht bewältigen. Die fehlenden Teile sind verzaubert, sodass nur diejenigen sie finden können, die ihrer würdig sind. Dieser Junge ist es ganz offensichtlich nicht.
»Das ist dein Job.« Der Junge starrt mich an. »Aber natürlich kann ich auch das Mädchen holen, um das hier zu Ende zu bringen …«
Plötzliche Kälte klammert sich um mein Herz. Ich habe einiges auf mich genommen, um ihre Existenz geheim zu halten. Verdammt, nicht mal die anderen Zeitwächter wissen von meiner Tochter. Woher weiß er es also?
»Es ist an der Zeit, dass du und deine Brüder die verschollenen Teile aufgebt und der Menschheit den Mechanismus von Antikythera zurückgebt – wo er hingehört!«, fährt der Junge mich an.
In diesem einen Satz verbergen sich so viele gefährliche Lügen, doch ich kann mich nur auf eine Sache konzentrieren. »Sie ist ein Kind!«, rufe ich.
»Nicht mehr lange. Wir können in die Zukunft reisen und sie uns dort holen oder einfach abwarten. Jetzt hast du die Chance, ihr dieses Schicksal zu ersparen.«
Können sie wirklich in der Zeit vorwärtsreisen? Ich bezweifle es. Allerdings hält sie nichts davon ab, einfach zu warten.
»Ich hole es.« Meine Stimme zittert. »Haltet … haltet sie einfach da raus.« Mit zusammengekniffenen Augen betrachte ich das Grab von König Dagobert und die drei geschnitzten Tafeln darüber, auf denen die Geschichte des Eremiten John erzählt wird.
Frühe Darstellungen des Tarots zeigen den Eremiten – teilweise auch Zeit genannt – als alten Mann mit einem Stundenglas. Auf moderneren Karten trägt er statt des Stundenglases eine Laterne. Wieder haben uns der Junge und sein Auftraggeber direkt in die Hände gespielt. Dennoch stehen zwei Dinge fest.
Der Junge hat keinerlei Absicht, mich am Leben zu lassen.
Und meine Tochter ist nicht mehr sicher.
Allerdings … wenn ich ihn lange genug hinhalten kann, schließt sich vielleicht sein Zeitfenster für die Rückreise und der Junge ist hier gefangen, in einer Zeit und an einem Ort, die nicht seine eigenen sind.
Nicht gerade ein Happy End, aber etwas Besseres ist mir gerade nicht möglich.
Ich mache mich an die Arbeit, lasse mir viel Zeit dabei, den steinernen Grabdeckel zur Seite zu schieben. Doch der Junge wird ungeduldig, drängt mich zur Seite und stößt den Deckel zu Boden, wo er in mehrere Teile zerbricht. »Es ist nicht da!«, schreit er und hält mir im nächsten Moment schon den Dolch an die Kehle.
»Es ist verzaubert«, erinnere ich ihn durch zusammengebissene Zähne. »Hast du mich nicht genau deswegen hierhergebracht?«
Für das gewöhnliche Auge ist der Sarkophag fast leer. Doch das Sehvermögen eines Zeitwächters ist alles andere als gewöhnlich. Als ich hineinsehe, fasern die Jahre sich auf, schälen sich zurück und geben die Sicht auf die goldschimmernde Attrappe frei, die einer meiner Brüder vor Jahrhunderten hier platziert hat.
Ich greife an einem Haufen verrottender Kleidung und alter Knochen vorbei, schließe die Finger um die Attrappe und mache mich daran, der goldenen Kugel eine energetische Nachricht einzugeben, die nur von meinem Mädchen entschlüsselt werden kann. Ich habe zwar schon mit dem Unterricht begonnen, den sie brauchen wird, falls diese Leute sie jemals finden, doch jetzt wird mir klar, dass ich zu langsam war. Zu lange gebraucht habe. Dass ich dumm genug war zu glauben, reichlich von etwas zu haben, von dem es nie genug gibt – von der einen Sache, die weder gekauft noch bezwungen werden kann.
Zeit.
Und doch sind dieser Junge und sein Auftraggeber fest entschlossen, genau das zu tun. Für sie ist diese goldene Kugel ein weiterer Schritt zur absoluten Macht.
Für mich ist sie die letzte Chance, zu Ende zu bringen, was ich gerade erst angefangen habe.
Wenn der Junge meine Tochter findet – und das wird er –, kann ich nur hoffen, dass sie durch ihn an diesen Gegenstand gelangt.
»Was zur Hölle machst du da?« Der Junge will nach der Kugel greifen, doch ich stoße ihn zur Seite und renne auf den Ausgang zu.
Ich hätte ihr noch so vieles über das Vermächtnis der Zeitwächter zu sagen – wie sie mit der Fragmentierung umgehen kann, ihrer Gabe, durch die Zeit zu sehen. Einer Gabe, die sich erst vor Kurzem gezeigt hat.
Sie hatte panische Angst, als es das erste Mal passiert ist. Natürlich bin ich froh, dass ich dabei war und ihr helfen konnte, doch ich bereue es zutiefst, dass ich nun niemals die Chance haben werde, ihr zu zeigen, wie man die Fragmentierung kontrolliert, und erst recht nicht, ihr zu erklären, wieso sie ihre Gabe bald schon gegen unsere Widersacher einsetzen müssen wird.
Jetzt ist es zu spät dafür. Alles, was ich ihr jetzt noch geben kann, ist ein kurzer Blick auf das Gesicht dieses jungen, blauäugigen Feindes.
Ich bin nur ein paar Schritte weit gekommen, als ich den Dolch durch die Luft surren höre und spüre, wie er sich in meinen Rücken bohrt.
Der Schmerz erfasst mich sofort und wirft mich zu Boden, als der Junge hinter mich tritt, die Klinge herauszieht und die goldene Kugel aus meinen Fingern zwingt.
»Hast du wirklich gedacht, du könntest entkommen, alter Mann?« Mit einem vernichtenden Grinsen steht der Junge über mir, hebt den blutigen Dolch und rammt ihn mir ins Herz.
Die Ränder meines Sichtfelds werden schwarz, die Welt beginnt sich aufzulösen. Durch den dichten Nebel des Schmerzes sehe ich dem Jungen in die Augen und sage: »Glaubst du wirklich, dass die Kugel in deinen Händen die echte ist?«
Mit meinem letzten bebenden Atemzug sehe ich, wie sämtliche Farbe aus dem Gesicht des Jungen weicht, dann schließe ich die Augen und falle ins Nichts.
Natasha
Eine Highschool in Südkalifornien
Heute
»GOTT, WIE ICH DAS ALLES HIER HASSE.«
Kopfschüttelnd zermanscht Mason mit seiner Plastikgabel ein Stück Avocado, Quinoa, Süßkartoffel und irgendeinen seidig weißen Klumpen, der vermutlich Tofu ist. Ich erkenne die Mischung als eine der beliebteren Buddha Bowls wieder, die er sich aus dem veganen Café mitgenommen haben muss, in dem wir beide arbeiten. Für mich sieht das alles einfach nur aus wie Babybrei für Erwachsene.
»Ich meine, welcher absurden Laune des Schicksals habe ich es bitte zu verdanken, dass ich ausgerechnet hier gelandet bin?« Mit einem eleganten braunen Arm macht er eine ausladende Geste, die alles in dieser Vorstadthölle erfasst, von den grauen Betonblockwänden bis hin zur Essensausgabe der Schulmensa. Seine silbernen Armreife klimpern leise, als er bei den Tischen innehält, die für die coolen, beliebten Leute reserviert sind. Dieselben Tische, an denen ich früher saß, früher, als ich noch ein anderes Mädchen war, ein anderes Leben geführt habe. »Ich bin mir zu neunundneunzig Prozent sicher, dass ich bei der Geburt vertauscht wurde und jetzt im dystopischen Albtraum von irgendjemand anderem feststecke.«
Ich knabbere an meinen Chips aus dem Automaten und erinnere mich daran, dass ich dieses »Bei der Geburt vertauscht«-Spiel früher auch oft gespielt habe, bis meine Mom irgendwann meine Geburtsurkunde rausgekramt und mir stolz unter die Nase gehalten hat. »Siehst du?«, hat sie gesagt, die Wangen triumphierend gerötet, als sie mit einem abgebrochenen Nagel erst auf ihren, dann auf Dads Namen getippt hat. »Wir haben dich gemacht, ob’s dir gefällt oder nicht.«
Ich habe mich damals in meinem Zimmer eingesperrt und den ganzen Nachmittag geheult.
»Bring mich weg von hier. Einfach irgendwohin, Hauptsache, weg.« Mason schiebt sein Mittagessen von sich und streckt sich genüsslich auf der Bank aus. Ein Arm liegt über seinem Gesicht, sodass ich nur noch die perfekt geformten roten Lippen sehe, die mich jedes Mal an eine dieser Schauspielerinnen aus alten Schwarz-Weiß-Filmen erinnern, die dringend ein Fläschchen Riechsalz brauchen. »Mir ist so langweilig«, stöhnt er. »Mal mir ein Bild mit Worten.«
»Wir sind in Paris«, beginne ich, ohne zu zögern. Das ist eine unserer Lieblingsbeschäftigungen. »Wir haben den besten Tisch im schicksten Straßencafé und strafen jeden mit dem Todesblick, der es wagt, besser angezogen zu sein als wir. Was aber kaum vorkommt, denn ich trage ein Seidenkleid mit Kunstpelz-Stola und dazu Biker Bogots mit Glitzersteinen und du schwimmst regelrecht in einer reich bestickten Tunika, Leggings aus veganem Wildleder und blauen Samtpantoffeln mit zwölf Zentimeter hohen Absätzen.«
»Und was essen wir?«, will er wissen und leckt sich schon die Lippen.
Da ich kein Feinschmecker bin wie er, halte ich es simpel. »Ich knabbere nebenbei an einem Schokocroissant, und du nippst an einem milchfreien und trotzdem bemerkenswert cremigen Café au Lait, der nie kalt zu werden scheint, ganz egal, wie lange wir dort sitzen.«
»Vermisst du es manchmal?« Er setzt sich so abrupt auf, dass ich unsanft aus Paris zurückkehre.
»Was soll ich vermissen?«, frage ich.
»Du weißt schon, dazuzugehören.« Mit einer Hand deutet er über seinen rasierten Kopf hinweg zu dem Tisch, an dem ich früher saß – bevor ich neben dem Mülleimer gelandet bin.
»Nein«, antworte ich und wende mich schnell ab, damit er mir die Lüge nicht vom Gesicht ablesen kann. Auch wenn mir der Tisch und die Leute, die dort sitzen, nicht fehlen, vermisse ich doch die Person, die ich damals war – die Person, der ihre Noten nicht egal waren, die von einer strahlenden Zukunft jenseits dieser beigen Flure träumte.
Ich will eben noch etwas hinzufügen, als Mason aufstöhnt und seine Sachen zusammenpackt. »Macht Platz für die Königin«, sagt er, und als ich den Kopf hebe, sehe ich Elodie auf uns zukommen. »Ich verstehe echt nicht, wieso du dich mit der abgibst.«
Ich beobachte, wie Elodie sich ihren Weg durch die Mensa bahnt. Wie bei einem Promi auf dem roten Teppich versuchen so viele Leute, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, dass sie für den kurzen Weg viel länger braucht als nötig.
»Mit ihr kann man viel Spaß haben.« Ich hebe die Schultern. »Und sie kommt an ziemlich coole Sachen ran. VIP-Tickets, Plätze direkt am Spielfeldrand beim …«
»Beim nächsten Spiel der Lakers?« Mason sieht mich scharf an. »Seit wann interessierst du dich für Sport?«
»Ich meine ja bloß … Vielleicht solltest du ihr eine Chance geben.«
Mason schüttelt den Kopf. »Glaub mir, ich hab ein Gespür für schlechte Schwingungen, und das Mädchen riecht schon auf eine Meile Entfernung nach Ärger.« Er wirft sich seine nachgemachte Designertasche über die Schulter, will offensichtlich verschwinden, bevor sie unseren Tisch erreicht.
»Manchmal kann Ärger auch Spaß machen.« Ich lache, um die Stimmung etwas aufzulockern. Doch Masons Stirnrunzeln verrät mir, dass mir das nicht gelingt.
»Jeder Zauber hat seinen Preis«, sagt er.
»Hast du gerade wirklich Rumpelstilzchen zitiert?«
»Ich sage nur, was Tatsache ist. Irgendwann wird dich dieser ganze Spaß einholen. Wenn er das nicht schon längst getan hat.«
»Und jetzt klingst du wie meine Mom«, grummle ich, erinnere mich dann aber an das erste und einzige Mal, als er meine Mutter getroffen hat, weil er einfach unangekündigt vor der Tür stand. »Oder … wie irgendjemandes Mom.«
»Es ist noch nicht zu spät.« Der Blick aus seinen ernsten braunen Augen findet meinen. »Du kannst es dir immer noch anders überlegen, deine Noten wieder verbessern. Wieso tust du so, als wäre es nicht deine Entscheidung, als würdest du deine Geschichte nicht selbst schreiben?«
Er hat recht; natürlich hat er recht. Doch eines versteht er nicht: Ich bin nicht so wie er.
Mason lebt bei seiner Oma, und was ihr an Geld fehlt, macht sie mit ihrer Entschlossenheit wett, Mason zu unterstützen. Seine Noten sind seine Zukunft – sie ebnen ihm den Weg in ein besseres Leben an einem viel besseren Ort.
Ich hingegen könnte die Highschool als Jahrgangsbeste abschließen und es würde nichts ändern. Ich kann nicht einfach verschwinden, um irgendwo zu studieren, weil ich meine Mom nicht alleinlassen kann. Sie ist vollkommen abhängig von mir.
Als Elodie näher kommt, trällert sie meinen Namen: »Natashaaaaaa.«
Ich muss sie wirklich davon abbringen, mich so zu nennen. Natasha gehört zu meinem alten Ich. Es ist der Name, den eine Mutter ausgewählt hat, als sie sich eine strahlende Zukunft für ihre Tochter erträumt hat.
Seit mein Dad abgehauen ist, bin ich nur noch Nat, als wäre meine Mom seitdem zu erschöpft, um die anderen beiden Silben auch noch auszusprechen.
Mason murmelt noch, dass er sich später bei mir meldet, dann verschwindet er, bevor ich versuchen kann, ihn zum Bleiben zu überreden. Das ist die Abmachung, die wir getroffen haben. Er hört auf, über sie zu lästern (größtenteils zumindest), wenn ich aufhöre, ihn immer wieder damit zu nerven, dass er ihr doch eine Chance geben soll.
Ich weiß, dass ich ihm folgen sollte, bevor es zu spät ist, doch stattdessen wende ich mich Elodie zu. Und als sie mir zuwinkt, ein breites Grinsen im Gesicht, lächle ich leise in mich hinein und tue so, als würde ich all die neidischen Blicke nicht bemerken, während das coolste Mädchen der Schule erneut meinen Namen trällert.
»NA-TA-SHA!« ELODIE ZIEHT jede Silbe in die Länge. Mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen steht sie vor mir, der personifizierte Traum eines jeden Teenagers.
»Elodie Blue«, erwidere ich und versuche, ihren Tonfall zu imitieren, scheitere aber kläglich. Trotzdem klingt ihr Name wie ein Künstlername, absolut unecht. Ihre Mom muss eine noch größere Träumerin gewesen sein als meine.
Und eine bessere noch dazu, denn ihre Träume sind ja wahr geworden.
Ich lasse den Blick über Elodies markante Wangenknochen und die vollen Lippen wandern, die Art Lippen, für die viele Leute eine ganze Stange Geld bezahlen, bis ich zu dem Teil komme, der mich wirklich interessiert – ihre Klamotten. Das ist einer der Vorzüge daran, mit ihr befreundet zu sein: Ihr Stil färbt ab.
Meine Mom hat immer Witze darüber gemacht (damals, als ihr noch nach Witzen zumute war), dass ich nach den Dr.-Seuss-Büchern direkt dazu übergegangen bin, die Vogue zu verschlingen. Ich liebe Mode, Design, Kunst. Dass ich mir nichts davon leisten kann, hält mich nicht davon ab, von dem Tag zu fantasieren, an dem mich ein Paar Tausend-Dollar-High-Heels und die perfekte Lippenstiftfarbe in eine vollkommen neue Existenz befördern werden.
Elodie bemerkt meinen Blick. »Du kannst ihn dir jederzeit ausleihen. Sag einfach Bescheid und er gehört dir.«
Und das Merkwürdige daran ist: Sie meint es ernst. Elodie kauft genauso schnell, wie sie aussortiert. Manchmal frage ich mich, wie lange es wohl noch dauert, bis auch ich ihr zu langweilig werde und sie mich fallen lässt wie den Seidenmantel, den sie mir gerade angeboten hat.
Sie will schon aus den Ärmeln schlüpfen, doch ich lehne mit einer Handbewegung ab.
An ihrer hochgewachsenen, gertenschlanken, laufstegreifen Figur sieht der weite Mantel, den sie mit einem weißen gerippten Tanktop und verwaschenen Jeans kombiniert hat, luftig und leger aus. Ich mit meinen eins sechzig (mit Absätzen) sähe darin aus, als wäre ich im Morgenmantel zur Schule gekommen.
Sie hakt sich bei mir unter und führt mich aus der Mensa, vorbei an einer Reihe Schließfächer, deren frische Farbschicht es nicht ganz schafft, das letzte skandalöse Graffiti zu überdecken. »Guck mal …« Im Vorbeigehen tippt Elodie mit einem ringbeladenen Finger an eine Schließfachtür. »Wenn man genau hinschaut, kann man noch das Wort ›Schwanz‹ erkennen.«
Ich verdrehe die Augen und beschleunige meine Schritte, bis Elodie mich einholt und mich am Ärmel packt. »Wieso hast du’s denn so eilig?«, fragt sie. »Du hast nicht wirklich vor, zum Unterricht zu gehen, oder?«
Auf den ersten Blick sieht Elodie mit ihrem märchenhaft blonden Haar, der hellen Haut, der kleinen Stupsnase, dem perfekten Kussmund und diesen leuchtend blauen Augen aus wie eine ernste Disneyprinzessin. Doch aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Mason recht hat – sie ist genau die Art »schlechter Einfluss«, vor dem Eltern immer warnen.
»Wenn ich schwänze, falle ich durch.« Sekunden nachdem ich das ausgesprochen habe, klingelt es zur nächsten Stunde. Auch die letzten Nachzügler sprinten noch schnell in ihre Klassenzimmer, sodass Elodie und ich allein im Flur zurückbleiben.
»Falsch.« Sie grinst. »Du fällst sowieso durch und jetzt kriegst du auch noch einen Eintrag wegen Zuspätkommens. Außerdem wissen wir beide, dass du heute nicht arbeiten musst, also komm schon.« Wieder zieht sie an meinem Ärmel. »Ich kenne einen Club, in den wir garantiert umsonst reinkommen – und vermutlich sogar Gratisgetränke kriegen, wenn du diesen schrecklichen Hoodie loswirst.«
»Im Ernst – ein Club?« Ich sehe auf die Uhr. »Um halb zwei?« Meine Stimme saust eine Oktave in die Höhe, wodurch ich genauso aufgebracht klinge wie meine Mutter, wenn während ihrer Lieblingssendung das Telefon klingelt.
»Deswegen ist er ja so exklusiv.« Elodie lacht. »Aber vielleicht überzeugt dich das hier?«
Sie drückt mir ihr Telefon in die Hand, damit ich mir das Foto eines Jungen ansehen kann, dessen Gesichtszüge so perfekt definiert sind, dass ich es mir nur mit dem heftigen Missbrauch mehrerer Filter erklären kann. Trotzdem bleibt mir kurz die Luft weg, als mein Blick über sein dunkles Haar und diese marineblauen Augen wandert. Aus irgendeinem Grund kommt er mir bekannt vor, aber vermutlich nur, weil er mich an die Art Jungs erinnert, die ich in meinem früheren Leben am coolen Mensatisch kannte.
»Er heißt Brax.« Sie nimmt mir das Telefon wieder ab und wirft es in ihre Tasche. »Er will dich kennenlernen.«
»Ja, klar. Total glaubwürdig, El.« Ich schüttle den Kopf. »Du willst mir allen Ernstes erzählen, dass dieser Typ – dieses gephotoshopte Pixelkinn …«, ich deute auf ihre Tasche, als würde er da drin zwischen all den Lipglosstuben und Tic-Tac-Packungen leben, »mich kennenlernen will?«
»Bist du dabei?« Sie grinst mich aufgeregt an.
Natürlich erkenne ich die Lüge, aber wenn ich die Wahl habe zwischen dem missbilligenden Blick meines Geschichtslehrers und irgendeinem zwielichtigen Nachmittagsclub mit einem Jungen, dessen Gesicht zu perfekt ist, um wahr zu sein … dann gibt es eigentlich nichts zu entscheiden.
Bei Geschichte geht es sowieso nur darum, Orte und Daten auswendig zu lernen, und um die stark bereinigten Erzählungen über alte weiße Männer und ihre Heldentaten. Diese Stunde ist die absolute Krönung der Langeweile und selbst mit einem Nickerchen noch sinnvoller genutzt.
Doch Elodie gibt mir ohnehin keine Gelegenheit, zu antworten. Sie sprintet einfach den Flur runter und schreit: »Wer als Erste draußen ist!«
Ich bleibe wie festgefroren stehen und sehe Elodie hinterher, die quer über den Innenhof rennt und aufs Schultor zuhält, als würden die Regeln für sie nicht gelten.
Ich wünschte, ich könnte meine Verbindung zu ihr erklären oder wieso ich Masons Rat immer wieder ignoriere. Ich weiß nur, dass er in den letzten paar Jahren mein einzig wahrer Freund war – und bevor ich Elodie kennengelernt habe, reichte mir das.
Doch dann, eines Mittwochs, tauchte plötzlich Elodie Blue an unserer Schule auf und ab diesem Moment war alles anders.
Ich erinnere mich noch daran, wie ich ihr bewundernd hinterhergesehen habe, als sie das erste Mal über das Schulgelände lief. Sie war so selbstbewusst, so mühelos cool. Also das genaue Gegenteil von mir. Und ich war vollkommen hin und weg.
Mason konnte sie natürlich von Anfang an nicht leiden und hat behauptet, er könne hinter ihre glänzende Fassade direkt auf den rottenden, verdorbenen Kern sehen. Ich glaube, er hat sie sogar als zukünftige Kult-Anführerin-Instagram-Model-korrupte-Politikerin bezeichnet, alles in einer Person.
Doch für mich war Elodie die lebendige Verkörperung all der Wünsche und Träume, die ich niemals erreichen werde.
Innerhalb weniger Tage war die ganze Schule besessen von ihr. Und trotz der Masse an Leuten, die liebend gern ihren perfekten Notendurchschnitt aufs Spiel gesetzt hätten, um mit ihr zu schwänzen, fiel ihre Wahl auf mich.
Vielleicht, weil sie wusste, dass ich in meiner eigenen Abwärtsspirale schon so weit abgerutscht war, dass man ihr nicht mehr vorwerfen konnte, sie würde meine Zukunft ruinieren.
Vielleicht, weil sie wirklich recht hat damit, dass ich klüger als die meisten bin, hübscher, als ich denke, und keine Angst davor habe, ein paar Risiken einzugehen.
Als sie das damals zu mir gesagt hat, habe ich nur lässig abgewinkt, irgendeine ziemlich vermurkste Version des Janis-Joplin-Zitats gemurmelt, über Freiheit und darüber, nichts zu verlieren zu haben.
Natürlich war nichts davon wahr. Wenn man so wenig hat wie ich, kann man es sich nicht leisten, auch nur eine einzige Sache zu verlieren.
»Komm schon!«, ruft Elodie. Ihre Stimme konkurriert mit der in meinem Kopf, die mich mahnt, in den Unterricht zu gehen und mein Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Wenn ich nicht auf diese Stimme höre, bin ich ganz allein dafür verantwortlich, was als Nächstes passiert.
Mein Herz schlägt so schnell, dass es beinahe explodiert, als ich die Stimme ignoriere und losrenne.
Über mir kracht ein plötzlicher Donnerschlag, und die dichte Wolkendecke öffnet ihre Schleusen, lässt eine wahre Sturzflut auf uns niedergehen.
Sofort ziehe ich reflexartig das Kinn ein und die Kapuze schützend über den Kopf.
Elodie tut natürlich genau das Gegenteil.
Sie wirft den Kopf in den Nacken und breitet die Arme aus, als wäre es das Tollste überhaupt, von einem Platzregen überrascht zu werden. Schon im nächsten Moment schiebt sie das quietschende Tor auf und rennt auf ihr Auto zu.
Unter meinen Füßen spritzt das Wasser auf, als ich ihr durch die Pfützen folge, so schnell ich kann.
»ICH DACHTE, WIR GEHEN IN EINEN CLUB?« Ich sehe zwischen Elodie und dem Parkhausangestellten hin und her, der mir die Tür aufhält und zum Bürgersteig weist, als würde er mir nicht zutrauen, den Weg selbst zu finden. Elodie ist die einzige Person, die ich kenne, die sich bei einem Spinning-Kurs völlig verausgabt, nur um dann den Parkservice zu nutzen, damit sie nicht einen Schritt zu viel gehen muss.
Ohne ein Wort packt sie mich am Arm und zieht mich in ein großes, elegantes Kaufhaus mit weiß schimmernden Marmorböden und der Art Preisschilder, die weit jenseits meiner Möglichkeiten liegen.
»Dann gehe ich mal davon aus, dass der Club in irgendeiner passwortgeschützten Umkleidekabine versteckt ist?« Ich befreie mich aus ihrem Griff. »Oder vielleicht in einem geheimen Keller unter dem MAC-Tresen?«
»Hör zu …« Elodie dreht sich so abrupt zu mir um, dass ich mit meinen Chucks gegen ihre stoße. »Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, ohne unhöflich zu klingen, also sage ich es einfach.« Sie stemmt eine Hand in die Hüfte und holt theatralisch Luft. »Du brauchst einen neuen Look.«
Ich blinzle. Sie hat recht – das war ziemlich unhöflich.
»Ich versuche nicht, gemein zu dir zu sein, aber für jemanden, der sich angeblich so sehr für Mode interessiert wie du, gibst du dir wirklich erstaunlich wenig Mühe, gut auszusehen.« Mit dem Finger deutet sie auf meinen schäbigen Hoodie, meine zu weiten Jeans und meine ausgelatschten Chucks. »Man könnte fast meinen, du sabotierst dich selbst. Und ich will einfach nur helfen, Natasha, ehrlich.«
Jetzt ist es an mir, theatralisch zu seufzen, dann dränge ich mich an ihr vorbei zu einem Regal Designer-Sonnenbrillen, mit denen man ein Viertel der monatlichen Kreditrate abbezahlen könnte, die Dad uns hinterlassen hat. Ich probiere trotzdem eine an, einfach nur zum Spaß.
»Ich habe ja Gerüchte gehört, dass du dir früher echt Mühe mit deinem Aussehen gegeben hast. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das glauben soll.«
»Verständlich«, sage ich. »Wieso solltest du das auch glauben?« Ich tausche die Sonnenbrille gegen eine andere mit übergroßem, quadratischem Rahmen und beuge mich zum Spiegel vor. Eigentlich habe ich die Brille nur als Scherz aufgesetzt, doch jetzt gefällt sie mir tatsächlich. Ich nehme sie ab und sehe aufs Preisschild.
Vielleicht in einem anderen Leben, mit einem anderen Konto.
»Aber dann habe ich ein Foto im Jahrbuch gesehen, als du in der Neunten warst.«
Ich greife nach einer weiteren Brille, diesmal mit runden, verspiegelten Gläsern. Sie steht mir überhaupt nicht, verbirgt aber meine Augen und gibt mir so die Chance, mich für das zu wappnen, was als Nächstes kommt.
Ich weiß ganz genau, wo dieses Gespräch hinführt. Die eine Person, die meine frühere Natasha-Version nie erlebt hat, weiß jetzt genauso viel wie alle anderen – dass mein Ich in der neunten Klasse und mein Ich in der zwölften zwei vollkommen verschiedene Personen sind.
»Du warst nicht nur supersexy, sondern wurdest auch noch zur Ballkönigin und Klassenpräsidentin gewählt und warst auf der Liste der Jahrgangsbesten.«
Ich starre sie wütend an. Meine Vergangenheit als Vorzeigeschülerin ist zwar nicht direkt ein Geheimnis, aber wieso zur Hölle schnüffelt Elodie mir so hinterher?
»Das ist eine ziemlich drastische Veränderung, und ich wüsste zu gern, was passiert ist.« Sie greift nach meinem Handgelenk. In ihrem Blick liegt aufrichtiges Mitgefühl, aber die Geschichte meines Absturzes geht sie nichts an.
»Nichts ist passiert«, behaupte ich.
Der Blick aus Elodies blauen Augen bohrt sich in meinen, sucht nach der Wahrheit, von der sie ganz genau weiß, dass ich sie vor ihr verberge. Die qualmende Pistole – das eine verhängnisvolle Ereignis, das meinen Absturz ausgelöst hat. Aber so war es nun mal nicht.
Es ist niemand gestorben oder so.
Mein Leben ist nicht über Nacht in sich zusammengebrochen.
Es war vielmehr ein langsamer Untergang. Eine Reihe kleiner Ereignisse, die dazu geführt haben, dass sich Armut, Depression und Hilflosigkeit in unserem Haus ausgebreitet haben wie ein Virus, das erst meine Mom erwischt hat und schließlich auch mich.
Eine Zeit lang habe ich noch versucht, die Fassade aufrechtzuerhalten. Aber es hat nicht lange gedauert, bis die Kluft zwischen mir und so ziemlich allen anderen an der Schule dazu geführt hat, dass ich immer weiter zurückgefallen bin, bis es irgendwann sinnlos war, mich überhaupt noch anzustrengen.
Was nach außen wie Versagen wirkt, ist tatsächlich einfach nur Selbstschutz. Ich hebe mir meine Energie für meinen Nachmittagsjob auf, weil wir das Geld brauchen. Und da mich niemand dafür bezahlt, eine Geschichtsklausur zu schreiben, steht das eben nicht sehr weit oben auf meiner Prioritätenliste.
Trotzdem bin ich enttäuscht von Elodie. Sie sollte die eine Person sein, bei der ich mein normales Leben mal vergessen und ein bisschen Spaß haben kann. Wenn sie plötzlich Lust auf was Neues hat und sich als Lebens-Coach versuchen will, sollte sie mich allerdings lieber in die Schule zurückbringen, wo ich hingehöre.
»Ist das hier eine Intervention, oder was?«, frage ich. »Dann wäre mir der Club nämlich lieber.« Ich schüttle ihre Hand ab und stecke die Sonnenbrille zurück in die Halterung. »Du kannst nicht beides haben, El. Entweder bist du meine Komplizin oder meine Vertrauenslehrerin.«
»Na gut.« Sie schnappt sich die quadratische Brille und winkt einer Verkäuferin zu. »Aber du bekommst jetzt ein Makeover, ob es dir gefällt oder nicht. Denn damit …«, sie deutet mit einer herablassenden Geste auf meinen Hoodie, »… kommst du nie da rein, wo wir hinwollen.«
WIR SIND DRAUSSEN. MEIN LANGES braunes Haar wurde aus seinem üblichen zerzausten Pferdeschwanz befreit und zu sanften Wellen geformt, die um mein frisch geschminktes Gesicht fallen, während mein Kleid sogar noch mehr Oberschenkel zeigt als die Shorts, die ich im Sportunterricht trage.
»Ich fühle mich wie Pretty Woman«, sage ich. Das ist der absolute Lieblingsfilm meiner Mom, in dem es um eine Prostituierte geht, die ein Makeover von einem reichen Klienten bekommt, nachdem er sie an einer Straßenecke aufgelesen hat.
Als ich laut meiner Mom endlich alt genug war, den Film mit ihr anzuschauen, hat sie die ganze Zeit aufgeregt gegrinst oder sich nervös ein feuchtes Taschentuch an die Lippen gehalten, als könnte der Film, den sie mindestens hundert Mal gesehen hat, plötzlich anders ausgehen. Als meine eigene Taschentuchpackung nach dem Abspann immer noch unberührt war, dachte sie wohl, ich hätte die Geschichte nicht verstanden, denn sie hat versucht, sie mir zu erklären.
»Aber schau doch!«, hat sie gerufen und zu der Stelle zurückgespult, als die Prostituierte und der Business-Hai in einer Limo davonfahren. »Sie rettet ihn auch!«
Was in ihren Augen wohl ein adäquater Ausgleich dafür ist, dass diese Frau wortwörtlich alles an sich ändern musste, um gut genug für irgendeinen Typen zu sein. Ja, nein danke.
»Das ist das coolste Makeover überhaupt.« Elodie holt mich aus meinen Gedanken zurück in die Gegenwart. »Und das Beste daran ist, dass du mir dafür nicht mal einen blasen musst.«
Mit gerunzelter Stirn zupfe ich am Saum meines Kleids. Mal ganz abgesehen von den moralischen Fragen eines Makeovers ist es einfach verdammt lange her, dass ich mir selbst auch nur den Versuch erlaubt habe, hübsch auszusehen, und mich jetzt so zu sehen, ist zugleich aufregend und verstörend.
Der eine Teil von mir denkt: Ja, das ist die Person, die du sein solltest! Während der andere darauf besteht: Damit wirst du niemals ungestraft davonkommen.
»Ganz ehrlich?«, frage ich. »Ich fühle mich … komisch.«
Meine Arme hängen ungelenk an meinen Seiten, als hätte ich vergessen, wie man sie benutzt. Für das Kleid, die Schuhe, die Sonnenbrille, das Make-up und den neuen BH, der meine Brüste viel größer aussehen lässt, als sie tatsächlich sind, hat Elodie ordentlich was hingeblättert, und es scheint ihr nichts auszumachen, dass ich es ihr niemals zurückzahlen kann.
»Danke«, sage ich. »Wirklich.« Was soll man auch sonst sagen, wenn jemand so viel Geld investiert und nicht mal eine Gegenleistung erwartet?
Sie winkt meinem Spiegelbild in der Fensterscheibe vor uns zu. Ich winke zurück. Elodie hat kein Makeover bekommen, primär, weil sie keines nötig hat. Sie hat einfach ihr Tanktop gegen ein Seidenmieder getauscht und ihre Sneaker gegen Riemchensandalen.
Es ist das erste Mal, dass ich neben ihr stehe und mich ihr ebenbürtig fühle. Also entscheide ich, den Moment zu nutzen und mich auch so zu verhalten.
Ich werfe mich in Pose, schüttle mein Haar aus und setze einen leeren Blick auf, wie ein Mädchen in einem dieser frauenverachtenden Musikvideos. Elodie reagiert darauf mit einer erhobenen Braue und einem schiefen Grinsen, das nur als spitzbübisch beschrieben werden kann – wenn ich solche Worte benutzen würde.
»Bereit für das große Unbekannte?« Sie hakt sich unter.
Ich sehe an dem Gebäude hinauf – ein riesiger Kasten aus verspiegelten Glasflächen, die sich vom Gehsteig bis zur grauen Wolkendecke hinaufstrecken. Es ist die Art Gebäude, in dem Menschen sitzen, die alle Regeln befolgt und immer alles richtig gemacht haben, nur um sich jetzt mit ausdruckslosen Mienen und vollkommen abgestumpft durch den Kalender zu schleppen, immer dem nächsten Wochenende entgegen.
»Dafür habe ich meinen Hoodie aufgegeben?«
Elodie wirft den Kopf zurück und lacht, bevor sie mich zum Nachbargebäude dirigiert, das deutlich niedriger und dunkler ist, mit nur wenigen Fenstern, die alle schwarz gestrichen sind.
»Oh, und noch etwas.« Sie drückt mir etwas Hartes und Quadratisches in die Hand. »Nur Mitglieder haben Zutritt. Halt dich einfach an mich.«
Auf der Plastikkarte ist ein Foto von mir zu sehen, für das ich nie posiert habe, da bin ich mir sicher. Vor allem, weil ich darauf ein Top trage, das ich nicht besitze.
»Entweder Magie oder Photoshop.« Elodie zwinkert mir zu. »Das darfst du entscheiden.«
Wieder starre ich den Ausweis an. Anscheinend bin ich schon seit fast einem Jahr Mitglied.
»Arkana?« Ich sehe zwischen dem Namen des Clubs und Elodie hin und her. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass dieses Wort etwas in mir wachruft. Doch Elodie geht schon auf den Türsteher zu und zeigt ihm ihre Karte, also verdränge ich den Gedanken und folge ihr, während ich leise murmle: »Was zur Hölle ist das hier?«
»DIE WOLLEN ALLES«, ERKLÄRT ELODIE. »Deine Tasche, dein Telefon, alles.«
Ich sehe von Elodie zu dem Mädchen hinter der Theke. »Keine Chance«, protestiere ich. »Mein Telefon bleibt bei mir.«
Elodie verdreht die Augen. »Sei nicht so eine Dramaqueen. Du kriegst ja alles wieder, wenn es vorbei ist.«
»Wenn was vorbei ist?«, frage ich, meinen Rucksack noch immer fest an mich gedrückt.
Offensichtlich genervt von meiner Weigerung, an diesem merkwürdigen Ort all meine Sachen einer Fremden zu überlassen, schnappt Elodie sich meinen Rucksack samt Telefon und legt beides auf den Tresen. Im Austausch dafür bekomme ich einen bösen Blick von dem Mädchen an der Garderobe und ein schwarzes Gummiarmband mit einer Nummer darauf.
»Der Laden hier ist total geheim«, sagt Elodie. »Wie früher, ohne Selfies und so. Deswegen ist er ja so cool.« Sie führt mich über einen blumengesäumten Pfad, der an einer kleinen Hütte endet, die nur aus Ästen und funkelnden Lichterketten zu bestehen scheint. Darin sitzt eine Frau an einem Tisch mit blauer Seidendecke. Die Kristallkugel zu ihrer Rechten und das glimmende Bündel Salbeiblätter zu ihrer Linken lassen mich vermuten, dass sie eine Hellseherin ist.
Oder sich zumindest für eine ausgibt.
Die Frau wirft sich das lange rote Haar über die Schulter und deutet auf einen lila Samthocker, der ihr gegenüber vor dem Tisch steht. »Weißt du, was Tarot ist?«, fragt sie mich. Aus braunen Augen mustert sie mich fragend, als sie mir ein Kartendeck reicht.
Genau wie vorhin der Clubname zupft auch das Wort Tarot an einer Erinnerung. Nachdem ich jahrelang sämtliche Gedanken an meinen Dad ignoriert habe – da er ganz offensichtlich nicht an mich denkt, weigere ich mich, an ihn zu denken –, überraschen mich die Bilder, die sich plötzlich in meinen Kopf drängen. Die Szene vor meinen Augen ist so real, als würde ich sie durch eine dünne Glasscheibe beobachten.
Ich bin jung, vermutlich um die neun Jahre, und mein Dad und ich sitzen zusammen über ein altes Tarot-Deck gebeugt, das er auf dem Tisch vor uns ausgebreitet hat. Eine nach der anderen geht er die Karten durch, erklärt mir all die Geheimnisse, die in diesen seltsamen Bildern verborgen sind.
Auch wenn ich nicht viel von dem verstehe, was er sagt, höre ich zu, vollkommen fasziniert, will so viel davon in mich aufsaugen, wie ich nur kann. Doch er ist erst bei der letzten Karte der großen Arkana angelangt – Die Welt –, als wir Moms Wagen in die Einfahrt biegen hören und er das Kartendeck schnell vom Tisch fegt. Sekunden bevor Mom durch die Tür kommt, dreht er sich zu mir und legt einen Finger an die Lippen …
Das war das letzte Mal, dass ich diese Karten gesehen habe.
Eins der letzten Male, dass ich ihn gesehen habe.
Ein paar Tage später ist er aus meinem Leben spaziert und nie wieder aufgetaucht.
Arkana. Natürlich. Der Name des Clubs ergibt plötzlich Sinn.
Das Tarot besteht aus achtundsiebzig Karten, zweiundzwanzig davon sind die großen Arkana, die anderen sechsundfünfzig die kleinen Arkana, die er mir nicht mehr erklären konnte.
Der Frau antworte ich: »Tarot ist der bildhafte Schlüssel zum Universum – eine allegorische Reise durch das Leben.« Dann mische ich den Stapel wie ein Profi, die Karten bewegen sich so fließend in meinen Händen, als würde ich das schon seit Jahren tun.
Nachdem ich der Hellseherin die Karten zurückgegeben habe, fächert sie sie vor mir zu einem Halbkreis auf. »Wähl eine«, verlangt die Frau. »Und benutz dazu deine linke Hand.«
»Die Hand des Schicksals.« Der Satz kommt instinktiv über meine Lippen, und ich weiß, dass mein Dad ihn einmal zu mir gesagt hat.
Ich ziehe eine Karte und beobachte nervös, wie die Hellseherin sie umdreht.
»Dir steht eine große Veränderung bevor.« Sie schiebt die Karte dann mit einem spitz gefeilten Nagel näher zu mir. »Von diesem Tag an wird nichts mehr sein, wie es mal war.«
ICH BEUGE MICH VOR, UM DIE KARTE besser betrachten zu können, als Elodie mich an der Schulter packt. »Das Rad des Schicksals!«, stößt sie atemlos hervor.
Die Darstellung auf der Karte ist eine andere als die in dem alten Deck meines Vaters, doch als ich die zweiköpfigen Schlangen rechts und links eines goldenen Rads mit Uhrzeigern in der Mitte betrachte, auf dem eine geflügelte Kreatur sitzt, bekomme ich plötzlich eine Gänsehaut.
»Das ist eine gute Karte, oder?«, fragt Elodie.
»Gut … schlecht … Veränderung ist immer das, was man daraus macht.« Die Hellseherin mischt die Karte wieder in den Stapel und bedeutet dann Elodie, eine zu ziehen.
Anscheinend steht Elodie keine große Veränderung bevor. Sie wählt eine andere Karte. Andererseits ist ihr Leben ja auch schon großartig, also ist das vermutlich eine Erleichterung.
»Die Zwei der Kelche.« Sie grinst, als wir weitergehen. »Eine neue Liebe wartet auf mich. Oder zumindest für heute Abend. Schade, dass du das verpassen wirst.« Sie lacht.
Mit aufsteigender Panik drehe ich mich zu ihr um. »Warte mal … Was?«
»Hier trennen sich unsere Wege«, sagt sie, als wäre das von Anfang an der Plan gewesen. Wenn dem so ist, hat sie offensichtlich vergessen, mir das mitzuteilen.
»Aber wir sind doch zusammen hergekommen!«, jammere ich. Hitze steigt in meine Wangen, als ich selbst höre, wie erbärmlich und anhänglich ich klinge.
Ich will wirklich nicht allein hierbleiben. Doch Elodie hat sich schon einem Typen in einem Vintage-Anzug zugewandt. Er verteilt Masken und sie bittet ihn um zwei.
»Entspann dich«, meint sie, als sie zu mir zurückkommt. »Es ist nur ein Club – hier soll man sich amüsieren. Außerdem ist es doch viel witziger, wenn wir uns später wieder treffen und uns erzählen können, was wir erlebt haben. Aber jetzt …«, sie gibt mir eine Maske aus schwarzem Samt, »… gehst du einfach durch die Tür, die mit deiner Karte markiert ist.«
»Aber was, wenn ich mich verlaufe und dich nicht mehr finde? Ich hab ja nicht mal mein …« Ich wollte sie gerade daran erinnern, dass ich kein Telefon dabeihabe, doch sie ist schon verschwunden, bevor ich den Satz beenden kann.
Ich starre ihr hinterher. Dann sehe ich mich nervös um.
Dieser Laden ist merkwürdig. Und auch wenn er auf eine Art merkwürdig ist, die neugierig macht, habe ich absolut nicht erwartet, allein hier herumzuwandern, als ich zugestimmt habe, die Schule zu schwänzen.
Scheiß auf Arkana.
Scheiß auf Elodie.
Ich muss den Weg zurück zum Empfang finden, mein Telefon abholen und ein Taxi oder ein Uber nach Hause bestellen. Das ist eindeutig das sicherste, klügste Vorgehen in dieser absurden Situation.
Doch gerade, als ich mich auf den Ausgang zubewegen will, meldet sich eine hartnäckige Stimme in meinem Kopf.
Wieso probierst du es nicht mal aus?
Was, wenn diese Hellseherin recht hat?
Natürlich weiß ich, wie lächerlich das ist, und ich habe mich noch nie für so was wie Omen oder Zeichen interessiert oder dafür, ob Merkur rückläufig ist oder was auch immer, aber meine Karte hat eine große Veränderung vorhergesagt.
Und es ist ja nicht so, als wäre mein Leben so toll, dass unbedingt alles bleiben soll, wie es ist.
Mit einem ergebenen Seufzen setze ich die Maske auf. »Na dann, auf zum Rad des Schicksals«, murmle ich im halbherzigen Versuch, meine Laune zu heben.
Dann atme ich tief ein, finde die Tür mit meiner Karte und trete hindurch in eine völlig neue Welt.
AUCH WENN DAS HEULEN DES WINDS, das aus versteckten Lautsprechern dringt, und das mondhelle Leuchten an der schwarz gestrichenen Decke den Eindruck vermitteln, dass ich mich im Freien befinde, ist mir klar, dass es nicht so ist.
Es ist nur ein großer, leerer, beunruhigender Raum, den ich mit schnellen Schritten durchquere.
Am anderen Ende finde ich eine schmale Tür, die in einen weiteren schwarz gestrichenen Raum führt. Nur dass es in diesem einen langen Kiesweg gibt, der durch einen Wald aus künstlichen Pinien verläuft.
Ich folge dem Pfad, meine Absätze knirschen auf den Steinen, als ich eine alte Puppe am Wegrand liegen sehe. Ihr Kleid ist dreckig, ihre Haare ruiniert, und wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich schwören, dass sie mir mit ihrem trüben, leeren Blick folgt, als ich vorbeigehe.
Erst als ich eine Weggabelung erreiche, wird mir klar, dass es nicht irgendeine Puppe ist, sondern meine Lieblingspuppe aus Kindertagen.
Okaaaay …
Ich reibe mir über die Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben, und eile auf eine Tür zu, die mich hoffentlich in diesen exklusiven Club bringt, den mir Elodie versprochen hat. Auch wenn ich langsam ernsthaft bezweifle, dass der überhaupt existiert. Denn irgendwie habe ich immer mehr den Eindruck, dass Elodie sich hier nur auf meine Kosten amüsieren will.
Und da sehe ich die Puppe wieder.
Und wieder.
Eine ganze Reihe von Puppen mit leerem Blick, die mich alle zu einem einzelnen Grab führen.
Wer auch immer sich das hier ausgedacht hat, zieht es wirklich bis ins kleinste Detail durch. Aber trotzdem … Was ist das für eine absurde Horrorshow?
Vor dem frisch aufgeschütteten Erdhaufen bleibe ich stehen, merkwürdigerweise eher neugierig als nervös. Es gibt auch einen Grabstein, auf dem eine marmorne Engelsgestalt sitzt. In einer Hand hält sie eine Taschenuhr, mit der anderen deutet sie zum Himmel.
Auf dem Stein sind mein Name, mein Geburtsdatum und das Datum meines Todes eingraviert …
Heute.
ICH STARRE MEIN GRAB AN.
Vermutlich wird erwartet, dass ich jetzt schreie oder so, stattdessen muss ich so sehr lachen, dass mir die Tränen kommen.
Das ist genau die Art Streich, die Elodie sich ausdenken würde. Und ich gehe jede Wette ein, dass sie gerade in irgendeinem Versteck sitzt und mit mir lacht.
»Was glaubst du, woran sie gestorben ist?«
Als ich den Blick hebe, sehe ich einen hochgewachsenen Jungen mit breiten Schultern vor mir stehen. Er hat ein markantes Kinn, wohlgeformte Lippen, und seine Nase hat in der Mitte einen leichten Knick, was mich vermuten lässt, dass sie mal gebrochen war. Sein dunkles Haar fällt ihm in Wellen bis in den Nacken, er trägt eine königsblaue Maske und dazu einen Anzug, der aussieht, als stamme er aus dem viktorianischen Zeitalter.
Ich sehe von ihm zu meinem angeblichen Grab und wieder zurück. »Ich, ähm … Ich bin mir ziemlich sicher, sie ist an Langeweile gestorben.«
Er mustert mich einen langen Moment, seine Mundwinkel zucken leicht, aber nicht genug, um als Grinsen oder gar Lächeln durchzugehen. »Ich bin Braxton«, sagt er.
»Du bist der Junge von dem Foto«, platze ich raus. Kaum sind die Worte aus meinem Mund, spüre ich, wie meine Wangen rot anlaufen.
»Wie bitte?« Er neigt den Kopf zu mir, als seine Mundwinkel noch etwas höher wandern.
»Nichts.« Ich winke schnell ab. »Nur … du bist mit Elodie befreundet, oder?«
Ich lasse meinen Blick über seinen Körper wandern. Du bist der Schöne. Der, der mir so bekannt vorkam. Der, der mich angeblich kennenlernen wollte. Und in persona bist du sogar noch attraktiver. Ganz ohne Filter.
Ich kann zwar nicht sehen, was hinter seiner Maske vor sich geht, aber ich bin erleichtert, als sein Grinsen breiter wird.
»Klar«, sagt er. »So kannst du mich auch nennen. Der Junge von dem Foto, Braxton, meinetwegen auch Brax – geht alles.«
In seiner Stimme ist die Spur eines geschliffenen britischen Akzents zu hören, der mich an noble Internate, Fuchsjagden und all die verwegenen Helden in meinen geliebten Schauerromanen denken lässt. Und er weckt den unbändigen Wunsch in mir, mehr zu erfahren, mehr zu hören. Doch da bemerke ich seinen wartenden Blick und realisiere, dass ich an der Reihe bin, mich vorzustellen.
»Ich bin das tote Mädchen«, sage ich und nicke zu meinem Grab.
Er legt nachdenklich den Kopf schief. »So wie du hat noch nie jemand reagiert.«
»Wie reagieren die Leute denn normalerweise, wenn sie von ihrem vorzeitigen Tod erfahren?« Mein Tonfall ist verspielter als sonst. Ich gebe der Maske die Schuld an meinem Flirtversuch.
»Sagen wir es mal so: Du bist die Erste, die gelacht hat.«
Auch wenn ich seine Augen nicht wirklich sehen kann, spüre ich doch das Gewicht seines Blicks auf mir. Ich bin mir sicher, dass ich diesem Jungen noch nie begegnet bin – allein schon, weil nichts an ihm leicht zu vergessen ist –, trotzdem kommt er mir so bekannt vor, die Art, wie er den Raum füllt, wie sich die Atmosphäre verändert hat, als er eingetreten ist. Als gäbe es eine unsichtbare Spannung, die zwischen uns pulsiert und die mich so sehr aus dem Konzept bringt, dass ich mich beeile, unser Schweigen zu brechen, in der Hoffnung, dass es ihm nicht auffällt.
»Was ist das hier für ein Ort?«, frage ich. »Ich habe mit einem Club gerechnet, aber bisher macht das hier eher den Eindruck einer stilisierten Geisterbahn.«
Braxton wirft kurz einen Blick über die Schulter, bevor er sich wieder mir zuwendet. »Es ist wirklich ein Club.« Seine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. »Aber eigentlich darf ich gar nicht hier sein. Du sollst den Weg allein finden.«
»Wieso bist du dann vom Skript abgewichen?« Ich bin mir überdeutlich bewusst, dass mein Atem kurz aussetzt, als er sich mit einer Hand übers Kinn reibt, als müsse er überlegen, was er tun soll.
Er zuckt mit den Schultern. »Ich war wohl einfach zu neugierig«, gesteht er.
Dann dirigiert er mich ohne ein weiteres Wort weg vom Friedhof und an einen noch viel merkwürdigeren Ort.
»DAS HIER IST DAS WAHRE ARKANA.« Braxton führt mich in einen riesigen Raum, der mich an den Palast von Versailles erinnert … wäre der von Salvador Dalí dekoriert worden.
Auf der Tanzfläche wiegen sich zahlreiche Paare im Takt eines traurigen Liebeslieds, das von einer Frau in einem langen perlenbestickten Kleid und mit einer Maske mit goldenem Geweih gesungen wird.
Eine Kuriositätensammlung ziert die Wände. Dort findet sich alles von antiken Uhren, deren Zeiger rückwärtslaufen, bis hin zu goldgerahmten Porträts, auf denen alle Personen – auch die Frauen – gezwirbelte Schnurrbärte tragen. Und darüber hängt wie eine Zierleiste eine lange Reihe ausgestopfter Jagdtrophäen – jeder Tierkopf schwer beladen mit Diademen, kunstvollen Perücken und bergeweise glitzerndem Schmuck.
»Keine Sorge«, sagt Braxton, der meinen Blick bemerkt. »Die sind nicht echt. Hier musste kein Tier für die Ästhetik leiden.«
Um uns herum sind überall lachende und tanzende Menschen, während mehrere Bedienstete mit Tabletts durch die Menge gleiten, die Jungs in hautengen schwarzen Kleidern, die Mädchen im Smoking.
Es ist genau das richtige Maß an Merkwürdigkeit. Ein Festmahl für die Augen. Und tausend Mal besser als Schule. Das hier ist mit ziemlicher Sicherheit der coolste Ort, an den Elodie mich jemals mitgenommen hat. Zu schade, dass sie nicht hier ist, um es selbst zu genießen.
Ich lasse den Blick über das Meer aus Masken schweifen und frage mich, ob Elodie irgendwo in der Menge ist, als Braxton einen hübschen Jungen in einem schwarzen trägerlosen Kleid zu uns winkt, die letzten zwei Gläser von seinem Tablett nimmt und mir eins davon reicht. Das Glas ist aus geschliffenem Kristall und enthält eine blassgrün schimmernde Flüssigkeit.
»Der Drink heißt ›Die Grüne Fee‹.« Braxton stößt mit seinem Glasrand gegen meinen. »Auf Neuanfänge«, sagt er, seine Stimme laut genug, um den Lärm zu übertönen.
Ich sehe zu, wie er sein Glas leert, rühre meins jedoch nicht an. Ja, er ist süß. Und zumindest auf den ersten Blick scheint er auch harmlos zu sein. Aber ich werde sicher kein seltsames Getränk runterkippen, von dem ich noch nie gehört habe.
»Wieso heißt er so? Die Grüne Fee?«, frage ich, während ich den Inhalt meines Glases kreisen lasse und beobachte, wie die glitzernde Flüssigkeit darin herumwirbelt.
»Willst du nicht probieren?« Braxton deutet auf mein Glas.
Ich schüttle den Kopf und will ihm gerade meinen Cocktail anbieten, als die Sängerin ein neues, mir bekanntes Lied anstimmt – dasselbe Lied, das Elodie und ich auf dem Weg ins Einkaufszentrum gesungen haben. Es hatte aufgehört zu regnen, also hatte sie das Verdeck ihres Cabrios runtergelassen und die Lautstärke voll aufgedreht. Mit dem Gesicht zum Himmel habe ich mir vorgestellt, wir würden uns vom Wind an irgendeinen fernen Horizont tragen lassen. Die Erinnerung daran hinterlässt ein solches Gefühl der Leichtigkeit in mir, dass ich mich auf die Zehenspitzen stelle, bereit, loszufliegen.
»Alles okay bei dir?«, fragt Braxton, doch seine Worte klingen gedämpft, als wäre er meilenweit entfernt.
Um mich herum wird die Musik immer lauter, meine Ohren klingeln, mein Atem geht schneller, während meine Sicht immer wieder verschwimmt, sodass die Schemen auf der Tanzfläche ineinanderfließen.
Braxton beugt sich mit besorgtem Blick zu mir herunter. »Natasha«, sagt er. »Alles in Ordnung?«
Ich will ihn fragen, wieso der ganze Raum schimmert und sich dreht. Und wie es sein kann, dass die Tierköpfe alle lachen und die in Öl gemalten Gesichter aus ihren Rahmen stürzen. Doch ich finde die Worte nicht. Ich kann nur entgeistert dabei zusehen, wie die Uhren schmelzen und an den Wänden heruntertropfen.
Aus weiter Ferne höre ich eine Stimme, die fragt: Was zur Hölle hast du mir gegeben?